11 Das Muster schimmert hindurch

Zum erstenmal beendete Ingtar ihren Tagesritt bereits zu einer Stunde, als noch die Sonne golden am Himmel stand. Die abgehärteten Schienarer fühlten die Auswirkungen dessen, was sie in dem Dorf gesehen hatten. Ingtar hatte zuvor niemals so früh ein Nachtlager errichten lassen, und der Lagerplatz, den er erwählt hatte, wirkte so, als könne man ihn leicht verteidigen. Es war eine tiefe, beinahe runde Mulde, groß genug, um alle Männer und Pferde bequem zu beherbergen. An den Abhängen wuchs ein spärliches Dickicht aus Krüppeleichen und Lederblattbäumchen. Der Rand war hoch genug, um alle im Lager zu verbergen, selbst ohne die Bäume. In diesem Flachland entsprach die Höhe schon fast der eines Hügels.

»Alles, was ich verdammt noch mal sagen will«, hörte er Uno beim Absitzen zu Ragan sagen, »ist die Tatsache, daß ich sie verflucht noch mal gesehen habe, Licht verseng dich! Just bevor wir diesen ziegenküssenden Halbmenschen gefunden haben. Die gleiche verflammte Frau wie bei der verflammten Fähre. Sie war da, und dann war sie auf einmal, verflucht, nicht mehr da. Du kannst sagen, was du verdammt noch mal willst, aber paß auf, wie du das verflammt sagst, oder ich zieh dir das verfluchte Fell selbst über die Ohren und verbrenn deine ziegenküssende Haut, du schafsgesichtiger Milchtrinker!«

Rand stand da, einen Fuß auf dem Boden und den anderen noch in der Luft. Die gleiche Frau? Aber es gab keine Frau an der Fähre, nur ein paar Vorhänge, die vom

Wind bewegt wurden. Und wenn es sie gäbe, könnte sie das Dorf doch nicht vor uns erreicht haben. Das Dorf...

Er scheute sich vor dem Weiterspinnen dieses Gedankens. Noch mehr als den an die Tür genagelten Blassen wollte er dieses Zimmer und die Fliegen und die Menschen vergessen, die sich dort befanden und auch wieder nicht. Der Halbmensch war Wirklichkeit gewesen — jeder konnte das sehen —, aber dieses Zimmer... Vielleicht werde ich nun tatsächlich verrückt. Er wünschte, Moiraine wäre da, und er könnte mit ihr sprechen. Möchte eine Aes Sedai sehen. Du bist wirklich ein Narr. Endlich hast du das hinter dir, also laß es auch sein! Aber habe ich es tatsächlich hinter mir? Was ist dort geschehen?

»Packpferde und Vorräte in die Mitte!« befahl Ingtar, als die Lanzenträger sich daran machten, das Lager zu errichten. »Reibt die Pferde ab, und dann sattelt sie wieder, falls wir schnell weg müssen. Jeder Mann schläft neben seinem Reittier und heute abend werden keine Feuer entzündet. Die Wache wechselt alle zwei Stunden. Uno, ich will Kundschafter dort draußen haben. Sie sollen reiten, so weit sie können, wenn sie bei Einbruch der Dunkelheit zurück sein sollen. Ich will wissen, was dort draußen los ist.«

Er fühlt es auch, dachte Rand. Es sind nicht nur ein paar Schattenfreunde und Trollocs und vielleicht noch ein Blasser. Nur ein paar Schattenfreunde und Trollocs und vielleicht noch ein Blasser! Vor nur wenigen Tagen hätte es davor kein ›nur‹ gegeben. Zu jener Zeit hätten sogar in den Grenzlanden, weniger als einen Tagesritt von der Fäule entfernt, Schattenfreunde und Trollocs und Myrddraal gereicht, um einem Mann Alpträume zu bescheren. Bevor er einen Myrddraal sah, den man an eine Tür genagelt hatte. Wer im Licht konnte so etwas fertigbringen? Oder wer nicht im Licht? Bevor er in ein Zimmer eingetreten war, wo einer Familie das Abendessen und das Lachen abgeschnitten worden waren. Ich muß mir das eingebildet haben. Bestimmt. Das klang selbst in seinen eigenen Gedanken nicht überzeugend. Er hatte auch den Wind auf der Turmspitze nicht vorhergesehen oder daß die Amyrlin sagte...

»Rand?« Er fuhr zusammen, als Ingtar ihn aus nächster Nähe ansprach. »Werdet Ihr die ganze Nacht damit verbringen, auf einem Bein stehenzubleiben?«

Rand setzte den Fuß auf den Boden. »Ingtar, was ist dort hinten in dem Dorf geschehen?«

»Die Trollocs haben sie mitgenommen, genau wie die Leute aus dem Dorf an der Fähre. Das ist geschehen. Der Blasse... « Ingtar zuckte die Achseln und blickte hinunter auf ein flaches, in Segeltuch gehülltes, quadratisches großes Bündel. Er sah es an, als erblicke er dort verborgene Geheimnisse, die er lieber nicht lüften wollte. »Die Trollocs haben sie als Lebensmittelvorrat mitgenommen. Das tun sie manchmal auch in den Dörfern und auf Bauernhöfen in der Nähe der Fäule, wenn ihnen bei Nacht ein Vorstoß über die Grenzen gelingt. Manchmal können wir die Menschen zurückholen, manchmal nicht. Manchmal holen wir sie zurück und wünschen beinahe, wir hätten es nicht getan. Die Trollocs töten sie gelegentlich nicht gleich, wenn sie mit dem Schlachten beginnen. Und die Halbmenschen machen sich auch mal ihren — Spaß. Das ist noch schlimmer als das, was die Trollocs tun.« Seine Stimme klang so fest, als beschreibe er ganz alltägliche Dinge, na ja, und vielleicht war es auch so, jedenfalls für einen Soldaten aus Schienar.

Rand atmete tief ein, um seinen Magen zu beruhigen.

»Der Blasse dort hinten hat sich keinen Spaß mehr erlaubt, Ingtar. Wer mag einen Myrddraal lebendig an eine Tür nageln?«

Ingtar zögerte, schüttelte den Kopf und schob Rand das große Bündel zu. »Hier, Moiraine Sedai trug mir auf, Euch das im ersten Lager südlich des Erinin zu übergeben. Ich weiß nicht, was darin ist, aber sie sagte, Ihr werdet es benötigen. Sie sagte, ich solle Euch mahnen, es sorgfältig zu behüten; Euer Leben könne davon abhängen.«

Rand nahm es nur zögernd; bei der Berührung der Segeltuchhülle prickelte seine Haut. Drinnen war etwas Weiches. Vielleicht aus Stoff. Er hielt das Bündel vorsichtig. Er denkt auch lieber nicht über den Myrddraal nach. Was ist in diesem Zimmer geschehen? Ihm wurde plötzlich klar, daß es ihm immer noch lieber war, an den Blassen und sogar an dieses Zimmer zu denken, als daran, was Moiraine ihm geschickt haben mochte.

»Man hat mir ebenfalls aufgetragen, Euch zu sagen, daß die Lanzenträger Eurem Befehl gehorchen werden, falls mir etwas geschieht.«

»Mir?« keuchte Rand und vergaß das Bündel und alles andere. Ingtar begegnete seinem ungläubigen Blick mit einem gelassenen Nicken. »Aber das ist doch verrückt! Ich habe noch nie etwas anderes angeführt als eine Herde Schafe, Ingtar. Sie würden mir sowieso nicht gehorchen. Außerdem kann Moiraine Euch doch nicht vorschreiben, wer Euer Stellvertreter ist. Das ist doch Uno.«

»Uno und ich wurden am Morgen vor unserer Abreise zu Lord Agelmar gerufen. Moiraine Sedai war auch dabei. Doch Lord Agelmar hat mir diesen Befehl erteilt. Ihr seid mein Stellvertreter, Rand.«

»Aber warum, Ingtar? Warum?« Moiraine hatte ganz klar ersichtlich dabei die Hand im Spiel gehabt und die Amyrlin wohl auch. Sie stießen ihn einfach auf den Weg, den sie für ihn erwählt hatten, aber er hatte trotzdem diese Frage stellen müssen.

Der Schienarer schien es auch nicht zu verstehen, aber er war Soldat und in diesem endlosen Krieg am Rande der Fäule an eigenartige Befehle gewöhnt. »Ich hörte aus den Frauenquartieren Gerüchte, Ihr wärt in Wirklichkeit ein... «

Er spreizte die Hände in den dicken Handschuhen. »Spielt keine Rolle. Ich weiß, daß Ihr es bestreitet. Genauso wie Ihr Euer eigenes Aussehen bestreitet. Moiraine Sedai sagt, Ihr seid ein Schäfer, aber ich habe noch nie einen Schäfer mit einem Reiherschwert gesehen. Macht nichts. Ich behaupte ja nicht, daß ich Euch als meinen Stellvertreter ausgewählt hätte, aber ich glaube, Ihr habt die Fähigkeit, das zu tun, was notwendig ist. Wenn es sich als nötig erweist, werdet Ihr Eure Pflicht tun.«

Rand wollte eigentlich sagen, das gehöre gewiß nicht zu seinen Pflichten, doch statt dessen sagte er: »Uno weiß davon. Wer noch, Ingtar?«

»Alle Lanzenträger. Wenn wir Schienarer ins Feld ziehen, weiß jeder, wer der nächste sein wird, falls der Kommandant fällt. Diese Kette zieht sich ohne Unterbrechung bis zum letzten noch verbleibenden Mann, selbst wenn er nur ein Pferdeknecht ist. Seht Ihr, auf diese Art — auch falls er wirklich der allerletzte ist — betrachtet man ihn nicht nur als einen flüchtenden Nachzügler, der lediglich am Leben zu bleiben versucht. Er führt das Kommando und die Pflicht hält ihn dazu an, das zu tun, was notwendig ist. Falls ich mich in die letzte Umarmung der Mutter begebe, fällt diese Pflicht an Euch. Ihr werdet dann das Horn finden und es dorthin bringen, wohin es gehört. Das werdet Ihr tun.« Ingtar betonte diese letzten Worte so eigenartig.

Das Bündel in Rands Armen erschien ihm bleischwer. Licht, sie kann dreihundert Meilen weit entfernt sein, und doch streckt sie die Hand aus und zieht an meiner Leine. Hierhin, Rand. Dorthin. Du bist der Wiedergeborene Drache, Rand. »Ich will diese Pflicht nicht, Ingtar. Ich kann das nicht annehmen. Licht, ich bin doch nur ein Schäfer! Warum glaubt mir das keiner?«

»Ihr werdet Eure Pflicht tun, Rand. Wenn der Mann an der Spitze versagt, fällt alles unter ihm auseinander. Es zerfällt schon zuviel. Viel zuviel. Der Friede möge Eurem Schwert hold sein, Rand al'Thor.«

»Ingtar, ich...« Aber Ingtar ging weiter und rief nach Uno, um festzustellen, ob er seine Kundschafter bereits ausgesandt hatte.

Rand sah auf das Bündel in seinem Arm hinunter und leckte sich die Lippen. Er ahnte, was darin war. Einerseits wollte er nachsehen, andererseits hätte er es gern ungeöffnet ins Feuer geworfen. Er überlegte sich, daß er das vielleicht wirklich tun sollte, falls er die Garantie hatte, daß der Inhalt verbrannte, ohne für die anderen sichtbar zu werden; falls er die Garantie hatte, daß der Inhalt überhaupt verbrennen würde. Aber hier konnte er nicht nachsehen. Zu viele fremde Augen konnten zuschauen.

Er blickte sich im Lager um. Die Schienarer luden das Gepäck von den Packpferden ab, und man gab bereits ein kaltes Abendessen aus Trockenfleisch und Fladenbrot aus. Mat und Perrin versorgten ihre Pferde, und Loial saß auf einem Stein und las in einem Buch. Seine langstielige Pfeife hatte er zwischen die Zähne geklemmt, und eine dünne Rauchfahne erhob sich über seinen Kopf. Rand packte das Bündel so fest, als fürchte er, es fallen zu lassen, und schlich sich zwischen die Bäume.

In einer kleinen von dichtbelaubten Zweigen überwucherten Lichtung kniete er nieder und legte das Bündel auf den Boden. Eine Weile starrte er es nur an. Das hätte sie nicht getan. Bestimmt nicht. Eine kleine Stimme aus seinem Inneren antwortete: Aber sicher doch. Das könnte und würde sie tun. Schließlich machte er sich daran, die kleinen Knoten in der Packschnur zu lösen. Saubere Knoten, so dicht geknüpft, daß sie ganz eindeutig nach Moiraines Handarbeit aussahen; kein Diener hätte das an ihrer Statt so machen können. Sie hätte es auch nicht gewagt, den Inhalt in Gegenwart von Dienern zu zeigen.

Als er die letzte Schnur gelöst hatte, öffnete er das Bündel mit tauben Händen und blickte den Inhalt an. Er schien Staub im Mund zu haben. Der Inhalt bestand nur aus einem Stück, weder gewoben noch gefärbt, noch bemalt. Eine Flagge, weiß wie Schnee, groß genug, daß man sie über ein ganzes Schlachtfeld hinweg sehen konnte. Und darüber bewegte sich eine sich schlängelnde Gestalt wie eine Schlange mit goldenen und roten Schuppen, eine Schlange jedoch, die vier geschuppte Beine besaß, jedes mit fünf goldenen Klauen bewehrt, eine Schlange mit Augen wie die Sonne und der goldenen Mähne eines Löwen. Er hatte das schon einmal zuvor gesehen, und Moiraine hatte ihm erklärt, was es war: das Banner von Lews Therin Telamon, Lews Therin Brudermörder, im Schattenkrieg. Das Banner des Drachen.

»Schau dir das an! Schau, was er jetzt wieder hat!« Mat platzte in die kleine Lichtung hinein, und Perrin kam etwas langsamer hinterher. »Zuerst kostbare Mäntel«, fauchte Mat, »und jetzt noch eine eigene Flagge! Jetzt wird er sich endlos damit großtun wollen... « Mat kam nahe genug, um die Flagge klar zu erkennen, und der Mund klappte ihm herunter. »Licht!« Er stolperte einen Schritt nach hinten. »Seng mich!« Auch er war dabei gewesen, als Moiraine die Bedeutung des Banners erklärt hatte. Genau wie Perrin.

In Rand stieg Zorn auf, Zorn auf Moiraine und die Amyrlin, die ihn hin und her schoben. Er packte die Flagge mit beiden Händen und schüttelte sie in Mats Richtung. Die Worte barsten unkontrolliert aus ihm heraus: »Es stimmt! Das Banner des Drachen!« Mat trat noch einen Schritt zurück. »Moiraine will mich zu einer Marionette Tar Valons machen, einen falschen Drachen für die Aes Sedai. Sie will mir das aufzwingen, ganz gleich, ob ich will oder nicht. Aber-ich-lasse-mich-nicht-benutzen!«

Mat stand mit dem Rücken an einem Baumstamm. »Ein falscher Drache?« Er schluckte. »Du? Das ist... Das ist verrückt.«

Perrin hatte sich nicht zurückgezogen. Er hockte da, die kräftigen Arme auf die Knie gestützt, und betrachtete Rand mit diesen strahlend goldenen Augen. Sie schienen in der Abendsonne richtig zu leuchten. »Falls die Aes Sedai dich als falschen Drachen benutzen wollen... « Er unterbrach sich, runzelte die Stirn und überdachte alles erst einmal. Schließlich fragte er leise: »Rand, kannst du die Eine Macht kontrollieren?« Mat stieß einen erstickten Laut aus.

Rand ließ die Flagge fallen. Er zögerte nur für einen Moment und nickte dann erschöpft. »Ich habe nicht darum gebeten. Ich will es nicht. Aber... aber ich glaube nicht, daß ich es irgendwie aufhalten kann.« Ungebeten kam ihm das Zimmer mit den Fliegen wieder ins Gedächtnis. »Ich glaube auch nicht, daß sie mich aufhören lassen.«

»Seng mich!« hauchte Mat. »Blut und blutige Asche! Sie werden uns umbringen, ist Euch das klar? Uns alle. Perrin und mich genau wie dich. Wenn Ingtar und die anderen das herausfinden, schneiden sie uns als Schattenfreunden die blutigen Kehlen durch. Licht, sie werden vielleicht sogar glauben, wir hätten mitgewirkt, das Horn zu stehlen und diese Leute in Fal Dara zu töten.«

»Halt den Mund, Mat!« befahl Perrin gelassen.

»Sag mir nicht, ich soll den Mund halten. Wenn Ingtar uns nicht umbringt, wird Rand verrückt und erledigt das für ihn. Seng mich! Seng mich!« Mat rutschte an dem Baumstamm entlang nach unten und setzte sich auf den Boden. »Warum haben sie dich nicht gedämpft? Wenn die Aes Sedai Bescheid wußten, warum haben sie dich dann nicht gedämpft? Ich habe niemals gehört, daß sie einen Mann laufen ließen, der die Eine Macht kontrollieren konnte.«

»Sie wissen es auch nicht alle«, seufzte Rand. »Die Amyrlin... «

»Die Amyrlin! Sie weiß Bescheid? Licht, kein Wunder, daß sie mich so komisch angeschaut hat.«

»... und Moiraine sagten mir, ich sei der Wiedergeborene Drache und dann sagten sie, ich könne gehen, wohin ich wolle. Siehst du, Mat? Sie wollen mich benutzen.«

»Das ändert nichts daran, daß du die Eine Macht lenken kannst«, murmelte Mat. »Wenn ich du wäre, wäre ich mittlerweile schon bald am Aryth-Meer. Und ich würde nicht ruhen, bis ich einen Ort gefunden hätte, an dem es keine Aes Sedai gibt und wahrscheinlich auch nie geben wird. Und überhaupt keine Menschen. Ich meine... Na ja.«

»Halt endlich den Mund, Mat!« verlangte Perrin.

»Warum bist du nun eigentlich hier, Rand? Je länger du dich bei irgendwelchen Leuten aufhältst, desto wahrscheinlicher ist es, daß jemand es herausfindet und den Aes Sedai verrät. Aes Sedai, die nicht sagen, du sollst einfach weiter deinen Geschäften nachgehen.« Er hielt inne und kratzte sich am Kopf. »Und Mat hat recht in bezug auf Ingtar. Ich habe keinen Zweifel daran, daß er dich als Schattenfreund bezeichnen und dich töten würde. Vielleicht würde er auch uns alle töten. Er scheint dich zu mögen, aber ich glaube, er täte es trotzdem. Ein falscher Drache? Die anderen täten es auch. Masema wird nicht lange nach Ausreden suchen — in deinem Fall. Also, warum bist du noch nicht weg?«

Rand zuckte die Achseln. »Ich wollte ja, aber dann kam die Amyrlin, anschließend wurde das Horn gestohlen und der Dolch, und Moiraine sagte, Mat müsse sterben, und... Licht, ich glaubte, ich könne wenigstens so lange bei Euch bleiben, bis wir den Dolch finden. Ich wollte dabei helfen. Vielleicht war das falsch.«

»Du bist des Dolches wegen mitgekommen?« fragte Mat leise. Er rieb sich die Nase und verzog das Gesicht. »Daran hätte ich nie gedacht. Ich hätte nie geglaubt, du wolltest... Aaaah! Fühlst du dich gut? Ich meine, du wirst doch wohl noch nicht verrückt, oder?«

Rand pickte ein Steinchen aus dem Boden und warf es nach ihm. »Autsch!« Mat rieb sich zur Abwechslung den Arm. »Ich habe doch nur gefragt. Ich meine, na ja, diese vornehmen Kleider und das ganze Geschwätz von wegen, du seist ein Lord. Da stimmt doch im Kopf was nicht.«

»Ich habe versucht, Euch loszuwerden, du Hohlkopf! Ich fürchtete, ich würde verrückt und würde Euch etwas antun.« Sein Blick fiel wieder auf die Flagge, und seine Stimme senkte sich. »Das wird wohl auch geschehen, wenn ich es nicht aufhalten kann. Licht, ich weiß doch nicht, wie ich das anstellen soll.«

»Davor habe ich Angst«, sagte Mat und stand auf. »Nicht böse sein, Rand, aber wenn du nichts dagegen hast, werde ich von dir so weit entfernt wie möglich schlafen. Falls du bleibst. Ich hörte einmal von einem Burschen, der die Macht lenken konnte. Der Leibwächter von einem Kaufmann hat mir davon erzählt. Bevor ihn die Roten Ajah fanden, wachte er eines Morgens auf, und sein ganzes Dorf war plattgewalzt. Alle Häuser, alle Leute, alles bis auf das Bett, in dem er schlief, so, als sei ein Berg über sie hinweggerollt.«

Perrin sagte: »In diesem Fall, Mat, schliefe ich gleich neben ihm.«

»Vielleicht bin ich ein Narr, aber ich will wenigstens ein lebendiger Narr bleiben.« Mat zögerte und sah Rand von der Seite an. »Schau mal, ich weiß, daß du meinetwegen mitgekommen bist und mir helfen wolltest, und ich bin ja auch dankbar dafür. Wirklich. Aber du bist einfach nicht mehr der gleiche. Das verstehst du doch, oder?« Er wartete, als erwarte er eine Antwort. Es kam keine. Schließlich verzog er sich zwischen die Bäume in Richtung Lager.

»Wie steht's mit dir?« fragte Rand.

Perrin schüttelte den Kopf, daß die zerzausten Locken flogen. »Ich weiß nicht, Rand. Du bist noch der gleiche und dann doch wieder nicht. Ein Mann, der die Macht lenkt: Damit hat mir meine Mutter Angst eingejagt, als ich klein war. Ich weiß einfach nicht.« Er streckte die Hand aus und berührte eine Ecke der Flagge. »Ich glaube, die würde ich verbrennen oder vergraben, wenn ich du wäre. Und dann würde ich so schnell und so weit wegrennen, daß mich keine Aes Sedai jemals finden könnte. Da hat Mat schon recht.« Er stand auf und blinzelte zum Himmel im Westen hinauf, der sich im Licht der sinkenden Sonne rot zu färben begann. »Zeit, zum Lager zurückzukehren. Denk darüber nach, was ich dir gesagt habe, Rand. Ich würde abhauen. Aber vielleicht kannst du das nicht. Denk auch darüber nach.« Seine gelben Augen schienen nach innen zu blicken und er hörte sich müde an. »Manchmal kann man nicht wegrennen.« Dann war auch er weg.

Rand kniete da und sah auf die am Boden ausgebreitete Flagge hinunter. »Na ja, manchmal kann man schon weglaufen«, murmelte er. »Aber vielleicht hat sie mir die mitgegeben, damit ich wegrenne. Vielleicht hat sie dafür gesorgt, daß irgend etwas auf mich wartet, wenn ich weglaufe. Ich werde jedenfalls nicht tun, was sie von mir will. Bestimmt nicht. Ich werde sie einfach hier vergraben. Aber sie sagte, mein Leben könnte davon abhängen, und die Aes Sedai lügen nie offensichtlich... « Plötzlich schüttelte sich sein Körper in lautlosem Lachen. »Jetzt führe ich schon Selbstgespräche. Vielleicht werde ich wirklich verrückt.«

Als er zum Lager zurückkehrte, trug er die wieder in Segeltuch gehüllte Flagge mit sich. Er hatte sie allerdings mit weniger genauen Knoten zugeknüpft als Moiraine.

Es dämmerte, und der Schatten vom Rand der Mulde bedeckte die Hälfte des Lagers. Die Soldaten ließen sich mit ihren Pferden an der Seite nieder, die Lanzen gleich zur Hand. Mat und Perrin legten sich ebenfalls neben ihre Pferde. Rand sah sie traurig an und holte den Braunen, der noch immer mit hängenden Zügeln dort stand, wo er ihn zurückgelassen hatte. Er ging mit ihm zur anderen Seite der Mulde, wo sich Hurin Loial angeschlossen hatte. Der Ogier hatte das Lesen aufgegeben und untersuchte einen halb im Boden steckenden Stein, auf dem er gesessen hatte. Er fuhr mit dem langen Stiel seiner Pfeife etwas auf dem Stein nach.

Hurin stand auf und begrüßte Rand mit einer Körperbewegung, die einer Verbeugung ähnelte. »Ich hoffe, Ihr habt nichts dagegen, daß ich hier mein Bett aufschlage, Lord... äh... Rand. Ich habe nur dem Erbauer hier zugehört.«

»Da bist du ja, Rand«, sagte Loial. »Weißt du, ich glaube, dieser Stein wurde einst bearbeitet. Sieh mal, er ist verwittert, aber er scheint Teil einer Säule gewesen zu sein. Und es gibt auch Markierungen darauf. Ich kann sie nicht ganz erkennen, aber sie kommen mir auch irgendwie bekannt vor.«

»Vielleicht kannst du sie am Morgen besser erkennen«, sagte Rand. Er zog die Satteltaschen von seinem Pferd. »Ich freue mich über Eure Gesellschaft, Hurin.« Ich bin froh über jeden, der keine Angst vor mir hat. Wie lange werde ich das noch erleben?

Er packte alles in die eine Hälfte der Satteltaschen um: die Ersatzhemden und Hosen und die Wollstrümpfe, das Nähzeug, die Zunderschachtel, den Blechteller und die dazugehörige Tasse, eine Holzschachtel mit Messer, Gabel und Löffel, ein Päckchen Dörrfleisch und Fladenbrot als eiserne Ration sowie alle anderen notwendigen Reiseutensilien. Dann stopfte er die in Segeltuch gehüllte Flagge in die geleerte Satteltasche. Sie beulte sich aus. Die Riemen paßten kaum in die Schnallen, aber es würde schon reichen.

Loial und Hurin schienen seine Laune zu spüren. Sie ließen ihn in Ruhe, während er dem Braunen Sattel und Zaumzeug abnahm und den großen Hengst mit Grasbüscheln abrieb, die er ausgerissen hatte. Dann sattelte er ihn wieder. Rand lehnte das angebotene Essen ab. Er hatte das Gefühl, in diesem Moment selbst das beste Essen nicht zu verkraften. Alle drei schlugen ihre Betten neben dem Stein auf: jeweils eine zusammengefaltete Decke als Kissen und ein Umhang zum Zudecken.

Im Lager war es jetzt still, aber Rand lag noch bis nach dem vollen Einbruch der Dunkelheit wach. Er grübelte unaufhörlich. Die Flagge. Was erwartet sie von mir? Das Dorf. Wie kann ein Blasser auf diese Art umkommen? Am schlimmsten war das Haus dort im Dorf gewesen. Ist das auch wirklich geschehen? Werde ich bereits verrückt? Renne ich weg, oder bleibe ich? Ich muß bleiben. Ich muß Mat helfen, den Dolch zu finden.

Schließlich fiel er in einen erschöpften Schlaf, und mit dem Schlaf kam auch ungebeten das Nichts und hüllte ihn ein. Es flackerte in einem ungleichmäßigen Lichtschein, der seine Träume störte.

Padan Fain blickte nach Norden in die Nacht hinaus, vorbei am einzigen Feuer seines Lagers, und er lächelte starr vor sich hin. Er bezeichnete sich immer noch selbst als Padan Fain — Padan Fain war seine äußere Hülle —, aber er war verändert worden und das war ihm bewußt. Er wußte jetzt sehr vieles, mehr, als seine früheren Herren ahnten. Er war jahrelang schon ein Schattenfreund gewesen, bevor Ba'alzamon ihn zu sich rief und ihn auf die Spur der drei jungen Männer aus Emondsfeld ansetzte, alles filterte, was er über sie wußte, auch ihn filterte, und die Essenz des Ganzen in ihn zurückfüllte, so daß er sie fühlte, roch, wo sie gewesen waren, und ihnen folgte, wohin sie sich auch begaben. Besonders dem einen. Ein Teil seiner selbst verkrampfte sich noch immer, wenn er sich daran erinnerte, was ihm Ba'alzamon angetan hatte, aber es war nur ein kleiner Teil, verborgen und unterdrückt. Er war verändert. Die Verfolgung der drei hatte ihn nach Shadar Logoth geführt. Er hatte nicht dorthin gewollt, doch er mußte gehorchen. Zu jener Zeit. Und in Shadar Logoth...

Fain atmete tief ein und griff nach dem Dolch mit dem Rubingriff an seinem Gürtel. Auch der stammte aus Shadar Logoth. Es war die einzige Waffe, die er trug, die einzige, die er benötigte; sie war wie ein Teil von ihm selbst. Er war jetzt in sich geschlossen, eins mit sich selbst. Das war alles, was für ihn noch eine Rolle spielte.

Er warf einen Blick auf das Lager zu beiden Seiten des Feuers. Die zwölf übriggebliebenen Schattenfreunde kauerten — die einst so gute Kleidung verknittert und schmutzig — in der Dunkelheit auf einer Seite und blickten nicht ins Feuer, sondern auf ihn. Auf der anderen Seite hockten seine Trollocs, zwanzig an der Zahl, und die nur zu menschlichen Augen in diesen tierisch verzerrten Männergesichtern folgten jeder seiner Bewegungen wie bei Mäusen, die eine Katze beobachten.

Zuerst war es ein innerer Kampf gewesen. Jeden Morgen war er erwacht, und irgend etwas hatte ihm gefehlt. Dazu hatte der Myrddraal das Kommando wieder übernommen, gewütet und verlangt, daß sie sich wieder nach Norden zur Fäule und zum Shayol Ghul hin orientierten. Aber langsam wurden diese Schwächeanfälle kürzer, bis... Er erinnerte sich an das Gefühl, wie er den Hammer in der Hand hielt und die Dornen hineinschlug, und er lächelte. Diesmal war es ein warmes Lächeln — der Genuß süßer Erinnerungen.

Ein Weinen aus der Dunkelheit drang an sein Ohr, und sein Lächeln verflog. Ich hätte den Trollocs nicht erlauben sollen, so viele mitzunehmen. Ein ganzes Dorf, das sie nun am schnellen Vorwärtskommen hinderte. Wenn diese wenigen Häuser an der Fähre nicht verlassen gewesen wären, vielleicht... Aber die Trollocs waren von Natur aus gierig, und in der Euphorie, dem Myrddraal beim Sterben zuschauen zu können, hatte er nicht in dem Maß auf sie geachtet, wie es nötig gewesen wäre.

Er sah zu den Trollocs hinüber. Jeder von ihnen war beinahe zweimal so groß wie er und stark genug, um ihn mit einer Hand zu zerbrechen, und doch kauerten sie da und zuckten vor ihm zurück. »Tötet sie. Alle. Ihr könnt essen, aber dann legt alles, was übrigbleibt, auf einen Haufen — damit ihn unsere Freunde finden. Legt die Köpfe obenauf. Und zwar ordentlich!« Er lachte. Das Lachen brach aber schnell ab. »Geht!«

Die Trollocs hasteten davon, zogen ihre Sichelschwerter und hoben die Dornenäxte. Augenblicke später ertönten Schreie und Brüllen aus der Richtung, wo die Dorfbewohner gefesselt am Boden lagen. Bitten um Gnade und die spitzen Schreie der Kinder wurden durch dumpfe Schläge und unangenehme Geräusche abgewürgt; es klang, als zerstampfe man Melonen.

Fain wandte der Kakophonie den Rücken und betrachtete seine Schattenfreunde. Auch sie gehörten ihm mit Leib und Seele. Was noch an Seele übrig geblieben war. Jeder einzelne von ihnen steckte innerlich genauso im Sumpf, wie Fain es früher getan hatte, bevor er den Weg hinaus fand. Keiner von ihnen hatte ein anderes Ziel, als ihm zu folgen. Ihre Blicke hingen an ihm, angsterfüllt und bittend. »Glaubt ihr, sie werden wieder hungrig sein, bevor wir ein anderes Dorf oder einen Bauernhof finden? Könnte schon sein. Glaubt ihr, ich überlasse ihnen noch ein paar von euch? Na ja, vielleicht ein oder zwei. Wir haben keine Pferde mehr, die wir entbehren könnten.«

»Die anderen waren nur gewöhnliche Leute«, brachte eine Frau mit unsicherer Stimme hervor. Das Gesicht über ihrem feingeschnittenen Kleid, das sie als reiche Kauffrau auswies, war mit Schmutz beschmiert. Der gute graue Stoff war auch verschmiert und der Rock wurde von einem langen Riß verunziert. »Das waren Bauern. Wir haben gedient — ich habe gedient...«

Fain schnitt ihr das Wort ab. Sein lockerer Tonfall machte die Worte nur noch härter. »Was seid ihr denn für mich? Weniger als Bauern. Vielleicht Herdenvieh für die Trollocs? Wenn ihr am Leben bleiben wollt, ihr Viehzeug, dann müßt ihr euch als nützlich erweisen.«

Das Gesicht der Frau wurde zur Grimasse. Sie schluchzte, und plötzlich schrien alle anderen durcheinander und versicherten ihm, wie nützlich sie seien. Männer und Frauen mit Einfluß und in guten Positionen seien sie gewesen, bevor man sie abkommandierte, um ihrem Eid in Fal Dara nachzukommen. Sie sprudelten die Namen bedeutender, mächtiger Personen hervor, die sie in den Grenzlanden, in Cairhien und anderswo kannten. Sie plapperten von den Kenntnissen, die allein sie über das eine oder andere Land oder die politischen Verhältnisse, die Bündnisse, die Intrigen besaßen, und was sie ihm alles zutragen konnten, wenn sie ihm nur dienen durften. Ihr Geschrei vermischte sich mit den Geräuschen der wütenden Trollocs, und es paßte alles zueinander.

Fain überhörte alles (er hatte keine Angst davor, ihnen den Rücken zuzuwenden, nachdem sie zugesehen hatten, wie er den Blassen beseitigt hatte) und wandte sich seiner Beute zu. Er kniete nieder und strich mit beiden Händen über die reichverzierte goldene Truhe. Er fühlte die im Inneren eingeschlossene Macht. Er hatte sie von einem Trolloc tragen lassen — er traute den Menschen so wenig, daß sie die Beute nicht auf ein Packpferd laden dürften; ihre Träume von Macht und Bedeutung mochten sogar die Angst vor Fain besiegen, während die Trollocs von nichts anderem träumten, als zu töten — und er hatte noch nicht herausbekommen, wie man die Truhe öffnete. Aber die Zeit dazu würde auch noch kommen. Alles würde sich ergeben. Alles.

Er zog den Dolch aus der Scheide und legte ihn auf die Truhe, bevor er sich am Feuer niederließ. Diese Klinge war ein besserer Wächter als jeder Trolloc und jeder Mensch. Sie hatten alle bereits einmal gesehen, was geschah, wenn er sie benutzte. Keiner würde sich ohne ausdrücklichen Befehl der entblößten Klinge auch nur auf eine Spanne nähern.

Er lag in seine Decken gehüllt da und blickte nach Norden. Im Moment konnte er al'Thor nicht fühlen; die Entfernung zwischen ihnen war zu groß. Oder vielleicht trickste al'Thor ihn auch gerade wieder aus. Manchmal war der Junge in der Festung ganz plötzlich aus Fains Wahrnehmung verschwunden. Er wußte nicht, wie er das bewirkte, und er tauchte ebenso plötzlich wieder auf, so wie er verschwunden war. Auch diesmal würde er zurückkommen.

»Diesmal kommst du zu mir, Rand al'Thor. Vorher folgte ich dir wie ein Hund der Spur, aber nun folgst du mir.« Sein Lachen klang wie irres Gegacker. Er wußte selbst, daß es verrückt klang, aber es war ihm gleich. Auch der Wahnsinn war mittlerweile ein Teil seiner selbst geworden. »Komm zu mir, al'Thor! Der Tanz hat noch nicht einmal begonnen. Wir werden auf der TomanHalbinsel tanzen, und ich werde mich von dir befreien. Ich werde endlich dafür sorgen, daß du stirbst.«

Загрузка...