5 Der Schatten in Schienar

Eine Dämpfung. Das Wort schien beinahe sichtbar in der Luft zu hängen. Man tat das bei Männern, die die Eine Macht lenken konnten und die man aufhalten mußte, bevor sie wahnsinnig wurden und alles um sich herum zerstörten, aber nur äußerst selten bei einer Aes Sedai. Eine Dämpfung. Nicht mehr in der Lage, die Macht zu kontrollieren. Man konnte Saidar, die weibliche Hälfte der Wahren Quelle, immer noch fühlen, hatte aber die Fähigkeit verloren, sie zu berühren. Man wurde immer an etwas erinnert, was man für alle Zeiten verloren hatte. Es war so selten geschehen, daß man von jeder Novizin verlangte, die Namen aller Aes Sedai auswendig zu lernen, die seit der Zerstörung der Welt eine Dämpfung erfuhren hatten, und dazu ihr Verbrechen, aber niemand konnte, ohne zu schaudern, an so etwas denken. Frauen ertrugen eine Dämpfung genauso schlecht wie Männer.

Moiraine war sich von Anfang an über das Risiko im klaren gewesen, aber sie wußte, es war notwendig. Das hieß aber nicht, daß es angenehm für sie war. Ihre Augen zogen sich zusammen, und nur das Glitzern darin zeugte von ihrem Zorn und ihren Sorgen. »Leane würde dir bis zum Abhang des Shayol Ghul folgen, Siuan, und in den Krater des Verderbens hinein. Du kannst doch nicht glauben, sie würde dich verraten.«

»Nein. Aber andererseits, würde sie es als Verrat betrachten? Ist es Verrat, wenn man eine Verräterin verrät? Hast du daran gedacht?«

»Niemals! Was wir tun, Siuan, ist das, was getan werden muß. Das war uns beiden fast zwanzig Jahre lang bewußt. Das Rad webt, wie das Rad es will, und du und ich, wir wurden für diese Aufgabe vom Muster erwählt. Wir sind ein Teil der Prophezeiungen, und die Prophezeiungen müssen erfüllt werden. Sie müssen!«

»Die Prophezeiungen müssen erfüllt werden. Man hat uns beigebracht, das dies geschehen wird und geschehen muß, und doch bedeutet ihre Erfüllung Verrat an allem anderen, was man uns gelehrt hat. Einige würden sagen, Verrat an allem, wofür wir stehen.« Die Amyrlin rieb sich die Arme und ging hinüber zu einer Schießscharte, um durch die enge Öffnung in den Garten darunter zu spähen. Sie berührte die Vorhänge. »Hier in den Frauenquartieren hängen sie Vorhänge auf, um die Räume angenehmer zu gestalten, und sie legen schöne Gärten an, und doch gibt es keinen Teil an diesem Ort, der nicht zweckmäßig wäre und nicht für Schlacht, Tod und Mord stünde.« Sie fuhr im gleichen wehmütigen Tonfall fort: »Nur zweimal seit der Zerstörung der Welt wurden einer Amyrlin Stola und Stab aberkannt.«

»Tetsuan, die Manetheren verriet, weil sie auf Elisandes Kräfte eifersüchtig war, und Bonwhin, die versuchte, Artur Falkenflügel als Marionette zu benützen, um durch ihn die Welt zu beherrschen, und die dabei fast Tar Valon zerstört hätte.«

Die Amyrlin betrachtete weiterhin den Garten. »Beide kamen von den Roten, und beide wurden durch Amyrlins von den Blauen ersetzt. Der Grund, warum seit Bonwhin keine Amyrlin mehr aus den Reihen der Roten erwählt wurde, und der Grund, warum die Roten jeden Vorwand benützen werden, eine aus den Reihen der Blauen stammende Amyrlin zu stürzen — alles auf einmal. Ich möchte nicht die dritte sein, die Stola und Stab verliert, Moiraine. Für dich würde das natürlich bedeuten, daß du gedämpft und außerhalb der Leuchtenden Mauer verbannt würdest.«

»Elaida zum Beispiel würde mich nicht so leicht davonkommen lassen.« Moiraine beobachtete gespannt den Rücken ihrer Freundin. Licht, was ist über sie gekommen? So war sie sonst doch nie. Wo sind ihre Kraft und ihr Temperament geblieben? »Aber dazu wird es nicht kommen, Siuan.«

Die andere Frau fuhr fort, als hätte Moiraine nichts gesagt: »Bei mir wäre es etwas anderes. Auch gedämpft kann man eine gestürzte Amyrlin nicht so einfach laufen lassen; man könnte sie sonst als Märtyrerin betrachten und zum Anziehungspunkt für die Opposition machen. Tetsuan und Bonwhin hat man als Dienerinnen in der Weißen Burg gehalten. Küchenmägde, die man als Beispiele dafür verwenden konnte, was auch den Mächtigsten passieren kann. Keiner wird sich noch einer Frau anschließen wollen, die den ganzen Tag Böden und Töpfe schrubben muß. Sie bemitleiden, ja, aber sich ihr anschließen und ihr damit neue politische Bedeutung verleihen — nein.«

Mit funkelnden Augen schlug Moiraine die Fäuste auf den Tisch. »Schau mich an, Siuan! Schau mich an! Willst du sagen, daß du nach all diesen Jahren und nach alledem, was wir erreicht haben, aufgeben willst? Aufgeben und die Welt im Stich lassen? Und alles, weil du Angst hast, du würdest geschlagen, wenn du die Töpfe nicht sauber genug schrubbst?« Sie legte alle Verachtung hinein, die sie aufbringen konnte, und war erleichtert, als ihre Freundin herumfuhr und sie ansah. Die innere Kraft war noch vorhanden, überbeansprucht, aber immerhin vorhanden. Diese klaren blauen Augen versprühten genausoviel Zorn wie ihre.

»Ich erinnere mich noch daran, welche von uns am lautesten quiekte, wenn wir als Novizinnen geschlagen wurden. Du hast in Cairhien ein bequemes Leben geführt, Moiraine. Nicht zu vergleichen mit der Arbeit in einem Fischerboot.« Plötzlich schlug Siuan mit einem lauten Knall auf die Tischfläche. »Nein, ich schlage nicht vor aufzugeben, aber ich will auch nicht zusehen, wie uns alles aus der Hand gleitet, während ich nichts tun kann! Die meisten meiner Schwierigkeiten mit dem Saal hängen mit dir zusammen. Selbst die Grünen fragen sich, warum ich dich nicht zur Burg zurückgerufen und dir ein wenig Disziplin beigebracht habe. Die Hälfte der Schwestern bei mir denken, du solltest den Roten überstellt werden, und falls das geschieht, wirst du dir wünschen, du wärst wieder Novizin und hättest nichts Schlimmeres zu befürchten, als verhauen zu werden. Licht! Falls sich irgend jemand daran erinnert, daß wir als Novizinnen befreundet waren, säße ich gleich neben dir.

Wir hatten einen Plan! Einen Plan, Moiraine! Finde den Jungen, und bringe ihn nach Tar Valon, wo wir ihn verstecken, in Sicherheit heranwachsen lassen und führen könnten. Seit du die Burg verlassen hast, bekam ich nur zweimal Nachricht von dir. Zweimal! Ich fühle mich, als müsse ich im Dunkeln durch die Finger des Drachen segeln. Eine Botschaft besagte, daß du das Gebiet der Zwei Flüsse betreten und in dieses Dorf, Emondsfeld, gehen würdest. Bald, dachte ich. Er ist gefunden, und bald wird sie ihn in der Hand haben. Dann die Botschaft aus Caemlyn, daß du nach Schienar, nach Fal Dara und nicht nach Tar Valon kommen würdest. Fal Dara, wo die Fäule so nah ist, daß man sie fast mit der Hand berühren kann. Fal Dara, wo Trolloc-Überfälle unter der Leitung der Myrddraal an der Tagesordnung sind. Beinahe zwanzig Jahre des Planens und der Suche, und du wirfst all unsere Pläne praktisch dem Dunklen König in den Schoß. Bist du denn verrückt geworden?«

Nun, da sie die andere Frau offensichtlich wieder zum Leben erweckt hatte, wurde Moiraine zumindest äußerlich wieder die Ruhe selbst. Ruhig, aber auch nachdrücklich. »Das Muster kümmert sich wenig um menschliche Pläne, Siuan. Bei unserer ganzen Planung vergaßen wir, womit wir es zu tun haben: ta'veren. Elaida hat sich geirrt. Artur Paendrag Tanreall war niemals so sehr ta'veren. Das Rad wird das Muster um diesen jungen Mann weben, wie es will, gleich, was wir planen.«

Der Zorn verschwand aus dem Gesicht der Amyrlin und wurde von bleichem Erschrecken ersetzt. »Das klingt, als sagtest jetzt du, wir könnten genausogut aufgeben. Schlägst du jetzt vor, wir sollten zuschauen, wie die Welt brennt?«

»Nein, Siuan. Wir werden niemals nur zuschauen.« Und doch wird die Welt brennen, Siuan, so oder so, was wir auch unternehmen. Das hast du noch nie wahrhaben wollen. »Aber wir müssen uns jetzt klar darüber werden, daß unsere Pläne zerbrechliche Dinge sind. Wir kontrollieren die Lage noch weniger, als wir glaubten. Vielleicht nur mit einem Fingernagel am Zügel. Die Winde des Schicksals wehen, Siuan, und wir müssen dorthin reiten, wohin sie uns führen.«

Die Amyrlin schauderte, als fühle sie diesen eisigen Wind in ihrem Nacken. Ihre Hände glitten zu dem abgeplatteten Goldwürfel, und kräftige, geschickte Finger fanden bestimmte Punkte in den komplizierten Verzierungen. Eine raffinierte Vorrichtung hob den Deckel und gab den Blick frei auf ein gekrümmtes goldenes Horn, das in einer dafür angelegten Kuhle ruhte. Sie hob das Instrument heraus und fuhr die elegante silberne Schrift in der Alten Sprache, die sich um das Mundstück herum zog, mit dem Finger nach.

»Das Grab ist keine Grenze für meinen Ruf«, übersetzte sie so leise, als führe sie nur ein Selbstgespräch. »Das Horn von Valere, geschaffen, um tote Helden aus dem Grab zurückzurufen. Und die Prophezeiung sagt, es werde gerade noch rechtzeitig gefunden, um in der Letzten Schlacht eingesetzt zu werden.« Ruckartig steckte sie das Horn in seinen Behälter zurück und schloß den Deckel, als könne sie den Anblick nicht länger ertragen. »Agelmar schob es mir in die Hände, sobald die Willkommensfeier vorüber war. Er sagte, er habe Angst, in seine eigene Schatzkammer zu gehen, solange es dort ist. Die Versuchung sei zu groß, meinte er, das Horn selbst zu blasen und die Schar, die diesen Ruf beantwortete, durch die Fäule zum Shayol Ghul zu führen, um dem Dunklen König ein Ende zu setzen. Der Drang zum Ruhm in ihm sei übermächtig, und es war genau das, sagte er, was ihm zeigte, daß nicht er es tun solle, nicht tun dürfe. Er konnte es gar nicht abwarten, das Horn loszuwerden, und doch begehrte er es immer noch.«

Moiraine nickte. Agelmar kannte die Prophezeiung in bezug auf das Horn wie die meisten, die gegen den Dunklen König kämpften. »Laß denjenigen, der mich bläst, nicht an Ruhm denken, sondern an Rettung.«

»Rettung.« Die Amyrlin lachte bitter. »Nach dem Ausdruck in Agelmars Augen zu schließen, wußte er nicht, ob er die Rettung aus der Hand gab oder die ewige Verdammnis seiner Seele zurückwies. Er wußte nur, daß er es loswerden mußte, bevor es ihn innerlich verbrannte. Er bemühte sich, es geheim zu halten, aber er sagt, es gebe bereits Gerüchte in der Festung. Ich teile seine Versuchung nicht, doch das Horn gibt mir eine Gänsehaut. Er wird es wieder in seine Schatzkammer sperren müssen, bis ich abreise. Ich könnte nicht schlafen, auch wenn es nur im Nebenzimmer stünde.« Sie rieb sich Runzeln von der Stirn und seufzte. »Und es sollte erst kurz vor der Letzten Schlacht gefunden werden. Kann die schon so nahe sein? Ich dachte, hoffte, wir hätten mehr Zeit.« »Der Karaethon-Zyklus.«

»Ja, Moiraine. Du brauchst mich nicht daran zu erinnern. Ich habe mit den Prophezeiungen des Drachen ebenso lange gelebt wie du.« Die Amyrlin schüttelte den Kopf. »Nie gab es mehr als einen falschen Drachen in einer Generation seit der Zerstörung, und jetzt laufen drei auf einmal in der Welt herum, und während der vergangenen zwei Jahre tauchten nochmals drei auf. Das Muster verlangt nach einem Drachen, da es Tarmon Gai'don entgegenwebt. Manchmal bin ich so von Zweifeln erfüllt, Moiraine.« Sie sagte das so nachdenklich, als staune sie selbst darüber, und im gleichen Tonfall fuhr sie fort: »Was ist, wenn Logain der richtige war? Er konnte die Macht kontrollieren, bis ihn die Roten zur Weißen Burg brachten und wir ihn einer Dämpfung unterzogen. Mazrim Taim, der Mann in Saldaea, kann es auch. Was, wenn er es ist? In Saldaea halten sich bereits Schwestern auf. Zu dieser Zeit ist er vielleicht schon bezwungen. Was ist, wenn wir uns von Beginn an geirrt haben? Was geschieht, wenn der Wiedergeborene Drache eine Dämpfung erfährt, bevor die Letzte Schlacht noch begonnen hat? Selbst Prophezeiungen können danebengehen, wenn der, den sie angekündigt haben, getötet oder gedämpft wird. Und dann stehen wir dem Dunklen König hilflos gegenüber.«

»Keiner von den beiden ist der richtige, Siuan. Das Muster verlangt nicht nach einem Drachen, sondern nach dem einen wahren Drachen. Bis er sich erklärt, wird das Muster weitere falsche Drachen produzieren, doch danach wird es keine mehr geben. Falls Logain oder der andere der richtige gewesen wäre, gäbe es nun keine anderen.«

»›Denn er wird kommen wie der anbrechende Morgen und die Welt erneut mit seinem Kommen zerschmettern und sie neu erschaffen.‹ Entweder stehen wir ihm hilflos gegenüber, oder wir halten uns an einen Schutz, der uns verbrennen wird. Licht, hilf uns allen!« Die Amyrlin schüttelte sich, als wolle sie ihre eigenen Worte von sich abwerfen. Ihr Gesicht wirkte, als habe sie sich auf einen Schlag vorbereitet. »Du konntest vor mir nie verbergen, was du denkst, so wie du es vor anderen verbirgst, Moiraine. Du hast mir mehr zu sagen, und zwar nichts Gutes.«

Zur Antwort nahm Moiraine die Ledertasche von ihrem Gürtel und stellte sie auf den Kopf. Der Inhalt ergoß sich auf den Tisch. Es schien nur ein Häufchen zerschlagener Keramik zu sein, glänzend schwarz und weiß gefärbt.

Die Amyrlin berührte neugierig eine Scherbe, und ihr stockte der Atem. »Cuendillar.«

»Herzstein«, stimmte Moiraine zu. Das Herstellungsverfahren von Cuendillar war bei der Zerstörung der Welt verlorengegangen, aber alles, was aus Herzstein bestand, hatte den Weltuntergang überstanden. Selbst die Objekte, die von der Erde verschlungen worden oder im Meer versunken waren, hatten es überstanden. So mußte es auch sein. Keine bekannte Kraft konnte Cuendillar zerstören, wenn es fertig war. Selbst die Eine Macht, gegen Herzstein gerichtet, machte ihn lediglich stärker. Trotzdem hatte irgendeine Kraft dieses Stück zerbrochen.

Die Amyrlin setzte hastig die Stücke zusammen. Was daraus entstand, war eine Scheibe von der Größe einer Männerhand, zur Hälfte schwärzer als Pech, zur Hälfte weißer als Schnee. Die Farben wurden durch eine geschwungene Linie getrennt, die trotz des Alters nicht verblaßt war. Das alte Symbol der Aes Sedai aus der Zeit, bevor die Welt zerstört wurde, als Männer und Frauen noch die Macht gemeinsam benützten. Die eine Hälfte wurde nun die Flamme von Tar Valon genannt, die andere Hälfte kritzelte man auf Türen, um die Bewohner eines solchen Hauses des Bösen zu beschuldigen, und man nannte es den Drachenzahn. Nur sieben solcher Scheiben waren angefertigt worden. Alles, was je aus Herzstein gemacht worden war, war in der Weißen Burg aufgezeichnet worden, und an diese sieben erinnerte man sich vor allem. Siuan Sanche starrte darauf als habe sie auf ihrem Kopfkissen eine Viper entdeckt.

»Eines der Siegel vom Gefängnis des Dunklen Königs«, sagte sie schließlich zögernd. Es waren gerade diese sieben Siegel, über die die Amyrlin wachen sollte. Das Geheimnis, das man der Welt verborgen hatte, falls überhaupt jemals jemand daran dachte, war, daß keine Amyrlin seit den Trolloc-Kriegen mehr gewußt hatte, wo sich die Siegel befanden.

»Wir wissen, daß sich der Dunkle König wieder rührt, Siuan. Wir wissen, daß sein Gefängnis nicht für alle Zeiten versiegelt bleiben kann. Menschliches Werk kann niemals dem des Schöpfers gleichkommen. Wir wußten, daß er die Welt wieder berührt hat, wenn auch, dem Licht sei Dank, nur indirekt. Die Anzahl der Schattenfreunde wächst ständig, und was wir noch vor nur zehn Jahren als böse bezeichnet haben, scheint uns heute nur noch harmlos gegen das, was jeden Tag geschieht.«

»Wenn die Siegel brechen... Vielleicht haben wir gar keine Zeit mehr.«

»Wenig genug. Aber das Wenige reicht vielleicht. Es muß reichen.«

Die Amyrlin berührte das zerbrochene Siegel, und ihre Stimme klang angespannt, als zwinge sie sich zum Sprechen: »Ich habe den Jungen gesehen — im Hof während der Willkommensfeier. Es gehört zu meinen Talenten, daß ich ta'veren erkenne. Das ist heutzutage ein seltenes Talent, noch seltener als ta'veren, und zu nicht viel zu gebrauchen. Ein großer Junge, ein recht gut aussehender junger Mann. Unterscheidet sich nicht sehr von anderen jungen Männern, wie man sie überall sieht.« Sie schwieg einen Moment und holte tief Luft. »Moiraine, er strahlte wie die Sonne. Ich habe in meinem Leben selten Angst gehabt, aber bei seinem Anblick zitterte ich bis zu den Zehenspitzen. Ich hätte mich am liebsten am Boden zusammengekauert und wie ein Wolf geheult. Ich konnte kaum sprechen. Agelmar glaubte, ich sei auf ihn böse, weil ich so schweigsam war. Dieser junge Mann... er ist derjenige, den wir zwanzig Jahre lang gesucht haben.«

Es lag eine angedeutete Frage in ihrer Stimme. Moiraine beantwortete sie: »Ja, er ist es.«

»Bist du sicher? Kann er... ? Beherrscht er... die Eine Macht?«

Ihr Mund formte die Worte nur mühsam, und auch Moiraine fühlte die Anspannung, ein inneres Zerren, eine kalte Hand an ihrem Herzen. Aber ihr Gesicht verzog sich nicht. »Er beherrscht sie.« Ein Mann, der die Eine Macht lenkte. Das war etwas, das keine Aes Sedai ohne Furcht bewältigen konnte. Es war etwas, das die ganze Welt fürchtete. Und ich werde ihn auf die Welt loslassen. »Rand al'Thor wird als der Wiedergeborene Drache vor der Welt stehen.«

Die Amyrlin schauderte. »Rand al'Thor. Das klingt nicht wie ein Name, der der Welt Angst einjagt und sie verbrennt.« Sie schauderte noch einmal und rieb sich energisch die Arme. Ihre Augen blickten nun entschlossen drein. »Wenn er derjenige ist, dann haben wir vielleicht wirklich noch genug Zeit. Aber ist er hier in Sicherheit? Ich habe zwei Rote Schwestern dabei, und ich kann nicht mehr für die Grünen und die Gelben garantieren. Das Licht verschlinge mich, bei der Angelegenheit kann ich für niemanden garantieren. Selbst Verin und Serafelle würden sich auf ihn stürzen wie auf eine Puffotter im Kinderzimmer.«

»Im Augenblick ist er in Sicherheit.«

Die Amyrlin wartete darauf, daß sie noch mehr sagte. Das Schweigen dehnte sich, bis es klar wurde, daß sie nichts hinzufügen wollte. Schließlich sagte die Amyrlin: »Du meinst, unser alter Plan sei nutzlos. Was schlägst du nun vor?«

»Ich habe ihn mit Absicht glauben gemacht, ich hätte das Interesse an ihm verloren und er könne meinetwegen gehen, wohin er will.« Sie hob beide Hände abwehrend, als die Amyrlin den Mund öffnete. »Das war nötig, Siuan. Rand al'Thor ist in den Zwei Flüssen aufgewachsen, wo das halsstarrige Blut von Manetheren in jeder Ader fließt, und sein eigenes Blut ist wie ein Fels, verglichen mit dem von Manetheren. Man muß sanft mit ihm umgehen, oder er rennt in jede Richtung los, nur nicht in die, die unserem Willen entspricht.«

»Dann werden wir ihn wie ein neugeborenes Kind behandeln. Wir wickeln ihn in Windeln und spielen mit seinen Zehen, wenn du glaubst, daß es nötig ist. Aber wozu eigentlich?«

»Seine beiden Freunde, Matrim Cauthon und Perrin Aybara, sind reif dafür, die Welt zu sehen, bevor sie wieder im Hinterwäldlertum der Zwei Flüsse versacken. Falls sie versacken können; auch sie sind ta'veren, wenn auch nicht im gleichen Maß wie er. Ich werde sie dazu anregen, das Horn von Valere nach Illian zu bringen.«

Sie zögerte und zog die Stirn kraus. »Es gibt allerdings ein... Problem in bezug auf Mat. Er trägt einen Dolch aus Shadar Logoth.«

»Shadar Logoth! Licht, warum hast du sie jenem Ort auch nur nahe kommen lassen? Jeder Stein dort ist verflucht. Man kann noch nicht einmal unbeschadet einen Kieselstein wegtragen. Licht, hilf uns, wenn Mordeth den Jungen berührt hätte... « Die Amyrlin klang, als werde sie erwürgt. »Wenn das geschähe, wäre die Welt zum Untergang verdammt.«

»Aber es ist nicht geschehen, Siuan. Wir tun, was wir eben tun müssen. Ich habe genug getan, damit Mat niemand anderes anstecken kann, aber er hatte den Dolch schon zu lange in seinem Besitz, bevor ich davon erfuhr. Die Verbindung ist noch vorhanden. Ich hatte geglaubt, ich müsse ihn nach Tar Valon bringen, um ihn zu heilen, aber bei so vielen Schwestern hier könnte man das auch hier erledigen. Solange es noch ein paar gibt, bei denen du weißt, daß sie keine Schattenfreunde sehen, wo es keine gibt. Du und ich und zwei andere genügen, wenn wir mein Angreal benützen.«

»Leane wird eine sein, und ich werde schon eine andere finden.« Plötzlich grinste die Amyrlin trocken. »Der Saal will diesen Angreal zurückhaben, Moiraine. Es gibt nicht mehr viele davon, und dich hält man nun für... unzuverlässig.«

Moiraine lächelte, doch das Lächeln erreichte ihre Augen nicht. »Sie werden mich für noch viel schlimmer halten, wenn ich fertig bin. Mat wird glücklich über die Möglichkeit sein, ein so wichtiger Teil der Legende vom Horn zu werden, und Perrin sollte auch nicht so schwer zu überreden sein. Er braucht etwas, das ihn von seinen eigenen Problemen ablenkt. Rand weiß, was er ist —jedenfalls zum Teil, zum kleinen Teil —, und er hat natürlich Angst davor. Er will allein irgendwohin gehen, wo er niemanden verletzen kann. Er sagt, er wolle die Macht nie wieder anwenden, aber er befürchtet auch, daß er nicht damit aufhören kann.«

»Da hat er auch ganz recht. Es ist leichter, das Wassertrinken aufzugeben.«

»Stimmt. Und er möchte die Aes Sedai loswerden.« Moiraine lächelte ein wenig — allerdings auf eine freudlose Art. »Wenn man ihm die Möglichkeit bietet, die Aes Sedai hinter sich zu lassen und trotzdem noch ein wenig länger bei seinen Freunden zu bleiben, dann wird er genauso eifrig dabei sein wie Mat.«

»Aber wie kann er die Aes Sedai hinter sich lassen? Du mußt doch natürlich mit ihm gehen. Wir dürfen ihn jetzt nicht mehr verlieren, Moiraine.«

»Ich kann nicht mit ihm gehen.« Es ist ein langer Weg von Fal Dara nach Illian, aber er ist ja schon beinahe genausoweit gekommen. »Er muß eine Weile lang von der Leine gelassen werden. Da hilft nichts. Ich habe ihre ganze alte Kleidung verbrennen lassen. Es bestand die Möglichkeit, daß irgendein Fetzen dessen, was sie trugen, in die falschen Hände gefallen sein könnte. Ich werde sie reinigen, bevor sie aufbrechen. Sie werden noch nicht einmal bemerken, was ich getan habe. Auf diese Weise werden sie keine Spuren hinterlassen, und die einzige andere Bedrohung dieser Art ist im Kerker eingesperrt.« Die Amyrlin, gerade im Begriff, zustimmend zu nicken, sah sie statt dessen fragend an; sie unterbrach ihren Redefluß aber nicht. »Sie werden so sicher reisen, wie es geht, Siuan. Und wenn Rand mich in Illian braucht, dann werde ich dort sein und dafür sorgen, daß er es ist, der das Horn dem Rat der Neun und der Versammlung übergibt. Ich werde mich in Illian um alles kümmern. Siuan, die Illianer würden dem Drachen folgen oder auch sogar Ba'alzamon selbst, wenn er nur mit dem Horn von Valere ankäme, und der größte Teil derer, die sich zur Jagd versammelt haben, würde es genauso machen. Der wahre Wiedergeborene Drache muß nicht erst Anhänger um sich scharen, bevor die Nationen gegen ihn vorgehen. Er wird mit einer Nation und einem Heer im Rücken beginnen.«

Die Amyrlin fiel auf ihren Stuhl zurück, beugte sich dann aber gleich vor. Sie schien zwischen Erschöpfung und Hoffnung zu schwanken. »Aber wird er sich erklären? Wenn er Angst hat... Das Licht allein weiß, wie sehr er sich fürchten sollte, aber die Männer, die sich als der Drache erklären, wollen Macht besitzen. Wenn er nicht so ist... «

»Ich habe die Mittel, um dafür zu sorgen, daß er zum Drachen erklärt wird, ob er will oder nicht. Und selbst wenn ich versagen sollte, wird das Muster dafür sorgen, daß er als der Drache enthüllt wird, ob er will oder nicht. Denk daran, er ist ta'veren, Siuan. Er hat nicht mehr Kontrolle über sein Schicksal als der Docht einer Kerze über die Flamme.«

Die Amyrlin seufzte. »Das ist riskant, Moiraine. Riskant. Aber mein Vater sagte immer: ›Mädchen, wenn du kein Risiko eingehst, gewinnst du auch nichts.‹ Wir müssen planen. Setz dich her; das wird eine Weile dauern. Ich lasse uns Wein und Käse kommen.«

Moiraine schüttelte den Kopf. »Wir sind schon zu lange miteinander allein gewesen. Falls irgend jemand versucht hat, uns zu belauschen, und gemerkt hat, daß du uns dagegen geschützt hast, wird es bereits Aufsehen erregen. Es ist das Risiko nicht wert. Wir können uns morgen wieder treffen.« Außerdem, meine liebste Freundin, kann ich dir nicht alles erzählen, und ich kann nicht riskieren, dich wissen zu lassen, daß ich etwas zurückhalte.

»Ich denke, du hast recht. Aber gleich als erstes am Morgen. Es gibt so vieles, was ich wissen muß.«

»Am Morgen«, stimmte Moiraine zu. Die Amyrlin erhob sich, und sie umarmten sich wieder. »Am Morgen erzähle ich dir alles, was du wissen mußt.«

Leane sah Moiraine scharf an, als sie in den Vorraum hinaustrat. Dann schoß sie ins Zimmer der Amyrlin. Moiraine bemühte sich, ein zerknirschtes Gesicht zur Schau zu tragen, als hätte sie eine der berüchtigten Schimpfkanonaden der Amyrlin über sich ergehen lassen müssen — die meisten Frauen, so stark sie auch waren, überstanden das nur mit großen Augen und weichen Knien —, aber dieser Gesichtsausdruck lag ihr nicht. Sie sah eher zornig aus, aber das diente ungefähr dem gleichen Zweck. Sie war sich der anderen Frauen im Vorraum kaum bewußt. Sie glaubte zu bemerken, daß einige gegangen und andere dafür gekommen waren, seit sie hineingegangen war, aber sie blickte sie nur flüchtig an. Es wurde spät, und es gab viel zu tun, bis der Morgen kam. Viel, bevor sie wieder mit der Amyrlin sprechen würde.

Sie beschleunigte ihren Schritt und ging tiefer in die Festung hinein.

Die Kolonne war ein beeindruckender Anblick, wie sie sich unter dem zunehmenden Mond mit klimperndem Pferdegeschirr durch die Dunkelheit von Tarabon vorwärtsschob. Allerdings war niemand da, der den Anblick hätte genießen können. Ganze zweitausend Kinder des Lichts, gut beritten, in weißen Wappenröcken und Umhängen, mit polierten Rüstungen, dazu der Zug der Proviantwagen und ihre Fahrer sowie die Pferdeknechte mit den Leinen voll Ersatzpferden... Es gab in diesem spärlich bewaldeten Gebiet durchaus Dörfer, doch sie hatten die Straßen verlassen und hielten sich fern von den Gehöften der Bauern. Sie sollten... jemanden... treffen, und zwar in einem winzigen Dorf in der Nähe der nördlichen Grenze von Tarabon, am Rande der Ebene von Almoth.

Geofram Bornhald, der an der Spitze seiner Männer ritt, fragte sich, was das alles bedeuten mochte. Er erinnerte sich nur zu gut an sein Gespräch mit Pedron Niall, dem Kommandeur der Kinder des Lichts in Amador, aber er hatte dort wenig erfahren.

»Wir sind allein, Geofram«, hatte der weißhaarige Mann gesagt. Seine Stimme klang dünn und altersschwach. »Ich erinnere mich daran, wie ich dir den Eid abnahm... vor... vor sechsunddreißig Jahren war das wohl.«

Bornhald richtete sich auf. »Mein Lordhauptmann und Kommandeur, darf ich fragen, warum ich mit solcher Dringlichkeit aus Caemlyn zurückgerufen wurde? Ein kleiner Stoß, und Morgase wäre gestürzt gewesen. Es gibt Häuser in Andor, die den Beziehungen mit Tar Valon gegenüber die gleiche Haltung einnehmen wie wir, und sie waren bereit, den Thron zu besteigen. Ich übergab das Kommando dort an Eamon Valda, aber er schien vor allem der Tochter-Erbin nach Tar Valon folgen zu wollen. Ich wäre nicht überrascht zu erfahren, daß der Mann das Mädchen gefangen oder sogar Tar Valon angegriffen hat.« Und Dain, Bornhalds Sohn, war gerade noch eingetroffen, bevor Bornhald abberufen worden war. Dain war von Eifer erfüllt. Übereifer manchmal. Genug, um blind auf alles einzugehen, was Valda vorschlug.

»Valda wandelt im Licht, Geofram. Aber du bist der beste Kampfstratege unter den Kindern. Du wirst eine ganze Legion einberufen, die besten Männer, die du finden kannst, und sie nach Tarabon bringen. Doch meide jedes Auge, das mit einer Zunge verbunden ist, die sprechen kann. Jede solche Zunge muß zum Schweigen gebracht werden, falls das Auge euch gesehen hat.«

Bornhald zögerte. Fünfzig der Kinder oder sogar hundert konnten ohne große Probleme ein Land betreten, oder zumindest, ohne offene Fragen auszulösen, doch eine ganze Legion... »Bedeutet das Krieg, mein Lordhauptmann und Kommandeur? Es wird auf der Straße davon gesprochen. Meist sind es wilde Gerüchte über die Rückkehr des Heeres von Artur Falkenflügel.« Der alte Mann sagte nichts. »Der König... «

»Kommandiert die Kinder nicht, Lordhauptmann Bornhald.« Zum erstenmal klang Härte in der Stimme des Kommandeurs mit. »Aber ich. Laßt den König in seinem Palast sitzen und tun, was er am besten kann, nämlich nichts. Du wirst in einem Dorf namens Alcruna erwartet, und dort wirst du deine endgültigen Befehle erhalten. Ich erwarte, daß deine Legion in drei Tagen losreitet. Geh jetzt, Geofram. Du hast eine Menge zu tun.«

Bornhald zog die Stirn in Falten. »Verzeiht, mein Lordhauptmann und Kommandeur, doch wer wird mich erwarten? Warum muß ich einen Krieg mit Tarabon riskieren?«

»Man wird dir alles sagen, was du wissen mußt, wenn du Alcruna erreichst.« Der Kommandeur sah plötzlich älter aus als er war. Geistesabwesend zupfte er an seinem weißen Gewand herum, auf dessen Brustteil groß der goldene Sonnenaufgang der Kinder aufgestickt war. »Es sind Mächte jenseits deiner Kenntnisse am Werk, Geofram. Jenseits dessen sogar, was du überhaupt wissen kannst. Wähle deine Männer schnell aus. Geh jetzt! Stelle mir keine Fragen mehr. Und möge das Licht mit dir reiten.«

Jetzt richtete sich Bornhald im Sattel auf und bemühte sich, eine Verspannung in seinem Rücken wegzureiben. Ich werde alt, dachte er. Ein Tag und eine Nacht im Sattel mit zwei Pausen, um die Pferde zu tränken, und er fühlte jedes graue Haar auf seinem Kopf. Vor ein paar Jahren hätte ihm das noch nichts ausgemacht. Wenigstens habe ich keine Unschuldigen getötet. Er ging mit Schattenfreunden ebenso hart um wie jeder Mann, der den Eid auf das Licht geleistet hatte — Schattenfreunde mußten eliminiert werden, bevor sie die ganzen Welt dem Schatten unterwarfen —, aber er wollte zuerst einmal sichergehen, daß sie auch wirklich Schattenfreunde waren. Es war schwierig gewesen, bei so vielen Männern eine Entdeckung durch die Taraboner selbst im Hinterland zu vermeiden, aber er hatte es geschafft. Er mußte keine Zungen zum Schweigen bringen.

Die Kundschafter, die er vorausgeschickt hatte, kamen zurückgeritten, und hinter ihnen folgten noch mehr Männer in weißen Mänteln. Einige von ihnen trugen Fackeln und störten natürlich die Nachtsicht aller, die an der Spitze der Kolonne ritten. Mit einem leisen Fluch befahl Bornhald anzuhalten, während er die Ankömmlinge musterte.

Auf den Brustteilen ihrer Umhänge waren die gleichen goldenen Sonnenaufgänge wie bei ihm zu sehen, die gleichen wie bei allen Kindern des Lichts, und ihr Anführer trug sogar die goldenen Offiziersknoten darunter, die ihn als Bornhald im Rang gleichgestellt auswiesen. Aber hinter den Sonnenstrahlen befanden sich rote Hirtenstäbe. Zweifler. Mit glühenden Eisen und Zangen und tropfendem Wasser erzwangen die Zweifler Geständnisse und Reue von Schattenfreunden, aber viele behaupteten, über die Schuld sei schon entschieden, bevor sie auch nur mit der Folter begannen. Geofram Bornhald war einer von denen, die das behaupteten.

Man hat mich hierhergesandt, um Zweifler zu treffen?

»Wir haben auf Euch gewartet, Lordhauptmann Bornhald«, sagte der Anführer mit rauher Stimme. Es war ein hochgewachsener Mann mit einer Hakennase und dem Glitzern absoluter Überzeugung in den Augen, das man bei allen Zweiflern sah. »Ihr hättet schneller kommen können. Ich bin Einor Saren, der Stellvertreter von Jaichim Carridin, der die Hand des Lichts in Tarabon befehligt.« Die Hand des Lichts — die Hand, die die Wahrheit herausquälte, sagte man. Sie hörten die Bezeichnung Zweifler nicht gern. »Es gibt im Dorf eine Brücke. Führt Eure Männer darüber. Wir werden uns in der Schenke unterhalten. Sie ist überraschend bequem eingerichtet.«

»Mir wurde vom Kommandeur aufgetragen, jede Entdeckung zu vermeiden.«

»Das Dorf wurde... befriedet. Führt nun Eure Männer weiter. Ich übernehme jetzt das Kommando. Ich habe Befehle mit dem Siegel des Kommandeurs, falls Ihr an der Berechtigung zweifelt.«

Bornhald unterdrückte das Grollen, das in ihm aufstieg. Befriedet. Er fragte sich, ob man die Leichen außerhalb des Dorfes aufgestapelt oder in den Fluß geworfen hatte. Das würde den Zweiflern ähnlich sehen: kaltschnäuzig genug, um der Geheimhaltung wegen ein ganzes Dorf zu ermorden, und dumm genug, die Leichen in den Fluß zu werfen, wo sie flußabwärts trieben und ihre Untat von Alcruna bis Tanchico hinausposaunten. »Was ich mich frage, ist, warum ich mit zweitausend Männern in Tarabon bin, Zweifler.«

Sarens Gesicht spannte sich, und seine Stimme klang wiederum hart und fordernd: »Das ist einfach, Lordhauptmann. Es gibt auf der Ebene von Almoth Städte und Dörfer, die niemanden über sich anerkennen als höchstens einen Bürgermeister oder einen Gemeinderat. Es ist höchste Zeit, daß sie zum Licht gebracht werden. Es wird an solchen Orten viele Schattenfreunde geben.«

Bornhalds Pferd stampfte auf. »Wollt Ihr damit sagen Saren, daß ich eine ganze Legion heimlich durch den größten Teil Tarabons führen mußte, nur um ein paar Schattenfreunde aus einigen schmierigen Dörfern herauszuholen?«

»Ihr seid hier, wie es Euch befohlen wurde, Bornhald. Um für das Licht zu arbeiten. Oder gleitet Ihr aus dem Licht hinaus?« Sarens Lächeln glich einer Grimasse. »Falls Ihr den Kampf sucht, könnt Ihr Gelegenheit dazu bekommen. Die Fremden haben eine große Streitmacht auf der Toman-Halbinsel, mehr Soldaten, als Tarabon und Arad Doman gemeinsam aufhalten können, auch wenn sie ihre ewigen Streitereien mal vergessen und zusammenarbeiten. Falls die Fremden durchbrechen, werdet Ihr alle Hände voll zu tun haben mit Kämpfen. Die Taraboner behaupten, die Fremden seien Ungeheuer, Kreaturen des Dunklen Königs. Einige sagen, sie hätten Aes Sedai dabei, die für sie kämpfen. Falls sie wirklich Schattenfreunde sind, diese Fremden, muß man sich um sie kümmern. Wenn die Zeit dazu gekommen ist.«

Einen Augenblick lang stockte Bornhald der Atem. »Dann stimmen die Gerüchte. Artur Falkenflügels Heer ist zurückgekehrt.«

»Fremde«, sagte Saren ausdruckslos. Es klang, als bereue er, überhaupt damit angefangen zu haben. »Fremde, möglicherweise Schattenfreunde, woher auch immer sie kamen. Das ist alles, was wir wissen, und alles, was Ihr wissen müßt. Im Moment betrifft Euch das noch nicht. Wir verschwenden unsere Zeit. Bringt Eure Männer über den Fluß, Bornhald. Ich werde Euch Eure Befehle im Dorf übermitteln.« Er riß sein Pferd herum und galoppierte den Weg zurück, den sie gekommen waren. Die Fackelträger folgten ihm auf den Fersen.

Bornhald schloß die Augen, damit er schneller wieder im Dunkeln sehen konnte. Man benützt uns wie die Steine auf einem Spielbrett. »Byar!« Er öffnete die Augen, als sein Adjudant neben ihm erschien und im Sattel vor seinem Lordhauptmann Haltung annahm. Der Mann mit dem hageren Gesicht hatte beinahe den Ausdruck der Zweifler in den Augen, aber trotzdem war er ein guter Soldat. »Vor uns liegt eine Brücke. Bringe die Legion hinüber, und laß sie dort lagern. Ich werde wieder bei euch sein, sobald ich kann.«

Er raffte seine Zügel und ritt in dieselbe Richtung wie der Zweifler. Steine auf einem Spielbrett. Aber wer zieht uns? Und warum?

Die Nachmittagsschatten machten langsam dem Abend Platz, als Liandrin durch die Frauenquartiere ging. Jenseits der Schießscharten wurde es dunkel, und die zunehmende Dunkelheit drückte gegen den Schein der Lampen im Korridor. In letzter Zeit machte Liandrin die Dämmerung — sowohl abends als auch morgens — mächtig zu schaffen. In der Morgendämmerung wurde der Tag geboren, und in der Abenddämmerung die Nacht, aber am Morgen starb auch die Nacht, und der Tag starb mit der Abenddämmerung. Die Macht des Dunklen Königs hatte ihre Wurzeln im Tod, aus dem er seine Kraft bezog, und zu diesen Tageszeiten glaubte sie, seine Macht fast greifbar spüren zu können. Auf jeden Fall aber rührte sich etwas im Halbdunkel des Flurs. Sie war sich fast sicher, sie könne es sehen, wenn sie sich nur schnell genug umdrehte und wenn sie nur konzentriert genug hinsah.

Dienerinnen in Schwarz und Gold knicksten, als sie vorbeiging, aber sie reagierte nicht darauf. Sie sah stur geradeaus und würdigte sie keines Blicks.

An der gesuchten Tür schließlich blieb sie kurz stehen und sah sich schnell nach allen Seiten um. Die einzigen Frauen in Sichtweite waren Dienerinnen; natürlich waren keine Männer da. Sie schob die Tür auf und ging ohne Anklopfen hinein.

Das vordere von den Gemächern der Lady Amalisa war hell beleuchtet, und ein prasselndes Feuer im Herd minderte die Kühle der schienarischen Nacht. Amalisa und ihre Hofdamen saßen im Raum auf Stühlen oder auf Teppichstapeln und lauschten, während eine von ihnen im Stehen laut etwas vorlas. Es war Der Tanz des Falken und des Kolibris von Teven Aerwin, in dem die Benimmregeln von Männern Frauen gegenüber und von Frauen Männern gegenüber festgelegt wurden. Liandrins Mund verzog sich; sie hatte das gewiß nicht gelesen, aber mehr als genug davon gehört. Amalisa und ihre Damen begrüßten jede Eröffnung mit schallendem Gelächter. Sie ließen sich aufeinanderfallen und trommelten mit den Fersen auf die Teppiche wie Mädchen.

Die Vorleserin war die erste, die Liandrin entdeckte. Sie brach mit überrascht geweiteten Augen mitten im Satz ab. Die anderen drehten sich um, weil sie sehen wollten, wen sie so anstarrte, und dann verstummte das Lachen. Alle außer Amalisa rappelten sich hoch und glätteten hastig Haar und Kleid.

Lady Amalisa erhob sich graziös mit einem Lächeln auf den Lippen. »Ihr ehrt uns mit Eurer Gegenwart, Liandrin. Das ist eine äußerst angenehme Überraschung. Ich erwartete Euch erst morgen. Ich dachte, Ihr wolltet Euch nach der langen Reise ausr... «

Liandrin unterbrach sie in scharfem Ton, wobei sie sie nicht direkt ansprach, sondern in die Luft hinein redete: »Ich beabsichtige, mit Lady Amalisa allein zu sprechen. Ihr werdet alle gehen. Sofort.«

Es gab einen Augenblick erschrockenen Schweigens, und dann verabschiedeten sich die anderen Frauen von Amalisa. Eine nach der anderen knickste vor Liandrin, doch diese reagierte nicht darauf. Sie starrte weiter geradeaus ins Leere, doch sie sah und hörte sie. Ehrenbezeigungen, die unangenehm berührt ob der Laune der Aes Sedai dargebracht wurden. Gesenkte Augen, als sie sie nicht beachtete. Sie drückten sich an ihr vorbei zur Tür, wobei sie sich rückwärts vorbeischieben mußten, damit ihre Röcke den ihren nicht berührten.

Als sich die Tür hinter der letzten schloß, sagte Amalisa: »Liandrin, ich verstehe ni... «

»Wandelst du im Licht, Tochter?« Hier würde es diesen Unsinn nicht mehr geben, sie ›Schwester‹ zu nennen. Die andere Frau war einige Jahre älter, doch die alten Höflichkeitsformen würden von jetzt ab wieder beachtet werden. Wie lange sie auch vergessen sein mochten, es war Zeit, sich wieder daran zu erinnern.

Sobald sie die Frage gestellt hatte, merkte Liandrin, daß sie einen Fehler begangen hatte. Es war eine Frage, die, wenn eine Aes Sedai sie stellte, Zweifel und Angst auslöste, doch Amalisas Rücken versteifte sich, und ihr Gesichtsausdruck wurde hart.

»Das ist eine Beleidigung, Liandrin Sedai. Ich bin Schienarerin aus einem adligen Haus und aus einer Familie von Soldaten. Meine Familie hat schon gegen den Schatten gekämpft, bevor es Schienar überhaupt gab; dreitausend Jahre ohne Fehl und Tadel und ohne einen einzigen Tag der Schwäche.«

Liandrin verlegte sich auf eine andere Art des Angriffs; sie dachte nicht daran zurückzustecken. Sie schritt quer durch den Raum, nahm das ledergebundene Exemplar von Der Tanz des Falken und des Kolibris und hielt es, ohne hineinzublicken. »In Schienar, meine Tochter, muß noch mehr als in anderen Ländern das Licht hochgehalten und der Schatten gefürchtet werden.« Ganz nebenbei warf sie das Buch ins Feuer. Flammen schlugen hoch, als sei es ein Stück Feuerholz. Sie prasselten, als sie den Kamin hochzüngelten. Im gleichen Augenblick flammte jede Lampe im Raum zischend auf. Sie brannten derart heiß, daß sie den Raum mit Licht überfluteten. »Hier mehr als überall sonst. Hier, so nahe an der verfluchten Fäule, wo das Verderben wartet. Hier könnte selbst jemand, der glaubt, im Licht zu wandeln, bereits vom Schatten verdorben sein.«

Schweißtropfen glitzerten auf Amalisas Stirn. Die Hand, die sie zum Protest des Buches wegen erhoben hatte, fiel schlaff herunter. Ihre Züge blieben immer noch fest und entschlossen, doch Liandrin beobachtete, wie sie schluckte und von einem Fuß auf den anderen trat. »Ich verstehe nicht, Liandrin Sedai. Liegt es an dem Buch? Das ist doch nur Unsinn.«

Ihre Stimme schwankte ein wenig. Gut. Die Glasmäntel einiger Lampen zersprangen, als die Flammen heißer und höher hinaufschlugen und den Raum so hell beleuchteten, als hielten sie sich zur Mittagszeit ungeschützt im Freien auf. Amalisa stand stocksteif da. Ihr Gesicht war angespannt. Sie bemühte sich, nicht zu blinzeln.

»Ihr seid es, die Unsinn redet, meine Tochter. Mir liegt nichts an Büchern. Hier betreten Menschen die Fäule und wandeln in ihrer Verderbtheit. Direkt im Schatten. Warum wundert Ihr Euch dann, wenn der Fluch in sie einsickert? Ob mit oder gegen ihren Willen: Er dringt in sie ein. Warum glaubt Ihr, daß die Amyrlin sich persönlich hierherbegeben hat?«

»Nein!« Es war mehr ein Keuchen.

»Ich gehöre zu den Roten, meine Tochter«, sagte Liandrin drängend. »Ich jage alle Männer, die vom Verderben angesteckt sind.«

»Ich verstehe nicht.«

»Nicht nur die Verderbten, die die Eine Macht zu benützen versuchen. Alle befallenen Männer, ob hochstehend oder gemein, werden von mir gejagt.«

»Ich... « Amalisa leckte sich verunsichert die Lippen und bemühte sich sichtlich, sich zusammenzureißen. »Ich verstehe nicht, Liandrin Sedai. Bitte... «

»Die hochstehenden sogar noch eher als die gemeinen.«

»Nein!« Als wäre eine unsichtbare Stütze zusammengebrochen, fiel Amalisa auf die Knie, und ihr Kopf senkte sich. »Bitte, Liandrin Sedai, sagt, daß Ihr nicht Agelmar meint. Es kann ihn nicht betreffen.«

In diesem Augenblick voll Zweifel und Verwirrung schlug Liandrin zu. Sie bewegte sich nicht, sondern schlug mit der Einen Macht nach Amalisa. Die schnappte nach Luft und zuckte, als habe man sie mit einer Nadel gestochen, und Liandrins Schmollmund verzog sich zu einem Lächeln.

Das war ihr eigener besonderer Trick aus ihrer Kindheit, die erste ihrer Fähigkeiten, die sie zu verwenden gelernt hatte. Es war ihr verboten worden, sobald die für die Novizinnen zuständige Rektorin es bemerkt hatte, aber das bedeutete für Liandrin lediglich eine weitere Sache, die sie vor denen verbergen mußte, die auf sie eifersüchtig waren.

Sie trat vor und hob Amalisas Kinn an. Das Metall, das sie aufrecht gehalten hatte, war noch immer da, aber nun war es ein minderwertigeres Metall, das auf den richtigen Druck hin verformbar war. Tränen rannen aus Amalisas Augenwinkeln und glitzerten auf ihren Wangen. Liandrin ließ die Feuer wieder zur normalen Stärke zurücksinken; sie benötigte sie nicht mehr. Sie gebrauchte nun sanftere Worte, doch ihre Stimme war so unnachgiebig wie Stahl.

»Tochter, niemand will, daß Ihr und Agelmar den Leuten als Schattenfreunde vorgeworfen werdet. Ich werde Euch helfen, aber Ihr müßt auch mir helfen.«

»Euch h... helfen?« Amalisa legte die Hände an die Schläfen. Sie sah völlig verwirrt aus. »Bitte, Liandrin Sedai, ich... verstehe nicht. Es ist alles so... Es ist alles... «

Die Fähigkeit war nicht absolut perfekt; Liandrin konnte niemanden dazu zwingen zu tun, was sie wollte —obwohl sie es oft versucht hatte. Und wie sie es versucht hatte! Aber sie konnte sie ihren Argumenten zugänglich machen, sie wünschen lassen, sie könnten ihr Glauben schenken, sie könnten sich von ihr überzeugen lassen.

»Gehorcht, Tochter! Gehorcht und beantwortet meine Fragen wahrheitsgemäß, und ich verspreche Euch, daß Euch und Agelmar niemand als Schattenfreunde bezeichnen wird. Ihr werdet nicht nackt durch die Straßen gezerrt und aus der Stadt geprügelt, falls Euch die Leute nicht zuvor schon in Stücke reißen. Ich werde das nicht geschehen lassen. Versteht Ihr?«

»Ja, Liandrin Sedai, ja. Ich will tun, was Ihr sagt, und Euch wahrheitsgemäß antworten.«

Liandrin richtete sich auf und blickte auf die andere Frau hinunter. Lady Amalisa blieb, wie sie war, kniend, mit offenem Gesicht, offen wie das eines Kindes, eines Kindes, das darauf wartet, von jemand Weiserem und Stärkerem getröstet zu werden und Hilfe zu erhalten. Liandrin fand das richtig und standesgemäß. Sie hatte nie verstanden, warum einer Aes Sedai gegenüber eine einfache Verbeugung oder ein Knicks ausreichen sollte, wenn die Männer und Frauen vor Königen und Königinnen auf die Knie fielen. Welche Königin besitzt schon meine Macht? Ihr Mund verzog sich ärgerlich, und Amalisa schauderte.

»Beruhigt Euch, meine Tochter. Ich bin gekommen, Euch zu helfen und nicht zu bestrafen. Nur diejenigen, die es verdient haben, werden bestraft. Sagt mir nur die Wahrheit.«

»Das werde ich, Liandrin Sedai. Das werde ich. Ich schwöre es bei der Ehre meines Hauses.«

»Moiraine kam mit einem Schattenfreund nach Fal Dara.«

Amalisa war zu verängstigt, um Überraschung zu zeigen. »O nein, Liandrin Sedai! Nein. Der Mann kam später. Er ist jetzt im Kerker.«

»Später, sagt Ihr? Aber es ist wahr, daß sie oft mit ihm spricht? Sie befindet sich oft in der Gesellschaft dieses Schattenfreunds? Allein?«

»M... manchmal, Liandrin Sedai. Nur manchmal. Sie will herausfinden, warum er hierher kam. Moiraine Sedai ist... « Liandrin hob abrupt die Hand, und Amalisa schluckte herunter, was immer sie noch hatte sagen wollen.

»Moiraine wurde von drei jungen Männern begleitet. Das weiß ich. Wo sind sie? Ich war in ihrem Zimmer, und sie sind nicht aufzufinden.«

»Ich... ich weiß nicht, Liandrin Sedai. Sie schienen nette Jungen zu sein. Sicher glaubt Ihr nicht, sie seien Schattenfreunde.«

»Keine Schattenfreunde, nein. Schlimmer. Viel gefährlicher als Schattenfreunde, meine Tochter. Die gesamte Welt ist durch sie in Gefahr. Sie müssen gefunden werden. Ihr werdet Euren Dienerinnen befehlen, die Festung abzusuchen. Auch Eure Hofdamen und Ihr selbst werdet suchen. In jeder Fuge und Ritze. Darüber werdet Ihr persönlich wachen. Persönlich! Und Ihr werdet mit niemandem darüber sprechen, außer mit solchen, die ich Euch nenne. Niemand sonst darf es wissen. Niemand. Diese jungen Männer müssen heimlich aus Fal Dara weggeschafft und nach Tar Valon gebracht werden. In größter Geheimhaltung.«

»Wie Ihr befehlt, Liandrin Sedai. Aber ich verstehe nicht, wieso das geheimgehalten werden muß. Niemand hier wird die Aes Sedai hindern.«

»Von den Schwarzen Ajah habt Ihr schon gehört?«

Amalisas Augen quollen hervor. Sie lehnte sich von Liandrin weg und hob die Hände, als wolle sie sich vor einem Schlag schützen. »Ein bös... bösartiges Gerücht, Liandrin Sedai. B... bösartig. Es gibt keine Aes Sedai, die dem Dunklen König d... dienen. Ich glaube es nicht. Ihr müßt mir glauben! Beim Licht schwöre ich, daß ich das für unmöglich halte. Bei meiner Ehre und der meines Hauses schwöre ich... «

Kühl ließ Liandrin sie gewähren und beobachtete, wie die andere Frau durch ihr Schweigen auch der letzten Kräfte beraubt wurde. Es war bekannt, daß Aes Sedai zornig, sehr zornig auf jene werden konnten, die auch nur die Schwarzen Ajah erwähnten, geschweige denn auf jene, die sagten, sie glaubten an deren verborgene Existenz. Und darüber hinaus war Amalisas Willenskraft sowieso schon durch ihren kleinen Kindertrick geschwächt! Sie würde nun Wachs in ihren Händen sein. Nur noch ein weiterer Schlag.

»Die Schwarze Ajah ist Wirklichkeit, Kind. Wirklich und sogar hier in den Mauern von Fal Dara vorhanden.« Amalisa kniete mit offenem Mund vor ihr. Die Schwarze Ajah! Aes Sedai, die gleichzeitig Schattenfreunde waren! Es war fast so schlimm, als erfahre man, daß der Dunkle König selbst in der Festung von Fal Dara wandle. Aber Liandrin ließ jetzt nicht mehr locker. »Jede Aes Sedai, die Ihr auf dem Flur trefft, könnte eine Schwarze Schwester sein. Das schwöre ich. Ich kann Euch nicht sagen, wer es ist, aber Ihr steht unter meinem Schutz. Sofern Ihr im Licht wandelt und mir gehorcht.«

»Das werde ich«, flüsterte Amalisa heiser. »Ganz bestimmt. Bitte, Liandrin Sedai, bitte sagt, daß Ihr meinen Bruder beschützen werdet und meine Damen... «

»Wer Schutz verdient, den werde ich beschützen. Kümmert Euch um Euch selbst, meine Tochter. Und denkt nur an das, was ich Euch aufgetragen habe. Nur an das. Das Schicksal der Welt hängt davon ab, meine Tochter. Alles andere müßt Ihr vergessen.« »Ja, Liandrin Sedai. Ja. Ja.«

Liandrin drehte sich um und durchquerte den Raum, ohne zurückzublicken, bis sie die Tür erreichte. Amalisa lag immer noch auf den Knien und beobachtete sie ängstlich. »Erhebt Euch, Lady Amalisa.« Liandrin ließ ihre Stimme angenehm klingen und nur eine kleine Spur des Hohns mitschwingen, den sie empfand. Schwester, ha! Sie würde nicht einen Tag als Novizin überstehen. Und so was hat Befehlsgewalt! »Erhebt Euch!« Amalisa stand mit langsamen, ruckartigen Bewegungen auf, als sei sie stundenlang an Händen und Füßen gefesselt gewesen. Als sie schließlich stand, sagte Liandrin wiederum mit stählern klingender Stimme: »Und wenn Ihr der Welt gegenüber versagt, mir gegenüber versagt, dann werdet Ihr diesen zerlumpten Schattenfreund im Kerker beneiden.«

Nach dem Gesichtsausdruck Amalisas zu schließen, würde ein Versagen wohl kaum an fehlender Mühe liegen, dachte Liandrin.

Liandrin zog die Tür hinter sich zu und fühlte plötzlich, wie sie von einer Gänsehaut überzogen wurde. Ihr stockte der Atem. Sie wirbelte herum und blickte den nur schwach beleuchteten Korridor hinauf und hinunter. Leer. Hinter den Schießscharten herrschte mittlerweile die Nacht. Der Flur war leer, und doch war sie sicher, von irgendwelchen Augen beobachtet zu werden. Der leere, von Schatten zwischen den Lampen erfüllte Korridor verhöhnte sie. Sie zuckte unsicher die Achseln und ging entschlossen den Flur hinunter. Von Einbildungen gejagt. Nicht mehr.

Es war bereits Nacht, und vor der Morgendämmerung gab es viel zu tun. Ihre Befehle waren ganz präzise gewesen.

Im Kerker war es immer pechschwarz, gleich zu welcher Stunde, außer jemand brachte eine Fackel herein, doch Padan Fain saß auf der Kante seiner Pritsche und starrte mit lächelndem Gesicht ins Dunkle. Er konnte hören, wie die beiden anderen Gefangenen im alptraumgeplagten Schlaf knurrten und vor sich hin murmelten. Padan Fain wartete auf etwas. Er hatte schon lange darauf gewartet. Zu lange. Aber nicht mehr viel länger.

Die Tür zum äußeren Wachraum öffnete sich, und eine Lichtflut schwappte heraus, in der sich eine Gestalt abzeichnete. Fain stand auf. »Ihr! Nicht, wen ich erwartet hatte.« Er streckte sich mit einer Gelassenheit, die er nicht empfand. Das Blut raste durch seine Adern. Er glaubte, er könne über die Festung wegspringen, wenn er es nur versuchte. »Für jeden eine Überraschung, was? Also los! Die Nacht wird schon alt, und ich möchte auch einmal schlafen.«

Als eine Lampe in die Zelle gereicht wurde, hob Fain den Kopf und grinste etwas Unsichtbares, aber Fühlbares jenseits der Steindecke des Kerkers an. »Es ist noch nicht vorbei«, flüsterte er. »Die Schlacht ist niemals zu Ende.«

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