19 Unter dem Dolch

Die Nacht am Abhang von Brudermörders Dolch war kalt, so wie es die Nächte im Gebirge für gewöhnlich immer waren. Der Wind peitschte von den Gipfeln herunter und trug die Eiseskälte der Gletscher mit sich.

Rand wälzte sich auf dem harten Boden herum, zupfte an Umhang und Decke und konnte nicht richtig schlafen. Seine Hand suchte nach dem Schwert, das neben ihm lag. Noch ein Tag, dachte er schläfrig. Noch ein weiterer Tag, und dann geben wir auf. Wenn morgen niemand kommt, weder Ingtar noch die Schattenfreunde, dann bringe ich Selene nach Cairhien.

Das hatte er sich auch schon vorher vorgenommen. An jedem Tag, den sie hier am Berghang verbracht und den Ort beobachtet hatten, an dem Hurin, seinen eigenen Worten nach, die Spur verloren hatte, sagte er sich, es sei Zeit zum Aufgeben. Selene hatte behauptet, in dieser Welt würden die Schattenfreunde auf jeden Fall auftauchen. Und sie sprach vom Horn von Valere, berührte seinen Arm, sah ihm in die Augen, und bevor er wußte, was er tat, hatte er bereits zugestimmt, einen weiteren Tag hier zu warten, bevor sie abreisten.

Er machte sich ganz klein, um dem kalten Wind keine Angriffsfläche zu bieten, und dachte daran, wie Selene seinen Arm berührte und ihm in die Augen sah. Wenn Egwene das sehen könnte, würde sie mich zusammenputzen wie einen Schuljungen — und Selene womöglich auch. Mittlerweile könnte Egwene ja in Tar

Valon sein und sich darauf vorbereiten, eine Aes Sedai zu werden Wenn sie mich das nächste Mal sieht, wird sie vielleicht versuchen, mich niederzumachen.

Als er sich wieder herumwälzte, glitt seine Hand am Schwert vorbei und berührte das Bündel mit Thom Merrilins Harfe und Flöte. Unbewußt verkrampften sich seine Finger in den Umhang des Gauklers. Damals war ich glücklich, selbst als ich um mein Leben rennen mußte. Flöte spielen und damit mein Abendessen verdienen. Ich wußte einfach nicht, was wirklich geschah. Nun gibt es kein Zurück mehr.

Zitternd öffnete er die Augen. Der einzige Lichtschein stammte von dem abnehmenden Mond, der niedrig am Himmel stand. Ein Feuer würde allen jenen ihren Standort verraten, nach denen sie Ausschau hielten. Loial murmelte im Schlaf. Es klang wie leises Donnergrollen. Ein Pferd stampfte mit dem Huf. Hurin hatte die erste Wache. Er saß auf einem Felsvorsprung etwas weiter oben. Bald würde er kommen und Rand wecken, damit dieser die Wache übernähme.

Rand drehte sich um — und erstarrte. Im Mondschein erkannte er die Gestalt Selenes, die sich über seine Satteltaschen beugte. Ihre Hände lagen auf den Schnallen. Ihr weißes Kleid schimmerte im blassen Licht. »Braucht Ihr etwas?«

Sie fuhr sichtlich zusammen und sah zu ihm herüber. »Ihr... Ihr habt mich überrascht.«

Er rollte herum und stand auf. Die Decke ließ er fallen und wickelte sich statt dessen in seinen Umhang. So ging er zu ihr hinüber. Er war sicher, die Satteltaschen gleich neben sich gelegt zu haben, als er sich schlafen legte. Er hatte sie immer an seiner Seite. Nun nahm er sie ihr ab. Alle Schnallen waren zugezogen; sogar diejenigen auf der Seite, die diese verräterische Flagge enthielt. Wie kann mein Leben davon abhängen, daß ich sie behalte? Wenn sie jemand sieht und erkennt, worum es sich handelt, dann werde ich sterben, weil ich sie bei mir habe. Er sah sie mißtrauisch an.

Selene blieb stehen und blickte zu ihm auf. Der Mond spiegelte sich in ihren dunklen Augen. »Ich hatte das Gefühl«, sagte sie, »daß ich dieses Kleid schon zu lange getragen habe. Ich könnte es wenigstens ausbürsten, wenn ich inzwischen etwas anderes zum Anziehen hätte. Vielleicht eines Eurer Hemden.«

Rand nickte und empfand große Erleichterung. Ihr Kleid wirkte auf ihn genauso sauber wie bei ihrem ersten Zusammentreffen, aber er kannte das von Egwene. Wenn sie einen Fleck auf ihrem Kleid entdeckte, half absolut nichts: Sie mußte ihn sofort ausreiben. »Natürlich.« Er öffnete die geräumige Tasche, in die er alles bis auf die Flagge hineingestopft hatte, und zog eines der weißen Seidenhemden heraus.

»Danke schön.« Sie faßte sich an den Rücken, an die Knöpfe, wie ihm bewußt wurde.

Mit großen Augen drehte er sich schnell von ihr weg.

»Wenn Ihr mir dabei helft, ist es leichter für mich.«

Rand räusperte sich. »Das verbietet der Anstand. Wir sind doch nicht verlobt oder...« Hör auf, so etwas zu denken! Du kannst niemals jemanden heiraten. »Das wäre nicht schicklich.«

Ihr leises Lachen jagte ihm einen Schauer über den Rücken, als sei sie ihm mit dem Finger am Rückgrat entlanggefahren. Er bemühte sich, nicht auf das Rascheln hinter sich zu lauschen. Er sagte: »Äh... morgen... morgen reisen wir nach Cairhien ab.«

»Und was wird aus dem Horn von Valere?«

»Vielleicht hatten wir unrecht. Vielleicht kommen sie überhaupt nicht hier entlang. Hurin sagt, es gäbe eine Reihe von Pässen über Brudermörders Dolch. Wenn sie nur ein wenig weiter nach Westen ziehen, müssen sie nicht einmal die Berge überqueren.«

»Aber die Spur, der wir folgten, fand sich hier. Sie werden hier vorbeikommen. Das Horn kommt hierher. Jetzt könnt Ihr Euch umdrehen.«

»Das behauptet Ihr, aber wir wissen nicht... « Er drehte sich um, und die Worte erstarben ihm im Mund. Sie hatte ihr Kleid über dem Arm und trug sein Hemd, das ihr in bauschigen Falten am Körper hing. Es war ein langes Hemd, für seine Körpergröße angefertigt, aber sie war für eine Frau ja recht groß. So bedeckte das Hemd ihre Schenkel kaum zur Hälfte. Es war ja nicht so, daß er noch nie die Beine eines Mädchens gesehen hatte; die Mädchen der Zwei Flüsse schürzten ihre Röcke immer, wenn sie in den Teichen des Wasserwalds herumwateten. Aber damit hörten sie auf, längst bevor sie alt genug waren, um sich die Haare zum Zopf zu flechten, und noch dazu war es jetzt dunkel, und der Mondschein brachte ihre Haut zum Schimmern.

»Was wißt Ihr nicht, Rand?«

Der Klang ihrer Stimme löste seine Verkrampfung. Mit lautem Keuchen fuhr er herum und sah in die entgegengesetzte Richtung. »Äh... ich glaube... äh... ich... äh... «

»Denkt an den Ruhm, Rand.« Ihre Hand berührte seinen Rücken und, er hätte in seiner Scham beinahe aufgeschrien. »Denkt an den Ruhm für denjenigen, der das Horn von Valere findet. Wie stolz wäre ich, an der Seite dessen zu stehen, der das Horn in Händen hält. Ihr wißt überhaupt nicht, welche Höhen wir gemeinsam erklimmen können, Ihr und ich. Mit dem Horn von Valere in der Hand könntet Ihr ein König werden. Ihr könntet ein neuer Artur Falkenflügel werden. Ihr... «

»Lord Rand!« Hurin betrat schweratmend den Lagerplatz. »Lord Rand, sie... « Er blieb wie angewurzelt stehen und gab ein gurgelndes Geräusch von sich. Er senkte den Blick und stand händeringend da. »Vergebt mir, Lady. Ich wollte nicht... Ich... Vergebt mir.«

Loial setzte sich auf. Decke und Umhang fielen von ihm ab. »Was ist los? Bin ich schon mit der Wache dran?« Er blickte zu Rand und Selene hinüber, und selbst im Mondschein war deutlich zu sehen, wie sich seine Augen weiteten.

Rand hörte Selene hinter sich seufzen. Er trat von ihr weg und sah sie immer noch nicht an. Ihre Beine sind so weiß, so glatt. »Was ist los, Hurin?« Er bemühte sich, seinen Ton zu mäßigen. War er böse auf Hurin, auf sich selbst oder auf Selene? Kein Grund, auf sie böse zu sein. »Hast du etwas gesehen, Hurin?«

Der Schnüffler sprach, ohne den Blick zu heben. »Ein Feuer, Lord Rand, drunten zwischen den Hügeln. Ich habe es zuerst gar nicht gesehen. Sie machten nur ein kleines Feuer und haben es verborgen, aber sie verbargen es vor jemandem, der sie verfolgt, und nicht vor jemandem vor und über ihnen. Zwei Meilen, Lord Rand. Auf jeden Fall weniger als drei.«

»Fain«, sagte Rand. »Ingtar würde nicht fürchten, daß ihm jemand folgt. Es muß Fain sein.« Plötzlich wußte er nicht, was er jetzt eigentlich tun sollte. Sie hatten auf Fain gewartet, aber nun, da der Mann nur eine Meile von ihnen entfernt war, fühlte er sich unsicher. »Am Morgen... Am Morgen werden wir ihnen folgen. Wenn Ingtar und die anderen aufholen, werden wir in der Lage sein, sie direkt zu ihnen zu führen.«

»Also«, sagte Selene, »werdet Ihr diesem Ingtar das Horn von Valere überlassen. Und den Ruhm.«

»Ich will keinen...« Ohne nachzudenken drehte er sich um, und da stand sie mit mondscheinblassen Beinen und kümmerte sich so wenig darum, daß sie nackt waren, als wäre sie allein. Als wären wir allein, flüsterten seine Gedanken. Sie will den Mann haben, der das Horn findet. »Wir drei allein können es ihnen nicht abnehmen. Ingtar hat zwanzig Lanzenträger bei sich.«

»Ihr wißt überhaupt nicht, ob Ihr es ihnen nicht doch abnehmen könnt. Wie viele Leute hat dieser Mann tatsächlich bei sich? Auch das wißt Ihr nicht.« Ihre Stimme klang ruhig, aber eindringlich. »Ihr wißt noch nicht einmal, ob die Männer, die dort lagern, das Horn bei sich haben. Es sei denn, Ihr geht selbst hinunter und seht nach. Nehmt den Alantin; seine Rasse verfügt über scharfe Augen, sogar im Mondschein. Und er hat die Kraft, um das Horn in seiner Truhe zu tragen, falls Ihr die richtige Entscheidung trefft.«

Sie hat recht. Du weißt nicht mit Sicherheit, ob es Fain ist. Eine schöne Bescherung, wenn Hurin nach einer Spur gesucht hätte, die gar nicht vorhanden war, und sie sich alle ohne Deckung befänden, wenn die wirklichen Schattenfreunde schließlich kämen. »Ich werde allein gehen«, sagte er. »Hurin und Loial werden Euch bewachen.«

Lachend und so graziös, als ob sie sie tanze, kam Selene auf ihn zu. Mondschatten ließen ihr Gesicht geheimnisvoll erscheinen, als sie zu ihm aufblickte, und das Geheimnis machte es um so schöner. »Ich bin in der Lage, auf mich selbst aufzupassen, bis Ihr zurückkehrt, um mich zu beschützen. Nehmt den Alantin mit.«

»Sie hat recht, Rand«, sagte Loial und stand auf. »Ich kann bei Mondschein besser sehen als du. Dank meiner Augen müssen wir uns vielleicht nicht so nahe heranschleichen wie du allein.«

»Also gut.« Rand ging hinüber zu seinem Schwert und schnallte es sich um. Bogen und Köcher ließ er liegen. Im Dunklen war ein Bogen zu nichts nutze, und er wollte außerdem etwas ausspähen und nicht kämpfen. »Hurin, zeig mir dieses Feuer!«

Der Schnüffler führte ihn den Abhang hinauf zu dem Vorsprung, der wie ein riesiger Steindaumen aus dem Berg ragte. Das Feuer war nur als winziger Fleck zu erkennen — beim ersten Mal, als Hurin darauf zeigte, entdeckte er es noch gar nicht. Wer immer es angezündet hatte, wollte nicht, daß es gesehen wurde. Er merkte sich die genaue Lage.

Als sie zum Lager zurückkehrten, hatte Loial den Braunen und sein eigenes Pferd gesattelt. Rand kletterte auf den Hengst, und Selene faßte ihn an der Hand. »Denkt an den Ruhm«, sagte sie leise. »Denkt daran.« Das Hemd schien ihr besser zu passen als vorher. Es hatte sich ihrer Figur angepaßt.

Er holte tief Luft und zog seine Hand zurück. »Du bist mir für ihr Leben verantwortlich, Hurin. Loial?« Er gab dem Braunen sanft die Fersen. Das große Reittier des Ogiers polterte hinterher.

Sie bemühten sich erst gar nicht, schnell vorwärtszukommen. Die Nacht verbarg den Abhang, und die Mondschatten machten den Boden unübersichtlich. Rand konnte das Feuer nicht mehr sehen — zweifellos war es dem Beobachter verborgen, der sich auf gleicher Höhe befand —, aber er hatte die Lage im Kopf. Für jemanden, der im Gewirr des Westwaldes im Gebiet der Zwei Flüsse das Jagen erlernt hatte, stellte es keine große Schwierigkeit dar, das Feuer zu finden. Und was dann? Selenes Gesicht tauchte vor ihm auf. Wie stolz wäre ich, an der Seite dessen zu stehen, der das Horn in Händen hält.

»Loial«, sagte er plötzlich in einem Versuch, wieder klarer zu denken, »was bedeutet dieses Alantin, mit dem sie dich immer bezeichnet?«

»Das ist in der Alten Sprache, Rand.« Das Pferd des Ogiers suchte sich unsicher seinen Weg, aber er lenkte es beinahe so sicher wie bei Tageslicht. »Es bedeutet ›Bruder‹ und ist die Kurzform von Tia avende Alantin. Bruder der Bäume. Baumbruder. Es ist sehr förmlich, aber ich habe gehört, daß die Leute in Cairhien Formalitäten lieben. Zumindest die Adelshäuser. Die einfachen Menschen, die ich dort sah, benahmen sich überhaupt nicht förmlich.«

Rand runzelte die Stirn. Ein Schäfer wäre unter diesen Umständen wohl kaum annehmbar für ein Adelshaus aus Cairhien gewesen. Licht, Mat hatte recht in bezug auf dich. Du spinnst und hast dazu einen mächtig geschwollenen Kopf. Aber wenn ich heiraten könnte...

Er hätte etwas dafür gegeben, seine Gedanken abschalten zu können, und bevor es ihm bewußt wurde, hatte sich in ihm das Nichts gebildet und ließ die Gedanken fern erscheinen, als seien sie Teil eines anderen Menschen. Saidin beleuchtete ihn, lockte ihn. Er knirschte mit den Zähnen und wollte es nicht wahrhaben. Es war, als versuche er, eine glühende Kohle in seinem Kopf nicht zur Kenntnis zu nehmen; aber wenigstens wurde es nicht schlimmer. Doch beinahe hätte er das Nichts verlassen, aber dort draußen in der Nacht befanden sich die Schattenfreunde, und sie kamen immer näher. Und die Trollocs. Er brauchte die Leere, brauchte sogar die halbherzige Ruhe des Nichts. Ich muß es nicht berühren. Ich muß nicht.

Nach einer Weile hielt er den Braunen an. Sie standen am Fuß eines Hügels. Die weit verstreuten Bäume auf dem Abhang waren schwarze Schemen in der Nacht. »Ich glaube, wir sind jetzt nahe dabei«, flüsterte er. »Am besten gehen wir den Rest des Wegs zu Fuß.« Er glitt aus dem Sattel und band die Zügel des Hengstes an einen Ast.

»Fühlst du dich wohl?« flüsterte Loial beim Absteigen. »Du klingst so eigenartig.«

»Mir geht's gut.« Seine Stimme klang äußerst angespannt, merkte er. Gedehnt. Saidin rief ihn zu sich. Nein! »Sei vorsichtig. Ich kann nicht sicher sagen, wie weit es noch ist, aber das Feuer befindet sich irgendwo direkt vor uns. Auf der Hügelkuppe, vermute ich.« Der Ogier nickte.

Vorsichtig schlich sich Rand von Baum zu Baum, setzte einen Fuß vor den anderen und hielt sein Schwert fest, damit es nicht gegen einen Baumstamm schlug. Er war dankbar dafür, daß es kaum Unterholz gab. Loial folgte ihm wie ein großer Schatten — viel mehr konnte Rand von ihm nicht sehen. Alles schien nur aus Mondschatten und Dunkelheit zu bestehen.

Plötzlich löste irgendein besonderer Einfallswinkel des Mondscheins die Schatten vor ihm auf, und er erstarrte. Er hielt sich an der rauhen Rinde eines Lederblattbaumes fest. Undeutliche Erhebungen auf dem Boden vor ihm verwandelten sich zu Männern, in Decken gehüllt. Ein Stück entfernt fiel sein Blick auf eine Gruppe größerer Erhebungen. Schlafende Trollocs. Sie hatten das Feuer gelöscht. Ein Mondstrahl, der sich zwischen den Ästen durchschob, enthüllte einen goldenen und silbernen Schimmer am Boden in der Mitte zwischen beiden Gruppen. Der Mondschein schien heller zu werden; für einen Augenblick hatte er klare Sicht. Die Gestalt eines schlafenden Mannes lag neben dem Schimmer, aber er war es nicht, der seinen Blick anzog. Die Truhe. Das Horn. Und etwas obenauf. Ein roter Lichtpunkt erstrahlte im Mondschein. Der Dolch! Warum legte Fain den...?

Loials riesige Hand legte sich auf Rands Mund. Er wandte sich um und sah den Ogier an. Loial zeigte bedächtig nach rechts.

Zuerst konnte Rand nichts entdecken. Dann bewegte sich ein Schatten keine zehn Schritt entfernt. Ein großer massiger Schatten mit einer langen Schnauze. Rand stockte der Atem. Ein Trolloc. Er hob die Schnauze witternd in die Luft. Manche von ihnen jagten nur nach Witterung. Für einen Moment flackerte das Nichts. Im Lager der Schattenfreunde rührte sich jemand, und der Trolloc wandte sich um und spähte hinüber.

Rand erstarrte und ließ sich von der Ruhe der Leere einhüllen. Seine Hand lag auf dem Schwertgriff, aber er dachte überhaupt nicht nach dabei. Das Nichts war alles. Was auch immer geschah, es geschah. Er beobachtete den Trolloc ohne jedes Augenzwinkern.

Der Schatten mit der Schnauze beobachtete das Lager der Schattenfreunde noch ein wenig und ließ sich dann, anscheinend befriedigt, neben einem Baum nieder. Beinahe augenblicklich war ein leises Geräusch wie von reißendem Stoff zu vernehmen.

Loial brachte seinen Mund ganz nahe an Rands Ohr. »Er schläft«, flüsterte er ungläubig.

Rand nickte. Tam hatte ihm gesagt, Trollocs seien faul und würden jede Aufgabe schnell vernachlässigen — vom Töten abgesehen —, wenn sie nicht von Angst getrieben wurden. Er wandte sich wieder dem Lager zu.

Alles war ruhig dort, nichts rührte sich. Der Mondstrahl traf die Truhe nicht mehr, aber er wußte nun, welcher Schatten es war. Er konnte sie im Geist sehen, wie sie golden und mit Silber verziert im Schein von Saidin glitzerte. Das Horn von Valere und der Dolch, den Mat brauchte, und beides so nahe, daß er sie beinahe mit der Hand berühren konnte. Selenes Gesicht schwebte neben der Truhe. Sie konnten Fains Gruppe am Morgen folgen und warten, bis Ingtar sich ihnen anschloß. Falls Ingtar kam; falls er der Spur ohne Schnüffler noch folgte. Nein, es würde keine bessere Möglichkeit mehr geben. Alles in Reichweite seiner Hand. Selene wartete auf dem Berg.

Rand bedeutete Loial, ihm zu folgen, legte sich auf den Bauch und kroch auf die Truhe zu. Er hörte den Ogier gedämpft aufkeuchen, aber seine Augen waren auf die schattenhafte Erhebung vor ihm gerichtet. Schattenfreunde und Trollocs lagen zu seiner Rechten und zu seiner Linken, aber als er einst beobachtet hatte, wie Tam sich so nahe an einen Hirsch herangeschlichen hatte, daß er ihm die Hand auf die Flanke legen konnte, bevor das Tier erschreckt davonstürzte, hatte er sich vorgenommen, diese Kunst ebenfalls zu erlernen. Wahnsinn! Der Gedanke huschte fast außerhalb seiner Reichweite an ihm vorbei. Das ist Wahnsinn! Du-wirst-verrückt! Undeutliche Gedanken; die Gedanken eines anderen.

Langsam und lautlos kroch er zu diesem besonderen Schatten hinüber und streckte die Hand danach aus. Er berührte komplizierte, in Gold gewirkte Muster. Es war die Truhe mit dem Horn von Valere. Auf dem Deckel berührte seine Hand etwas anderes. Den Dolch mit blanker Klinge. Im Dunklen weiteten sich seine Augen. Er dachte daran, was der Dolch Mat angetan hatte, und schreckte zurück. Das Nichts verlagerte sich in seiner Erregung.

Der am nächsten schlafende Mann — nicht mehr als zwei Schritt von der Truhe entfernt; alle anderen lagen zumindest Spannen weit weg — stöhnte im Schlaf auf und riß an seinen Decken. Rand gestattete dem Nichts, alle Gedanken und alle Furcht wegzuwischen. Der Mann beruhigte sich unter schlaftrunkenem Gemurmel.

Rand bewegte seine Hand wieder auf den Dolch zu, ohne ihn wirklich zu berühren. Zu Anfang hatte er Mat nicht geschadet. Jedenfalls nicht sehr, nicht zu Beginn. Mit einer schnellen Bewegung hob er den Dolch auf, steckte ihn in seinen Gürtel und riß seine Hand weg, als könne es helfen, wenn er die Zeit eng begrenzte, die er mit seiner Haut in Berührung kam. Vielleicht half es ja wirklich, und Mat würde ohne den Dolch sterben. Er fühlte ihn wie ein Gewicht, das ihn herunterzog. Er drückte sich dagegen. Aber im Nichts waren Gefühle ebenso fern wie Gedanken, und das Gefühl des Dolches an seinem Körper wurde schnell zu etwas Gewohntem.

Er verschwendete nur noch einen Augenblick daran, die in Schatten gehüllte Truhe zu betrachten. Das Horn mußte sich drinnen befinden, aber er wußte nicht, wie er sie öffnen sollte, und konnte sie auch nicht selbst aufheben. Er sah sich nach Loial um. Der Ogier kauerte nicht weit hinter ihm. Sein massiger Kopf drehte sich hierhin und dorthin, als er von den schlafenden menschlichen Schattenfreunden zu den schlafenden Trollocs blickte und zurück. Selbst in der Nacht wurde deutlich, daß Loials Augen weit aufgerissen waren. Im Mondschein wirkten sie untertassengroß. Rand lehnte sich zurück und nahm Loials Hand in die seine.

Der Ogier fuhr zusammen und keuchte. Rand legte einen Finger auf die Lippen, führte Loials Hand zur Truhe und machte Bewegungen, als hebe er sie an. Eine kurze Zeitspanne lang — in dieser Nacht schien sie ewig zu dauern, so von Schattenfreunden und Trollocs umgeben, wie sie waren; es konnte sich aber nur um wenige Herzschläge gehandelt haben — starrte ihn Loial verständnislos an. Dann schlang er langsam seine Arme um die goldene Truhe und stand auf. Bei ihm erschien das irgendwie mühelos.

Außerordentlich vorsichtig, sogar noch vorsichtiger, als er gekommen war, verließ Rand hinter Loial und der Truhe das Lager. Beide Hände am Schwertgriff, beobachtete er die schlafenden Schattenfreunde und die ruhigen Umrisse der Trollocs. Alle diese schattenhaften Gestalten wurden von tieferer Dunkelheit verschluckt, als sie sich entfernten. Beinahe in Sicherheit. Wir haben's geschafft!

Der Mann, der neben der Truhe geschlafen hatte, fuhr plötzlich mit einem unterdrückten Schrei hoch und sprang einen Moment später auf. »Sie ist weg! Wacht auf, ihr Dreckskerle! Sie ist weeeeeg!« Fains Stimme — Rand erkannte sie sogar im Nichts. Die anderen, Schattenfreunde wie Trollocs, erhoben sich und fragten, was los sei, knurrten und fauchten. Fains Stimme erhob sich in einem lauten Aufheulen: »Ich weiß, das bist du, al'Thor! Du versteckst dich vor mir, aber ich weiß, daß du da draußen bist! Sucht ihn! Sucht ihn! Al'Thooooor!« Menschen und Trollocs stoben sich in allen Richtungen auseinander.

In Leere gehüllt, schritt Rand weiter. Beinahe vergessen, seit er das Lager betreten hatte, pulsierte Saidin im Nichts. »Er kann uns nicht sehen«, flüsterte Loial leise. »Wenn wir erst die Pferde erreicht haben... «

Ein Trolloc sprang aus der Dunkelheit auf sie zu. Wo Mund und Nase sein sollten, trug er einen grausamen Adlerschnabel im Gesicht. Sein Sichelschwert pfiff bereits durch die Luft.

Rand bewegte sich, ohne nachzudenken. Er war eins mit der Klinge. Die Katze tanzt auf der Mauer. Der Trolloc schrie, als er stürzte, schrie wieder, bevor er starb.

»Renn, Loial!« befahl Rand. Saidin lockte ihn. »Renn!«

Ihm wurde undeutlich bewußt, daß Loial in einen ungeschickten Galopp verfiel, aber dann ragte ein weiterer Trolloc in der Nacht vor ihm auf. Er hatte die Schnauze eines Bären und erhob seine mit Zacken gespickte Axt. Gewandt glitt Rand zwischen Trolloc und Ogier; Loial mußte das Horn in Sicherheit bringen. Der Trolloc war mehr als einen Kopf größer als Rand und mindestens um die Hälfte breiter gebaut, und er griff ihn mit lautlosem Fauchen an. Der Höfling öffnet seinen Fächer. Diesmal schrie er nicht. Er ging rückwärts hinter Loial her und spähte in die Nacht hinein. Saidin sang ihm ein süßes Lied. Die Macht könnte alle verbrennen, Fain und all die anderen in Asche verwandeln. Nein!

Zwei weitere Trollocs, Wolf und Hammel, schimmernde Zähne und gekrümmte Hörner. Eidechse im Gestrüpp. Er erhob sich geschmeidig von einem Knie, als der zweite stürzte und die Hörner beinahe seine Schulter streiften. Das Lied von Saidin umschmeichelte ihn verführerisch, zog ihn mit tausend Seidenfäden an sich. Alle mit der Macht verbrennen. Nein. Nein! Besser tot als das. Wenn ich tot wäre, wäre auch alles vorüber.

Eine Gruppe Trollocs kam in Sicht, die unsicher herumsuchte. Drei, dann vier. Plötzlich deutete einer auf Rand und heulte auf. Die anderen beantworteten sein Heulen, während sie heranstürmten.

»Laßt es uns beenden!« schrie Rand und sprang auf sie zu.

Einen Moment lang verlangsamten sie überrascht ihren Schritt, doch dann rannten sie mit kehligen, freudigen, blutdürstigen Schreien und erhobenen Schwertern und Äxten weiter. Er tanzte nach dem Lied von Saidin zwischen ihnen hindurch. Die Hummel küßt eine Rose. So verführerisch war dieses Lied, das ihn erfüllte. Katze auf heißem Sand. Das Schwert schien in seinen Händen so wie nie zuvor zum Leben erwacht zu sein, und er kämpfte, als könne eine Reiherklinge Saidin von ihm abhalten. Der Reiher spreizt die Flügel.

Rand sah die bewegungslosen Gestalten auf dem Boden. »Lieber tot sein«, murmelte er. Er erhob den Blick zum Hügel, wo sich das Lager befand. Fain war dort und Schattenfreunde und noch mehr Trollocs.

Zu viele, um gegen alle zu kämpfen. Zu viele, um sich ihnen entgegenzustellen und zu überleben. Er tat einen Schritt auf sie zu. Noch einen.

»Rand, komm weiter!« Loials eindringlicher geflüsterter Ruf trieb durch die Leere zu ihm her. »Um des Lebens und des Lichts willen, Rand, komm!«

Vorsichtig bückte sich Rand und wischte seine Klinge am Mantel eines Trollocs ab. Dann steckte er sie so förmlich, als ob Lan ihn beim Üben beobachte, in die Scheide zurück.

»Rand!«

Als habe er keinerlei Eile, schloß sich Rand Loial bei den Pferden an. Der Ogier schnallte die goldene Truhe mit Riemen aus seinen Satteltaschen auf dem Sattel fest. Seinen Umhang hatte er untergelegt, damit die Truhe fester auf dem abgerundeten Sattel ruhte.

Saidin sang nicht mehr. Es war noch da, dieses herzergreifende Glühen, aber es hielt sich zurück, als hätte er es tatsächlich abgewehrt. Staunend ließ er das Nichts verschwinden. »Ich glaube, ich werde verrückt«, sagte er. Plötzlich wurde ihm klar, wo sie sich befanden, und spähte den Weg zurück, den sie gekommen waren. Schreie und Heulen erklangen aus den verschiedensten Richtungen: Anzeichen für eine Suche, aber nicht für eine Verfolgung. Trotzdem. Er schwang sich auf den Rücken des Braunen.

»Manchmal verstehe ich kaum etwas von deinen Worten«, sagte Loial. »Wenn du schon verrückt werden mußt, kannst du dann nicht wenigstens damit warten, bis wir wieder bei Lady Selene und Hurin sind?«

»Wie willst du eigentlich reiten mit dem Ding im Sattel?«

»Ich werde rennen!« Der Ogier folgte dem eigenen Vorschlag und trabte los, wobei er das Pferd an den Zügeln hinterherzog. Rand folgte ihm.

Loial legte eine Geschwindigkeit vor, die von den Pferden gerade eben noch eingehalten werden konnte. Rand war sicher, daß der Ogier das nicht lange durchhalten würde, aber Loials Füße versagten ihm den Dienst nicht. Rand kam zu dem Schluß, daß seine Angeberei, er habe einst ein Pferd im Rennen geschlagen, vielleicht gar nicht gelogen war. Hin und wieder blickte sich Loial beim Laufen um, aber die Rufe der Schattenfreunde und das Heulen der Trollocs verklangen mit zunehmender Entfernung.

Selbst als der Hang steiler wurde, verlangsamte sich Loials Schritt kaum, und er trabte schließlich auf ihren Lagerplatz am Berghang, ohne besonders schwer zu atmen.

»Ihr habt es.« Selenes Stimme klang triumphierend, als ihr Blick auf der kunstvoll gearbeiteten Truhe ruhte. Sie trug wieder ihr eigenes Kleid. Für Rand sah es so weiß wie frischer Schnee aus. »Ich wußte, Ihr trefft die richtige Wahl. Darf ich — es einmal ansehen?«

»Wurdet Ihr verfolgt, Lord Rand?« fragte Hurin besorgt. Er betrachtete die Truhe ehrfurchtsvoll, doch sein Blick glitt immer wieder in die Nacht hinaus den Hang hinunter. »Falls sie Euch verfolgen, müssen wir schnell verschwinden.«

»Ich glaube nicht. Geh mal zu dem Vorsprung und sieh nach, ob du etwas entdeckst.« Rand kletterte aus dem Sattel, als Hurin den Hang hinaufeilte. »Selene, ich weiß nicht, wie man die Truhe öffnet. Weißt du es, Loial?« Der Ogier schüttelte den Kopf.

»Laßt mich versuchen...« Selbst für eine Frau von Selenes Größe befand sich Loials Sattel hoch über dem Boden. Sie streckte sich und berührte die kunstvoll gewirkten Muster auf der Truhe. Ihre Hände glitten darüber und drückten zu. Man hörte ein Klicken, und sie hob den Deckel an und ließ ihn auffallen.

Als sie sich auf die Zehenspitzen stellte, um hineinzufassen, griff Rand über ihre Schulter hinweg und hob das Horn von Valere heraus. Er hatte es einmal zuvor gesehen, aber noch nie berührt. Obwohl es so schön war, machte es nicht den Eindruck großen Alters oder großer Macht. Ein gewundenes goldenes Horn, das in der schwachen Beleuchtung schimmerte, mit einer eingravierten silbernen Schrift, die sich um die Öffnung am Ende hinzog. Er berührte die fremdartigen Buchstaben mit dem Finger. Sie schienen das Mondlicht zu reflektieren.

»Tia mi aven Moridin isainde vadin«, las Selene. »›Das Grab ist keine Grenze für meinen Ruf.‹ Ihr werdet gewiß größer, als Artur Falkenflügel es je war.«

»Ich bringe es nach Schienar zu Lord Agelmar.« Es sollte eigentlich nach Tar Valon kommen, dachte er, aber ich habe genug von den Aes Sedai. Sollen Ingtar oder Agelmar ihnen das Horn bringen. Er legte das Horn in die Truhe zurück. Es warf den Mondschein zurück und zog den Blick an.

»Das ist Wahnsinn«, sagte Selene.

Rand zuckte bei diesem Wort zusammen. »Verrückt oder nicht, ich werde es jedenfalls so machen. Ich habe Euch gesagt, Selene, daß ich keinen Anteil am Ruhm will. Dort hinten glaubte ich, ich wolle den Ruhm. Eine Zeitlang hatte ich das Gefühl, ich wolle viele Dinge haben...« Licht, sie ist so schön. Egwene, Selene, ich bin keine von beiden wert. »Etwas schien mich besessen zu machen.« Saidin wollte mich einfangen, aber ich habe es mit einem Schwert abgewehrt. Oder ist das auch wahnsinnig? Er atmete tief durch. »Das Horn von Valere gehört nach Schienar. Andernfalls wird Lord Agelmar wissen, was damit zu tun ist.«

Hurin erschien wieder. »Das Feuer ist wieder da, Lord Rand, und größer als zuvor. Und ich hörte Rufe. Alles unten zwischen den Hügeln. Ich glaube nicht, daß sie den Berg hochkommen.«

»Ihr mißversteht mich, Rand«, sagte Selene. »Ihr könnt jetzt nicht zurück. Euer Kurs liegt fest. Diese Freunde der Dunkelheit werden nicht einfach abziehen, weil Ihr ihnen das Horn abgenommen habt. Im Gegenteil. Wenn Ihr keine Gelegenheit findet, sie alle zu töten, werden sie Euch jagen, wie Ihr zuvor sie gejagt habt.«

»Nein!« Loial und Hurin rissen bei Rands Heftigkeit erstaunt die Augen auf. Er sprach sanfter weiter: »Ich weiß keine Methode, sie alle zu töten. Von mir aus können sie ewig leben.«

Selenes langes Haar schlug Wellen, als sie den Kopf schüttelte. »Dann könnt Ihr nicht zurück, sondern nur vorwärts. Ihr könnt die Sicherheit der Mauern Cairhiens in viel kürzerer Zeit erreichen als Schienar. Erscheint Euch der Gedanke an ein paar weitere Tage in meiner Gesellschaft so unerträglich?«

Rand sah die Truhe an. Selenes Gesellschaft war alles andere als hinderlich, doch in ihrer Nähe zwang ihn irgend etwas, so zu denken, wie er nicht denken wollte. Sicher, wieder nach Norden zurückzureiten bedeutete, ein Zusammentreffen mit Fain und seinen Anhängern zu riskieren. Da hatte sie recht. Fain würde niemals aufgeben. Auch Ingtar würde nicht aufgeben. Wenn Ingtar nach Süden weiterzog, würde er früher oder später nach Cairhien kommen.

»Cairhien«, stimmte er zu. »Ihr werdet mir zeigen müssen, wo Ihr wohnt, Selene. Ich war noch nie in Cairhien.« Er faßte nach dem Deckel der Truhe, um ihn zu schließen.

»Ihr habt den Freunden der Dunkelheit noch etwas abgenommen?« fragte Selene. »Ihr habt vorher auch von einem Dolch gesprochen.«

Wie konnte ich den vergessen? Er ließ die Truhe, wo sie war, und zog den Dolch aus dem Gürtel. Die blanke Klinge war gekrümmt wie ein Horn, und die Querträger am Griff waren goldene Schlangen. In den Griff eingelassen war ein Rubin, so groß wie sein Daumennagel. Er schimmerte wie ein böse dreinblickendes Auge im Mondschein. Doch so kunstvoll geschmiedet und so mit einem Fluch belastet, wie er war, fühlte er sich kein bißchen anders an als jedes andere Messer.

»Seid vorsichtig«, sagte Selene. »Schneidet Euch nicht.«

Rand schauderte innerlich. Wenn schon das einfache Tragen gefährlich war, dann wollte er nicht wissen, was ein Schnitt erst anrichten würde. »Er stammt aus Shadar Logoth«, erklärte er. »Er wird jeden schädlich beeinflussen, der ihn länger trägt, wird ihn bis auf die Knochen verderben, so wie Shadar Logoth verdorben wurde. Ohne die Heilkunst der Aes Sedai wird der Fluch schließlich den Träger töten.«

»Also deshalb ist Mat so krank«, sagte Loial leise. »Das hätte ich nicht vermutet.« Hurin starrte den Dolch in Rands Hand an und wischte sich die Hände an der Vorderseite seines Mantels ab. Der Schnüffler wirkte nicht gerade glücklich.

»Keiner von uns sollte ihn länger als notwendig in die Hand nehmen«, fuhr Rand fort. »Ich muß eine Möglichkeit finden, ihn zu tragen... «

»Er ist gefährlich.« Selene sah die Klinge so finster an, als seien die Schlangen echt und giftig. »Werft ihn weg. Laßt ihn liegen oder vergrabt ihn, falls er nicht in andere Hände fallen soll, aber entledigt Euch seiner.«

»Mat braucht ihn«, sagte Rand entschlossen.

»Er ist zu gefährlich. Das habt Ihr selbst gesagt.«

»Er braucht ihn. Die Am... Die Aes Sedai sagte, er werde sterben, wenn sie ihn nicht benutzen könnten, um ihn zu heilen.« Sie haben ihn immer noch am Gängelband, aber dieser Dolch wird es zerschneiden. Bis ich ihn loshabe und das Horn dazu, haben sie auch mich am Gängelband, aber ich werde nicht nach ihrer Pfeife tanzen, sosehr sie sich auch bemühen.

Er legte den Dolch in die Truhe, genau in die Krümmung des Horns — er hatte gerade Platz darin —, und schloß den Deckel. Das Schloß schnappte hörbar zu. »Das sollte uns davor beschützen.« Er hoffte es wenigstens. Lan hatte gesagt, wenn man am unsichersten sei, müsse man am sichersten wirken. »Die Truhe wird uns auf jeden Fall schützen«, sagte Selene mit angespannter Stimme. »Und jetzt möchte ich die letzten Stunden Schlaf in dieser Nacht genießen.«

Rand schüttelte den Kopf. »Wir sind ihnen zu nahe. Fain scheint manchmal in der Lage zu sein, mich aufzuspüren.«

»Sucht das Einssein, wenn Ihr Angst habt«, sagte Selene.

»Ich möchte am Morgen so weit wie möglich von diesen Schattenfreunden entfernt sein. Ich werde Eure Stute satteln.«

»Einfach stur!« Sie klang wütend, aber als er sie anblickte, verzog sich ihr Mund zu einem Lächeln, das allerdings die dunklen Augen nicht erreichte. »Ein halsstarriger Mann ist am besten, wenn er einmal... « Ihre Stimme verklang, und das bereitete ihm Kopfzerbrechen. Frauen schienen gewisse Dinge immer ungesagt zu lassen, und in seiner begrenzten Erfahrung mit ihnen hatte er festgestellt, daß gerade das, was sie nicht sagten, oft die größten Schwierigkeiten bereitete. Sie sah schweigend zu, als er ihren Sattel auf den Rücken der weißen Stute schnallte und sich bückte, um den Sattelgurt anzuziehen.

»Hol sie alle her!« fauchte Fain. Der Trolloc mit der Ziegenschnauze schob sich von ihm weg nach hinten von ihm weg. Das Feuer, mittlerweile hoch mit Holz aufgefüllt, beleuchtete die Hügelkuppe. Schatten huschten über Fain hinweg. Seine menschlichen Anhänger kauerten am Feuer und fürchteten sich davor, draußen im Dunklen sein zu müssen, wo sich der Rest der Trollocs befand.

»Hol sie her, jeden, der noch lebt! Und wenn sie weglaufen wollen, dann erzähl ihnen, was mit dem hier geschah.« Er deutete auf den ersten Trolloc, der ihm die Nachricht überbracht hatte, daß sie al'Thor nicht finden konnten. Seine Schnauze öffnete und schloß sich krampfartig auf dem blutverschmierten Boden, und seine Hufe rissen zuckend Furchen in den Boden. »Geh!« flüsterte Fain, und der Trolloc mit der Ziegenschnauze rannte in die Nacht hinaus.

Fain sah die anderen Menschen verächtlich an. Sie können immer noch nützlich sein. Dann drehte er sich um und blickte in die Nacht hinaus in Richtung Brudermörders Dolch. Al'Thor befand sich irgendwo dort oben in den Bergen. Mit dem Horn. Bei dem Gedanken knirschte er hörbar mit den Zähnen. Er wußte nicht genau, wohin, aber irgend etwas zog ihn zu den Bergen hinauf. Zu al'Thor. Soviel war ihm vom —Geschenk des Dunklen Königs geblieben. Er hatte kaum noch daran gedacht, hatte sich bemüht, nicht daran zu denken, bis plötzlich, als das Horn weg war — weg! —, al'Thor da war und ihn anzog, wie Fleisch einen halb verhungerten Hund.

»Ich bin kein Spürhund mehr. Kein Hund mehr!« Er hörte, wie sich die anderen unruhig am Feuer bewegten, aber er beachtete sie nicht. »Du wirst dafür bezahlen, was du mir angetan hast, al'Thor! Die Welt wird dafür bezahlen!« Sein wahnwitziges Lachen gackerte durch die Nacht. »Die Welt wird dafür bezahlen!«

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