10 Die Jagd beginnt

Ingtar trieb sie zu einer schnellen Gangart an, jedenfalls für den Beginn einer Reise, so daß sich Rand schon ein wenig um die Pferde sorgte. Die Pferde konnten diesen Trab durchaus stundenlang durchhalten, doch der größte Teil des Tages lag noch vor ihnen, und weitere solcher Tage würden folgen. Ingtars Gesichtsausdruck vermittelte Rand den Eindruck, er wolle vielleicht schon am ersten Tag und in der ersten Stunde die Diebe des Horns einholen. Er wäre jedenfalls nicht überrascht davon gewesen, wenn er sich an Ingtars Stimme erinnerte, als er der Amyrlin gegenüber schwor, die Diebe zu fassen. Aber er sagte nichts weiter. Lord Ingtar führte hier das Kommando, und so freundlich er auch Rand gegenüber gewesen war, so würde er es doch wohl nicht begrüßen, wenn ihm ein Schäfer gute Ratschläge erteilte.

Hurin ritt immer etwas hinter Ingtar, doch es war der Schnüffler, der sie nach Süden führte. Er wies Ingtar den Weg. Sie waren von niedrigen, bewaldeten Hügeln umgeben, dicht mit Lederblatt und Eichen bewachsen, aber der Weg, den ihnen Hurin wies, führte sie pfeilgerade hindurch. Er wich nicht von dieser Linie ab, außer um einmal ein paar der höheren Hügel zu umgehen, wo man in der Ebene offensichtlich schneller vorankam. Das Banner der Grauen Eule flatterte im Wind.

Rand bemühte sich, neben Mat und Perrin zu reiten, doch immer, wenn Rand sein Pferd zu ihnen zurückfallen ließ, stieß Mat Perrin an, und Perrin galoppierte etwas zögernd mit Mat an die Spitze der Kolonne. Da er sich sagte, es habe keinen Sinn, selbst hinten zu bleiben, ritt Rand zurück an die Spitze. Prompt ließen sich die beiden wieder zurückfallen, wobei immer Mat es war, der Perrin dazu trieb.

Licht noch mal, ich will mich doch nur entschuldigen. Er fühlte sich einsam. Das Wissen, daß es seine eigene Schuld war, half nicht sehr.

Oben auf einem Hügel stieg Uno ab und untersuchte Hufspuren auf dem weichen Boden. Er deutete auf einige Pferdeäpfel und knurrte: »Sie reiten verdammt schnell, Lord.« Seine Stimme klang, als ob er schreie, selbst wenn er ganz normal sprach. »Wir haben noch keine Stunde aufgeholt. Licht noch mal, vielleicht haben wir eher noch eine verfluchte Stunde verloren. So, wie die reiten, bringen sie ihre Pferde glatt um.« Er legte die Hand in einen Hufabdruck. »Das war aber kein Pferd, sondern ein widerlicher Trolloc. Verdammte Bocksfüße!«

»Wir werden sie einholen«, sagte Ingtar grimmig.

»Unsere Pferde, Lord Ingtar. Es ist nicht gut, sie kaputtzureiten, bevor wir sie einholen, Lord. Auch wenn sie ihre Pferde umbringen, können die verfluchten Trollocs doch viel länger durchhalten als Pferde.«

»Wir werden sie einholen. Steig auf, Uno!«

Uno sah Rand mit seinem einzigen Auge an, zuckte die Achseln und stieg in den Sattel. Ingtar ließ sie den Abhang so schnell wie möglich hinuntertraben, teilweise auch rutschen, und galoppierte weiter den nächsten Hügel hinauf.

Warum hat er mich so angeschaut? fragte Rand sich. Uno war einer von denen, die ihm nie sehr viel Freundlichkeit entgegengebracht hatten. Es war nicht wie bei Masemas offener Abneigung; Uno behandelte niemanden besonders freundlich, außer vielleicht ein paar Veteranen, die genau so graue Haare hatten, wie er selbst.

Sicher glaubt gerade er doch nicht an diese Sage, ich sei ein Lord.

Uno beobachtete die ganze Zeit über genau das vor ihnen liegende Gelände. Wenn er Rand dabei ertappte, daß er ihn anblickte, erwiderte er dessen Blick, sagte aber kein Wort. Es bedeutete nicht viel. Er sah auch Ingtar in die Augen. So war Uno eben.

Der Weg, den die Schattenfreunde gewählt hatten — wer sonst noch? fragte sich Rand, denn Hurin murmelte immer wieder etwas von ›etwas noch Schlimmerem‹ —, die das Horn gestohlen hatten, führte niemals in die Nähe eines Dorfes. Rand sah Dörfer, die auf anderen Hügeln lagen, ungefähr eine Meile oder mehr über das wellige Land hinweg von ihnen entfernt, aber sie kamen den Dörfern nie nah genug, um die Menschen auf der Straße erkennen zu können. Oder nahe genug, daß diese Menschen eine nach Süden eilende Reisegruppe erkennen konnten. Sie sahen auch Bauernhöfe mit Häusern, deren Dächer weit hinuntergezogen waren, mit hohen Scheunen und qualmenden Schornsteinen, auf Hügelspitzen oder an den Abhängen oder in den Tälern, aber auch denen kamen sie nie nahe genug, daß der Bauer ihre Gruppe hätte erspähen können.

Schließlich mußte sogar Ingtar einsehen, daß die Pferde das angeschlagene Tempo nicht länger durchhalten konnten. Rand hörte, wie er leise fluchte, und sah, wie er sich mit der im Kampfhandschuh steckenden Faust grimmig auf die Schenkel schlug, aber er gab schließlich doch den Befehl, abzusitzen. Sie marschierten eine Meile weit und führten die Pferde an den Zügeln hügelauf und hügelab hinter sich her, und dann saßen sie wieder auf und ritten weiter. Eine Weile später das gleiche: eine Meile laufen und dann wieder eine Meile reiten. Laufen, reiten.

Rand beobachtete mit Staunen, daß Loial grinste, wenn sie abgesessen waren und einen Hügel hinaufkeuchten. Der Ogier hatte sich beim Reiten und in bezug auf Pferde noch nie sehr wohlgefühlt und lieber auf die eigenen Beine vertraut, aber Rand hatte geglaubt, er sei längst darüber hinweg.

»Rennst du gern, Rand?« lachte Loial. »Ich schon. Ich war der schnellste Läufer im Stedding Schangtai. Ich habe sogar einmal ein Pferd im Rennen geschlagen.«

Rand schüttelte nur den Kopf. Er wollte sich die Atemluft zum Laufen sparen. Er sah sich nach Mat und Perrin um, doch sie befanden sich immer noch ganz hinten, und zwischen ihnen marschierten zu viele Männer, um sie richtig sehen zu können. Er fragte sich, wie die Schienarer das alles mit ihren Rüstungen bewältigen konnten. Keiner von ihnen lahmte oder beklagte sich. Uno wirkte sogar, als schwitze er nicht einmal, und der Bannerträger ließ die Graue Eule kein einziges Mal sinken.

Sie kamen schnell vorwärts, doch die Dämmerung senkte sich, ohne daß sie irgendein Zeichen derer entdeckten, die sie verfolgten, außer eben ihren Spuren. Schließlich ließ Ingtar sie nach einigem Zögern anhalten und im Wald ihr Nachtlager aufschlagen. Die Schienarer entzündeten Feuer und schlugen Pfosten ein, um die Pferde daran anzubinden, und das alles mit einer Routine, die von langer Erfahrung zeugte. Ingtar stellte sechs Wachtposten paarweise für die erste Wache auf.

Das erste, was Rand unternahm, war, in den Tragekörben der Packpferde nach seinem Bündel zu suchen. Es war nicht schwer zu finden — unter den Vorräten befanden sich nur wenige persönliche Gepäckstücke —, aber als er es öffnete, stieß er einen Schrei aus, der jeden Mann im Lager hochschnellen und sein Schwert ziehen ließ.

Ingtar rannte herbei. »Was ist los? Friede, ist jemand ins Lager eingedrungen? Ich habe die Wachen gar nicht gehört.«

»Es sind diese Mäntel«, grollte Rand und starrte immer noch das an, was er da ausgepackt hatte. Ein Mantel war schwarz und mit Silberfäden verziert, der andere weiß und mit Goldfäden bestickt. Beide trugen Reiher am Kragen und waren zumindest genauso prunkvoll wie der rote Mantel, den er trug. »Die Diener sagten mir, sie hätten mir zwei gute, brauchbare Mäntel eingepackt. Schaut sie nur an!«

Ingtar steckte über die Schulter hinweg sein Schwert in die Scheide zurück. Die anderen Männer setzten sich wieder. »Na ja, sie sind doch brauchbar.«

»Die kann ich nicht tragen. Ich kann doch nicht die ganze Zeit in solcher Kleidung herumlaufen.«

»Ihr könnt sie tragen. Mantel ist Mantel. Ich hörte, daß Moiraine Sedai selbst Eure Sachen eingepackt hat. Vielleicht versteht eine Aes Sedai nicht ganz, was ein Mann auf dem Schlachtfeld trägt.« Ingtar grinste. »Vielleicht veranstalten wir ein Fest, wenn wir die Trollocs erledigt haben. Dann seid wenigstens Ihr dafür richtig angezogen, wenn auch wir anderen es nicht sind.« Er schlenderte zurück zu den bereits brennenden Küchenfeuern.

Rand hatte sich nicht bewegt, seit Ingtar Moiraine erwähnt hatte. Er starrte die Mäntel an. Was will sie eigentlich? Was auch immer, ich lasse mich nicht benützen. Er schnürte das Bündel wieder zu und steckte es in den Transportkorb zurück. Ich kann ja immer noch nackt herumlaufen, dachte er bitter.

Die Schienarer wechselten sich im Dienst beim Kochen ab, und als Rand zurück zum Feuer kam, rührte gerade Masema im Kessel. Der Geruch nach einem Eintopf mit Rüben, Zwiebeln und Trockenfleisch legte sich über das Lager. Ingtar wurde zuerst bedient, dann Uno, und ansonsten stellte sich jeder so an, wie er gerade gekommen war. Masema klatschte eine große Schöpfkelle mit Eintopf auf Rands Teller. Rand tat schnell einen Schritt nach rückwärts, damit nichts auf seinen Mantel spritzte, und während er dem nächsten Mann Platz machte, lutschte er an seinem leicht verbrühten Daumen. Masema blickte ihn mit einem eingefrorenen Lächeln an, das seine Augen nicht berührte. Bis Uno herantrat und ihm einen Stoß gab.

»Wir haben verdammt noch mal nicht genug mitgebracht, damit du es auf den blöden Boden schüttest!« Der Einäugige sah Rand an und ging wieder. Masema rieb sich das Ohr, aber sein böser Blick folgte Rand.

Rand ging hinüber zu Ingtar und Loial, die unter einer weit ausladenden Eiche am Boden saßen. Ingtar hatte den Helm neben sich auf den Boden gelegt, aber ansonsten war er vollständig gerüstet. Mat und Perrin waren auch bereits da und aßen gierig. Mat lächelte höhnisch beim Anblick von Rands Mantel, aber Perrin blickte nur flüchtig auf. Die goldenen Augen schimmerten im Feuerschein, und dann beugte er sich wieder auf seinen Teller hinunter.

Wenigstens sind sie diesmal nicht gleich wieder gegangen.

Er setzte sich ihnen gegenüber neben Ingtar im Schneidersitz auf den Boden. »Ich wünschte, ich wüßte, warum Uno mich immer so anschaut. Wahrscheinlich liegt es an diesem verdammten Mantel.«

Ingtar schwieg nachdenklich und schluckte einen Löffel Eintopf. Schließlich sagte er: »Uno fragt sich zweifellos, ob Ihr wirklich ein Reiherschwert wert seid.« Mat schnaubte laut, doch Ingtar fuhr unbeirrt fort: »Laßt Euch nicht von Uno durcheinanderbringen. Wenn er könnte, würde er auch Lord Agelmar wie einen grünen Rekruten behandeln. Na ja, vielleicht nicht gerade Agelmar, aber jeden anderen. Er hat eine sehr scharfe Zunge, aber er gibt einem auch gute Ratschläge. Das sollte er wohl auch; er war schon im Militärdienst, bevor ich geboren wurde. Beherzigt seine Ratschläge und achtet nicht auf seine scharfe Zunge, dann kommt Ihr mit Uno klar.«

»Ich dachte schon, er sei genau wie Masema.« Rand schaufelte Eintopf in seinen Mund. Er war zu heiß, aber er schluckte trotzdem alles hastig herunter. Sie hatten seit dem Beginn ihres Rittes in Fal Dara nichts gegessen, und diesen Morgen war er zu besorgt gewesen, um etwas zu essen. Sein Magen grollte und erinnerte ihn daran, daß es höchste Zeit war. Er fragte sich, ob es helfen würde, wenn er Masema sagte, daß ihm das Essen schmeckte. »Masema verhält sich, als hasse er mich, und ich verstehe nicht warum.«

»Masema hat drei Jahre lang in den Östlichen Sümpfen gedient«, sagte Ingtar, »in Ankor Dail, im Kampf gegen die Aiel.« Er stocherte mit seinem Löffel im Eintopf herum und runzelte die Stirn dabei. »Versteht mich recht — ich stelle keine Fragen. Wenn Lan Dai Shan und Moiraine Sedai behaupten wollen, daß Ihr aus Andor von den Zwei Flüssen kommt, dann kommt Ihr eben daher. Aber Masema kann den Anblick der Aiel nicht vergessen, und wenn er Euch sieht...« Er zuckte die Achseln. »Ich stelle keine Fragen.«

Rand ließ seinen Löffel mit einem Aufseufzen auf den Teller fallen. »Jeder glaubt, ich sei ein anderer, als ich bin. Ich komme von den Zwei Flüssen, Ingtar. Ich habe dort mit... mit meinem Vater Tabak angepflanzt und seine Schafe gehütet. Das ist die Wahrheit über mich. Ich bin ein Bauer und Schäfer aus dem Gebiet der Zwei Flüsse.«

»Er kommt wirklich von den Zwei Flüssen«, sagte Mat verächtlich. »Ich bin mit ihm aufgewachsen, auch wenn man heutzutage nichts mehr davon merkt. Wenn Ihr ihm auch noch diesen Unsinn über die Aiel einredet, zu den Flausen, die er sowieso schon im Kopf hat, dann mag das Licht wissen, was er sich noch einbildet. Vielleicht, daß er ein Lord der Aiel ist.«

»Nein«, sagte Loial, »er sieht wirklich so aus. Erinnerst du dich noch, Rand, daß ich dich das gleiche fragte? Ich dachte damals allerdings, ich kenne einfach die Menschen noch nicht gut genug, um es beurteilen zu können. Denkst du noch daran? ›Bis aller Schatten verflogen, alles Wasser verdunstet ist, hinein in die Dunkelheit des Bösen mit gebleckten Zähnen, mit dem letzten Atemzug noch den Trotz entgegenschreien und dem Sichtblender ins Auge speien, auch noch am Letzten Tag.‹ Erinnerst du dich daran, Rand?«

Rand blickte auf seinen Teller hinunter. Wickle eine Schufa um deinen Kopf, und du siehst aus wie ein Aielmann. Das hatte Gawyn gesagt, der Bruder Elaynes, der Tochter-Erbin von Andor. Jeder glaubt, ich sei jemand, der ich nicht bin.

»Wie ging das?« fragte Mat. »Das mit: ›dem Dunklen König ins Auge speien‹?«

»Das sagen die Aiel, wenn sie davon sprechen, wie lange sie kämpfen werden«, sagte Ingtar, »und ich zweifle nicht daran. Mit Ausnahme der Händler und Gaukler teilen die Aiel die Menschen in zwei Gruppen ein: Aiel und deren Feinde. Sie haben diese Regel vor fünfhundert Jahren zugunsten Cairhiens durchbrochen, aus irgendeinem Grund, den nur ein Aiel verstehen konnte, aber ich glaube nicht, daß sie so was noch einmal tun werden.«

»Ich glaube es auch nicht«, seufzte Loial. »Aber sie lassen die Tuatha'an, das Fahrende Volk, die Wüste durchqueren. Und sie betrachten Ogier auch nicht als Feinde, obwohl ich daran zweifle, daß einer von uns in die Wüste gehen würde. Manchmal kommen Aiel ins Stedding Schangtai, um besungenes Holz einzutauschen. Das sind schon harte Menschen.«

Ingtar nickte. »Ich wünschte, ich hätte ein paar auch nur halb so harte Leute. Nur halb so hart.«

»Soll das ein Witz sein?« lachte Mat. »Wenn ich eine Meile weit mit all dem Eisenzeug rennen müßte, das Ihr am Körper tragt, dann würde ich umfallen und eine Woche lang schlafen. Ihr habt das den ganzen Tag über Meile um Meile getragen.«

»Die Aiel sind wirklich harte Typen«, sagte Ingtar. »Männer wie Frauen. Ich habe gegen sie gekämpft und kann das beurteilen. Sie rennen fünfzig Meilen weit und stürzen sich am Ende in den Kampf. Sie sind der lebendige Tod, ob bewaffnet oder unbewaffnet. Außer mit dem Schwert. Aus irgendeinem Grund nehmen sie kein Schwert in die Hand. Sie setzen sich auch auf kein Pferd. Sie haben das wohl nicht nötig. Wenn Ihr ein Schwert habt und der Aielmann die bloßen Hände, dann ist das ein ausgeglichener Kampf. Wenn Ihr gut seid.

Sie züchten ihr Vieh und ihre Ziegen, wo Ihr und ich verdursten würden, bevor nur ein Tag um ist. Sie graben ihre Dörfer in riesige Felsen draußen in der Wüste ein. Dort leben sie seit der Zerstörung der Welt oder jedenfalls in etwa. Artur Falkenflügel versuchte, sie dort auszubuddeln, und holte sich eine blutige Nase. Es war die einzige große Niederlage, die er je hinnehmen mußte. Am Tag flimmert die Luft über der Aielwüste vor Hitze, und nachts gefriert sie. Und ein Aiel wird Euch mit seinen blauen Augen groß ansehen und Euch sagen, daß er an keinem Ort der Welt lieber wäre. Und er lügt dabei nicht einmal. Wenn sie je versuchten, dort herauszukommen, hätten wir es schwer, sie zurückzuhalten. Der Aielkrieg dauerte drei Jahre lang, und da kämpften nur vier von dreizehn Stämmen!«

»Die grauen Augen seiner Mutter machen ihn noch nicht zu einem Aielmann«, sagte Mat.

Ingtar zuckte die Achseln. »Wie ich schon sagte: Ich stelle keine Fragen.«

Als sich Rand endlich zum Schlaf niederlegte, hatte er den Kopf voll von unerwünschten Gedanken. Sieht aus wie ein Aielmann. Moiraine Sedai will behaupten, du kämst von den Zwei Flüssen. Aiel wüteten den ganzen Weg bis Tar Valon. Am Hang des Drachenberges geboren. Der Wiedergeborene Drache.

»Ich lasse mich nicht benützen«, murmelte er, aber er konnte lange Zeit nicht einschlafen.

Ingtar ließ sie noch vor Sonnenaufgang das Lager abbrechen. Sie hatten bereits gefrühstückt und ritten nach Süden, als die Wolken im Osten noch durch ihre Röte vom kommenden Sonnenaufgang zeugten und der Tau von den Blättern tropfte. Diesmal sandte Ingtar Kundschafter aus, und obwohl das Tempo immer noch stramm war, war es für die Pferde doch erträglicher als zuvor. Rand dachte sich, Ingtar habe wohl eingesehen, daß es nicht in einem Tag zu schaffen war. Die Spur führe immer noch nach Süden, meinte Hurin. Bis dann zwei Stunden nach Sonnenaufgang einer der Kundschafter im Galopp zurückkam.

»Vor uns liegt ein verlassenes Lager, Lord Ingtar. Geradeaus auf der Hügelspitze. Dort müssen letzte Nacht mindestens dreißig oder vierzig von ihnen gelagert haben, Lord.«

Ingtar gab seinem Pferd die Sporen, als habe man ihm gesagt, die Schattenfreunde seien immer noch dort, und Rand mußte sich bei ihm halten, um nicht von den Schienarern niedergeritten zu werden, die hinter ihm den Hügel hinaufgaloppierten.

Es gab nicht viel zu sehen; nur die erkaltete Asche der Lagerfeuer, gut zwischen Bäumen verborgen, und darin lag so etwas wie der Rest einer Mahlzeit. Ein Haufen Abfall in der Nähe der Feuerstellen, über dem bereits die Fliegen summten.

Ingtar hielt die anderen zurück und stieg ab, um mit Uno die Lagerstätte abzugehen und den Boden zu untersuchen. Hurin ritt schnüffelnd rund um das Lager. Rand saß auf seinem Hengst neben den anderen Männern. Er verspürte kein Verlangen danach, einen Ort näher anzusehen, an dem Trollocs und Schattenfreunde gelagert hatten. Und ein Blasser. Und etwas noch Schlimmeres.

Mat kletterte zu Fuß den Abhang hoch und stolzierte auf den Lagerplatz. »Sieht so ein Lager von Schattenfreunden aus? Stinkt ein bißchen, aber ansonsten kann ich nicht sagen, daß es sich von denen anderer wesentlich unterscheidet.« Er trat nach einem der Aschehäufchen, wobei er ein Stück angesengten Knochen losriß. Er bückte sich und hob es auf. »Was essen Schattenfreunde? Sieht nicht wie ein Schafsknochen oder der einer Kuh aus.«

»Hier wurde gemordet«, sagte Hurin traurig. Er rieb sich die Nase mit einem Taschentuch. »Was geschah, war schlimmer noch als einfacher Mord.«

»Es waren Trollocs hier«, sagte Ingtar, und dabei sah er Mat offen an. »Ich denke, sie hatten wohl Hunger, und die Schattenfreunde waren gerade zur Hand.« Mat ließ den geschwärzten Knochen fallen. Er wirkte, als wolle er sich übergeben.

»Sie gehen jetzt nicht mehr Richtung Süden, Lord Ingtar«, sagte Hurin. Das brachte ihm die Aufmerksamkeit aller ein. Er zeigte zurück nach Nordosten. »Vielleicht haben sie sich entschlossen, doch zur Fäule zurückzukehren. Uns zu umgehen. Vielleicht wollten sie uns nur ablenken, indem sie nach Süden gingen.« Es klang aber nicht so, als glaube er selbst daran. Er schien verblüfft.

»Was sie auch versuchen«, fauchte Ingtar, »ich will sie jetzt in die Finger kriegen. Aufsitzen!«

Kaum eine Stunde später hielt Hurin erneut an. »Sie haben wieder die Richtung geändert, Lord Ingtar. Nach Süden. Und hier haben sie jemand anderes getötet.«

Im Einschnitt zwischen zwei Hügeln war keine Asche zu sehen, aber nach ein paar Minuten fanden sie die Leiche. Ein Mann, den sie zusammengerollt unter Büsche geschoben hatten. Sein Hinterkopf war eingeschlagen, und die Augen quollen unter der Wucht des Schlags noch immer heraus. Keiner erkannte ihn, obwohl er schienarische Kleidung trug.

»Wir werden unsere Zeit nicht damit verschwenden, Schattenfreunde zu beerdigen«, grollte Ingtar. »Wir reiten nach Süden.« Er folgte den eigenen Worten schon, kaum daß er sie ausgesprochen hatte.

Ansonsten verlief dieser Tag genau wie der vorhergegangene. Uno betrachtete die Spuren und was die anderen so liegengelassen hatten und sagte, sie hätten ein wenig Boden gutgemacht. Die Dämmerung kam, ohne daß sie Trollocs oder Schattenfreunde zu Gesicht bekommen hätten, und am nächsten Morgen fanden sie wieder ein verlassenes Nachtlager — in dem, wie Hurin behauptete, erneut ein Mord begangen worden war —, und die Richtung änderte sich ebenfalls wieder, diesmal nach Nordwesten. Weniger als zwei Stunden später fanden sie eine weitere Leiche, einen Mann, dessen Schädel von einer Axt gespalten war; die Richtung änderte sich schon wieder. Erneut nach Süden. Und, falls Uno die Spuren richtig deutete, hatten sie weiter aufgeholt. Bis zum Einbruch der Dunkelheit sahen sie wieder nur einige entfernte Bauernhöfe. Der nächste Tag brachte das gleiche: Richtungsänderungen, Mord und so weiter, und der darauffolgende wieder.

Jeder Tag brachte sie ihrer Beute ein wenig näher, doch Ingtar ging es nicht schnell genug. Er kochte ständig vor Wut. Einmal schlug er vor, einfach auf direktem Weg abzukürzen, als die Spuren wieder einmal morgens von einer Richtungsänderung zeugten — sicher würden sie die Spur wiederfinden, wenn sie erneut nach Süden zeigte, und damit mehr Zeit gewinnen —, aber bevor jemand etwas dagegen einwenden konnte, meinte er selbst, das sei ein schlechter Einfall gewesen, falls die Männer, die sie suchten, diesmal doch nicht nach Süden weiterritten. Er trieb alle zu noch größerer Eile an, wollte, daß sie früher aufbrachen und bis zur vollständigen Dunkelheit ritten. Er erinnerte sie an die Aufgabe, die ihnen die Amyrlin anvertraut hatte, nämlich das Horn von Valere zurückzugewinnen und sich durch nichts davon abbringen zu lassen. Er sprach von dem Ruhm, den sie dadurch erwerben würden, daß ihre Namen in die Geschichte und in die Erzählungen der Gaukler und die Lieder der Barden eingehen würden als diejenigen, die das Horn gefunden hatten. Er sprach unablässig, als könne er nicht mehr aufhören, und blickte in die Richtung, die ihnen die Spuren wiesen, als läge in ihnen all seine Hoffnung auf das Licht. Selbst Uno begann, ihn eigenartig berührt anzusehen.

Und so erreichten sie schließlich den Erinin.

Rands Meinung nach konnte man das eigentlich gar nicht als Dorf bezeichnen. Er saß zwischen Bäumen auf seinem Pferd und blickte hinauf zu einem halben Dutzend kleiner Häuser, deren mit Holzschindeln gedeckte Dächer bis fast zum Boden hinunterreichten. Der Weiler lag unter der Morgensonne auf einem Hügel über dem Fluß. Nur wenige Leute kamen hier jemals vorbei. Es war erst ein paar Stunden her, seit sie aufgebrochen waren, aber falls das übliche Muster wieder zutraf, hätten sie eigentlich längst die Überreste der Lagerstätte der Schattenfreunde finden müssen. Aber sie waren auf nichts dergleichen gestoßen.

Der Fluß selbst wirkte nicht wie der gewaltige Erinin der Sage. Natürlich befanden sie sich nicht sehr weit von seiner Quelle am Rückgrat der Welt entfernt. Es waren vielleicht sechzig Schritte über das schnell strömende Wasser hinweg bis zum anderen Ufer, an dem sich eine Kette von Bäumen entlangzog. Eine wie ein großer Kahn wirkende Fähre an einem starken Tau bot die einzige Möglichkeit, den Fluß zu überqueren. Das Fährboot lag festgezurrt auf der anderen Seite des Flusses.

Zum ersten Mal hatte sie die Spur geradewegs zu menschlichen Behausungen geführt. Direkt auf die Häuser auf dem Hügel zu. Auf dem einzigen Feldweg, um den sich die Behausungen gruppierten, bewegte sich nichts.

»Eine Falle, Lord Ingtar?« fragte Uno leise.

Ingtar gab die notwendigen Befehle aus, und die Schienarer holten ihre Lanzen aus den langen Lederrohren und verteilten sich rund um die Häuser herum. Auf ein Handzeichen Ingtars hin galoppierten sie aus allen Richtungen gleichzeitig zwischen die Häuser, donnerten mit suchenden Blicken hinein, die Lanzen stoßbereit, während die Hufe ihrer Pferde Staub aufwirbelten. Dann hielten sie an, und der Staub sank allmählich nieder.

Rand steckte den Pfeil, den er bereits aufgelegt gehabt hatte, in den Köcher zurück und hängte sich den Bogen wieder um. Mat und Perrin taten es ihm nach. Loial und Hurin hatten nur einfach an dem Fleck gewartet, an dem Ingtar sie zurückgelassen hatte. Sie beobachteten unruhig die Szenerie.

Ingtar winkte, und Rand und die anderen ritten zu den Schienarern hinüber.

»Mir gefällt der Geruch hier nicht«, murmelte Perrin, als sie zwischen die Häuser ritten. Hurin sah ihn scharf an, und er erwiderte den Blick, bis Hurin die Augen senkte. »Es riecht irgendwie falsch.«

»Die blutigen Schattenfreunde und Trollocs sind geradewegs hier durchgeritten, Lord Ingtar«, sagte Uno und deutete auf ein paar übriggebliebene Spuren, die noch nicht von den Schienarern zertrampelt worden waren. »Gerade durch zu der verfluchten Fähre, und die haben sie, verdammt noch mal, auf der anderen Seite zurückgelassen. Blut und blutige Asche! Wir haben noch ein Schweineglück, daß sie sie nicht losmachten und den Fluß runter treiben ließen.«

»Wo sind die Leute, die hier wohnen?« fragte Loial.

Die Türen standen offen, in den offenen Fenstern flatterten die Gardinen, aber trotz des Donnerns der Pferdehufe war niemand herausgetreten.

»Durchsucht die Häuser«, befahl Ingtar. Die Männer stiegen ab und rannten hinein, doch als sie zurückkamen, schüttelten sie die Köpfe.

»Sie sind weg, Lord Ingtar«, sagte Uno. »Verdammt noch mal einfach weg, mag mich das Licht versengen! Als hätten sie sich entschlossen, mir nichts, dir nichts am hellichten Tag wegzulaufen.« Plötzlich hielt er inne und deutete eindringlich auf ein Haus hinter Ingtar. »Da ist eine Frau an dem Fenster. Wie ich die verdammt noch mal übersehen konnte...?« Er rannte auf das Haus zu, bevor irgend jemand anders sich nur rühren konnte.

»Erschreckt sie nicht!« rief Ingtar. »Uno, wir brauchen Informationen. Das Licht soll dich versengen, Uno, erschreck sie ja nicht!« Der Einäugige verschwand durch die offene Tür. Ingtar erhob die Stimme wieder. »Wir wollen Euch nichts antun, gute Frau! Wir sind Männer von Lord Agelmar, aus Fal Dara. Habt keine Angst! Wir werden Euch nichts tun!«

Ein Fenster ganz oben im Haus flog auf, und Uno steckte den Kopf hinaus und blickte sich wild um. Mit einem Fluch zog er sich wieder zurück. Stampfen und Klappern begleiteten seinen Rückweg, als zertrampele er wütend irgendwelche Gegenstände. Schließlich erschien er in der Tür.

»Weg, Lord Ingtar. Aber sie war da. Eine Frau in einem weißen Kleid war am Fenster. Ich habe sie gesehen. Ich dachte sogar einen Moment lang, ich hätte sie drinnen gesehen, aber dann war sie weg und... « Er atmete tief durch. »Das Haus ist leer, Lord Ingtar.« Das Maß seiner Erregung wurde dadurch deutlich, daß er einmal nicht fluchte.

»Vorhänge«, äußerte sich Mat dazu. »Er erschrickt, weil ein paar verdammte Vorhänge durch die Gegend wehen.« Uno sah ihn scharf an und kehrte dann zu seinem Pferd zurück.

»Wohin sind sie verschwunden?« fragte Rand Loial. »Glaubst du, sie sind weggerannt, als die Schattenfreunde kamen?« Und die Trollocs und ein Myrddraal. Und das, was Hurin als noch schlimmer bezeichnet. Schlaue Leute, falls sie so schnell wegrannten, wie sie nur konnten.

»Ich fürchte, die Schattenfreunde haben sie mitgenommen, Rand«, sagte Loial zögernd. Er verzog das Gesicht. Bei seiner breiten Nase, die ein wenig wie ein Rüssel wirkte, war das schon beinahe eine wütende Fratze. »Für die Trollocs.« Rand schluckte und bereute, daß er die Frage gestellt hatte. Es war kein angenehmes Gefühl, sich vorzustellen, was die Trollocs fraßen.

»Was auch hier geschehen sein mag«, sagte Ingtar, »so haben es in jedem Fall die Schattenfreunde zu verantworten. Hurin, wurde hier Gewalt angewandt? Wurde getötet? Hurin?«

Der Schnüffler fuhr zusammen und blickte sich erschreckt um. Er hatte über den Fluß hinweggeblickt. »Gewalt, Lord Ingtar? Ja. Getötet wurde niemand. Oder nicht direkt.« Er sah Perrin aus den Augenwinkeln an. »Ich habe so was noch nie zuvor gerochen, Lord Ingtar. Aber verletzt wurden schon welche.«

»Gibt es Zweifel daran, daß sie den Fluß überquert haben? Oder sind sie wieder auf der eigenen Spur ein Stück zurückgeritten?«

»Sie sind drüben, Lord Ingtar.« Hurin blickte nervös zum anderen Ufer hinüber. »Sie haben ihn überquert. Aber was sie auf der anderen Seite gemacht haben...?« Er zuckte die Achseln.

Ingtar nickte. »Uno, ich brauche diese Fähre auf unserer Seite. Und ich will, daß Kundschafter sich drüben umschauen, bevor wir den Fluß überqueren. Nur weil hier keine Falle auf uns lauerte, heißt das nicht, daß es dort keine gibt, wenn wir uns bei der Überquerung aufteilen müssen. Die Fähre sieht nicht groß genug aus, um uns alle auf einmal hinüberzubringen. Kümmere dich also darum.«

Uno verbeugte sich, und Augenblicke später halfen sich Ragan und Masema gegenseitig aus den Rüstungen. Bis auf den Lendenschurz entkleidet und mit einem Dolch bewaffnet, der hinten an diesem befestigt war, trabten sie auf krummen Reiterbeinen zum Flußufer und wateten ins Wasser. Sie zogen sich mit den Händen an dem dicken Fährtau entlang. Das Tau hing in der Mitte weit genug durch, um sie bis an die Hüften im Wasser stehen zu lassen, und die Strömung war stark. Sie zog sie flußabwärts, doch schneller als Rand geglaubt hatte, stemmten sie sich über die rauhen Bordwände der Fähre. Sie zogen ihre Dolche und verschwanden unter den Bäumen.

Nach einer Weile, die wie eine Ewigkeit erschien, tauchten die beiden Männer wieder auf und machten sich daran, die Fähre langsam herüberzuziehen. Der Kahn stieß unterhalb des Dorfes ans Ufer, und Masema vertäute ihn, während Ragan zu Ingtar hinauftrabte. Sein Gesicht war bleich. Die Pfeilnarbe auf seiner Wange trat deutlich heraus. Er wirkte erschüttert, als er sprach: »Das andere Ufer... Es gibt dort keinen Hinterhalt, Lord Ingtar, aber... « Er verbeugte sich tief, immer noch klatschnaß und zitternd. »Lord Ingtar, Ihr müßt das selbst sehen. Die große Steineiche, fünfzig Schritt südlich des Landestegs.

Ich kann es nicht sagen. Ihr müßt es selbst sehen.«

Ingtar runzelte die Stirn und blickte erst Ragan und dann das ferne Ufer an. Schließlich sagte er: »Ihr habt eure Sache gut gemacht, Ragan. Ihr beide.« Seine Stimme wurde schärfer. »Uno, hole diesen Männern etwas aus den Häusern, um sich abzutrocknen. Und schau nach, ob jemand Teewasser aufgesetzt hatte. Gib ihnen etwas Heißes zu trinken, wenn es geht. Dann bringe die zweite Gruppe und die Packpferde hinüber.« Er wandte sich Rand zu. »Also, seid Ihr bereit, das Südufer des Erinin zu sehen?« Er wartete nicht auf eine Antwort und ritt mit Hurin und der Hälfte der Lanzenträger zur Fähre hinunter.

Rand zögerte einen Moment und folgte ihnen dann. Loial kam mit ihm. Zu seiner Überraschung ritt Perrin vor ihnen. Er blickte grimmig drein. Einige der Lanzenträger stiegen unter groben Scherzen ab, um das Tau zu ziehen und so die Fähre hinüberzubringen.

Mat wartete bis zur letzten Minute, als einer der Schienarer bereits die Fähre losband, doch dann gab er seinem Pferd die Fersen zu spüren und drängte sich an Bord. »Früher oder später muß ich doch kommen, oder?« sagte er atemlos, ohne jemand Bestimmtes anzusprechen. »Ich muß ihn finden.«

Rand schüttelte den Kopf. Da Mat so gesund wie früher wirkte, hatte er beinahe vergessen, warum Mat mitgekommen war. Um den Dolch zu finden. Überlasse Ingtar das Horn. Ich will nur den Dolch für Mat haben. »Wir werden ihn finden, Mat.«

Mat sah ihn finster an — mit einem höhnischen Seitenblick auf seinen guten roten Mantel — und wandte sich ab. Rand seufzte.

»Es wird sich alles wieder einrenken, Rand«, sagte Loial leise. »Irgendwie geht das schon.«

Die Strömung zerrte an der Fähre, als sie vom Ufer weggezogen wurde. Sie drückte sie unter hartem Quietschen gegen das Tau. Die Lanzenträger wirkten als Fährleute schon sehr eigenartig. Sie marschierten mit Helm und Rüstung und Schwertern auf dem Rücken über das Deck, aber auch so brachten sie die Fähre gut auf den Fluß hinaus.

»Auf diese Art haben wir unsere Heimat verlassen«, sagte Perrin plötzlich. »In Taren-Fähre. Die schweren Stiefeltritte der Fährleute an Deck und das Glucksen des Wassers um die Fähre herum. So verließen wir die Heimat. Diesmal wird es schlimmer.«

»Wie kann es noch schlimmer werden?« fragte Rand. Perrin antwortete nicht. Er suchte mit Blicken das andere Ufer ab, und seine goldenen Augen schienen fast zu glühen, doch nicht vor Eifer.

Nach einer Minute fragte auch Mat: »Wie kann es noch schlimmer kommen?«

»Es wird schlimmer. Ich kann es riechen«, war alles, was Perrin zu sagen bereit war. Hurin beäugte ihn nervös, aber andererseits sah Hurin alles und jeden beunruhigt an, seit sie Fal Dara verlassen hatten.

Die Fähre prallte mit einem hohlen, dumpfen Geräusch vom Aufschlag fester Planken auf zähen Ton beinahe schon unter den überhängenden Zweigen der Bäume auf das Südufer, und die Schienarer, die pausenlos an dem Tau gezogen hatten, stiegen wieder auf ihre Pferde. Nur zwei blieben zurück. Ingtar hatte ihnen befohlen, die Fähre wieder zurückzubringen, um die anderen abzuholen. Der Rest folgte Ingtar die Uferböschung hinauf.

»Fünfzig Schritt zu einer großen Steineiche«, sagte Ingtar, als sie in den Wald hineinritten. Seine Stimme klang etwas zu unbeteiligt. Wenn schon Ragan nicht darüber sprechen konnte... Einige der Soldaten lockerten die Schwerter auf ihren Rücken und hielten die Lanzen stoßbereit.

Zuerst glaubte Rand, die Gestalten, die an ihren Armen von den dicken grauen Ästen der Steineiche hingen, seien Vogelscheuchen. Rote Vogelscheuchen. Dann erkannte er die beiden Gesichter. Changu und der andere Mann, der mit ihm zusammen auf Wache gewesen war. Nidao. Die Augen weit aufgerissen, die Zähne in erstarrtem Schmerz gebleckt. Sie hatten noch lange Zeit gelebt, nachdem die Greueltat begonnen hatte.

Perrin stieß eine Art tiefes Grollen aus. »Das Schlimmste, was ich je gesehen habe, Lord Ingtar«, sagte Hurin mit schwacher Stimme. »Das Schlimmste was ich je gerochen habe, außer an jenem Abend im Kerker von Fal Dara.«

Verzweifelt suchte Rand das Nichts in seinem Inneren. Die Flamme schien ihm immer im Weg zu sein. Das fahle Licht flackerte im Rhythmus seines krampfartigen Würgens, doch er kämpfte sich hindurch, und schließlich war er ganz in Leere gehüllt. Das Schwindelgefühl pulsierte innerhalb des Nichts in seinem Inneren. Diesmal also nicht draußen, sondern drinnen. Kein Wunder, wenn man so etwas sehen muß. Der Gedanke hüpfte über das Nichts wie ein Wassertropfen in einer heißen Pfanne. Was hat man mit ihnen gemacht?

»Man hat ihnen die Haut bei lebendigem Leib abgezogen«, sagte jemand hinter ihm, und außerdem hörte er, wie sich jemand übergab. Er glaubte, es sei Mat, doch alles war weit von ihm entfernt. Er befand sich im Nichts. Nur daß auch dieses ekelhafte Schwindelgefühl bei ihm war. Er hatte das Gefühl, er müsse sich ebenfalls übergeben.

»Schneidet sie ab«, sagte Ingtar mit rauher Stimme. Er zögerte einen Moment und fügte dann hinzu: »Begrabt sie. Wir können nicht sicher sein, daß sie wirklich Schattenfreunde waren. Sie könnten auch deren Gefangene gewesen sein. Es könnte sein. Laßt sie die letzte Umarmung der Mutter noch fühlen.« Männer ritten mit zögernd gezogenen Messern hin. Selbst für die schlachtgewohnten Schienarer war das keine leichte Aufgabe — die gehäuteten Leichen von Männern abzuschneiden, die sie gekannt hatten.

»Geht es Euch soweit gut, Rand?« fragte Ingtar. »Ich bin an so etwas auch nicht gewöhnt.«

»Mir... mir geht es gut, Ingtar.« Rand ließ das Nichts verfliegen. Er fühlte sich ein wenig besser. Sein Magen hob sich immer noch, aber es war nicht mehr so schlimm. Ingtar nickte und ließ sein Pferd zur Seite drehen, so daß er die Männer bei ihrer Arbeit beobachten konnte.

Das Begräbnis war einfach. Zwei Löcher wurden in den Boden gegraben und die Leichen hineingelegt, während die anderen Schienarer schweigend zusahen. Die Totengräber begannen, ohne weiteres Aufhebens Erde in die Gräber zu schaufeln.

Rand war entsetzt, aber Loial erklärte ihm leise: »Die Schienarer glauben, wir alle kämen aus der Erde und müßten wieder zur Erde zurückkehren. Sie benützen niemals Särge und Leichentücher, und die Körper sind niemals bekleidet. Die Erde muß den Körper zurückerhalten. Die letzte Umarmung der Mutter, so nennen sie das. Und es werden auch keine Worte gesprochen, bis auf ›Das Licht leuchte dir, und der Schöpfer schütze dich. Die letzte Umarmung der Mutter heißt dich zu Hause willkommen.‹« Loial seufzte und schüttelte das mächtige Haupt. »Ich glaube nicht, daß irgend jemand das nun aussprechen wird. Gleich was Ingtar sagt, Rand, aber es gibt kaum einen Zweifel daran, daß Changu und Nidao die Wachen am Hundetor töteten und die Schattenfreunde in die Festung ließen. Es müssen sie gewesen sein, die für alles verantwortlich waren.«

»Wer hat dann den Pfeil auf... auf die Amyrlin abgeschossen?« Rand schluckte. Wer hat auf mich geschossen? Loial sagte nichts.

Uno kam mit dem Rest der Männer und den Packpferden an, als gerade die letzten Erdbrocken auf die Gräber geschaufelt wurden. Irgend jemand erzählte ihm, was sie vorgefunden hatten, und der Einäugige spuckte aus. »Die ziegenküssenden Trollocs machen das manchmal am Rand der Fäule, wenn sie dir den letzten verdammten Nerv töten oder dich auf ihre verfluchte Weise warnen wollen, ihnen zu folgen. Seng mich, wenn das hier funktionieren sollte.«

Bevor sie weiterritten, hielt Ingtar neben den beiden unauffälligen Gräbern inne, zwei Haufen aufgeschütteter Erde, die zu klein erschienen, um die Körper von Männern aufzunehmen. Nach einem Moment sagte er: »Das Licht leuchte Euch, und der Schöpfer schütze Euch. Die letzte Umarmung der Mutter heißt Euch zu Hause willkommen.« Als er den Kopf hob, blickte er einen der Männer nach dem anderen an. Alle Gesichter waren ausdruckslos, auch das von Ingtar. »Sie retteten am Tarwin-Paß Lord Agelmars Leben«, sagte er. Ein paar der Lanzenträger nickten. Ingtar wendete sein Pferd. »Welche Richtung, Hurin?«

»Nach Süden, Lord Ingtar.«

»Nehmt die Spur auf! Die Jagd beginnt!«

Der Wald wurde bald von einer sanftwelligen Ebene abgelöst, die manchmal durch einen seichten Bach unterbrochen wurde, der sich sein Bett tief in den weichen Boden eingeschnitten hatte. Die Bodenwellen blieben niedrig — höchstens fanden sie einmal einen geduckten Hügel, der die Bezeichnung nicht wert war. Wunderbares Land für Pferde. Ingtar nützte das aus, ließ sie mit gleichmäßigen, raumgreifenden Schritten vorwärts eilen. Gelegentlich sah Rand in der Ferne etwas, das wie ein Bauernhaus aussah, und einmal sogar glaubte er, ein Dorf entdeckt zu haben, aus dessen meilenweit entfernten Schornsteinen Rauch quoll. Etwas glänzte weiß in der Sonne. Aber das Land in ihrer unmittelbaren Nähe blieb menschenleer. Lange Grasstreifen wurden hier und da durch Unterholz und ein paar Bäume unterbrochen; von Zeit zu Zeit sahen sie sogar ein kleines Dickicht, aber nie mehr als hundert Schritte breit.

Ingtar sandte Kundschafter aus. Zwei Männer ritten voraus. Man sah sie nur, wenn sie gerade eine Erhebung überquerten. Er hatte sich eine silberne Pfeife um den Hals gehängt, damit er sie zurückrufen konnte, falls Hurin sagte, die Spur weiche von der bisherigen Richtung ab, aber das war nicht der Fall. Süden. Immer nach Süden.

»Wir werden das Schlachtfeld von Talidar in drei oder vier Tagen erreichen, wenn das so weitergeht«, sagte Ingtar, während sie so dahinritten. »Artur Falkenflügels größter Sieg auf dem Schlachtfeld, als die Halbmenschen die Trollocs aus der Fäule gegen ihn führten. Die Schlacht dauerte sechs Tage und Nächte, und als sie vorüber war, flohen die Trollocs in die Fäule zurück und wagten es nie mehr, ihn herauszufordern. Er ließ zur Erinnerung an seinen Sieg dort eine Säule errichten, hundert Spannen hoch. Er ließ aber nicht seinen eigenen Namen einmeißeln, sondern die Namen aller Männer, die dort fielen, und obenauf eine goldene Sonne als Wahrzeichen dafür, daß das Licht den Schatten besiegt hatte.«

»Das würde ich gern sehen«, sagte Loial. »Ich habe noch nie von dieser Siegessäule gehört.«

Ingtar schwieg einen Augenblick lang, und als er weitersprach, klang seine Stimme sehr ruhig. »Sie steht nicht mehr dort, Erbauer. Als Falkenflügel starb, konnten es diejenigen, die sich um sein Reich stritten, nicht ertragen, ein solches Monument eines seiner Siege stehen zu lassen, auch wenn sein Name gar nicht darauf stand. Es ist nichts davon übrig als der Hügel, auf dem es einst stand. Wenigstens diesen können wir in drei oder vier Tagen sehen.« Sein Tonfall ließ anschließend keine Unterhaltung mehr aufkommen.

Unter der am Himmel hängenden goldenen Sonne kamen sie an einer Ruine vorbei, die, quadratisch und aus verputzten Backsteinen errichtet, weniger als eine Meile von ihrem Weg entfernt lag. Sie war nicht hoch; wo immer er auch hinblickte, standen nicht mehr als zwei Stockwerke, aber sie bedeckte eine recht große Fläche. Eine Stimmung trauriger Verlassenheit lag darüber. Die Dächer waren eingebrochen; nur ein paar Streifen dunkler Ziegel hingen noch an einzelnen Dachsparren. Der größte Teil des weißen Verputzes war abgebröckelt und gab den Blick frei auf die dunklen, verwitterten Backsteine darunter. Wände waren eingestürzt und enthüllten Innenhöfe und vermodernde Zimmer. Gestrüpp und sogar ein paar Bäume wuchsen in den Ritzen der einst gepflasterten Innenhöfe.

»Ein Herrenhaus«, erklärte Ingtar. Das bißchen Humor, das er wiedergewonnen hatte, schien zu verblassen, als er die Ruine betrachtete. »Als Harad Dakar noch stand, schätze ich, bewirtschaftete der Gutsherr das Land im Umkreis von ein paar Meilen. Vielleicht baute er Obst an. Die Hardani liebten ihre Obstplantagen.«

»Harad Dakar?« sagte Rand, und Ingtar schnaubte.

»Lernt denn heute keiner mehr Geschichte? Harad Dakar, die Hauptstadt von Hardan; das war das Land, über das wir gerade reiten.«

»Ich habe eine alte Landkarte gesehen«, antwortete Rand mit angespannter Stimme. »Ich kenne die Länder, die es heute nicht mehr gibt: Maredo und Goaban und Carralain. Aber Hardan gab es darauf nicht.«

»Es gab damals noch andere, die heute spurlos verschwunden sind«, sagte Loial. »Mar Haddon, das heute nur noch als die Haddon-Sümpfe bekannt ist, und Almoth. Kintara. Der Hundertjährige Krieg hat Artur Falkenflügels Reich in viele Nationen zersprengt — große und kleine. Die kleinen wurden von den großen geschluckt oder sie vereinigten sich, so wie Altara und Murandy. Oder besser gesagt, sie wurden zur Vereinigung gezwungen und vereinten sich nicht freiwillig, schätze ich.«

»Und was ist dann mit ihnen geschehen?« wollte Mat wissen. Rand hatte gar nicht bemerkt, daß Mat und Perrin herangeritten waren, um sich ihnen anzuschließen. Als er sie zuletzt gesehen hatte, waren sie ganz am Ende der Kolonne geritten, soweit wie möglich von Rand al'Thor entfernt.

»Sie konnten sich nicht halten«, antwortete der Ogier. »Es gab Mißernten, oder der Handel brachte nicht genug ein, oder die Menschen versagten einfach. In jedem Fall versagte irgend etwas, und die Nation schwand dahin. Oft sogen Nachbarländer das betreffende Land in sich auf, als diese Nationen verschwanden, aber auch diese Aneignungen waren nicht für die Dauer. Irgendwann schließlich verließ man die Länder. Hier und da hält sich noch ein Dorf, aber die meisten wurden von der Wildnis verschlungen. Es ist schon fast dreihundert Jahre her, daß Harad Dakar endgültig aufgegeben wurde, aber selbst davor war es nur eine leere Hülle mit einem König, der nicht einmal kontrollieren konnte, was innerhalb der Stadtmauern geschah. Soviel ich weiß, ist Harad Dakar selbst mittlerweile ganz vom Erdboden verschwunden. Alle Dörfer und Städte von Hardan sind vergangen. Ihre Steine wurden von Bauern zum eigenen Gebrauch weggekarrt. Aber die meisten Höfe und Dörfer, die man damit erbaut hat, sind mittlerweile ebenfalls verschwunden. Das habe ich gelesen, und ich habe bisher nichts gesehen, was dem widerspräche.«

»Harad Dakar war fast hundert Jahre lang wie ein Steinbruch«, sagte Ingtar bitter. »Die Menschen zogen mit der Zeit fort, und die Stadt wurde Stein um Stein abgetragen. Alles verschwand langsam, und was noch nicht weg ist, wird auch vergehen. Alles vergeht überall. Es gibt kaum eine Nation, die wirklich das gesamte Land beherrscht, das sie der Landkarte nach ihr eigen nennt, und es gibt auch kaum ein Land, das heute noch auf der Landkarte genauso groß ist wie vor hundert Jahren. Als der Hundertjährige Krieg beendet war, konnte man endlos weit durch ein Land zum anderen reiten; von der Fäule bis zum Meer der Stürme. Jetzt können wir beinahe dieselbe Strecke ständig durch eine Wildnis reiten, die von keinem Land beansprucht wird. Wir in den Grenzlanden werden durch die Notwendigkeit des ständigen Kampfes gegen die Fäule gestärkt und geeint. Vielleicht fehlte diesen Ländern hier die notwendige Herausforderung, um sie stark zu erhalten. Ihr sagtet, sie versagten, Erbauer? Ja, sie versagten, und welche Nation, die heute stolz und mächtig dasteht, wird morgen vielleicht ebenfalls versagen? Wir werden weggeschwemmt, wir Menschen. Weggeschwemmt wie Treibholz in einer Flut. Wie lange noch, bis nur noch die Grenzlande übrig sind? Wie lange noch, bis auch wir untergehen und nichts übrigbleibt, als Trollocs und Myrddraal bis hinunter zum Meer der Stürme?«

Erschrockenes Schweigen folgte seinen Worten. Nicht einmal Mat sagte etwas. Ingtar ritt gedankenverloren weiter.

Nach einer Weile kamen die Kundschafter zurückgaloppiert und berichteten, aufrecht sitzend und mit erhobenen Lanzen: »Vor uns liegt ein Dorf, Lord Ingtar. Man hat uns nicht gesehen, aber es liegt direkt auf unserem Weg.«

Ingtar schüttelte die trüben Gedanken ab, sagte aber nichts, bis sie den Kamm eines niedrigen Hügels erreicht hatten und auf das Dorf hinunterblickten. Auch dann befahl er lediglich anzuhalten, während er aus seiner Satteltasche ein Fernglas herausholte und es an die Augen hob, um das Dorf zu betrachten. Rand betrachtete ebenfalls interessiert das Dorf. Es war so groß wie Emondsfeld, obwohl das natürlich nicht gerade groß war, wenn man es mit einigen der Ortschaften verglich, die er seit seinem Aufbruch in den Zwei Flüssen gesehen hatte, ganz zu schweigen von den großen Städten. Die Häuser waren alle niedrig und mit weißem Kalk verputzt, und es schien, als wachse auf ihren Giebeldächern Gras. Ein Dutzend Windmühlen lagen über das ganze Dorf verstreut. Ihre langen, stoffbespannten Flügel drehten sich gemütlich und leuchteten weiß im Sonnenschein. Ein niedriger Wall umgab das Dorf. Er war brusthoch und grasbewachsen. Davor befand sich ein breiter Graben mit zugespitzten Stöcken, die man dicht beieinander in den Boden gerammt hatte. Die einzige Öffnung, die er in dem Wall entdecken konnte, besaß keine Torflügel, doch er nahm an, sie könne ziemlich leicht mit einem Karren oder Wagen blockiert werden. Er konnte nirgends Menschen entdecken.

»Nicht mal ein Hund ist zu sehen«, sagte Ingtar und steckte das Fernglas zurück in die Satteltasche. »Seid Ihr sicher, daß sie Euch nicht entdeckt haben?« fragte er die Kundschafter.

»Höchstens wenn sie das Glück des Dunklen Königs auf ihrer Seite haben, Lord Ingtar«, sagte der eine der Männer. »Wir sind noch nicht einmal auf diesen Hügelkamm gestiegen. Und wir haben auch keinerlei Bewegung im Dorf gesehen, Lord Ingtar.«

Ingtar nickte. »Die Spur, Hurin?«

Hurin holte tief Luft. »Zum Dorf hin, Lord Ingtar. Geradewegs darauf zu, soweit ich das von hier aus beurteilen kann.«

»Paßt gut auf«, befahl Ingtar und straffte die Zügel.

»Und glaubt nicht, sie seien freundlich gesinnt, nur weil sie lächeln. Falls sich irgend jemand dort aufhält.« Er führte sie in langsamem Schrittempo auf das Dorf zu und hob die Hand zum Rücken, um sein Schwert in der Scheide zu lockern.

Rand hörte an den Geräuschen hinter ihm, daß die anderen das gleiche taten. Nach einem Augenblick lockerte auch er sein Schwert in der Scheide. Sich zu bemühen, am Leben zu bleiben, war etwas ganz anderes als sich zu bemühen, ein Held zu ein, stellte er fest.

»Glaubt Ihr, diese Leute würden Schattenfreunden helfen?« fragte Perrin Ingtar. Der Schienarer nahm sich Zeit für seine Antwort. »Sie haben nicht viel für Schienarer übrig«, sagte er schließlich. »Sie sind der Meinung, wir hätten sie zu beschützen. Wir oder die Cairhienin. Cairhien beanspruchte dieses Land für sich, als der letzte König von Hardan starb. Sie beanspruchten das ganze Land bis zum Erinin für sich. Aber sie konnten es nicht halten. Sie gaben es vor beinahe hundert Jahren auf. Die wenigen Menschen, die hier noch leben, müssen sich kaum den Kopf über Trollocs zerbrechen — so weit im Süden —, aber es gibt eine Menge menschlicher Räuber. Deshalb haben sie den Wall und den Graben angelegt. So was haben alle Dörfer hier. Ihre Felder liegen bestimmt in den Mulden hier herum verborgen, und es wohnt niemand außerhalb des Walles. Sie würden jedem König die Treue schwören, der sie beschützt, aber wir haben nun mal alle Hände voll zu tun, um gegen die Trollocs zu kämpfen. Doch sie haben deshalb nicht gerade eine hohe Meinung von uns.« Als sie die Öffnung in dem niedrigen Wall erreichten, fügte er nochmals hinzu: »Paßt gut auf!«

Alle Straßen führten hin zu einem Dorfplatz, aber es befand sich niemand auf diesen Straßen, und niemand spähte aus den Fenstern auf sie herab. Nicht einmal ein Hund war zu sehen; nicht einmal ein Huhn. Nichts Lebendiges. Geöffnete Türen knarrten im Wind auf und zu und lieferten so den Kontrapunkt zu dem rhythmischen Quietschen der Windmühlenflügel. Die Hufe der Pferde polterten laut auf der festgefahrenen Straßenoberfläche. »Wie bei der Fähre«, murmelte Hurin, »und doch anders.« Er saß zusammengesunken und mit gesenktem Kopf im Sattel, als versuche er, sich hinter den eigenen Schultern zu verstecken. »Gewalt wurde gebraucht, aber... ich weiß nicht. Es war schlimm hier. Es riecht schlimm.«

»Uno«, sagte Ingtar, »nimm dir eine Gruppe, und suche die Häuser ab. Wenn du jemanden findest, bringe ihn zu mir auf den Dorfplatz. Aber erschrecke mir diesmal niemanden. Ich brauche Antworten und keine Leute, die vor Angst um ihr Leben rennen.« Er führte die anderen Soldaten weiter zur Ortsmitte hin, während Uno seine zehn Mann absitzen ließ.

Rand zögerte und sah sich um. Die quietschenden Türen, die knarrenden Windmühlenflügel, das Hufgetrappel der Pferde, alles ergab zuviel Hintergrundlärm, als gäbe es auf der ganzen Welt kein anderes Geräusch mehr. Er betrachtete die Häuser. Die Vorhänge in einem geöffneten Fenster wehten wild und klatschen gegen die Außenwand des Hauses. Alles schien leblos. Mit einem Seufzer stieg er ab und ging zum nächsten Haus hinüber. Dann blieb er stehen und blickte die Tür an. Es ist doch nur eine Tür. Wovor hast du denn Angst? Er wünschte, er hätte nicht dieses eigenartige Gefühl, als warte irgend jemand auf der anderen Seite. Er schob sie auf.

Drinnen befand sich ein sauber aufgeräumtes Zimmer. Na, jedenfalls war es einstmals sehr ordentlich gewesen. Der Tisch war gedeckt, Stühle mit hohen Gitterlehnen standen darum herum, und ein paar Teller waren schon gefüllt. Ein paar Fliegen summten über Schüsseln mit Rüben und Erbsen, und weitere krabbelten auf kaltem gebratenen Rindfleisch herum, das in einer geronnenen Sauce lag. Eine Scheibe war halb von dem Bratenstück abgeschnitten. Die Gabel stak noch im Fleisch, und das Messer lag noch auf dem Teller, als habe man es fallen lassen. Rand trat ein.

Ein Wimpernschlag.

Ein lächelnder, glatzköpfiger Mann in grober Kleidung legte eine Scheibe Fleisch auf einen Teller, den eine Frau mit verbrauchtem Gesicht hielt. Auch sie lächelte. Sie fügte Erbsen und Rüben hinzu und gab den Teller einem der Kinder, die am Tisch saßen. Es war ein halbes Dutzend Kinder, Jungen und Mädchen; die einen schon fast erwachsen, während andere kaum groß genug waren, um über den Tisch zu schauen. Die Frau sagte etwas, und das Mädchen, das ihr den Teller abnahm, lachte. Der Mann begann, eine weitere Scheibe abzuschneiden.

Plötzlich schrie ein anderes Mädchen auf und deutete auf die Eingangstür. Der Mann ließ das Messer fallen und fuhr herum. Dann schrie auch er mit angstverzerrtem Gesicht und riß ein Kind an sich. Die Frau ergriff ein weiteres und bedeutete den anderen verzweifelt etwas, wobei ihr Mund sich lautlos und aufgeregt bewegte. Alle stürzten zu einer Tür am hinteren Ende des Zimmers.

Die Tür sprang auf und...

Ein Wimpernschlag.

Rand konnte sich nicht rühren. Die Fliegen über dem Tisch summten lauter. Sein Atem bildete eine Wolke vor seinem Mund.

Ein Wimpernschlag.

Ein lächelnder, glatzköpfiger Mann in grober Kleidung legte eine Scheibe Fleisch auf einen Teller, den eine Frau mit verbrauchtem Gesicht hielt. Auch sie lächelte. Sie fügte Erbsen und Rüben hinzu und gab den Teller einem der Kinder, die am Tisch saßen. Es war ein halbes Dutzend Kinder, Jungen und Mädchen; die einen schon fast erwachsen, während andere kaum groß genug waren, um über den Tisch zu schauen. Die Frau sagte etwas, und das Mädchen, das ihr den Teller abnahm, lachte. Der Mann begann, eine weitere Scheibe abzuschneiden.

Plötzlich schrie ein anderes Mädchen auf und deutete auf die Eingangstür. Der Mann ließ das Messer fallen und fuhr herum. Dann schrie auch er mit angstverzerrtem Gesicht und riß ein Kind an sich. Die Frau ergriff ein weiteres und bedeutete den anderen verzweifelt etwas, wobei ihr Mund sich lautlos und aufgeregt bewegte. Alle stürzten zu einer Tür am hinteren Ende des Zimmers.

Die Tür sprang auf und...

Ein Wimpernschlag.

Rand kämpfte dagegen an, doch seine Muskeln schienen eingefroren zu sein. Das Zimmer war kälter. Er wollte vor Kälte zittern, aber er konnte sich noch nicht einmal soweit bewegen. Fliegen krabbelten über den ganzen Tisch. Er suchte nach dem Nichts. Das trübe Licht war da, aber es kümmerte ihn nicht. Er mußte...

Ein Wimpernschlag.

Ein lächelnder, glatzköpfiger Mann in grober Kleidung legte eine Scheibe Fleisch auf einen Teller, den eine Frau mit verbrauchtem Gesicht hielt. Auch sie lächelte. Sie fügte Erbsen und Rüben hinzu und gab den Teller einem der Kinder, die am Tisch saßen. Es war ein halbes Dutzend Kinder, Jungen und Mädchen; die einen schon fast erwachsen, während andere kaum groß genug waren, um über den Tisch zu schauen. Die Frau sagte etwas, und das Mädchen, das ihr den Teller abnahm, lachte. Der Mann begann, eine weitere Scheibe abzuschneiden.

Plötzlich schrie ein anderes Mädchen auf und deutete auf die Eingangstür. Der Mann ließ das Messer fallen und fuhr herum. Dann schrie auch er mit angstverzerrtem Gesicht und riß ein Kind an sich. Die Frau ergriff ein weiteres und bedeutete den anderen verzweifelt etwas, wobei ihr Mund sich lautlos und aufgeregt bewegte. Alle stürzten zu einer Tür am hinteren Ende des Zimmers.

Die Tür sprang auf und...

Ein Wimpernschlag.

Das Zimmer war eiskalt. So kalt. Fliegen krochen wie eine schwarze Masse über den Tisch; sie schoben sich über die Wände, den Fußboden, die Decke; alles war schwarz von ihnen. Sie krochen über Rand, bedeckten ihn, krabbelten ihm über das Gesicht, über die Augen, in die Nase und den Mund. Licht, hilf mir! Kalt. Die Fliegen summten wie Donner. Kalt. Es durchdrang das Nichts, verhöhnte die Leere, schloß ihn in Eis ein. Verzweifelt suchte er nach dem flackernden Licht. Sein Magen drehte sich um, aber das Licht war warm. Warm. Heiß. Ihm war heiß.

Plötzlich krallte er sich in... etwas hinein. Er wußte nicht, was oder wie. Spinnweben aus Stahl. Mondstrahlen aus Stein. Sie zerbröckelten unter seiner Berührung, aber er wußte, daß er gar nichts berührt hatte. Sie schrumpften und schmolzen in der Hitze, die ihn durchfloß, Hitze wie vom Feuer einer Schmiede, Hitze als brenne die Welt, Hitze wie... Es war vorbei. Schwer atmend sah er sich mit weit aufgerissenen Augen um. Ein paar Fliegen lagen auf dem angeschnittenen Braten und auf dem Teller. Tote Fliegen. Sechs Fliegen. Nur sechs. In den Schüsseln lagen weitere; ein halbes Dutzend winzige schwarze Flecke im kalten Gemüse. Alle tot. Er taumelte auf die Straße hinaus.

Mat kam gerade aus einem Haus auf der anderen Straßenseite heraus und schüttelte den Kopf. »Niemand da«, sagte er zu Perrin, der immer noch auf dem Pferd saß. »Es hat den Anschein, als seien sie einfach beim Essen aufgestanden und weggegangen.«

Vom Platz her erklang ein Ruf.

»Sie haben etwas gefunden«, sagte Perrin und gab seinem Pferd die Fersen zu spüren. Mat kletterte in den Sattel und galoppierte ihm nach.

Rand bestieg den Braunen etwas langsamer; der Hengst scheute, als fühle er seine Unruhe. Er betrachtete die Häuser, während er langsam zum Dorfplatz hinüber ritt, aber er konnte sich nicht dazu bringen, länger hinzuschauen. Mat ist hineingegangen, und ihm ist nichts passiert. Er beschloß, in diesem Dorf kein Haus mehr zu betreten, gleich aus welchem Grund. So gab er dem Braunen die Fersen und beschleunigte dessen Gangart.

Alle standen wie Statuen vor einem großen Gebäude mit einer breiten Doppeltür. Rand glaubte nicht, daß es eine Schenke sei; so hing zum Beispiel kein Schild über dem Eingang. Vielleicht war es ein Treffpunkt der Dorfbewohner. Er schloß sich der schweigenden Runde an und starrte entsetzt wie die anderen auf den sich ihm bietenden Anblick.

Ein Mann hing mit ausgebreiteten Armen und Beinen an der Tür. Dicke Dornen waren ihm durch Handgelenke und Schultern getrieben worden. Weitere Dornen steckten in seinen Augen, um seinen Kopf oben zu halten. Dunkles, eingetrocknetes Blut verkrustete seine Wangen. Trittspuren auf dem Holz hinter seinen Stiefeln zeigte, daß er noch am Leben gewesen war, als man ihm das antat. Zumindest, als man damit begann.

Rand stockte der Atem. Kein Mann. Diese schwarze Kleidung, schwärzer als schwarz, war niemals von einem Menschen getragen worden. Der Wind ließ einen Zipfel des vom Körper festgeklemmten Umhangs flattern — und, wie er nur zu gut wußte, war das sonst nicht der Fall; oft hatte der Wind keine Macht über diese Kleider —, aber in diesem blassen, blutleeren Gesicht hatten sich niemals Augen befunden.

»Myrddraal«, hauchte er, und es war, als löse sein Sprechen den Bann, unter dem alle anderen gestanden hatten. Sie begannen, sich wieder zu bewegen und zu atmen.

»Wer«, begann Mat, und dann mußte er innehalten und schlucken. »Wer kann so etwas mit einem Blassen machen?« Zum Schluß quiekte seine Stimme. »Ich weiß es nicht«, sagte Ingtar. »Ich weiß es nicht.« Er sah sich um und musterte die Gesichter, oder vielleicht zählte er sie auch, um sich zu vergewissern, daß alle da waren. »Und ich glaube nicht, daß wir hier irgend etwas erfahren. Wir reiten weiter. Aufsitzen! Hurin, suche die Spur, die aus diesem Ort hinausführt.«

»Ja, Lord Ingtar. Ja. Mit Vergnügen. In dieser Richtung, Lord Ingtar. Sie ziehen immer noch nach Süden.«

Sie ritten weg und ließen den toten Myrddraal hängen. Der Wind zupfte an seinem schwarzen Umhang. Hurin war als erster auf der anderen Seite des Walls. Zur Abwechslung einmal wartete er nicht auf Ingtar, aber Rand kam gleich hinter ihm.

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