36 Der Altestenrat

Als sie in Juins Schlepptau durch die Ogierstadt schritten, bemerkte Rand, daß Loial immer nervöser wurde. Loials Ohren waren genauso steif wie sein Rücken. Er machte große Augen, sobald er nur sah, daß ihn ein anderer Ogier musterte. Besonders die Frauen und Mädchen schienen ihn nervös zu machen, und eine ganze Menge von denen nahm durchaus Notiz von ihm. Er wirkte, als schritte er zu seiner Hinrichtung.

Der bärtige Ogier deutete auf eine breite Treppe, die hinunter in eine grasbewachsene Erhebung führte. Sie war viel größer als alle anderen. Man konnte sie ohne weiteres als Hügel bezeichnen. Direkt dahinter stand einer der Großen Bäume.

»Warum wartest du nicht hier draußen, Loial?« fragte Rand. »Die Ältesten —« begann Juin.

»— wollen wahrscheinlich nur uns Menschen sehen«, beendete Rand den angefangenen Satz.

»Warum lassen sie ihn nicht in Ruhe?« warf Mat ein.

Loial nickte lebhaft. »Ja. Ja. Ich glaube... « Eine größere Gruppe von Ogierfrauen beobachtete ihn — von weißhaarigen Großmüttern bis zu Töchtern in Eriths Alter. Die ganze Gruppe unterhielt sich, aber ihre Blicke ruhten auf ihm. Seine Ohren zuckten. Er betrachtete die breite Tür, zu der die Stufen hinunterführten, und dann nickte er wieder. »Ja, ich werde mich hier draußen hinsetzen und lesen. Genau. Ich werde lesen.« Er griff in seine Manteltasche und zog ein Buch hervor. Er setzte sich auf den Abhang neben die Treppe, schlug das bei ihm zierlich wirkende Buch auf und begann, scheinbar konzentriert zu lesen. »Ich werde hier sitzen bleiben, bis ihr wieder herauskommt.« Seine Ohren zuckten wieder, als könne er die Blicke der Frauen fühlen.

Juin schüttelte den Kopf, doch dann zuckte er die Achseln und deutete nochmals auf die Treppe. »Bitte schön. Die Ältesten warten.«

Der enorm große, fensterlose Raum im Inneren des Hügels wies Ogiermaße auf. Die Decke mit ihren mächtigen Holzbalken befand sich wenigstens dreißig Spannen über dem Boden. Dieser Raum hätte — zumindest, was die Größe betraf — in jeden Palast gepaßt. Die sieben Ogier, die auf dem Podest direkt vor der Tür saßen, ließen ihn durch ihre eigene Größe etwas kleiner erscheinen, doch Rand hatte immer noch das Gefühl, er stünde in einer Höhle. Der dunkle Fußboden war aus glatt ausgetretenen, unregelmäßig geformten und verschieden großen Steinen zusammengesetzt. Die grauen Wände hätten ohne weiteres auch zu einer unbehauenen Felswand gehören können. Und die Deckenbalken, obwohl bearbeitet, sahen wie große Wurzelstöcke aus.

Verin saß auf einem Stuhl mit gerader, hoher Lehne vor dem Podest. Ansonsten waren die schweren, in Rankenform geschnitzten Stühle der Altesten die einzigen Möbelstücke. In der Mitte des Podestes thronte eine Ogierfrau auf einem etwas höheren Stuhl; zu ihrer Linken saßen drei bärtige Männer in langen, weiten Mänteln, und zu ihrer Rechten drei Frauen, die genauso gekleidet waren wie sie und deren Kleider ebenfalls vom Kragen bis zum Saum mit Ranken und Blumen bestickt waren. Die Gesichter aller waren alt, die Haare rein weiß bis zu den Büscheln auf den Ohren hin, und sie waren von einer Aura erhabener Würde umgeben.

Hurin bestaunte sie ganz offen, und auch Rand hatte das Gefühl, sie anstarren zu müssen. Nicht einmal Verin war die Weisheit so deutlich anzusehen wie den riesigen Augen dieser Ältesten, und Morgase wäre ihnen an Autorität trotz ihrer Krone unterlegen gewesen, genau wie Moiraine ihrer Ruhe und Ausgeglichenheit nichts entgegenzusetzen gehabt hätte. Ingtar verbeugte sich als erster, und zwar so feierlich, wie es Rand bei ihm noch nicht erlebt hatte, während die anderen noch wie angewurzelt dastanden.

Als sie schließlich dann doch neben Verin bereitstanden, stellte sich die Ogierfrau auf dem höchsten Stuhl vor: »Ich heiße Alar, Älteste der Ältesten des Steddings Tsofu. Verin hat uns gesagt, daß Ihr das Wegetor bei uns benützen müßt. Schattenfreunden das Horn von Valere abzujagen ist freilich eine wichtige Aufgabe, aber wir haben mehr als hundert Jahre lang niemandem mehr gestattet, die Kurzen Wege zu betreten. Weder wir noch die Ältesten eines anderen Steddings.«

»Ich werde das Horn aufspüren«, sagte Ingtar trotzig. »Ich muß. Falls Ihr uns nicht gestattet, das Wegetor zu benützen... « Er schwieg, als Verin ihn anblickte, doch der Trotz stand weiterhin auf seinem Gesicht geschrieben.

Alar lächelte. »Seid nicht so voreilig, Schienarer. Ihr Menschen nehmt Euch nie die Zeit zum Nachdenken. Nur Beschlüsse, die man in Ruhe fällt, treffen den Kern einer Sache.« Ihr Lächeln verflog, und sie blickte ernst drein. Ihre Stimme klang genauso ruhig und getragen wie vorher. »Man kann den Gefahren in den Kurzen Wegen nicht mit dem Schwert in der Hand gegenübertreten, so wie man sich gegen angreifende Aiel oder wütende Trollocs zur Wehr setzen würde. Ich muß Euch darauf aufmerksam machen, daß Ihr mit dem Betreten der Wege nicht nur Tod und Wahnsinn riskiert, sondern vielleicht sogar Eure Seelen aufs Spiel setzt.«

»Wir haben Machin Shin bereits erlebt«, sagte Rand, und Mat und Perrin stimmten ihm zu. Sie brachten es allerdings nicht fertig, so zu wirken, als seien sie erpicht auf eine neue Begegnung.

»Ich werde dem Horn auch bis zum Shayol Ghul selbst folgen, wenn es sein muß«, sagte Ingtar entschlossen. Hurin nickte nur, als fühle er sich in Ingtars Schwur mit eingeschlossen.

»Bringt Trayal«, befahl Alar, und Juin, der an der Tür stehengeblieben war, verbeugte sich und ging. »Es ist nicht genug, nur zu hören, was geschehen kann«, sagte sie zu Verin. »Ihr müßt es sehen und im Innersten fühlen.«

Es herrschte nervöses Schweigen, bis Juin zurückkehrte, und die Nervosität stieg noch, als hinter ihm zwei Ogierfrauen hereinkamen, die einen Ogiermann mittleren Alters mit dunklem Bart hereinführten. Er schlurfte zwischen ihnen einher, als wisse er nicht genau, wie seine Beine zu bewegen seien. Sein Gesicht war schlaff und absolut ausdruckslos und seine großen Augen wirkten leer. Sie blickten durch alles hindurch und schienen nichts wahrzunehmen. Eine der Frauen wischte ihm sanft Speichel aus dem Mundwinkel. Sie nahmen ihn bei den Armen, damit er stehenblieb. Sein Fuß bewegte sich noch vorwärts, zögerte und fiel dann deutlich hörbar auf den Boden. Er schien es genauso zufrieden zu sein, einfach nur dazustehen, wie zu gehen. Zumindest war es ihm gleichgültig.

»Trayal war einer der letzten von uns, die durch das Wegetor gingen«, sagte Alar leise. »Er kam so zurück, wie Ihr ihn hier seht. Berührt Ihr ihn einmal, Verin?«

Verin sah sie lange an, dann stand sie auf und ging zu Trayal hinüber. Er rührte sich nicht, als sie ihm die Hände auf die breite Brust legte. Nicht einmal ein Blick von ihm zeigte, daß er ihre Berührung überhaupt bemerkte. Mit einem Zischen zuckte sie zurück, blickte zu ihm auf und wirbelte herum. Sie sah die Ältesten an. »Er ist... leer. Sein Körper lebt, doch in ihm ist nichts. Gar nichts.« Alle Ältesten blickten unendlich traurig drein.

»Nichts«, sagte eine der Ältesten zu Alars Rechten leise. Aus ihren Augen sprach all der Schmerz, den Trayal nicht mehr empfinden konnte. »Kein Verstand. Keine Seele. Es blieb nichts von Trayal als sein Körper.«

»Er war ein guter Baumsänger«, seufzte einer der Männer.

Alar gab ein Handzeichen, und die beiden Frauen drehten Trayal um. Sie mußten ihn erst wieder in Bewegung setzen, damit er zur Tür ging.

»Wir kennen die Risiken«, sagte Verin. »Aber wie gefährlich es auch immer sein mag — wir müssen dem Horn von Valere folgen.«

Die Älteste nickte. »Das Horn von Valere. Ich weiß nicht, was schlimmer ist: daß es sich in der Hand von Schattenfreunden befindet oder daß es überhaupt aufgetaucht ist.« Sie blickte die Reihe der Ältesten an, und alle nickten zustimmend, auch wenn einer der Männer zuerst zweifelnd an seinem Bart zupfte. »Also gut. Verin sagte mir, daß die Zeit drängt. Ich werde Euch selbst zum Wegetor begleiten.« Rand fühlte sich teils erleichtert, teils fürchtete er sich auch, da fügte sie hinzu: »Ihr habt einen jungen Ogier dabei. Loial, Sohn des Arent, Sohn des Halan, aus dem Stedding Schangtai. Er ist weit weg von seiner Heimat.«

»Wir brauchen ihn«, sagte Rand schnell. Er sprach langsamer, als ihn die Ältesten und Verin erstaunt ansahen, aber trotzig fuhr er fort: »Wir brauchen ihn bei uns, und er will auch bei uns bleiben.«

»Loial ist unser Freund«, sagte Perrin, und zur gleichen Zeit erklärte Mat: »Er ist uns nicht im Weg, und er sorgt schon für sich selbst.« Die beiden fühlten sich unter der plötzlichen Aufmerksamkeit der Ältesten sichtlich unwohl, aber sie machten keinen Rückzieher.

»Gibt es einen Grund, warum er nicht mit uns kommen kann?« fragte Ingtar. »Wie Mat schon sagte, hält er sich gut. Ich weiß nicht, wozu wir ihn brauchen, aber wenn er mitkommen will, warum... «

»Wir brauchen ihn«, unterbrach ihn Verin in verbindlichem Tonfall. »Nur noch wenige kennen die Kurzen Wege, aber Loial hat sich lange mit ihnen beschäftigt. Er kann auch die Wegweiser entziffern.«

Alar sah einen nach dem anderen an. Dann kehrte ihr Blick zu Rand zurück. Lange musterte sie ihn. Sie wirkte, als wisse sie über alles Bescheid. Auch die anderen erweckten diesen Eindruck, jedoch nicht in demselben Maße. »Verin sagt, Ihr seid Ta'veren«, sagte sie schließlich, »und ich spüre das auch in Euch. Die Tatsache, daß sogar ich das spüren kann, bedeutet, daß Ihr bis zu einem hohen Grad Ta'veren seid, denn wenn überhaupt, dann ist dieses Talent in uns nur sehr schwach ausgeprägt. Habt Ihr Loial, den Sohn des Arent, Sohn des Halan, in das Ta'maral'ailen hineingezogen — in das Gewebe, das vom Großen Muster um Euch gewebt wird?«

»Ich... ich will nur das Horn finden und... « Rand beendete den Satz nicht. Alar hatte nichts von Mats Dolch erwähnt. Er wußte nicht, ob Verin den Ältesten etwas davon erzählt oder aus irgendeinem Grund geschwiegen hatte. »Er ist mein Freund, Älteste.«

»So, Euer Freund«, sagte Alar. »Nach unserer Anschauung ist er noch sehr jung. Auch Ihr seid jung, doch Ihr seid auch Ta'veren. Ihr werdet auf ihn aufpassen, und wenn das Weben beendet ist, dann sorgt Ihr dafür, daß er sicher wieder ins Stedding Schangtai zurückkehrt.«

»Das werde ich«, bestätigte er. Er hatte ein Gefühl, als werde ihm damit eine wichtige Aufgabe auferlegt, als leiste er einen Eid.

»Dann gehen wir also zum Wegetor.«

Draußen stand Loial hastig auf, als sie im Schlepptau von Alar und Verin erschienen. Ingtar schickte Hurin im Laufschritt los, damit er Uno und die anderen Soldaten holte. Loial sah die Älteste mißtrauisch an und reihte sich dann neben Rand ganz hinten in die Prozession ein. Die Ogierfrauen, die ihn vorher beobachtet hatten, waren verschwunden. »Haben die Ältesten etwas von mir erwähnt? Hat sie...?« Er betrachtete Alars breiten Rücken, während sie Juin bat, ihre Pferde bringen zu lassen. Sie ging mit Verin weiter, obwohl Juin gerade noch dienerte, und beugte sich zu der Aes Sedai hinunter, um leise mit ihr zu flüstern.

»Sie befahl Rand, er solle auf dich aufpassen«, sagte Mat zu Loial. Sie schritten den Frauen hinterher. »Er soll dich sicher wie ein Baby nach Hause geleiten. Ich sehe nicht ein, warum du nicht hierbleiben und heiraten kannst.«

»Sie meinte, du könntest mitkommen.« Rand funkelte Mat an, der leise vor sich hin lachte. Es klang eigenartig bei diesem eingefallenen Gesicht. Loial zwirbelte den Stiel eines Vergißmeinichts zwischen den breiten Fingern. »Hast du Blumen gepflückt?« fragte Rand.

»Erith hat sie mir gegeben.« Loial betrachtete die sich wegdrehenden Blütenblätter. »Sie ist wirklich sehr hübsch, auch wenn Mat das nicht sieht.«

»Soll das heißen, daß du nun doch nicht mitkommen willst?«

Loial fuhr auf. »Was? O nein! Ich meine — ja. Ich will mitkommen. Sie hat mir doch nur eine Blume gegeben. Nur eine Blume.« Aber er nahm nun ein Buch aus der Tasche und legte die Blume hinein. Während er das Buch zurücksteckte, murmelte er so leise, damit nur Rand ihn verstehen konnte: »Und sie fand mich auch gutaussehend.« Mat ächzte, krümmte sich und hielt sich die Seiten. Loials Wangen liefen rot an. »Also... das hat sie gesagt, nicht ich.«

Perrin versetzte Mat mahnend eine Kopfnuß. »Keine hat jemals gesagt, daß Mat gut aussähe. Er ist einfach eifersüchtig.«

»Das stimmt nicht«, protestierte Mat, und er richtete sich stolz auf. »Neysa Ayellin hält mich für gutaussehend. Das hat sie mir mehr als einmal versichert.«

»Ist Neysa hübsch?« fragte Loial.

»Sie hat ein Gesicht wie eine Ziege«, sagte Perrin trocken. Mat erstickte fast an seinem Protest.

Rand mußte unwillkürlich grinsen. Neysa Ayellin war beinahe so hübsch wie Egwene. Und das war jetzt auch beinahe ein Gefühl wie in alten Zeiten, zu Hause, die freundschaftlichen Kabbeleien, und nichts auf der Welt war wichtiger, als den anderen zu zwicken und sich vor Lachen auszuschütten.

Als sie so durch die Stadt gingen, grüßten die Ogier ihre Ältesten mit Verbeugungen und Knicksen und musterten interessiert die menschlichen Besucher. Doch Alars entschlossene Miene hielt alle davon ab, stehenzubleiben und eine Unterhaltung anzufangen. Das einzige Merkmal, an dem sie sehen konnten, daß sie die Stadt verließen, war das Fehlen der Erhebungen. Ogier gab es auch hier noch genug. Einige untersuchten Bäume oder bearbeiteten sie mit Pech und Axt und Säge, wo abgestorbene Äste vorhanden waren oder einem Baum das Sonnenlicht fehlte. Sie taten alles sehr sanft und rücksichtsvoll.

Juin stieß wieder zu ihnen. Er führte ihre Pferde am Zügel. Hurin ritt mit Uno und den anderen Soldaten und den Packpferden herbei, und im nächsten Moment deutete Alar auf etwas und sagte: »Dort drüben ist es.« Das freundschaftliche Geplänkel erstarb.

Rand war einen Augenblick lang überrascht. Das Wegetor mußte sich ja außerhalb des Stedding befinden. Die Wege waren mit Hilfe der Einen Macht angelegt worden, also konnten die Tore nicht innerhalb liegen. Es wies jedoch nichts darauf hin, daß sie die Grenzlinie überschritten hatten. Dann merkte er den Unterschied: Das Gefühl eines Verlustes, das er seit dem Betreten des Stedding nicht mehr losgeworden war, war wie weggeblasen. Das ließ ihn nun auch wieder schaudern. Saidin war wieder da und wartete.

Alar führte sie an einer mächtigen Eiche vorbei, und da, in einer kleinen Lichtung, stand die große Steinplatte des Wegetors. Ihre Vorderseite war wieder in Form von Blättern und Ranken hundert verschiedener Pflanzen bearbeitet. Um die Lichtung herum hatten die Ogier eine niedrige Steinumrandung gefertigt, die wirkte, als wäre sie dort gewachsen, und die einen Ring von Wurzeln andeutete. Der Anblick machte Rand nervös. Er brauchte einen Moment, um festzustellen, daß es die Wurzeln von Brombeersträuchern und Heckenrosen, von Brennblattbäumchen und Juckeiche waren. Nicht gerade die Art von Gestrüpp, in das man gern hineinfiel.

Die Älteste blieb kurz vor der Umrandung stehen. »Die Mauer soll alle abschrecken, die hierher kommen. Von uns kommen nicht viele an diesen Ort. Ich werde die Grenze nicht überschreiten. Aber Ihr dürft es tun.« Juin ging nicht so nahe heran wie sie. Er wischte sich immer wieder die Hände an den Revers seines Mantels ab und sah das Wegetor nicht direkt an.

»Ich danke Euch«, sagte Verin zu ihr. »Die Not ist groß, sonst hätte ich Euch nicht darum gebeten.«

Rand verkrampfte sich, als die Aes Sedai über die Umrandung stieg und sich dem Wegetor näherte. Loial atmete tief durch und führte wieder Selbstgespräche. Uno und die anderen Soldaten rutschten in ihren Sätteln hin und her und lockerten die Schwerter in den Scheiden. Es gab in den Wegen nichts, wogegen ein Schwert geholfen hätte, aber mit dieser Geste überzeugten sie sich selbst von ihrer Kampfbereitschaft. Nur Ingtar und die Aes Sedai erschienen ruhig. Selbst Alar krallte die Hände in den Stoff ihres Rocks.

Verin pflückte das Avendesorablatt, und Rand beugte sich aufmerksam nach vorn. Es drängte ihn, das Nichts um sich herum aufzubauen, damit er Saidin ganz schnell erreichen konnte, falls es notwendig war.

Die in das Wegetor eingemeißelten Pflanzen flatterten in einem nicht vorhandenen Wind, während sich im Mittelpunkt ein senkrechter Spalt öffnete und die beiden Hälften des Tores langsam aufschwangen. Rand betrachtete den Spalt. Da zeigte sich keine mattsilberne Reflektion; nur eine Schwärze, schwärzer noch als Pech. »Schließt es!« schrie er. »Der Schwarze Wind! Schließt das Tor!«

Verin warf einen überraschten Blick hinein und steckte augenblicklich das dreiteilige Blatt wieder an seinen Platz unter all den verschiedenen Blättern zurück. Es hing fest, als sie die Hand wegnahm und sich zur Umrandung zurückzog. Sobald das Avendesorablatt wieder dort hing, begann sich das Tor zu schließen. Der Spalt verschwand, Ranken und Blätter zu beiden Seiten verschmolzen miteinander und verbargen die Schwärze des Machin Shin. Das Wegetor bestand wieder nur noch aus Stein, wenn auch Stein, den man so lebensähnlich wie möglich bearbeitet hatte.

Alar atmete zittrig aus. »Machin Shin. So nahe.«

»Es versuchte wenigstens nicht, herauszukommen«, sagte Rand. Juin gab einen erstickten Laut von sich.

»Ich habe Euch doch gesagt«, stellte Verin fest, »daß der Schwarze Wind ein Geschöpf der Wege ist. Es kann sie nicht verlassen.« Sie hörte sich ruhig an, wischte sich aber doch die Hände am Rock ab. Rand öffnete den Mund, gab jedoch gleich wieder auf. »Und doch«, fuhr sie fort, »frage ich mich, wie es hierher kommt. Zuerst in Cairhien und nun hier. Sehr eigenartig.« Sie warf Rand einen solchen Seitenblick zu, daß er zusammenfuhr. Es geschah so schnell — er glaubte nicht, daß es einer der anderen bemerkt hatte —, aber Rand schien es so, als habe sie ihn mit dem Schwarzen Wind in Verbindung gebracht.

»Ich habe so etwas noch nie gehört«, sagte Alar bedächtig. »Ich meine, daß Machin Shin wartet, wenn man ein Wegetor öffnet. Es hat sonst immer die Wege durchstreift. Aber natürlich ist eine lange Zeit vergangen, und vielleicht ist der Schwarze Wind hungrig und hofft, unversehens jemanden zu erwischen, der durch ein Tor tritt. Verin, es ist klar, daß Ihr dieses Wegetor nicht benützen könnt. Und wie eilig es auch sein mag, kann ich doch nicht sagen, es täte mir leid. Heutzutage gehören die Kurzen Wege dem Schatten.«

Rand blickte das Wegetor finster an. Könnte es mir wirklich folgen? Es gab zu viele offene Fragen. Hatte Fain irgendwie den Schwarzen Wind auf ihn angesetzt? Verin behauptete, das sei nicht möglich. Und warum sollte Fain von ihm verlangen, daß er ihm folgte, und ihn dann doch schon auf dem Weg aufhalten wollen? Er wußte nur, daß er der Botschaft Glauben schenkte. Er mußte zur TomanHalbinsel gelangen. Und wenn sie morgen das Horn von Valere und Mats Dolch unter einem Busch fanden, mußte er doch dorthin.

Verin stand gedankenverloren da und starrte vor sich hin. Mat saß auf der Umrandung, den Kopf in beide Hände gestützt, und Perrin betrachtete ihn besorgt. Loial schien erleichtert darüber, daß sie das Wegetor nicht benützen konnten, und gleichzeitig schämte er sich offensichtlich dieser Erleichterung.

»Wir können hier nichts mehr tun«, stellte Ingtar fest. »Verin Sedai, ich bin Euch wider besseres Wissen hierher gefolgt, aber das kann ich nun nicht länger. Ich werde nach Cairhien zurückkehren. Barthanes kann mir sagen, wohin die Schattenfreunde gingen. Irgendwie werde ich ihn dazu zwingen.«

»Fain ging zur Toman-Halbinsel«, sagte Rand, der Diskussionen müde. »Und wo er sich aufhält, da befinden sich auch das Horn und der Dolch.«

»Ich denke... « Perrin zuckte zögernd die Achseln. »Ich denke, wir könnten es mit einem anderen Wegetor versuchen. In einem anderen Stedding?«

Loial strich sich über das Kinn und sprach dann schnell, als wolle er seine Erleichterung über das Fehlschlagen hier gutmachen: »Stedding Cantoine liegt gleich hinter dem Iralellfluß, und Stedding Taijing liegt östlich vom Rückgrat der Welt. Aber das Wegetor von Caemlyn, wo einst der Hain lag, ist näher, und am nächsten überhaupt liegt das Tor im Hain von Tar Valon.«

»Welches Wegetor wir auch zu benützen versuchen«, sagte Verin abwesend, »ich fürchte, wir werden dort Machin Shin vorfinden.« Alar sah sie fragend an, aber die Aes Sedai sagte nichts weiter. Sie murmelte wohl etwas in sich hinein, schüttelte aber gleich den Kopf, als trage sie einen inneren Konflikt aus.

»Was wir brauchen«, sagte Hurin, »ist einer dieser Portalsteine.« Er sah Alar an und dann Verin, und da keine von beiden ihm Einhalt gebot, fuhr er mit gesteigertem Selbstbewußtsein fort: »Lady Selene sagte, die alten Aes Sedai hätten diese Welten erforscht und dabei gelernt, wie man die Kurzen Wege macht. Und diese... Welt, in der wir uns befanden... na ja, wir haben dadurch zwei Tage weniger gebraucht, um dreihundert Meilen zurückzulegen. Wenn wir einen Portalstein benützen könnten, um wieder auf diese Welt zu gelangen, oder auf eine ähnliche, dann würden wir nicht mehr als ein oder zwei Wochen brauchen, um das Arythmeer zu erreichen, und könnten dann von dort aus zur TomanHalbinsel kommen. Das geht vielleicht nicht so schnell wie durch die Kurzen Wege, aber es ist immer noch viel schneller, als einfach nach Westen zu reiten. Was meint Ihr, Lord Ingtar? Lord Rand?«

Verin antwortete ihm. »Was Ihr da vorschlagt, mag durchaus möglich sein, Schnüffler, aber wir könnten genausogut darauf hoffen, dieses Wegetor noch einmal zu öffnen und herauszufinden, daß Machin Shin wieder verschwunden ist, wie ausgerechnet jetzt einen Portalstein zu finden. Ich kenne keinen, der näher läge als die Aielwüste. Obwohl wir natürlich zu Brudermörders Dolch zurückkehren könnten, falls Ihr, Rand, oder Loial glaubt, Ihr könntet den Portalstein wiederfinden.«

Rand blickte Mat an. Sein Freund hatte hoffnungsvoll den Kopf gehoben, als er das von diesen Steinen vernommen hatte. Ein paar Wochen, hatte Verin gesagt. Falls sie einfach nach Westen ritten, würde Mat ihre Ankunft auf der Toman-Halbinsel nicht mehr erleben.

»Ich kann ihn schon finden«, sagte Rand zögernd. Er schämte sich. Mat wird sterben, die Schattenfreunde haben das Horn von Valere, Fain wird etwas mit Emondsfeld anstellen, wenn du ihm nicht folgst, und du hast Angst, die Eine Macht zu benützen. Einmal hin und zurück. Das wird dich auch noch nicht in den Wahnsinn treiben. Was ihm aber wirklich Angst einjagte, war der Eifer, den er im Inneren empfand, wenn er daran dachte, die Macht wieder zu benützen, oder an das Gefühl, das die Macht in ihm auslöste. Sich wieder wirklich lebendig zu fühlen...

»Ich verstehe das nicht«, sagte Alar bedächtig. »Die Portalsteine sind doch seit dem Zeitalter der Legenden nicht mehr benützt worden. Ich hatte nicht gedacht, daß es noch jemanden gibt, der weiß, wie man sie benützt.«

»Die Braunen Ajah wissen eine ganze Menge«, sagte Verin trocken, »und ich weiß, wie man die Steine benützen kann.«

Die Älteste nickte. »Es gibt in der Weißen Burg wirklich Dinge, von denen wir nur träumen können. Aber wenn Ihr einen Portalstein benützen könnt, müßt Ihr nicht erst zu Brudermörders Dolch reiten. Es gibt einen Stein gleich hier in der Nähe.«

»Das Rad webt, wie das Rad es wünscht, und das Große Muster schafft, was notwendig ist.« Verin wirkte auf einmal überhaupt nicht mehr abwesend. »Bringt uns hin«, sagte sie kurz. »Wir haben schon mehr als genug Zeit verloren.«

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