8 Der Wiedergeborene Drache

Rand schritt anfangs steifbeinig und nervös neben dem Behüter her. Tritt ihm aufrecht entgegen. Lan hatte leichtes Reden. Er war nicht zur Amyrlin bestellt worden. Er mußte sich nicht fragen, ob er eine Dämpfung erfahren sollte, bevor noch der Tag vorüber war, oder gar noch Schlimmeres. Rand fühlte sich, als sei ihm etwas im Hals steckengeblieben; er konnte nicht schlucken, so sehr er sich auch bemühte.

Die Gänge waren voll mit Leuten: Dienern, die ihre morgendlichen Aufträge erfüllten, und Kriegern, die über die Morgenmäntel Schwerter gegürtet hatten. Ein paar kleine Jungen mit ebenso kleinen Übungsschwertern in den Händen hielten sich dicht an den Erwachsenen, die sie begleiteten, und ahmten deren Gang nach. Kein Zeichen des Kampfes war mehr zu sehen, aber selbst die Kinder schienen irgendwie alarmbereit. Die erwachsenen Männer wirkten wie Katzen, die auf ein Rudel Ratten warteten.

Ingtar warf Rand und Lan einen eigenartigen Blick zu, fast besorgt, und öffnete den Mund, sagte aber nichts, als sie an ihm vorbeigingen. Kajin, groß und hager und blaß, schwenkte die Fäuste über dem Kopf und rief: »Tai'shar Malkier! Tai'shar Manetheren!« Das wahre Blut von Malkier. Das wahre Blut von Manetheren.

Rand fuhr zusammen. Licht, warum hat er das gesagt? Sei kein Narr, sagte er sich dann. Hier kennen alle Manetheren. Sie kennen jede alte Geschichte, falls darin Kämpf vorkommen. Licht noch mal, ich muß mich zusammenreißen.

Lan hob die Fäuste zur Antwort. »Tai'shar Schienar!«

Falls er jetzt losrannte, könnte er dann lange genug in der Menge untertauchen, um sein Pferd zu erreichen? Wenn sie mir Kundschafter nachschickt... Mit jedem Schritt wuchs seine innere Anspannung.

Als sie sich den Frauenquartieren näherten, bellte Lan plötzlich: »Die Katze läuft über den Hof!«

Überrascht nahm Rand ganz instinktiv die Haltung beim Gehen ein, die ihm Lan beigebracht hatte, mit geradem Rücken, aber entspannten Muskeln, als hinge er mit dem Kopf an einem Draht. Es war ein entspanntes, beinahe überhebliches Schreiten. Entspannt allerdings nur äußerlich; innen sah es anders aus. Er hatte keine Zeit, sich seiner eigenen Haltung bewußt zu werden. Sie kamen im Gleichschritt um die letzte Ecke.

Die Frauen am Eingang der Frauenquartiere blickten ruhig auf, als sie sich näherten. Einige saßen hinter schräg gekippten Tischen, suchten in großformatigen Büchern herum und machten gelegentlich Einträge. Andere strickten oder arbeiteten mit Nadeln und Stickhaken. Damen in Seide hielten hier Wache, genau wie livrierte Dienerinnen. Die großen Torflügel standen offen, unbewacht bis auf die Frauen. Mehr war nicht nötig. Kein Schienarer würde uneingeladen eintreten, aber jeder schienarische Mann war bereit, das Tor zu verteidigen, wenn es nötig war, aber die Notwendigkeit würde ihn erschrecken.

Rands Magen brannte. Es stieß ihm sauer auf. Sie werden einen Blick auf unsere Schwerter werfen und uns wieder wegschicken. Aber das ist mir doch gerade recht, oder? Wenn sie uns wegschicken, kann ich vielleicht immer noch fliehen. Falls sie nicht die Wachen rufen. Er hielt sich an die von Lan vorgegebene Fechthaltung wie an einen schwimmenden Ast in der Flut. Das war das einzige, was ihn davon abhielt, sich umzudrehen und wegzurennen.

Eine der Hofdamen Lady Amalisas, Nisura, eine Frau mit rundem Gesicht, legte ihr Stickzeug zur Seite und stand auf, als sie stehenblieben. Ihr Blick huschte über ihre Schwerter, und ihre Mundpartie spannte sich, doch sie sagte nichts. Alle Frauen hielten in ihren Tätigkeiten inne und beobachteten sie schweigend und gespannt. »Ehre Euch beiden«, sagte Nisura mit einem leichten Nicken. Sie sah Rand an, aber so schnell, daß er kaum sicher sein konnte, es wirklich bemerkt zu haben. Das erinnerte ihn an Perrins Worte. »Die Amyrlin erwartet Euch.« Sie machte eine Bewegung, und zwei andere Damen — keine Dienerinnen; man ehrte sie wirklich — traten vor, um sie zu begleiten. Die Frauen verbeugten sich eine Idee tiefer als vorher Nisura und bedeuteten ihnen, durch das Tor einzutreten. Beide sahen Rand aus den Augenwinkeln an, und dann beachteten sie ihn nicht weiter.

Suchten sie nach uns allen oder nur nach mir? Warum nach uns allen?

Drinnen erregten sie das von Rand erwartete Aufsehen — zwei Männer in den Frauenquartieren, wo Männer so selten zu sehen waren —, und ihre Schwerter verursachten einiges Stirnrunzeln, doch keine der Frauen sagte ein Wort. Hinter sich ließen die beiden Männer angeregte Unterhaltungen zurück, leises Gemurmel, zu leise, als daß Rand es hätte verstehen können. Lan schritt weiter, als bemerke er es nicht. Rand lief hinter ihren Begleiterinnen her und wünschte, er könne lauschen.

Und dann kamen sie zu den Gemächern der Amyrlin. Vor der Tür im Flur standen drei Aes Sedai. Die große Aes Sedai, Leane, hatte ihren Stab mit der goldenen Flamme in der Hand. Rand kannte die beiden anderen nicht. Nach den Fransen ihrer Stolen zu schließen, gehörte die eine zu den Weißen Ajah und die andere zu den Gelben. Er erinnerte sich allerdings an ihre Gesichter. Sie hatten ihn angestarrt, als er durch die gleichen Gänge gelaufen war. Glatte Aes-Sedai-Gesichter mit wissenden Augen. Sie musterten ihn mit hochgezogenen Augenbrauen und gespitzten Lippen. Die Damen, die Rand und Lan hergebracht hatten, knicksten und übergaben sie an die Aes Sedai.

Leane betrachtete Rand mit einem leichten Lächeln. Aber trotz des Lächelns klang ihre Stimme scharf. »Was habt Ihr der Amyrlin heute mitgebracht, Lan Gaidin? Einen jungen Löwen? Laßt ihn besser von keiner Grünen sehen, sonst wird eine von ihnen ihn sich zuschwören lassen, bevor er noch bis drei zählen kann. Die Grünen binden sie gern an sich, wenn sie noch jung sind.«

Rand fragte sich, ob es wirklich möglich sei, unter der Haut auch noch zu schwitzen. Er fühlte sich danach. Er wollte gern Lan anblicken, doch er erinnerte sich an diesen Teil der Instruktionen des Behüters. »Ich bin Rand al'Thor, Sohn des Tam al'Thor aus dem Gebiet der Zwei Flüsse, das einst Manetheren war. Wie ich von der Amyrlin berufen wurde, Leane Sedai, so erscheine ich vor Euch. Ich bin bereit.« Er war überrascht darüber, daß seine Stimme nicht einmal gezittert hatte.

Leane blinzelte, und ihr Lächeln wandelte sich zu einem nachdenklichen Gesichtsausdruck. »Das soll ein Schäfer sein, Lan Gaidin? Heute morgen war er nicht so selbstsicher.«

»Er ist ein Mann, Leane Sedai«, sagte Lan mit fester Stimme, »nicht mehr und nicht weniger. Wir sind, was wir sind.«

Die Aes Sedai schüttelte den Kopf. »Die Welt wird jeden Tag seltsamer. Ich schätze, der Hufschmied wird noch einmal eine Krone tragen und höfische Sprache gebrauchen. Wartet hier.« Sie verschwand nach drinnen, um ihr Kommen anzukündigen.

Sie war erst wenige Momente weg, aber Rand war sich der Blicke der anderen Aes Sedai nur zu bewußt. Er war nervös. Er bemühte sich, ihre Blicke gleichmütig zu erwidern, wie es ihm Lan beigebracht hatte, und da steckten sie die Köpfe zusammen und flüsterten miteinander. Was sagen sie? Was wissen sie? Licht, werden sie mich einer Dämpfung unterziehen? War es das, was Lan meinte, als er sagte, ich solle allem, was kommt, aufrecht entgegentreten?

Leane kehrte zurück und bedeutete Rand, hineinzugehen. Als Lan ihm folgen wollte, stellte sie ihren Stab vor ihn hin und hinderte ihn daran. »Ihr nicht, Lan Gaidin. Moiraine Sedai hat eine Aufgabe für Euch. Euer Löwenjunges ist auch allein sicher genug.«

Die Tür schwang hinter Rand zu, doch zuvor hatte er noch Lans Stimme vernommen, wild und stark und doch leise, nur für seine Ohren bestimmt: »Tai'shar Manetheren!«

Moiraine saß auf einer Seite des Raumes, und eine der Braunen Aes Sedai, die er im Kerker gesehen hatte, saß auf der anderen, doch es war die Frau auf dem hohen Stuhl hinter dem breiten Tisch, die seinen Blick fesselte. Man hatte die Vorhänge teilweise vor die Schießscharten gezogen, aber die Lücken dazwischen ließen genug blendendes Licht hereinfallen, daß es schwer war, ihre Gesichtszüge klar zu erkennen. Trotzdem erkannte er sie natürlich. Die Amyrlin.

Schnell fiel er auf ein Knie nieder, die Linke am Griff seines Schwertes, die rechte Faust auf dem gemusterten Läufer, und beugte das Haupt. »Wie Ihr mich berufen habt, Mutter, so erscheine ich. Ich bin bereit.« Er hob den Kopf rechtzeitig, um zu sehen, wie sie die Augenbrauen hochzog.

»Tatsächlich, Junge?« Sie klang beinahe erheitert. Und noch etwas schwang mit, das er nicht definieren konnte. Aber sie sah jedenfalls keineswegs erheitert aus. »Steh auf, Junge, und laß mich einen Blick auf dich werfen.«

Er richtete sich auf und bemühte sich um ein entspanntes Gesicht. Es kostete Mühe, die Hände nicht zu Fäusten zu ballen. Drei Aes Sedai. Wie viele müssen es sein, um einen Mann einer Dämpfung zu unterziehen? Hinter Logain haben sie ein Dutzend oder mehr hergeschickt. Würde Moiraine mir das antun? Er sah der Amyrlin gerade in die Augen. Sie blinzelte nicht.

»Setz dich, Junge«, sagte sie schließlich und deutete auf einen Stuhl mit Sprossenlehne, den man direkt vor den Tisch gestellt hatte. »Das hier dauert eine Weile, fürchte ich.«

»Danke, Mutter.« Er beugte das Haupt, wie Lan es ihm gesagt hatte, sah den Stuhl an und berührte sein Schwert. »Wenn Ihr erlaubt, Mutter, werde ich stehen. Die Wache ist nicht vorüber.«

Die Amyrlin gab einen verzweifelten Laut von sich und blickte zu Moiraine hinüber. »Hast du Lan auf ihn losgelassen, Tochter? Es wird schon schwer genug werden, ohne daß er auch noch die Sitten der Behüter annimmt.«

»Lan hat alle Jungen unterrichtet, Mutter«, antwortete Moiraine ruhig. »Er hat diesem hier nur etwas mehr Zeit gewidmet als den anderen, weil er ein Schwert trägt.«

Die Braune Aes Sedai rutschte auf ihrem Stuhl nach vorn. »Die Gaidins sind starrköpfig und stolz, Mutter, aber auch nützlich. Ich könnte nicht ohne Tomas sein, wie Ihr nicht ohne Alric. Ich habe sogar schon ein paar Rote gehört, die sagten, manchmal hätten sie auch gern einen Behüter. Und die Grünen natürlich... «

Die drei Aes Sedai ignorierten ihn jetzt alle. »Dieses Schwert«, sagte die Amyrlin. »Es scheint ein Reiherschwert zu sein. Wie ist er denn dazu gekommen, Moiraine?«

»Tam al'Thor verließ die Zwei Flüsse als Junge, Mutter. Er schloß sich dem Heer von Illian an und diente dort im Weißmantelkrieg und in den letzten beiden Kriegen gegen Tear. Mit der Zeit stieg er zum Schwertmeister auf und wurde Zweiter Hauptmann der Gefährten. Nach dem Aielkrieg kehrte Tam al'Thor mit einer Frau aus Caemlyn und einem wenige Monate alten Jungen in die Zwei Flüsse zurück. Ich hätte mir viel ersparen können, hätte ich das alles früher gewußt, doch nun weiß ich es.«

Rand starrte Moiraine an. Er wußte, daß Tam die Zwei Flüsse verlassen hatte und mit einer ausländischen Frau und dem Schwert zurückgekehrt war, aber der Rest... Wo hast du das alles erfahren? Jedenfalls nicht in Emondsfeld. Es sei denn, Nynaeve hat dir mehr erzählt, als sie mir jemals sagte. Ein wenige Monate alter Junge. Sie spricht nicht von einem Sohn. Aber das bin ich.

»Gegen Tear.« Die Amyrlin zog die Stirn ein wenig kraus. »Na ja, an diesen Kriegen waren wohl beide Seiten schuld. Närrische Männer, die lieber kämpften, als zu verhandeln. Kannst du feststellen, ob die Klinge echt ist, Verin?«

»Es gibt die Möglichkeit der Probe, Mutter.« »Dann nimm es und stell es fest, Tochter.«

Die drei Frauen sahen ihn noch nicht einmal an. Rand trat zurück und packte den Schwertgriff mit aller Kraft. »Mein Vater gab mir dieses Schwert«, sagte er zornig. »Niemand nimmt es mir ab.« Erst dann bemerkte er daß sich Verin nicht von ihrem Stuhl wegbewegt hatte. Er sah sie verwirrt an und bemühte sich, sein inneres Gleichgewicht wiederzufinden.

»Also«, sagte die Amyrlin, »hast du durchaus Kampfgeist, abgesehen davon, was Lan dir vermittelt hat. Gut. Du wirst ihn brauchen.«

»Ich bin, was ich bin, Mutter.« Er brachte es einigermaßen überzeugend heraus. »Ich bin bereit für das, was kommt.«

Die Amyrlin verzog das Gesicht. »Lan hat dich wirklich gut vorbereitet. Hör mal zu, Junge. In wenigen Stunden wird Ingtar aufbrechen, um das gestohlene Horn zu suchen. Dein Freund Mat wird mit ihm gehen. Ich denke, daß auch dein anderer Freund — Perrin? —mitkommt. Willst du sie begleiten?«

»Mat und Perrin gehen mit? Warum?« Verspätet erinnerte er sich daran, ein respektvolles ›Mutter‹ hinzuzufügen.

»Du weißt von dem Dolch, den dein Freund trug?« Ein Verziehen ihres Mundes deutete an, was sie von dem Dolch hielt. »Auch der wurde gestohlen. Wenn er nicht gefunden wird, kann die Verbindung zwischen ihm und der Klinge nicht vollständig beseitigt werden, und er wird sterben. Du kannst mit ihnen reiten, wenn du willst. Oder du kannst hier bleiben. Zweifellos wird Lord Agelmar dich als Gast hierbehalten, solange du willst. Ich reise heute ebenfalls ab. Moiraine Sedai wird mit mir kommen, genauso wie Egwene und Nynaeve. Wenn du bleibst, bist du also allein. Die Entscheidung liegt bei dir.«

Rand starrte sie an. Sie sagt, ich könne gehen, wie ich will. Hat sie mich deshalb holen lassen? Mat stirbt! Er sah Moiraine an, die teilnahmslos mit im Schoß gefalteten Händen dasaß. Sie wirkte, als könne nichts auf der Welt sie weniger interessieren als die Frage, wohin er ging. Wohin versuchst du mich als Spielfigur zu schieben, Aes Sedai? Licht noch mal, ich werde nicht mitspielen. Aber falls Mat stirbt... Ich kann ihn nicht im Stich lassen. Licht, wie sollen wir denn diesen Dolch finden?

»Du mußt dich jetzt noch nicht entscheiden«, sagte die Amyrlin. Auch sie schien es wenig zu kümmern. »Aber du mußt dich entscheiden, bevor Ingtar aufbricht.«

»Ich werde mit Ingtar reiten, Mutter.«

Die Amyrlin nickte abwesend. »Nun, da das geklärt ist, können wir uns wichtigeren Dingen zuwenden. Ich weiß, daß du die Macht benützt, Junge. Was weißt du selbst darüber?«

Rands Mund klappte auf. Durch seine Sorge um Mat abgelenkt, trafen ihn ihre beiläufig geäußerten Worte wie ein Hammerschlag. Alle Ratschläge und Anweisungen Lans wirbelten davon. Er blickte sie stumm an und leckte sich die Lippen. Es war eine Sache, zu glauben, sie wisse Bescheid, aber eine ganz andere, herauszufinden, daß sie es wirklich wußte. Schließlich trat ihm der Schweiß auf die Stirn.

Sie beugte sich auf ihrem Stuhl vor und erwartete seine Antwort. Er hatte allerdings das Gefühl, sie wolle sich eher zurücklehnen. Er dachte daran, was Lan gesagt hatte. Wenn sie Angst vor dir hat... Er wollte lachen. Wenn sie Angst vor ihm hatte.

»Nein, kann ich nicht. Ich meine... Ich habe es nicht mit Absicht getan. Es ist einfach passiert. Ich will nicht... die Macht lenken. Ich werde es nie wieder tun. Das schwöre ich.«

»Du willst es nicht«, sagte die Amyrlin. »Nun, das ist klug von dir. Und auch gleichzeitig närrisch. Einigen kann man das Lenken der Macht beibringen, den meisten aber nicht. Einige wenige jedoch tragen die Saat schon bei der Geburt in sich. Früher oder später benützen sie die Eine Macht, ob sie wollen oder nicht, so sicher, wie aus Rogen Fisch wird. Du wirst weiterhin die Macht benützen, Junge. Du kannst nichts dagegen machen. Und du solltest sie besser zu lenken lernen, lernen, wie man sie beherrscht, oder du lebst nicht lange genug, um wahnsinnig zu werden. Die Eine Macht tötet alle die ihren Fluß nicht beherrschen können.«

»Wie soll ich es denn lernen?« wollte er wissen. Moiraine und Verin saßen einfach nur unbeeindruckt da und beobachteten ihn. Wie Spinnen. »Wie? Moiraine behauptet, sie könne mir nichts beibringen und ich wisse nicht, wie ich lernen könne oder so was. Ich will ja sowieso nicht. Ich will aufhören! Könnt Ihr das nicht verstehen? Aufhören will ich!«

»Ich habe dir die Wahrheit gesagt, Rand«, sagte Moiraine. Es klang, als befände sie sich in einer angenehmen Unterhaltungsrunde. »Diejenigen, die dich lehren könnten, die männlichen Aes Sedai, sind seit dreitausend Jahren tot. Keine lebende Aes Sedai kann dir beibringen, wie du Saidin berühren kannst, genausowenig, wie du es erlernen könntest, Saidar zu berühren. Ein Vogel kann einem Fisch nicht das Fliegen beibringen und ein Fisch keinem Vogel, wie man schwimmt.«

»Ich habe das schon immer für eine falsche Redensart gehalten«, warf Verin plötzlich ein. »Es gibt Vögel, die tauchen und schwimmen können. Und im Meer der Stürme gibt es fliegende Fische. Sie breiten lange Flossen aus, die beinahe soweit reichen wie ausgestreckte Arme, und sie haben Schnäbel wie Schwerter, die selbst einen... « Ihre Worte wurden leiser und unverständlich, und sie schien verwirrt. Moiraine und die Amyrlin blickten sie ausdruckslos an.

Rand benützte die Unterbrechung, um wenigstens einigermaßen die Selbstbeherrschung wieder zu erlangen. Wie Tam es ihn vor langer Zeit gelehrt hatte, formte er in seinem Geist eine einzelne Flamme und leerte seine Ängste hinein, suchte die Leere, die Ruhe des Nichts. Die Flamme schien zu wachsen, bis sie alles umhüllte, bis sie zu groß war, um noch länger im Geist festgehalten zu werden. Mit einem Schlag war sie verschwunden, und statt ihrer fühlte er inneren Frieden. An dessen Rand flackerten immer noch Gefühle auf. Furcht und Zorn wirkten wie schwarze Flecke, aber das Nichts blieb erhalten. Gedanken glitten über seine Oberfläche wie Kieselsteine über Eis. Die Aufmerksamkeit der Aes Sedai hatte sich nur einen Moment lang von ihm abgewandt, aber als sie sich wieder umdrehten, war sein Gesicht entspannt.

»Warum sprecht Ihr so mit mir, Mutter?« fragte er. »Ihr solltet mich einer Dämpfung unterziehen.«

Die Amyrlin runzelte die Stirn und wandte sich Moiraine zu. »Hat Lan ihm das beigebracht?«

»Nein, Mutter. Er hat es von Tam al'Thor.«

»Warum?« wollte Rand erneut wissen.

Die Amyrlin sah ihm direkt in die Augen und sagte: »Weil du der Wiedergeborene Drache bist.«

Das Nichts schwankte. Die Welt schwankte. Alles schien sich um ihn zu drehen. Er konzentrierte sich auf das Nichts, und die Leere kehrte zurück, die Welt stabilisierte sich. »Nein, Mutter. Ich kann die Macht lenken, Licht, hilf mir, aber ich bin nicht Raolin Dunkelbann oder Guaire Amalasin oder Yurian Steinbogen. Ihr könnt mich dämpfen oder töten oder mich gehen lassen aber ich werde nicht zu einem zahmen falschen Drachen an der Leine Tar Valons.«

Er hörte, wie Verin nach Luft schnappte, und sah, wie sich die Augen der Amyrlin weiteten. Ihr Blick war so hart wie blauer Fels. Es berührte ihn nicht; er glitt an dem Nichts in seinem Inneren ab. »Wo hast du diese Namen her?« wollte die Amyrlin wissen. »Wer sagte dir, daß Tar Valon irgendeinen falschen Drachen am Gängelband hat?«

»Ein Freund, Mutter«, sagte er. »Ein Gaukler. Er hieß Thom Merrilin. Jetzt ist er tot.« Moiraine gab ein Geräusch von sich, und er sah zu ihr hinüber. Sie behauptete, Thom sei nicht tot, aber sie hatte niemals einen Beweis erbracht, und er konnte sich nicht vorstellen, daß ein Mann eine direkte Konfrontation mit einem Blassen überleben konnte. Der Gedanke kam von außen und verblaßte schnell. Es gab nur noch das Nichts und das Einssein damit.

»Du bist kein falscher Drache«, sagte die Amyrlin mit Überzeugung. »Du bist der wahre Wiedergeborene Drache.«

»Ich bin ein Schäfer von den zwei Flüssen, Mutter.«

»Tochter, erzähle ihm die Geschichte. Eine wahre Geschichte, Junge. Hör gut zu!«

Moiraine begann zu erzählen. Rand blickte weiter die Amyrlin an, hörte aber aufmerksam zu.

»Vor beinahe zwanzig Jahren überquerten die Aiel das Rückgrat der Welt, den Drachenwall — das einzige Mal in ihrer Geschichte. Sie wüteten in Cairhien, vernichteten jedes Heer, das gegen sie ausgesandt wurde, brannten die Stadt Cairhien nieder und kämpften sich bis Tar Valon durch. Es war Winter, und es schneite, doch Kälte oder Hitze bedeuten einem Aiel wenig. Die endgültige Schlacht, die letzte, die zählte, wurde außerhalb der Leuchtenden Mauer geschlagen, im Schatten des Drachenberges. Nach drei Tagen und drei Nächten des Kampfes wurden die Aiel zurückgeschlagen Oder genauer, sie zogen sich zurück, denn sie hatten vollbracht, weswegen sie aufgebrochen waren: König Laman von Cairhien wegen seiner Sünde gegen den Baum zu töten. Und zu der Zeit beginnt meine Geschichte. Und deine.«

Sie kamen über den Drachenwall wie eine Flut. Bis hin zur Leuchtenden Mauer. Rand wartete darauf, daß die Erinnerungen verschwammen, aber es war Tams Stimme, die er hörte, als er krank war und phantasierte und Geheimnisse aus seiner Vergangenheit ausplauderte. Die Stimme hielt sich außerhalb des Nichts und bettelte darum, hineingelassen zu werden.

»Ich gehörte zu der Zeit zu den Aufgenommenen«, sagte Moiraine, »genau wie unsere Mutter, die Amyrlin. Wir sollten bald vollwertige Schwestern werden, und in jener Nacht standen wir der Amyrlin zur Verfügung. Ihre Behüterin der Chronik, Gitara Moroso, war dabei. Jede andere vollwertige Schwester in Tar Valon war draußen und heilte so viele Verwundete, wie sie finden konnte. Sogar die Roten halfen mit. Es war in der Morgendämmerung. Das Feuer im Herd konnte die Kälte nicht mindern. Es hatte endlich zu schneien aufgehört, und in den Gemächern der Amyrlin in der Weißen Burg konnten wir den Qualm brennender Dörfer aus der Umgebung riechen.«

Schlachten sind immer heiß, selbst im Schnee. Mußte dem Gestank des Todes entfliehen. Tams fiebernde Stimme riß an der leeren Ruhe in Rand. Das Nichts zitterte und schrumpfte, stabilisierte sich und wackelte wieder. Die Blicke der Amyrlin bohrten sich in ihn hinein. Er fühlte wieder, wie ihm der Schweiß übers Gesicht rann. »Es war alles nur ein Fiebertraum«, sagte er. »Er war krank.« Er erhob seine Stimme. »Ich heiße Rand al'Thor. Ich bin Schäfer. Mein Vater ist Tam al'Thor und meine Mutter war...«

Moiraine hatte seinetwegen geschwiegen, aber jetzt schnitt ihm ihre gleichmäßige Stimme sanft und unnachgiebig das Wort ab. »Der Karaethon-Zyklus, die Prophezeiungen des Drachen, sagt, daß der Drache auf dem Abhang des Drachenberges wiedergeboren werde, wo er während der Zerstörung der Welt gestorben war. Gitara Sedai hatte manchmal die Gabe der Weissagung. Sie war alt, ihr Haar so weiß wie der Schnee draußen, aber wenn eine Vision über sie kam, war sie stark. Das Licht des Morgens, das durch die Fenster fiel, wurde heller, als ich ihr eine Tasse Tee reichte. Die Amyrlin fragte mich, welche Neuigkeiten es vom Schlachtfeld gäbe. Und Gitara Sedai schoß aus ihrem Stuhl hoch, stand zitternd mit steifen Armen und Beinen da, machte ein Gesicht, als blicke sie in den Krater des Verderbens am Shayol Ghul, und rief: ›Er ist wiedergeboren! Ich fühle ihn! Der Drache tut seinen ersten Atemzug am Hang des Drachenberges! Er kommt! Licht, hilf uns! Licht, hilf der Welt! Er liegt im Schnee und weint wie Donnerhall! Er brennt wie die Sonne!‹ Und damit fiel sie mir tot in die Arme.«

Abhang des Berges. Hörte ein Baby weinen. Gebar es ganz allein dort, bevor sie starb. Das Kind war blau vor Kälte. Rand bemühte sich, Tams Stimme wegzudrücken. Das Nichts wurde kleiner. »Ein Fiebertraum«, keuchte er. Konnte ein Kind nicht dort lassen. »Ich wurde in den Zwei Flüssen geboren.« Ich wußte schon immer, daß du dir ein Kind wünscht, Kari. Er riß sich vom Blick der Amyrlin los. Er versuchte, das Nichts zum Durchhalten zu zwingen. Er wußte, daß das nicht richtig war, aber es brach in ihm zusammen. Ja, Mädchen. Rand ist ein guter Name. »Ich-bin-Rand-al'Thor!« Seine Beine zitterten.

»Und so wußten wir, daß der Drache wiedergeboren war«, fuhr Moiraine fort. »Die Amyrlin ließ uns beide schwören, daß wir es geheimhalten würden, denn ihr war klar, daß nicht alle Schwestern die Wiedergeburt unter dem gleichen Aspekt sehen würden, wie es sein sollte. Sie ließ uns suchen. Nach dieser Schlacht gab es viele vaterlose Kinder. Zu viele. Aber wir spürten eine Geschichte auf, daß ein Mann auf dem Berg ein Baby gefunden hatte. Das war alles. Ein Mann und ein kleiner Junge. Also suchten wir weiter. Jahrelang suchten wir, fanden andere Hinweise, vergruben uns in den Prophezeiungen. ›Er wird von uraltem Blute sein und vom alten Blut aufgezogen werden.‹ Das war einer; es gab weitere Hinweise. Aber es gibt viele Gegenden, wo das alte Blut seit dem Zeitalter der Legenden noch stark vertreten ist. Dann war ich im Gebiet der Zwei Flüsse, wo das alte Blut von Manetheren strömt wie ein über die Ufer getretener Fluß, und in Emondsfeld fand ich drei Jungen, deren Namenstage innerhalb weniger Wochen nach der Schlacht am Drachenberg lagen. Und einer von ihnen kann die Macht benützen. Glaubst du, die Trollocs hätten dich nur gejagt, weil du ta'veren bist? Du bist der Wiedergeborene Drache.«

Rands Knie gaben nach. Er hockte plötzlich am Boden und fing sich gerade noch mit ausgebreiteten Händen auf dem Teppich ab, bevor er auf die Nase fiel. Das Nichts war weg, die Stille zerschmettert. Er hob den Kopf. Sie sahen ihn an, die drei Aes Sedai. Ihre Gesichter waren ernst und glatt wie ein spiegelglatter Teich, und ihre Augen blinzelten nicht. »Mein Vater ist Tam al'Thor, und ich wurde... « Sie starrten ihn unbewegt an. Sie lügen. Ich bin nicht... was sie behaupten! Irgendwie, irgendwie lügen sie und versuchen, mich zu benutzen. »Ich werde mich nicht von Euch benutzen lassen.«

»Ein Anker wird nicht geschändet, weil er benützt wird, um ein Boot festzuhalten«, sagte die Amyrlin. »Du wurdest zu einem bestimmten Zweck geschaffen Rand al'Thor. ›Wenn die Sturmwinde von Tarmon Gai'don über die Erde toben, wird er dem Schatten gegenübertreten und das Licht wieder in die Welt bringen.‹ Die Prophezeiungen müssen erfüllt werden, oder der Dunkle König wird sich befreien und die Welt nach seinem Willen umgestalten. Die Letzte Schlacht kommt, und du wurdest dazu geboren, die Menschheit zu einen und sie gegen den Dunklen König zu führen.«

»Ba'alzamon ist tot«, sagte Rand heiser, und die Amyrlin schnaubte wie ein Stallbursche.

»Wenn du das glaubst, bist du ein genauso großer Narr wie die Domani. Viele dort glauben, er sei tot, oder sie sagen es zumindest, aber ich habe festgestellt, daß sie trotzdem nicht riskieren, ihn beim Namen zu nennen. Der Dunkle König lebt, und er ist dabei, sich zu befreien. Du wirst dem Dunklen König gegenübertreten. Das ist dein Schicksal.«

Das ist dein Schicksal. Er hatte das zuvor schon gehört, in einem Traum, der vielleicht nicht ganz ein Traum gewesen war. Er fragte sich, was die Amyrlin sagen würde, wenn sie wüßte, daß Ba'alzamon in Träumen zu ihm gesprochen hatte. Das ist erledigt. Ba'alzamon ist tot. Ich sah ihn sterben.

Plötzlich wurde ihm bewußt, daß er wie eine Kröte dahockte, sich unter ihren Augen duckte. Er versuchte, das Nichts wieder heraufzubeschwören, aber durch seinen Kopf wirbelten Stimmen und machten jede Anstrengung zunichte. Das ist dein Schicksal. Du bist der Wiedergeborene Drache. Ba'alzamon ist tot. Rand ist ein guter Name, Kari. Ich werde mich nicht benutzen lassen! Er bezog Kraft aus seiner angeborenen Starrköpfigkeit und zwang sich zum Aufstehen. Tritt ihm aufrecht gegenüber. Wenigstens kannst du dir deinen Stolz bewahren. Die drei Aes Sedai beobachteten ihn ausdruckslos.

»Was... « Mit Mühe beherrschte er seine Stimme. »Was werdet Ihr mit mir machen?«

»Nichts«, sagte die Amyrlin, und er riß die Augen auf. Das war nicht die Antwort, die er erwartet und gefürchtet hatte. »Wenn du sagst, du möchtest deine Freunde und Ingtar begleiten, dann kannst du das. Ich habe dich nicht auf irgendeine Weise hervorgehoben. Ein paar der Schwestern wissen vielleicht, daß du ta'veren bist, aber nicht mehr. Nur wir drei wissen, was du wirklich bist. Dein Freund Perrin wird zu mir gebracht werden, genau wie du, und ich werde deinen anderen Freund in der Krankenstation besuchen. Du kannst tun, was du willst, ohne Angst haben zu müssen, daß wir die Roten Schwestern auf dich hetzen.«

Wer du wirklich bist. Zorn stieg in ihm auf, heiß und beißend. Er zwang ihn nieder. »Warum?«

»Die Prophezeiungen müssen erfüllt werden. Wir lassen dich in vollem Bewußtsein dessen, was du bist, laufen, denn sonst wird die Welt, wie wir sie kennen, sterben und der Dunkle König wird die Erde mit Feuer und Tod überziehen. Versteh mich recht: Nicht alle Aes Sedai denken so; Es gibt welche hier in Fal Dara, die dich niederstrecken würden, wüßten sie nur ein Zehntel von dem, was du bist, und sie würden sich nicht mehr schuldig fühlen, als schnitten sie einem Fisch den Kopf ab. Aber andererseits gibt es Männer, die zweifellos zuvor mit dir gelacht haben und trotzdem das gleiche täten, wenn sie Bescheid wüßten. Sei vorsichtig, Rand al'Thor, Wiedergeborener Drache.«

Er sah eine nach der anderen an. Eure Prophezeiungen gehen mich nichts an. Sie erwiderten seinen Blick so ruhig — es war kaum zu glauben, daß sie ihn zu überzeugen versuchten, er sei der meistgehaßte, meistgefürchtete Mann in der Geschichte der Welt. Er hatte die Zone der Angst durchschritten und war auf der anderen Seite in etwas Kaltes hineingeraten. Der Zorn war alles, was ihn warm hielt. Sie konnten ihn einer Dämpfung unterziehen oder ihn auf dem Fleck zu einem Häufchen Asche verbrennen — es berührte ihn nicht mehr.

Ein Teil der Belehrungen Lans kam ihm wieder zu Bewußtsein. Mit der linken Hand am Schwertgriff gab er dem Schwert einen sanften Stoß nach hinten und fing die Scheide mit der Rechten ab. Dann verbeugte er sich mit gestreckten Armen. »Mit Eurer Erlaubnis, Mutter, darf ich diesen Ort verlassen?«

»Ich gebe dir die Erlaubnis zu gehen, mein Sohn.«

Er richtete sich auf und stand noch einen Augenblick lang da. »Ich lasse mich nicht benutzen«, sagte er ihnen. Als er sich umdrehte und ging, herrschte Schweigen.

Das Schweigen dehnte sich im Raum, nachdem Rand gegangen war, bis es schließlich durch einen langen Seufzer der Amyrlin gebrochen wurde. »Ich kann mir nicht helfen, ich fühle mich nicht wohl bei dem, was wir gerade getan haben«, sagte sie. »Es war notwendig, aber...

Hat es die gewünschte Wirkung hinterlassen, Töchter?«

Moiraine schüttelte den Kopf. Es war nur die Andeutung einer Bewegung. »Ich weiß nicht. Aber es war und ist nötig.«

»Nötig«, stimmte Verin zu. Sie berührte ihre Stirn und betrachtete dann die Feuchtigkeit an ihren Fingern. »Er ist stark. Und genauso stur, wie du gesagt hast, Moiraine. Viel stärker, als ich erwartet hatte. Wir müssen ihn vielleicht doch noch einer Dämpfung unterziehen, bevor... « Ihre Augen weiteten sich. »Aber das können wir nicht, oder? Die Prophezeiungen. Licht, vergib uns, daß wir so etwas auf die Welt loslassen.«

»Die Prophezeiungen«, sagte Moiraine nickend. »Hinterher werden wir tun, was sein muß. So wie jetzt auch.«

»Das müssen wir«, sagte die Amyrlin. »Ja. Aber Licht hilf uns allen, wenn er lernt, die Macht zu beherrschen.« Wieder breitete sich Schweigen aus.

Ein Sturm war im Anzug. Nynaeve fühlte ihn kommen. Ein schlimmer Sturm, schlimmer als jeder, den sie bisher erlebt hatte. Sie konnte dem Wind lauschen und hören, wie sich das Wetter entwickeln würde. Alle Seherinnen behaupteten, dazu fähig zu sein, auch wenn es manche gar nicht konnten. Nynaeve hatte ihre Fähigkeit früher eher geschätzt als jetzt, nachdem sie wußte, daß es eine Spielart der Einen Macht war. Jede Frau, die dem Wind lauschen konnte, konnte auch die Macht lenken, obwohl es den meisten wahrscheinlich ebenso wie ihr erging, daß ihnen nämlich nicht klar war, was sie da taten. Es kam sowieso nur in Schüben und einer Art von Anfall.

Diesmal allerdings war irgend etwas nicht in Ordnung. Draußen stand die Morgensonne wie ein goldener Ball am klaren, blauen Himmel, und in den Gärten sangen Vögel. Doch das war nicht der springende Punkt. Es wäre ja nichts dabei gewesen, dem Wind zu lauschen, wenn man das Wetter erst dann voraussagen konnte, wenn die Anzeichen bereits sichtbar waren. Es stimmte irgend etwas mit dem Gefühl dafür nicht; es war einfach nicht so wie sonst. Der Sturm schien fern zu sein, zu fern an sich, um ihn überhaupt schon zu fühlen. Und doch war es ein Gefühl, als müßte es eigentlich in Strömen regnen und schneien und hageln, alles zur gleichen Zeit, und der Wind müßte mit einer Gewalt heulen, daß er beinahe die Mauern der Festung zum Erzittern brachte. Und sie konnte auch das gute Wetter fühlen, das noch tagelang anhalten würde, doch das verschwand fast unter der Last des anderen.

Ein Blaufink saß in einer Schießscharte, als mache er sich über ihr Wettergefühl lustig. Er spähte frech in den Flur hinein. Als er sie sah, verschwand er mit aufblitzenden blauen und weißen Federn.

Sie blickte den Fleck an, auf dem der Vogel gesessen hatte. Es gibt einen Sturm, und es gibt ihn auch wieder nicht. Das bedeutet etwas. Aber was?

Weit hinten im von Frauen und kleinen Kindern angefüllten Flur sah sie, wie Rand davonschritt. Seine weibliche Eskorte mußte fast rennen, um mit ihm Schritt zu halten. Nynaeve nickte energisch. Falls es einen Sturm gab, der kein Sturm war, mußte er dahinterstecken. Sie raffte ihre Röcke hoch und eilte ihm nach.

Frauen, mit denen sie sich seit ihrer Ankunft in Fal Dara angefreundet hatte, versuchten sie anzusprechen. Sie wußten, daß Rand mit ihr gekommen war und daß sie beide von den Zwei Flüssen stammten, und sie wollten wissen, warum die Amyrlin ihn zu sich bestellt hatte. Die

Amyrlin! Eisklumpen in ihrem Bauch... Sie rannte los, doch bevor sie noch die Frauenquartiere verlassen konnte, hatte sie ihn in dem Gewirr von Fluren und Menschen aus den Augen verloren.

»Wohin ist er gegangen?« fragte sie Nisura. Es war nicht nötig zu sagen, wen sie meinte. Sie hörte Rands Namen aus der Unterhaltung der Frauen heraus, die sich um die hohe Bogentür versammelt hatten.

»Ich weiß nicht, Nynaeve. Er kam so schnell heraus, als sei ihm Herzensbann persönlich auf den Fersen. Sollte er auch, wenn man bedenkt: Er kommt mit einem Schwert am Gürtel hier herein! Danach sollte der Dunkle König noch die geringste seiner Sorgen sein. Wohin kommen wir denn noch? Und er wird auch noch der Amyrlin in ihren Gemächern vorgestellt! Sag mal, Nynaeve, ist er wirklich in eurem Land ein Prinz?« Die anderen Frauen unterbrachen ihre Unterhaltung und schoben sich näher heran, um zu lauschen.

Nynaeve konnte später nicht mehr sagen, was sie geantwortet hatte. Es war jedenfalls etwas gewesen, was die anderen dazu brachte, sie gleich wieder laufen zu lassen. Sie eilte aus den Frauenquartieren. An jeder Kreuzung von Korridoren drehte sie den Kopf nach allen Seiten, um ihn zu entdecken. Die Hände hatte sie zu Fäusten geballt. Licht, was haben sie mit ihm angestellt? Ich hätte ihn irgendwie von Moiraine wegholen müssen, das Licht blende sie. Ich bin seine Seherin.

Tatsächlich? neckte eine kleine Stimme in ihrem Inneren. Du hast Emondsfeld sich selbst überlassen. Kannst du dich mit Recht noch ihre Seherin nennen?

Ich habe sie nicht im Stich gelassen, sagte sie sich selbst energisch. Ich holte Mavra Mallen aus Devenritt herüber, damit sie sich um alles kümmert, bis ich zurück bin. Sie kann ganz gut mit dem Bürgermeister und dem Gemeinderat umgehen, und sie kommt gut mit dem Frauenzirkel aus.

Mavra muß in ihr Dorf zurück. Kein Dorf kann sehr lange ohne eine eigene Seherin auskommen. Nynaeve verkrampfte sich innerlich. Es war schon Monate her, daß sie Emondsfeld verlassen hatte.

»Ich bin die Seherin von Emondsfeld!« sagte sie laut.

Ein livrierter Diener mit einem Stoffballen auf den Armen sah sie erstaunt an und verbeugte sich dann tief, bevor er davonhastete. Seinem Gesichtsausdruck nach war er froh, von ihr wegzukommen.

Nynaeve errötete und blickte sich um, ob jemand anders ihre Worte gehört hatte. Es befanden sich nur ein paar ins Gespräch vertiefte Männer im Flur sowie mehrere Frauen in Schwarz und Gold, die ihren Geschäften nachgingen. Sie verbeugten sich oder knicksten vor ihr, wenn sie vorbeikam. Sie hatte die gleichen Probleme schon hundertmal im Kopf durchgewälzt, aber das war das erste Mal gewesen, daß sie dabei laut gesprochen hatte. Sie fluchte leise in sich hinein, aber als ihr klar wurde, was sie tat, preßte sie die Lippen fest zusammen.

Sie sah schließlich ein, daß ihre Suche umsonst war, und dann sah sie Lan, der mit dem Rücken zu ihr an einer Schießscharte stand und auf den äußeren Hof hinunterblickte. Von unten schallte der Lärm von Pferden und Männern empor: Wiehern und Durcheinanderschreien. Lan war so konzentriert, daß er sie dieses eine Mal tatsächlich nicht zu bemerken schien. Sie haßte es, daß sie sich ihm niemals unbemerkt nähern konnte, so leise sie sich auch bewegte. Zu Hause in Emondsfeld hatte sie als gute Waldläuferin gegolten, obwohl das keine Tätigkeit war, an der viele Frauen Interesse zeigten.

Sie blieb sofort stehen und preßte sich die Hände auf den Bauch, um das nervöse Flattern zu bekämpfen. Ich sollte Rannel und Schafzungenwurzel benutzen, um mich zu betäuben, dachte sie selbstkritisch. Das war die Mixtur, die sie allen gab, die herumhingen und behaupteten, sie seien krank, oder sich überhaupt wie dumme Gänse benahmen. Rannel und Schafzungenwurzel weckten die Lebensgeister ein wenig und schadeten nicht, aber vor allem schmeckte das Zeug furchtbar, und der Geschmack hielt den ganzen Tag an. Es war eine perfekte Kur für jemanden, der sich wie ein Narr aufführte.

Vor seinen Blicken sicher, betrachtete sie ihn von oben bis unten, wie er an der Steinwand lehnte und sich über das Kinn strich, während er die Vorgänge im Hof beobachtete. Er ist zum einen zu groß und auch noch alt genug, um mein Vater zu sein. Ein Mann mit einem solchen Gesicht muß doch grausam sein. Nein, das ist er nicht. Niemals. Und er war ein König. Sein Land wurde zerstört, als er noch ein Kind war, und er beanspruchte keine Krone, doch er war trotzdem ein König. Was kann ein König schon von einer Dorfschönen wollen. Außerdem ist er ja auch ein Behüter und Moiraine zugeschworen. Sie besitzt seine Loyalität bis zum Tod, und das ist eine engere Verbindung als die Liebe. Sie hat ihn. Sie hat alles, was ich will; das Licht versenge sie!

Er drehte sich um, und sie wollte weghuschen.

»Nynaeve.« Seine Stimme fing sie und hielt sie fest wie eine Schlinge. »Ich wollte allein mit dir sprechen. Du scheinst dich immer in den Frauenquartieren oder in Gesellschaft aufzuhalten.«

Es kostete sie Mühe, ihn anzusehen, aber als sie zu ihm aufblickte, war sie sicher, daß ihre Gesichtszüge ruhig wirkten. »Ich suche Rand.« Sie dachte nicht daran zuzugeben, daß sie ihn mied. »Wir haben uns alles Nötige gesagt, bereits vor längerer Zeit, du und ich. Ich habe mich erniedrigt — was ich nie wieder tun werde —, und du sagtest mir, ich solle gehen.«

»Ich habe nie gesagt... « Er holte tief Luft. »Ich sagte dir, ich habe nichts als Witwenkleider, die ich dir als Brautgeschenk bieten könnte. Kein Geschenk, das ein Mann einer Frau gibt. Kein Mann jedenfalls, der sich noch Mann nennt.«

»Ich verstehe«, sagte sie kühl. »Auf jeden Fall gibt ein König einer Frau vom Dorf keine Geschenke. Und ich als Landpomeranze würde sie auch nicht akzeptieren. Hast du Rand gesehen? Ich muß mit ihm sprechen. Er war bei der Amyrlin. Weißt du, was sie von ihm wollte?«

Seine Augen blitzten wie blaues Eis im Sonnenschein. Sie machte schnell ihre Beine steif, damit sie nicht zurückwich, und sah ihn genauso wütend an.

»Der Dunkle König soll Rand al'Thor und die Amyrlin holen«, wütete er und drückte ihr etwas in die Hand. »Ich werde dir ein Geschenk geben, und du wirst es annehmen, und wenn ich es dir um den Hals binden muß.«

Sie riß den Blick von seinem los. Wenn er wütend war, hatte er den Ausdruck eines blauäugigen Falken. In ihrer Hand lag ein Siegelring aus schwerem Gold, vom Alter abgenützt. Er war beinahe groß genug, daß ihre beiden Daumen hindurchgepaßt hätten. Darauf flog ein Kranich über einer Lanze und einer Krone. Alles war sorgfältig und fein detailliert eingraviert. Ihr stockte der Atem. Der Königsring von Malkier. Sie vergaß, böse dreinzublicken, und hob das Gesicht. »Das kann ich nicht annehmen, Lan.«

Er tat es mit einem Achselzucken ab. »Es ist nichts. Alt und nutzlos ist er jetzt. Aber es gibt welche, die ihn erkennen würden, wenn sie ihn sehen. Zeige ihn, und du genießt Gastrecht und Hilfe, wenn du sie brauchst, und zwar von jedem Lord in den Grenzlanden. Zeige ihn einem Behüter, und er wird dir helfen oder mir eine Nachricht überbringen. Schicke ihn zu mir oder auch eine Botschaft, die mit ihm versiegelt wurde, und ich komme ohne Verzögerung auf jeden Fall zu dir. Das schwöre ich.«

Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Wenn ich jetzt weine, bringe ich mich um. »Ich kann nicht... ich will kein Geschenk von dir, al'Lan Mandragoran. Hier, nimm ihn.«

Er wehrte ihre Versuche ab, ihm den Ring zurückzugeben. Seine Hand umschloß ihre, sanft, aber so fest wie eine Handschelle. »Dann nimm ihn um meinetwillen — tu mir den Gefallen. Oder wirf ihn weg, wenn er dir nicht gefällt. Ich kann ihn nicht mehr gebrauchen.« Er streichelte ihre Wange mit einem Finger, und sie fuhr zusammen. »Ich muß jetzt gehen, Nynaeve mashiara. Die Amyrlin will vor dem Mittag abreisen, und es gibt noch viel zu tun. Vielleicht haben wir auf der Reise nach Tar Valon Zeit, uns zu unterhalten.« Er wandte sich ab und war gleich darauf den Gang hinunter verschwunden.

Nynaeve berührte ihre Wange. Sie konnte noch immer fühlen, wo er sie berührt hatte. Mashiara. Geliebte meines Herzens und meiner Seele — aber es bedeutete auch: meine verlorene Liebe. Verloren, und nie wiederzugewinnen. Närrische Frau! Hör auf, dich wie ein Mädchen zu benehmen, das noch nicht einmal die Haare zum Zopf flechten darf. Es hat keinen Zweck, wenn du dich von ihm...

Sie hielt den Ring ganz fest in der Hand, wandte sich um und fuhr zusammen, als sie sich plötzlich Moiraine gegenübersah. »Wie lange wart Ihr schon hier?« wollte sie wissen.

»Nicht lange genug, um irgend etwas zu hören, das ich nicht hören sollte«, antwortete die Aes Sedai gewandt. »Wir werden aber bald abreisen, wie ich gehört habe. Ihr müßt Euch um Euer Gepäck kümmern.«

Abreise. Das hatte sie gar nicht registriert, als Lan es erwähnt hatte. »Ich muß den Jungen noch Lebwohl sagen«, murmelte sie, und dann blickte sie Moiraine durchdringend an. »Was habt Ihr mit Rand gemacht? Er wurde zur Amyrlin gebracht. Warum? Habt Ihr davon erzählt, daß er...?« Sie konnte es nicht über die Lippen bringen. Er kam aus ihrem Heimatdorf, und sie war gerade soviel älter, um ein- oder zweimal auf ihn aufgepaßt zu haben, als er noch klein war. Nun konnte sie noch nicht einmal daran denken, was er geworden war, ohne daß sich ihr Magen zusammenkrampfte.

»Die Amyrlin will alle drei sehen, Nynaeve. Ta'veren sind nicht so häufig, daß sie die Gelegenheit versäumen möchte, drei gleichzeitig am selben Ort kennenzulernen. Vielleicht wird sie ihnen ein wenig Mut zusprechen, da sie ja mit Ingtar wegreiten werden, um die Diebe des Horns zu suchen. Sie werden etwa zur gleichen Zeit wie wir aufbrechen, also solltet Ihr Euch mit Euren Abschiedsgrüßen beeilen.«

Nynaeve huschte zur nächsten Schießscharte und blickte auf den Außenhof hinunter. Überall standen Pferde, Packtiere und gesattelte, und um sie herum eilten geschäftig Männer. Viele riefen sich gegenseitig etwas zu. Der einzige freie Raum befand sich um die Sänfte der Amyrlin herum. Die paarweise angeschirrten Pferde warteten geduldig ohne irgendwelche Aufseher. Einige der Behüter waren dort draußen und kontrollierten ihre Reittiere. Auf der anderen Seite des Hofs stand Ingtar mit einem Schwarm Schienarer um sich, die voll gerüstet waren. Manchmal kam ein Behüter herüber, oder einer der Schienarer überquerte den gepflasterten Hof, und sie sprachen kurz miteinander.

»Ich hätte die Jungen von Euch fernhalten sollen«, sagte sie beim Hinausschauen. Auch Egwene, wenn ich das fertigbrächte, ohne sie damit zu töten. Licht, warum mußte sie nur mit dieser verfluchten Fähigkeit geboren werden? »Ich hätte sie nach Hause bringen sollen.«

»Sie sind mehr als alt genug, um vom Schürzenzipfel loszukommen«, sagte Moiraine trocken. »Und Ihr wißt sehr gut, warum Ihr das nicht machen könntet. Jedenfalls in einem Fall. Außerdem hieße das, Egwene allein auf den Weg nach Tar Valon zu schicken. Oder habt Ihr beschlossen, doch nicht selbst nach Tar Valon zu gehen? Wenn Eure eigenen Fähigkeiten im Gebrauch der Macht nicht geschult werden, werdet Ihr auch nie in der Lage sein, sie gegen mich einzusetzen.«

Nynaeve fuhr herum und blickte mit offenem Mund die Aes Sedai an. Sie konnte es nicht vermeiden. »Ich weiß nicht, wovon Ihr sprecht.«

»Habt Ihr geglaubt, ich wisse das nicht, Kind? Aber wie Ihr wünscht. Ich nehme also an, Ihr kommt mit nach Tar Valon? Ja, ich dachte es mir.«

Nynaeve wollte sie am liebsten schlagen und das flüchtige Lächeln, das über das Gesicht der Aes Sedai huschte, wegprügeln. Aes Sedai waren seit der Zerstörung nicht in einer Position gewesen, ganz offen Macht zu ergreifen, geschweige denn die Eine Macht offen anzuwenden, aber sie intrigierten und manipulierten, zogen Fäden wie Marionettenspieler, benützten Throne und Nationen als Steine auf einem Spielbrett. Irgendwie will sie mich auch benutzen. Wenn schon einen König oder eine Königin, warum dann nicht auch eine Seherin? Genauso wie bei Rand. Ich bin kein Kind mehr, Aes Sedai.

»Was werdet Ihr jetzt mit Rand anfangen? Habt Ihr ihn noch nicht genug benützt? Ich weiß nicht, warum Ihr ihm keine Dämpfung angedeihen lassen habt, nachdem ja jetzt die Amyrlin mit all diesen anderen Aes Sedai hier ist, aber Ihr werdet schon einen Grund haben. Das muß wieder so eine Intrige sein, die Ihr ausgebrütet habt. Wenn die Amyrlin wüßte, was Ihr vorhabt, dann wette ich, sie... «

Moiraine schnitt ihr das Wort ab. »Welches Interesse könnte die Amyrlin schon an einem Schäfer haben? Natürlich, wenn ihre Aufmerksamkeit auf die falsche Weise auf ihn gelenkt würde, könnte es sein, daß er gedämpft oder sogar getötet würde. Schließlich ist er ja, was er ist. Und es herrscht ein beachtlicher Zorn wegen letzter Nacht. Jeder sucht nach einem Schuldigen.« Die Aes Sedai schwieg, und das Schweigen zog sich in die Länge. Nynaeve blickte sie an und knirschte mit den Zähnen.

»Ja«, sagte Moiraine schließlich, »es ist viel besser, keine schlafenden Löwen zu wecken. Am besten kümmert Ihr Euch jetzt um Euer Gepäck.« Sie ging in die gleiche Richtung weg, in die Lan gegangen war. Sie schien dabei über den Boden zu gleiten.

Nynaeve zog eine Grimasse und schlug mit der Faust gegen die Wand. Der Ring schnitt ihr in die Handfläche. Sie öffnete die Hand und sah ihn an. Der Ring schien ihren Zorn noch anzuheizen. Er wirkte wie ein Brennpunkt für ihren Haß. Ich werde es lernen. Du glaubst, du kannst mir entkommen, weil du es bereits kannst. Aber ich werde es besser lernen, als du glaubst, und ich werde dich stürzen. Du hast schon zuviel angestellt. Ich werde vergelten, was du Mat und Perrin angetan hast. Und Rand — Das Licht helfe ihm, und der Schöpfer beschütze ihn. Ganz besonders um Rands willen. Ihre Hand schloß sich um den schweren Goldreif. Und auch meinetwegen.

Egwene sah zu, wie das livrierte Stubenmädchen ihre Kleider zusammenfaltete und in eine lederbezogene Reisetruhe legte. Sie fühlte sich auch nach beinahe einem Monat der Übung immer noch nicht wohl dabei, wenn jemand anders machte, was sie gut auch selbst tun könnte. Es waren solch schöne Kleider, alles Geschenke von Lady Amalisa, wie auch das grauseidene Reitkleid, das sie trug, obwohl das einfach gestaltet war, lediglich mit ein paar auf die Brust gestickten weißen Morgensternchenblüten verziert. Viele der anderen Kleider waren dagegen reich geschmückt. Jedes davon würde am Sonnentag oder jedem anderen Festtag besonders auffallen. Sie seufzte, als sie daran dachte, daß sie am nächsten Sonnentag nicht in Emondsfeld, sondern in Tar Valon sein würde. Aus dem wenigen, was ihr Moiraine über die Ausbildung der Novizinnen erzählt hatte — wirklich beinahe gar nichts —schloß sie, daß sie möglicherweise noch nicht einmal im Frühling zum Sonnentag zu Hause sein würde.

Nynaeve steckte den Kopf ins Zimmer. »Bist du fertig?« Sie kam vollends herein. »Wir müssen bald unten im Hof sein.« Auch sie trug ein Reitkleid aus blauer Seide mit roten Schleifen auf dem Busen. Ein weiteres Geschenk von Amalisa.

»Beinahe, Nynaeve. Es tut mir fast schon leid, abreisen zu müssen. Ich glaube kaum, daß wir in Tar Valon viele Gelegenheiten haben werden, die schönen Kleider zu tragen, die uns Amalisa gab.« Sie lachte kurz auf. »Aber, liebe Seherin, ich werde es nicht vermissen, mich beim Baden ständig umschauen zu müssen, ob ein Mann kommt.«

»Es ist viel besser, allein zu baden«, sagte Nynaeve kurz angebunden. Ihr Gesichtsausdruck änderte sich nicht, doch nach einem Moment färbten sich ihre Wangen rot.

Egwene lächelte. Sie denkt an Lan. Es war immer noch ein eigenartiges Gefühl, sich vorzustellen, daß Nynaeve, die Seherin, hinter einem Mann her war. Sie hielt es nicht für diplomatisch, das Nynaeve so deutlich wissen zu lassen, aber in letzter Zeit hatte sich die Seherin manchmal wirklich genauso versponnen benommen wie jedes Mädchen, das ihr Herz an einen bestimmten Mann verloren hatte. Und dann noch an einen, der nicht genug Verstand hatte, um ihrer würdig zu sein. Sie liebt ihn und ich kann sehen, daß auch er sie liebt, also warum kann er ihr das nicht sagen?

»Ich glaube nicht, daß du mich noch länger Seherin nennen solltest«, sagte Nynaeve plötzlich.

Egwene riß die Augen auf. Es wurde natürlich nicht ausdrücklich verlangt und Nynaeve bestand auch nicht auf dieser Anrede, außer, sie war wütend oder besonders formell, aber das jetzt... »Warum denn nicht?«

»Du bist jetzt eine Frau.« Nynaeve sah ihr offen getragenes Haar an, und Egwene widerstand gerade eben noch dem Drang, es hastig zu einer Art von Zopf zusammenzuzwirbeln. Aes Sedai trugen das Haar, wie sie wollten, aber für sie war das offen getragene Haar zu einem Symbol für einen Neuanfang in ihrem Leben geworden. »Du bist eine Frau«, wiederholte Nynaeve mit fester Stimme. »Wir sind zwei Frauen, weit von Emondsfeld entfernt, und es wird lange dauern, bis wir die Heimat wiedersehen. Es ist besser, du nennst mich einfach Nynaeve.«

»Wir werden die Heimat wiedersehen, Nynaeve. Ganz bestimmt!«

»Versuche nicht, die Seherin zu beruhigen, Mädchen«, sagte Nynaeve barsch, aber sie lächelte dabei.

Es klopfte an die Tür, aber bevor Egwene sie öffnen konnte, trat bereits Nisura ganz aufgeregt ein. »Egwene, dein junger Mann versucht, in die Frauenquartiere hereinzukommen!« Sie klang entrüstet. »Und er trägt ein Schwert. Nur, weil ihn die Amyrlin so hereinkommen ließ... Lord Rand sollte es besser wissen. Er zettelt damit einen Aufstand an. Egwene, du mußt mit ihm sprechen.«

»Lord Rand«, schnaubte Nynaeve. »Dieser junge Mann wird entschieden zu aufgeblasen. Ich werde ihm den Lord schon geben, wenn ich ihn in die Hände bekomme.«

Egwene legte eine Hand auf Nynaeves Arm. »Laß mich mit ihm sprechen, Nynaeve. Allein.«

»Ach, ja, ist schon gut. Selbst die besten Männer haben höchstens einigermaßen gute Manieren.« Nynaeve unterbrach sich und fügte dann mehr zu sich selbst hinzu: »Aber andererseits sind die besten es auch wert, daß man ihnen Manieren beibringt.«

Egwene schüttelte den Kopf, als sie Nisura in den Gang folgte. Noch vor einem halben Jahr hätte Nynaeve den zweiten Teil niemals hinzugefügt. Aber Lan bringt sie niemals Manieren bei. Ihre Gedanken wandten sich Rand zu. Verursacht einen Aufstand. Tatsächlich? »Ihm Manieren beibringen?« murmelte sie. »Wenn er jetzt noch keine Manieren gelernt hat, werde ich ihm die Haut bei lebendigem Leib abziehen.«

»Das muß wohl manchmal sein«, sagte Nisura. Sie ging mit schnellen Schritten weiter. »Männer sind nicht mehr als halbzivilisiert, bis sie verheiratet sind.« Sie sah Egwene von der Seite her an. »Hast du vor, Lord Rand zu heiraten? Ich will ja nicht bohren, aber du gehst zur Weißen Burg, und Aes Sedai heiraten selten — höchstens ein paar der Grünen Ajah, soweit ich je gehört habe, und auch von denen nicht viele — und... «

Egwene konnte sich den Rest denken. Sie hatte den Klatsch in den Frauenquartieren wohl vernommen, als über eine passende Frau für Rand gesprochen wurde. Zuerst hatte das in ihr Stiche der Eifersucht und auch Zorn hervorgerufen. Er war ihr doch praktisch versprochen worden, seit sie Kinder waren. Aber sie würde eine Aes Sedai werden, und er war, was er nun eben war. Ein Mann, der die Macht beherrschte. Sie konnte ihn heiraten. Und dann zuschauen, wie er dem Wahnsinn verfiel und wie er starb. Der einzige Weg, das zu verhindern, wäre, ihn einer Dämpfung zuzuführen. Das kann ich ihm nicht antun Ich kann nicht! »Ich weiß nicht«, sagte sie traurig.

Nisura nickte. »Niemand wird dir in die Quere kommen, wo du ältere Rechte hast, aber du gehst zur Weißen Burg, und er wird einmal ein guter Ehemann. Wenn er einmal dazu erzogen wurde. Da ist er.«

Die Frauen, die sich sowohl innen wie auch außerhalb des Eingangs zu den Frauenquartieren versammelt hatten, beobachteten alle drei Männer im Vorraum. Da stand Rand mit dem über den roten Mantel gegürteten Schwert, und ihm gegenüber standen Agelmar und Kajin. Keiner der beiden trug ein Schwert, selbst nach den Ereignissen dieser Nacht. Das hier waren immer noch die Frauenquartiere. Egwene blieb hinter den anderen stehen.

»Ihr versteht doch, warum Ihr nicht hineingehen könnt«, sagte Agelmar. »Ich weiß, daß in Andor andere Sitten herrschen, aber versteht Ihr trotzdem?«

»Ich habe überhaupt nicht versucht hineinzugehen.« Rands Stimme klang, als habe er das schon mehr als einmal erklärt. »Ich sagte Lady Nisura, daß ich Egwene sprechen wolle, und sie sagte, Egwene sei beschäftigt und ich müsse warten. Alles, was ich tat, war, von der Tür aus nach ihr zu rufen! Ich habe nicht versucht einzutreten. Man könnte denken, ich hätte den Dunklen König beim Namen genannt, so haben sie mich alle angestarrt.«

»Frauen haben ihre Eigenarten«, sagte Kajin. Er war groß für einen Schienarer, beinahe so groß wie Rand, schlacksig und blaß. Sein Haarknoten war pechschwarz. »Sie stellen die Regeln für die Frauenquartiere auf, und wir halten uns daran, selbst wenn sie unsinnig sind.« Unter den Frauen zogen einige bei seinen Worten die Augenbrauen hoch, und er räusperte sich hastig. »Ihr müßt eine Nachricht hineinschicken, wenn Ihr mit einer der Frauen sprechen wollt, aber die Nachricht wird dann überbracht, wenn sie es wollen, und bis dahin müßt Ihr warten. So ist es Brauch bei uns.«

»Ich muß sie sehen«, sagte Rand stur. »Wir reisen bald ab. Nicht früh genug für mich, aber ich muß Egwene trotzdem noch sehen. Wir werden das Horn von Valere und den Dolch zurückholen, und damit fertig. Dann ist Schluß. Aber ich will sie noch sehen, bevor ich losreite.« Egwene runzelte die Stirn. Das klang so eigenartig.

»Es ist nicht nötig, deshalb so wild zu werden«, sagte Kajin. »Ihr und Ingtar werdet das Horn entweder finden oder nicht. Wenn nicht, holt es jemand anders zurück. Das Rad webt, wie das Rad es wünscht, und wir sind nur Fäden im Muster.«

»Laßt Euch nicht vom Horn beherrschen, Rand«, sagte Agelmar. »Es kann einen Mann wirklich packen — ich weiß ein Lied davon zu singen —, und das sollte nicht geschehen. Ein Mann muß seine Pflicht suchen und nicht den Ruhm. Was geschehen soll, das wird geschehen. Wenn das Horn von Valere für das Licht erklingen soll, dann wird es das.«

»Hier ist ja Eure Egwene«, sagte Kajin, der sie im Hintergrund ausgemacht hatte.

Agelmar sah sich um und nickte, als er sie mit Nisura entdeckte. »Ich werde Euch ihr überlassen, Rand al'Thor. Denkt daran, daß hier ihr Wort Gesetz ist, und nicht Eures. Lady Nisura, seid nicht zu böse auf ihn. Er wollte nur seine junge Frau sehen, und er kennt unsere Sitten nicht.«

Egwene folgte Nisura, als die Schienarerin sich einen Weg durch die Zuschauerinnen bahnte. Nisura neigte kurz den Kopf in Richtung Agelmar und Kajin. Sie ignorierte Rand ganz eindeutig dabei. Ihre Stimme klang angespannt. »Lord Agelmar. Lord Kajin. Er sollte mittlerweile unsere Sitten zur Genüge kennen, aber da er zu groß ist, um gezüchtigt zu werden, werde ich ihn Egwene überlassen.«

Agelmar klopfte Rand väterlich auf die Schulter. »Seht Ihr? Ihr werdet mit ihr sprechen, wenn auch nicht genau auf die Weise, wie Ihr es wolltet. Kommt, Kajin. Wir müssen uns noch um vieles kümmern. Die Amyrlin besteht noch darauf...« Seine Stimme verklang, als er mit dem anderen Mann wegging. Rand stand da und sah Egwene an.

Egwene wurde es bewußt, daß die Frauen sie immer noch beobachteten. Sie ebenso wie Rand. Sie warteten darauf, was sie unternehmen würde. Also sollte ich ihn wohl jetzt herunterputzen, ja? Und doch fühlte sie, wie ihr Herz ihm zuflog. Sein Haar benötigte wieder einmal einen Kamm. In seinem Gesicht standen Ärger, Trotz und Erschöpfung geschrieben. »Komm mit mir«, forderte sie ihn auf. Hinter ihr murrten die Frauen, als er neben ihr den Flur hinunterging, weg von den Frauenquartieren. Rand schien mit sich selbst zu kämpfen. Er suchte nach Worten.

»Ich habe von deinen... Eskapaden gehört«, sagte sie schließlich. »Letzte Nacht bist du mit einem Schwert in der Hand durch die Frauenquartiere gerannt. Zur Audienz bei der Amyrlin hast du ein Schwert getragen.« Er sagte immer noch nichts und ging nur mit finsterem, zu Boden gerichteten Blick neben ihr her. »Sie hat... sie hat dir nichts getan, oder?« Sie konnte sich nicht dazu überwinden, ihn zu fragen, ob er eine Dämpfung erfahren habe. Er wirkte nicht so, aber sie wußte freilich nicht, wie ein Mann danach aussah.

Er zuckte ein wenig. »Nein. Sie hat mich nicht... Egwene, die Amyrlin... « Er schüttelte den Kopf. »Sie hat mir nichts getan.«

Sie hatte das Gefühl, er habe eigentlich etwas ganz anderes sagen wollen. Normalerweise konnte sie herausbekommen, was er vor ihr verbergen wollte, aber wenn er einmal wirklich stur bleiben wollte, hätte sie noch leichter einen Backstein mit den Fingernägeln aus der Wand kratzen können. Nach der Haltung seines Kinns zu schließen, hatte er gerade seine allersturste Phase.

»Was wollte sie von dir, Rand?«

»Nichts Wichtiges. Ta'veren. Sie wollte die ta'veren kennenlernen.« Sein Gesichtsausdruck wurde weicher, als er zu ihr hinunterblickte. »Wie geht es dir denn, Egwene? Fühlst du dich wieder wohl? Moiraine meinte, es werde dir wieder gut gehen, aber du warst so still. Zuerst glaubte ich, du seist tot.«

»Nein, bin ich nicht«, lachte sie. Sie konnte sich an nichts erinnern, was geschehen war, nachdem sie Mat gebeten hatte, mit ihr in den Kerker zu gehen. Ihr Gedächtnis setzte dort wieder ein, als sie an jenem Morgen in ihrem eigenen Bett erwacht war. Nachdem sie alles über diese Nacht erfahren hatte, war sie beinahe froh darüber, sich an nichts erinnern zu können. »Moiraine sagte, wenn sie nur einen Teil hätte heilen können und nicht alles an mir, dann hätte sie mir kräftige Kopfschmerzen gelassen, weil ich so idiotisch war. Aber das ging nun mal nicht.«

»Ich sagte dir doch, daß Fain gefährlich ist«, sagte er leise. »Ich habe es dir gesagt, aber du wolltest nicht hören.«

»Wenn du weiter so mit mir reden willst«, meinte sie energisch, »dann übergebe ich dich wieder Nisura. Sie wird anders mit dir umgehen als ich. Der letzte Mann, der versucht hat, sich in die Frauenquartiere einzuschleichen, hat den nächsten Monat bis zu den Ellbogen in Seifenwasser verbracht. Er mußte den Frauen beim Wäschewaschen helfen, und dabei wollte er doch nur seine Verlobte besuchen und sich für einen Streit entschuldigen. Aber wenigstens war er so schlau, sein Schwert nicht zu tragen. Das Licht weiß, was sie mit dir anfangen würden.«

»Jeder will irgend etwas mit mir anfangen«, grollte er. »Jeder will mich zu irgend etwas benutzen. Aber ich werde mich nicht benutzen lassen. Wenn wir einmal das Horn und Mats Dolch gefunden haben, werde ich mich nie wieder benutzen lassen.«

Mit einem ungeduldigen Laut packte sie ihn bei den Schultern und zog ihn herum, damit er sie ansah. Sie funkelte zu ihm hinauf. »Wenn du nicht langsam mal vernünftig redest, Rand al'Thor, schwöre ich, daß ich dir die Ohren langziehen werde.«

»Jetzt klingst du wie Nynaeve«, lachte er. Doch als er zu ihr hinunterblickte, verflog sein Lachen. »Ich schätze —ich schätze, daß ich dich nie wieder sehen werde. Ich weiß, daß du nach Tar Valon mußt. Das ist klar. Und du wirst eine Aes Sedai. Ich bin mit den Aes Sedai fertig, Egwene. Ich werde nicht die Marionette für sie spielen, nicht für Moiraine oder irgendeine andere.«

Er wirkte so verloren, daß sie am liebsten seinen Kopf an ihre Schulter gebettet hätte, und gleichzeitig so starrköpfig, daß sie ihn wirklich an den Ohren ziehen wollte. »Hör mir mal zu, du großer Hornochse. Ich werde eine Aes Sedai, und ich werde trotzdem einen Weg finden, dir zu helfen. Ganz bestimmt.«

»Wenn du mich das nächste Mal siehst, wirst du mich wahrscheinlich dämpfen wollen.«

Sie sah sich hastig um. Sie waren allein in diesem Teil des Flurs. »Wenn du deine Zunge nicht hütest, kann ich dir auch nicht helfen. Willst du, daß es jeder erfährt?«

»Zu viele wissen es bereits«, sagte er. »Egwene, ich wünschte, die Lage sei anders, aber es ist nun mal nicht so. Ich wünschte... Paß auf dich auf. Und versprich mir, daß du dich nicht für die Roten Ajah entscheiden wirst.«

Tränen ließen ihren Blick verschwimmen, als sie die Arme um ihn schlang. »Und du paßt bitte auf dich auf«, sagte sie energisch zu seiner Brust. »Wenn nicht, dann werde ich... ich werde... « Sie glaubte, ihn murmeln zu hören: »Ich liebe dich«, und dann drückte er kraftvoll ihre Arme von sich und schob sie sanft weg. Er drehte sich um und ging fort. Er rannte beinahe.

Sie fuhr zusammen, als Nisura ihren Arm berührte. »Er sieht aus, als hättest du ihm eine Aufgabe erteilt, die ihm nicht gefällt. Aber du darfst ihn nicht sehen lassen, daß du seinetwegen weinst. Das schwächt deine Position.

Komm! Nynaeve verlangt nach dir.«

Egwene wischte sich über die Wangen und folgte der anderen Frau. Paß auf dich auf, du wollköpfiger Tolpatsch. Licht, behüte ihn!

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