24 Neue Freunde und alte Feinde

Egwene folgte der Aufgenommenen durch die Säle der Weißen Burg. Gobelins und Gemälde bedeckten Wände, die genauso weiß waren wie die Außenmauern der Burg. Der Fußboden war mit gemusterten Platten ausgelegt. Das weiße Kleid der Aufgenommenen sah genauso aus wie ihres; nur am Saum und an den Manschetten befanden sich jeweils sieben dünne Farbbänder. Egwene runzelte die Stirn, als sie das Kleid betrachtete. Seit gestern trug auch Nynaeve das Kleid der Aufgenommenen, aber sie schien daran keine Freude zu haben, so wenig wie an dem goldenen Ring — einer Schlange, die den eigenen Schwanz fraß —, der ihren Rang anzeigte. Egwene hatte die Seherin nur ein paarmal getroffen, doch über Nynaeves Augen schien ein Schatten zu liegen, als habe sie Dinge gesehen, die sie von ganzem Herzen ungesehen zu machen wünsche.

»Hier herein«, sagte die Aufgenommene kurz angebunden und deutete auf eine Tür. Sie hieß Pedra und war eine kleine drahtige Frau, ein wenig älter als Nynaeve, und ihre Stimme klang immer so kurz angebunden. »Euch sei diese Freizeit gestattet, weil es Euer erster Tag hier ist, aber ich erwarte Euch in der Spülküche, sobald der Gong die Hohe Stunde schlägt, und keinen Augenblick später.«

Egwene knickste und streckte dem Rücken der Davonschreitenden die Zunge hinaus. Es war vielleicht nur einen Abend her, daß Sheriam ihren Namen endlich in das Novizinnenregister eingetragen hatte, aber sie war sich bereits darüber im klaren, daß sie Pedra nicht leiden konnte. Sie drückte die Tür auf und trat ein.

Das Zimmer war einfach und klein und hatte weißgetünchte Wände. Drinnen befand sich eine junge Frau mit rotgoldenem, bis auf die Schultern herunterhängendem Haar, die auf einer der beiden harten Bänke saß. Der Fußboden war kahl; Novizinnen hatten nicht viel Verwendung für Zimmer mit Teppichen. Das Mädchen war ungefähr in ihrem Alter, doch es lagen eine solche Würde und Selbstsicherheit in seiner Haltung, daß es älter wirkte. An ihr sah das einfach geschnittene Kleid der Novizinnen wie eine Robe aus. Elegant. Ja, das war es.

»Ich heiße Elayne«, sagte sie. Sie hielt den Kopf schräg und musterte Egwene. »Und du bist Egwene. Aus Emondsfeld in den Zwei Flüssen.« Sie sagte das, als habe es eine besondere Bedeutung, fuhr aber sogleich fort: »Einer neuen Novizin wird immer ein paar Tage lang eine Novizin beigegeben, die schon eine Weile hier ist, um ihr beim Zurechtfinden behilflich zu sein. Setz dich bitte.«

Egwene setzte sich auf die Bank Elayne gegenüber. »Ich dachte, jetzt, da ich endlich Novizin bin, würde ich von Aes Sedai unterrichtet. Aber bisher hat mich nur Pedra gute zwei Stunden vor Tagesanbruch geweckt und die Flure fegen lassen. Sie sagt, nach dem Essen müsse ich helfen, das Geschirr abzuwaschen.«

Elayne verzog das Gesicht. »Ich hasse das Abspülen. Ich mußte das nie... Na ja, es spielt keine Rolle. Du wirst unterrichtet. Von jetzt an wirst du um diese Zeit jeden Tag im Unterricht sein. Vom Frühstück bis zur Hohen Stunde und dann wieder vom Mittagessen bis zur Drittstunde. Wenn du besonders schnell oder besonders langsam lernst, dann geht es vielleicht nach dem Abendessen noch weiter bis zur Vollen Stunde, aber normalerweise mußt du zu der Zeit noch mehr Haushaltsarbeiten erledigen.« Elaynes blaue Augen blickten nachdenklich drein. »Du wurdest mit dem Talent geboren, nicht wahr?« Egwene nickte. »Ja, ich fühlte es. Bei mir war es genauso. Es war auch angeboren. Sei nicht enttäuscht, wenn du es nicht bemerkt hast. Du wirst noch lernen, das Talent anderer Frauen zu fühlen. Ich hatte den Vorteil, in der Nähe einer Aes Sedai aufzuwachsen.«

Egwene wollte schon danach fragen — Wer wächst schon in der Nähe einer Aes Sedai auf? —, aber Elayne sprach weiter: »Und sei auch nicht enttäuscht, wenn es einige Zeit dauert, bevor du etwas zustande bringst. Mit der Einen Macht, meine ich. Selbst die einfachsten Sachen brauchen ein wenig Zeit. Geduld ist eine Tugend, die man lernen muß.« Ihre Nase krauste sich ein wenig. »Sheriam Sedai sagt das immer, und sie tut ihr Bestes, damit wir das alle lernen. Versuch zu rennen, wenn sie sagt, du sollst gehen, und sie hat dich einen Wimpernschlag später schon in ihrem Büro.«

»Ich habe auch schon ein paar Lektionen erhalten«, sagte Egwene und bemühte sich, bescheiden zu klingen. Sie öffnete sich Saidar — das war mittlerweile leichter geworden — und fühlte, wie die Wärme ihren Körper durchdrang. Sie beschloß, das Größte zu versuchen; was sie bisher gelernt hatte. Sie streckte die Hand aus, und über ihr formte sich eine glühende Kugel aus purem Licht. Sie flackerte — sie brachte es noch nicht fertig, das Licht stetig zu halten —, aber sie war immerhin da.

Ruhig streckte auch Elayne die Hand aus, und über der Handfläche erschien eine Lichtkugel. Auch sie flackerte.

Einen Moment später nahm Egwene einen schwachen Lichtschein um Elayne herum wahr. Sie schnappte nach Luft, und ihre Lichtkugel verschwand.

Elayne kicherte, und auch ihr Licht erlosch, sowohl die Kugel als auch der Schein rundum. »Du hast es gesehen, dieses Licht, das mich umgab?« fragte sie aufgeregt. »Ich habe es bei dir gesehen. Sheriam Sedai sagt, das käme früher oder später. Aber dies war das erste Mal. Bei dir auch?«

Egwene nickte und schloß sich dem Lachen des anderen Mädchens an. »Du gefällst mir, Elayne. Ich glaube, wir werden Freundinnen.«

»Das glaube ich auch, Egwene. Du kommst von den Zwei Flüssen, aus Emondsfeld. Kennst du da einen Jungen namens Rand al'Thor?«

»Ich kenne ihn.« Plötzlich fiel Egwene eine Geschichte ein, die Rand erzählt und die sie nicht geglaubt hatte, wie er von einer Gartenmauer gefallen war und dort... »Du bist die Tochter-Erbin von Andor«, japste sie.

»Ja«, sagte Elayne schlicht und einfach. »Wenn Sheriam Sedai hört, daß ich das auch nur erwähne, wäre ich wahrscheinlich schon in ihrem Büro, bevor ich noch ausgesprochen hätte.«

»Jede redet davon, in Sheriams Büro gerufen zu werden. Sogar die Aufgenommenen. Schimpft sie so schlimm? Sie scheint mir so freundlich.«

Elayne zögerte, und als sie dann sprach, klang es bedächtig. Sie sah Egwene dabei nicht an. »Sie hat eine Weidenrute auf ihrem Schreibtisch. Sie sagt, wenn du nicht auf anständige Weise lernst, dich an die Regeln zu halten, dann lehrt sie es dich auf andere Art. Es gibt so viele Vorschriften für Novizinnen, da ist es schwer, keine davon zu übertreten«, endete sie.

»Aber das ist ja — fürchterlich! Ich bin kein Kind und du auch nicht. Ich lasse mich doch nicht als Kind behandeln.«

»Aber wir sind Kinder. Die Aes Sedai, die vollen Schwesternstatus haben, das sind die erwachsenen Frauen. Die Aufgenommenen sind die jungen Frauen, gerade alt genug, daß ihnen nicht die ganze Zeit jemand über die Schulter gucken muß. Und die Novizinnen sind die Kinder, die beschützt und versorgt werden, die zum Ziel geleitet werden müssen und die man bestraft, wenn sie unartig waren. So erklärt es Sheriam Sedai. Niemand wird dich deines Unterrichts wegen bestrafen, außer du versuchst etwas, das man dir verboten hat. Manchmal ist es schwer, nichts auszuprobieren. Du wirst feststellen, daß du die Macht benützen willst, genauso selbstverständlich, wie du atmest. Aber wenn du zu viele Teller zerbrichst, weil du träumst, anstatt abzuwaschen, oder wenn du einer Aufgenommenen nicht den nötigen Respekt zollst oder die Burg ohne Erlaubnis verläßt, oder eine Aes Sedai ansprichst, bevor sie dich anspricht, oder... Du kannst eben nur dein Bestes geben. Etwas anderes zählt nicht.«

»Das klingt fast so, als ob wir uns wünschen sollen, von hier wegzugehen«, protestierte Egwene.

»Das nicht — aber auf gewisse Weise vielleicht doch. Egwene, es gibt nur vierzig Novizinnen in der Burg. Nur vierzig, und höchstens sieben oder acht werden schließlich Aufgenommene. Das sind einfach nicht genug, sagt Sheriam Sedai. Sie sagt, es gibt jetzt schon nicht genug Aes Sedai, um die Aufgaben zu erfüllen, die erfüllt werden müssen. Aber die Burg kann und wird ihre Ansprüche nicht zurückschrauben. Die Aes Sedai können keine Frau zur Schwester machen, der die Fähigkeiten und die Kraft und der Wille fehlen. Sie können den Ring und die Stola keiner verleihen, die die Macht nicht genügend sicher beherrscht oder die sich einschüchtern läßt, oder die umkehrt, sobald Schwierigkeiten auftauchen.

Unterricht und Prüfungen schulen das Talent, und was die Kraft und den Willen betrifft... Na ja, wenn du gehen willst, lassen sie dich gehen. Sobald du genug weißt, daß du dort draußen nicht gerade an deiner Unwissenheit scheiterst.«

»Ja«, sagte Egwene bedächtig, »Sheriam hat uns etwas Ähnliches erzählt. Ich habe allerdings nie daran gedacht, daß es zu wenig Aes Sedai geben könnte.«

»Sie hat eine Theorie. Wir haben die Menschheit zu sehr ausgelesen. Weißt du, was damit gemeint ist? Wenn man alle jene Tiere aus der Herde ausschließt, die unerwünschte Eigenschaften zeigen.« Egwene nickte ungeduldig. Niemand wuchs in einem Schafzuchtgebiet auf und wußte nichts von Ausleseverfahren. »Sheriam Sedai sagt, nachdem die Roten Ajah dreitausend Jahre lang Männer mit der Fähigkeit, die Macht zu gebrauchen, verfolgt haben, züchten wir diese Fähigkeit in uns allen zurück. Sie verschwindet langsam. Ich würde das allerdings nicht in der Nähe einer Roten äußern, wenn ich du wäre. Sheriam Sedai hat so manche Auseinandersetzung mit ihnen gehabt, und wir sind nur Novizinnen.«

»Das werde ich bestimmt nicht tun.«

Elayne schwieg und fragte dann: »Geht es Rand gut?«

Egwene fühlte einen plötzlichen Stich, einen Anfall von Eifersucht — Elayne war sehr hübsch —, aber er wurde überlagert von einem noch stärkeren Angstgefühl. Sie überflog im Geist noch einmal das wenige, was sie über Rands Zusammentreffen mit der Tochter-Erbin wußte, und sie beruhigte sich: Elayne konnte auf keinen Fall wissen, daß Rand die Macht benutzte.

»Egwene?«

»Es geht ihm den Umständen entsprechend gut.« Ich hoffe, es geht ihm wirklich gut, dem wollköpfigen Narren. »Als ich ihn zuletzt sah, ritt er mit einigen schienarischen Soldaten weg.«

»Schienarer! Und er sagte mir, er sei Schafhirte.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich merke, daß ich zu den unmöglichsten Zeiten an ihn denke. Elaida hält ihn auch auf irgendeine Art für wichtig. Sie hat das nicht direkt gesagt, aber sie ließ nach ihm suchen und war wütend, als sie hörte, daß er Caemlyn verlassen hatte.«

»Elaida?«

»Elaida Sedai. Die Ratgeberin meiner Mutter. Sie ist eine Rote, aber trotzdem scheint Mutter sie zu mögen.«

Egwenes Mund war ziemlich trocken. Rote Ajah — und an Rand interessiert. »Ich — ich weiß nicht, wo er sich jetzt befindet. Er hat Schienar verlassen, und ich glaube nicht, daß er zurückkehren wollte.«

Elayne warf Egwene einen beruhigenden Blick zu. »Ich würde Elaida nicht sagen, wo er ist, auch wenn ich es wüßte, Egwene. Er hat meines Wissens nichts Böses getan, und ich fürchte, sie will ihn auf irgendeine Art benutzen. Außerdem habe ich sie seit dem Tag unserer Ankunft hier nicht mehr gesehen. Wir hatten Weißmäntel auf den Fersen. Sie lagern immer noch am Abhang des Drachenbergs.« Plötzlich sprang sie auf. »Laß uns von schöneren Dingen reden! Es sind noch zwei andere hier, die Rand kennen, und ich würde dich einer davon gern vorstellen.« Sie nahm Egwenes Hand und zog sie aus dem Zimmer.

»Zwei Mädchen? Rand scheint eine Menge Mädchen zu treffen.«

»Mmmmm?« Elayne zog Egwene noch weiter durch den Korridor, musterte sie aber dabei eingehend. »Ja. Na ja. Eine von ihnen ist eine faule Schlampe namens Else Grinwell. Ich glaube nicht, daß sie lange hierbleibt. Sie vernachlässigt ihre Pflichten und stiehlt sich immer fort, um den Behütern beim Üben mit ihren Schwertern zuzusehen. Sie behauptet, Rand sei mit einem Freund zum Hof ihres Vaters gekommen. Mat. Es scheint, sie haben ihr in bezug auf die Welt außerhalb ihres Dorfs einen Floh ins Ohr gesetzt, und so rannte sie weg, um Aes Sedai zu werden.«

»Männer«, murmelte Egwene. »Ich tanze ein paarmal mit einem netten Jungen, und Rand läuft herum, als habe er Zahnschmerzen, aber er...« Sie brach ab, als vor ihnen ein Mann in den Gang trat. Neben ihr blieb auch Elayne stehen, und ihre Hand faßte die Egwenes fester.

Abgesehen von seinem plötzlichen Auftreten war nichts Bedrohliches an ihm. Er war groß und gutaussehend, von beinahe schon mittlerem Alter und trug sein dunkles lockiges Haar lang. Doch seine Schultern hingen herab, und in seinem Blick lag Trauer. Er bewegte sich nicht auf Egwene und Elayne zu, sondern stand einfach nur da und sah sie an, bis eine der Aufgenommenen hinter ihm erschien.

»Ihr solltet nicht hier drinnen sein«, sagte sie nicht unfreundlich zu ihm.

»Ich wollte spazierengehen.« Seine Stimme war tief und genauso traurig wie seine Augen.

»Ihr könnt draußen im Garten spazierengehen, wo Ihr Euch aufhalten solltet. Der Sonnenschein wird Euch guttun.«

Der Mann lachte bitter auf. »Wo zwei oder drei von Euch jede meiner Bewegungen beobachten? Ihr habt doch nur Angst, daß ich ein Messer finden könnte.« Der Blick in den Augen der Aufgenommenen brachte ihn erneut zum Lachen. »Für mich selbst, Frau. Für mich. Führt mich in Euren Garten und zu Euren wachenden Augen.«

Die Aufgenommene berührte leicht seinen Arm und führte ihn weg.

»Logain«, sagte Elayne, als er weg war. »Der falsche Drache!«

»Er wurde der Dämpfung unterzogen, Egwene. Jetzt ist er nicht gefährlicher als jeder andere Mann. Aber ich erinnere mich daran — als ich ihn vorher sah —, daß sechs Aes Sedai nötig waren, um ihn davon abzuhalten, die Macht zu benützen und uns alle zu zerstören.« Sie schauderte.

Egwene überlief es auch kalt. Das also würden die Roten auch mit Rand machen.

»Müssen sie eigentlich immer der Dämpfung unterzogen werden?« fragte sie. Elayne sah sie mit offenem Mund an, und so fügte sie schnell hinzu: »Ich denke nur, daß die Aes Sedai einen anderen Weg finden könnten, mit ihnen umzugehen. Anaiya und Moiraine sagten, daß die größten Werke im Zeitalter der Legenden von Männern und Frauen gemeinsam mit Hilfe der Macht geschaffen wurden. Ich dachte mir daher, sie würden versuchen, wieder einen Weg in diese Richtung zu finden.«

»Also, laß das bitte keine Rote Schwester hören, auch wenn du nur laut denkst. Egwene, sie haben es versucht. Dreihundert Jahre lang, nachdem die Weiße Burg erbaut war, haben sie es versucht. Sie gaben es auf, weil sie keinen Erfolg hatten. Komm weiter. Ich möchte dir Min vorstellen. Aber — dem Licht sei Dank — nicht in dem Garten, in dem Logain spazierengeht.«

Der Name kam Egwene irgendwie bekannt vor, und als sie die junge Frau sah, wußte sie auch, warum. Ein schmaler Bach floß durch den Garten, mit einer niedrigen Steinbrücke darüber, und auf der Seitenmauer der Brücke saß Min mit übergeschlagenen Beinen. Sie trug hautenge Männerhosen und ein weites Hemd, und da ihr dunkles Haar kurzgeschnitten war, konnte man sie beinahe für einen Jungen halten, allerdings für einen ungewöhnlich hübschen. Neben ihr auf der Brüstung lag ein grauer Mantel.

»Ich kenne dich«, sagte Egwene. »Du hast in der Schenke in Baerlon gearbeitet.« Eine leichte Brise kräuselte das Wasser unter der Brücke zu kleinen Wellen, und in den Bäumen des Gartens sangen die Graufinken.

Min lächelte. »Und du warst eine von denen, die uns die Schattenfreunde auf den Hals schickten, die die Schenke niederbrannten. Nein, mach dir keine Gedanken. Der Bote, der mich holen kam, brachte genug Gold mit, so daß Meister Fitch sie doppelt so groß wieder aufbaut. Guten Morgen, Elayne. Schwitzt du nicht über deinen Lektionen? Oder über einem Stapel Töpfen?« Sie sagte es neckend, wie unter Freundinnen, was durch Elaynes Lächeln bestätigt wurde.

»Ich sehe, daß es Sheriam noch nicht fertiggebracht hat, dich in ein Kleid zu stecken.«

Mins Lachen klang frech. »Ich bin keine Novizin.« Sie sprach mit übertrieben kieksiger Stimme. »Ja, Aes Sedai. Nein, Aes Sedai. Kann ich noch den Fußboden kehren, Aes Sedai? Ich«, sagte sie wieder mit ihrer normalen leisen Stimme, »ziehe mich so an, wie ich will.« Sie wandte sich Egwene zu. »Geht es Rand gut?«

Egwenes Mundpartie straffte sich. Er sollte die Hörner eines Hammels tragen wie ein Trolloc, dachte sie verärgert. »Es tut mir leid, daß eure Schenke abbrannte, und ich bin froh, wenn Meister Fitch sie wieder aufbaut. Warum bist du nach Tar Valon gekommen? Es ist ja klar, daß du keine Aes Sedai werden willst.« Min zog eine Augenbraue hoch. Egwene war sicher, daß sie sich amüsierte. »Sie mag ihn«, erklärte Elayne.

»Ich weiß.« Min sah Egwene an, und für einen Augenblick glaubte Egwene, Traurigkeit — oder Bedauern? — in ihrem Blick zu entdecken. »Ich bin hier«, sagte Min vorsichtig, »weil man nach mir geschickt hat und mir die Wahl ließ, entweder herzureiten oder in einem Sack gebunden abtransportiert zu werden.«

»Du übertreibst wie immer«, sagte Elayne. »Sheriam Sedai sah den Brief, und sie sagt, es sei eine Bitte gewesen. Min kann Sachen sehen, Egwene. Deshalb ist sie hier: damit die Aes Sedai herausfinden, wie sie das bewerkstelligt. Es ist nicht mit Hilfe der Macht.«

»Eine Bitte!« schnaubte Min. »Wenn eine Aes Sedai deine Anwesenheit fordert, dann ist das wie der Befehl einer Königin, die hundert Soldaten ausschickt, um ihn zu vollstrecken.«

»Jeder sieht Sachen«, sagte Egwene.

Elayne schüttelte den Kopf. »Nicht so wie Min. Sie sieht... eine Aura... um einen Menschen herum. Und Bilder.«

»Nicht immer«, warf Min ein. »Und nicht bei jedem.«

»Und sie kann daraus Dinge über dich herauslesen, obwohl ich nicht sicher bin, daß sie immer die Wahrheit sagt. Sie sagte, ich würde meinen Mann mit zwei anderen Frauen teilen, und das würde ich nie hinnehmen. Sie lacht nur und sagt, sie habe auch eine andere Vorstellung von der Ehe gehabt. Aber sie sagt auch, ich würde einmal Königin, bevor sie wußte, wer ich war. Sie behauptet, sie habe eine Krone gesehen, und es sei die Rosenkrone von Andor gewesen.«

Unwillkürlich fragte Egwene: »Was siehst du, wenn du mich anblickst?«

Min sah sie an. »Eine weiße Flamme und... Ach, alle möglichen Sachen. Ich weiß nicht, was es bedeutet.«

»Das sagt sie ziemlich oft«, meinte Elayne trocken. »Eines der Dinge, die sie bei mir gesehen haben will, ist eine abgeschlagene Hand. Nicht meine, sagt sie. Und sie behauptet auch hierbei, sie wisse nicht, was es bedeutet.«

»Weil ich es nicht weiß«, beharrte Min. »Ich weiß bei der Hälfte aller Dinge nicht, was sie bedeuten.«

Das Knirschen von Stiefeln auf dem Gartenweg schreckte sie auf. Zwei junge Männer kamen auf sie zu. Sie trugen die Hemden und Mäntel über dem Arm, so daß man ihre verschwitzten Oberkörper sah, und in den Händen hielten sie Schwerter, die in ihren Scheiden steckten. Egwene sah sich plötzlich dem bestaussehenden Mann gegenüber, den sie je erblickt hatte. Er war hochgewachsen und schlank, machte dabei einen harten Eindruck und bewegte sich mit der Grazie einer Raubkatze. Ihr wurde plötzlich klar, daß er sich über ihre Hand beugte — sie hatte noch nicht einmal bemerkt, daß er ihre Hand genommen hatte —, und sie suchte im Geist nach dem Namen, den sie gehört hatte.

»Galad«, murmelte sie. Seine dunklen Augen blickten in ihre Augen. Er war älter als sie. Älter als Rand. Beim Gedanken an Rand zuckte sie zusammen und fing sich wieder.

»Und ich bin Gawyn« — der andere junge Mann grinste offen —, »da ich nicht glaube, daß Ihr beim erstenmal hingehört habt.« Min lächelte auch, und nur Elayne runzelte die Stirn.

Egwene erinnerte sich plötzlich an ihre Hand, die Galad immer noch hielt, und sie zog sie zurück.

»Falls es Eure Pflichten gestatten«, sagte Galad, »sähe ich Euch gern wieder, Egwene. Wir könnten spazierengehen oder, falls Ihr die Erlaubnis bekommt, die Burg zu verlassen, könnten wir außerhalb der Stadt ein Picknick machen.«

»Das — das wäre nett.« Min und Gawyn lächelten immer noch spöttisch, und Elayne trug ein finsteres Gesicht zur Schau. So bemühte sie sich, an Rand zu denken, um wieder Ruhe zu finden. Er ist so... schön. Sie fuhr zusammen, weil sie schon befürchtete, laut gesprochen zu haben.

»Bis dann.« Galad sah endlich weg. Er verbeugte sich vor Elayne. »Schwester.« Geschmeidig wie eine Klinge schlenderte er über die Brücke davon. »Der da«, murmelte Min, die ihm nachblickte, »wird immer das tun, was richtig ist, ganz gleichgültig, wen er damit auch verletzt.«

»Schwester?« fragte Egwene. Elaynes finstere Miene hatte sich nur wenig erhellt. »Ich dachte, er sei dein... Ich meine, so finster, wie du dreinschaust... « Sie hatte geglaubt, Elayne sei eifersüchtig, und war sich auch jetzt nicht sicher.

»Ich bin nicht seine Schwester«, sagte Elayne mit fester Stimme. »Ich weigere mich, seine Schwester zu sein.«

»Unser Vater war auch sein Vater«, sagte Gawyn trocken. »Das kannst du nicht leugnen, es sei denn, du willst unsere Mutter eine Lügnerin nennen, und dazu gehört denn doch mehr Unverfrorenheit, als wir zusammen besitzen.«

Erst jetzt bemerkte Egwene, daß er das gleiche rotgoldene Haar hatte wie Elayne, wenn auch vom Schweiß dunkel und verklebt.

»Min hat recht«, sagte Elayne. »Galad hat auch nicht die geringsten menschlichen Züge an sich. Er stellt das Recht über die Gnade, über das Mitleid und... Er ist nicht menschlicher als ein Trolloc.«

Gawyns Lächeln kehrte zurück. »Ich weiß nicht. Wenn ich daran denke, wie er Egwene angesehen hat... «

Er fing sich von ihr und seiner Schwester entsprechende Blicke ein und riß rasch die Hände hoch, als wolle er sich mit seinem in der Scheide steckenden Schwert schützen. »Außerdem hat er ein Geschick mit dem Schwert, wie ich es noch nie gesehen habe. Die Behüter müssen ihm alles nur ein einziges Mal zeigen, und er kann es schon. Ich schwitze mich beinahe zu Tode, um halb soviel zu lernen, wie Galad wie von selbst zufliegt.«

»Und es genügt, mit einem Schwert gut umgehen zu können?« schnaubte Elayne. »Männer! Egwene, wie du bemerkt haben dürftest, ist dieser schandbar unbekleidete Tolpatsch mein Bruder. Gawyn, Egwene kennt Rand al'Thor. Sie kommt aus dem gleichen Dorf.«

»Tatsächlich? Wurde er wirklich in den Zwei Flüssen geboren, Egwene?«

Egwene zwang sich, ruhig zu nicken. Wieviel weiß er? »Natürlich. Ich bin mit ihm aufgewachsen.«

»Klar«, meinte Gawyn bedächtig. »Was für ein eigenartiger Bursche. Schafhirte sei er, hat er behauptet, aber er sah nicht aus und handelte auch nicht wie ein Schafhirte. Eigenartig. Ich habe alle möglichen Leute kennengelernt, und sie wiederum haben Rand al'Thor irgendwann einmal getroffen. Einige kennen nicht einmal seinen Namen, aber der Beschreibung nach kann es kein anderer gewesen sein, und er hat das Leben jedes einzelnen verändert. Da gab es einen alten Bauern, der nach Caemlyn kam, nur um Logain auf seinem Weg hierher zu sehen. Und doch blieb der Bauer und stand auf Mutters Seite, als die Unruhen ausbrachen. Und warum?

Weil ein junger Mann auf dem Weg in die weite Welt ihn davon überzeugte, daß das Leben mehr zu bieten hat als einen Bauernhof. Rand al'Thor. Man könnte beinahe glauben, er sei Ta'veren. Elaida ist ganz offensichtlich an ihm interessiert. Ich frage mich, ob das Zusammentreffen mit ihm auch unsere Leben im Muster verschieben wird.«

Egwene sah Elayne und Min an. Sie hatten bestimmt keinen Hinweis darauf, daß Rand wirklich Ta'veren war. Sie selbst hatte eigentlich nie darüber nachgedacht; er war eben Rand und war mit dem Talent verflucht, die Macht lenken zu können. Aber Ta'veren beeinflußten das Schicksal anderer Menschen, ob diese das wollten oder nicht. »Ich mag euch wirklich«, sagte sie plötzlich und schloß beide Mädchen mit ein. »Ich möchte eure Freundin sein.«

»Und ich möchte deine Freundin sein«, sagte Elayne.

Impulsiv nahm Egwene sie in die Arme, und dann hüpfte Min herunter, und so standen sie alle drei auf der Brücke und umarmten sich gegenseitig.

»Uns drei verbindet tatsächlich einiges«, sagte Min, »und wir lassen keinen Mann zwischen uns treten. Nicht einmal ihn.«

»Wäre eine von euch vielleicht so nett, mir zu erklären, was das alles soll?« bohrte Gawyn sanft.

»Das kannst du nicht verstehen«, sagte seine Schwester, und dann schüttelten sich die drei Mädchen vor Kichern.

Gawyn kratzte sich am Kopf und schüttelte ihn anschließend. »Also, wenn es etwas mit Rand al'Thor zu tun hat, dann vergewissert euch bitte, daß Elaida nichts davon erfährt. Sie hat mich dreimal seit unserer Ankunft wie ein Folterknecht der Weißmäntel verhört. Ich glaube nicht, daß sie ihm wohl... « Er fuhr zusammen. Eine Frau kam durch den Garten geschritten; eine Frau, die eine Stola mit roten Fransen trug. »Nenn den Dunklen König beim Namen«, zitierte er, »und er erscheint. Ich brauche keinen weiteren Vortrag darüber, daß ich mein Hemd anziehen soll, wenn ich mich außerhalb des Übungsgeländes befinde. Einen guten Morgen euch allen.«

Elaida sah dem sich entfernenden Gawyn nach, als sie die Brücke erreichte. Sie ist zwar nicht schön, sieht aber doch ganz passabel aus, dachte sich Egwene. Doch das alterslose Aussehen zeigte genau wie die Stola, wer sie war. Nur den ganz neuen Schwestern sah man das noch nicht an. Als ihr Blick Egwene streifte und einen Moment an ihr hängenblieb, bemerkte Egwene plötzlich eine innere Härte an der Aes Sedai. Sie hatte Moiraine schon immer für stark gehalten, wie Stahl unter Seide, aber bei Elaida war die Seide nicht mehr vorhanden.

»Elaida«, sagte Elayne, »das ist Egwene. Auch sie wurde mit dem Talent geboren. Und sie hat auch schon Unterricht erhalten, deshalb ist sie ungefähr so weit wie ich. Elaida?«

Das Gesicht der Aes Sedai war ausdruckslos. »In Caemlyn, Kind, bin ich die Ratgeberin deiner Mutter, der Königin, aber hier befinden wir uns in der Weißen Burg, und du bist Novizin.« Min machte Anstalten zu gehen, aber Elaida hielt sie zurück mit den scharfen Worten: »Bleib hier, Mädchen! Ich will mit dir reden.«

»Ich kenne dich mein ganzes Leben lang, Elaida«, sagte Elayne ungläubig. »Du hast mich aufwachsen sehen und den Garten im Winter zum Blühen gebracht, damit ich darin spielen konnte.«

»Kind, dort warst du die Tochter-Erbin. Hier bist du eine Novizin. Das mußt du begreifen. Eines Tages wirst du groß sein, aber bis dahin mußt du viel lernen!«

»Ja, Aes Sedai.«

Egwene war erstaunt. Wenn sie jemand vor anderen so heruntergeputzt hätte, wäre sie wütend gewesen.

»Jetzt fort mit euch beiden!« Ein Gong ertönte mit vollem schönen Klang, und Elaida hielt den Kopf schief. Die Sonne stand auf halbem Weg zu ihrem Höchststand. »Die Hohe Stunde«, sagte Elaida. »Ihr müßt euch beeilen, wenn ihr nicht noch mehr Schelte einstecken wollt. Und, Elayne? Geh nach der Arbeit ins Büro der Oberin. Eine Novizin spricht keine Aes Sedai ungebeten an. Lauft, ihr beiden! Ihr werdet zu spät kommen. Lauft!«

Sie hoben ihre Röcke und rannten los. Egwene betrachtete Elayne während des Rennens. Auf Elaynes Wangen zeigten sich zwei rote Flecke, und ihr Blick war sehr entschlossen.

»Ich werde auch eine Aes Sedai«, sagte Elayne leise, und es klang wie eine Drohung.

Hinter ihnen hörte Egwene Elaida beginnen: »Man hat mir zu verstehen gegeben, Mädchen, daß Ihr von Moiraine Sedai hierhergebracht wurdet.«

Sie wäre gern geblieben und hätte gelauscht, um zu erfahren, ob Elaida sie über Rand aushorchen wollte, aber durch die ganze Burg hallte der Gongschlag zur Hohen Stunde, und sie mußte mit ihrer Arbeit beginnen. So lief sie dem Befehl entsprechend weiter.

»Ich werde auch eine Aes Sedai«, grollte sie. Elayne lächelte ihr kurz und verständnisvoll zu, und sie liefen noch schneller.

Mins Hemd klebte ihr am Körper, als sie schließlich die Brücke verließ. Es war kein durch die Sonne hervorgerufener Schweiß, sondern rührte von der Hitze der Fragen Elaidas her. Sie sah sich um, weil sie nicht sicher war, ob die Aes Sedai ihr folgte, aber Elaida war nirgends zu sehen.

Woher wußte Elaida, daß Moiraine sie herbeigerufen hatte? Min war sicher gewesen, daß dieses Geheimnis allein ihr selbst, Moiraine und Sheriam bekannt sei. Und dann all die Fragen über Rand. Es war nicht leicht gewesen, mit glattem Gesicht und stetigem Blick einer Aes Sedai ins Gesicht zu lügen, sie habe nie von ihm gehört und wisse nichts über ihn. Was will sie von ihm? Licht, was will eigentlich Moiraine von ihm? Was ist er? Licht, ich will keinen Mann lieben, den ich nur einmal gesehen habe, und dann auch noch einen Bauernjungen! »Moiraine, das Licht blende dich«, knurrte sie. »Wozu du mich auch hierhergebracht hast, komm jetzt aus deinem Versteck und sag es mir, damit ich wieder gehen kann!«

Die einzige Antwort war das süße Lied der Graufinken. Sie verzog ihr Gesicht und ging weg, um sich irgendeinen Fleck zum Abkühlen zu suchen.

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