DER SPIELERFEHLSCHLUSS

Warum es keine ausgleichende Kraft des Schicksals gibt

Im Sommer 1913 geschah in Monte Carlo etwas Unglaubliches. Um den Roulettetisch des Kasinos drängten sich die Menschen, denn sie trauten ihren Augen nicht. Die Kugel war bereits 20-mal nacheinander auf Schwarz gefallen. Viele Spieler nutzten die Gunst der Stunde und wetteten auf Rot. Doch wieder kam Schwarz. Noch mehr Leute strömten hinzu und setzten ihr Geld auf Rot. Jetzt musste es einfach mal einen Wechsel geben! Doch wieder kam Schwarz. Und wieder und wieder. Erst beim 27. Mal fiel die Kugel endlich auf Rot. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Spieler ihre Millionen bereits verwettet. Sie waren bankrott.

Der durchschnittliche Intelligenzquotient der Schüler einer Großstadt beträgt 100. Für eine Studie ziehen Sie eine zufällige Stichprobe von 50 Schülern. Das erste Kind, das Sie testen, hat einen IQ von 150. Wie hoch wird der durchschnittliche IQ Ihrer 50 Schüler sein? Die meisten Menschen, denen ich diese Frage stelle, tippen auf 100. Irgendwie, denken sie, müsste der superschlaue Schüler, den sie zuerst getestet haben, durch einen superdummen Schüler mit einem IQ von 50 (oder durch zwei Schüler mit einem IQ von 75) ausbalanciert werden. Doch bei einer so kleinen Stichprobe ist das sehr unwahrscheinlich. Man muss damit rechnen, dass die restlichen 49 Schüler dem Durchschnitt der Population entsprechen, dass sie also einen IQ von 100 haben. 49 mal ein IQ von 100 und ein mal ein IQ von 150 ergibt in der Stichprobe einen durchschnittlichen IQ von 101.

Die Beispiele von Monte Carlo und der Schülerstichprobe zeigen: Menschen glauben an eine ausgleichende Kraft des Schicksals. Hier spricht man von Spielerfehlschluss (auf Englisch: Gambler’s Fallacy). Aber bei unabhängigen Ereignissen gibt es keine ausgleichende Kraft. Eine Kugel kann sich nicht daran erinnern, wie oft sie schon auf Schwarz liegen geblieben ist. Ein Freund führt aufwendige Tabellen mit allen gezogenen Lotto-Zahlen. Er füllt den Lottoschein stets so aus, dass er die am seltensten gezogenen Zahlen ankreuzt. Doch die ganze Arbeit ist für die Katz – Spielerfehlschluss.

Folgender Witz illustriert den Spielerfehlschluss: Ein Mathematiker nimmt auf jedem Flug eine Bombe mit ins Handgepäck. »Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Bombe im Flugzeug ist, ist sehr gering«, sagt er, »und die Wahrscheinlichkeit für zwei Bomben liegt nahezu bei null!«

Eine Münze wird dreimal geworfen, und dreimal landet sie auf Kopf. Angenommen, jemand zwingt Sie, 1.000 Euro Ihres eigenen Geldes für den nächsten Wurf auszugeben. Würden Sie auf Kopf oder Zahl setzen? Wenn Sie so ticken wie die meisten Menschen, werden Sie auf Zahl setzen, obwohl Kopf ebenso wahrscheinlich ist – der bekannte Spielerfehlschluss.

Eine Münze wird 50-mal geworfen, und 50-mal landet sie auf Kopf. Wieder zwingt Sie jemand, 1.000 Euro zu setzen. Kopf oder Zahl für den nächsten Wurf? Smart, wie Sie sind, lächeln Sie, denn Sie haben das Kapitel bis hierher gelesen und wissen, dass es nicht darauf ankommt. Doch das ist die klassische Déformation professionnelle des Berufsmathematikers. Hätten Sie gesunden Menschenverstand, würden Sie eindeutig auf Kopf setzen, weil Sie schlichtweg annehmen müssen, dass die Münze gezinkt ist.

In einem anderen Kapitel betrachteten wir die Regression zur Mitte. Beispiel: Wenn Sie einen Kälterekord in Ihrem Wohnort erleben, wird die Temperatur in den nächsten Tagen wahrscheinlich ansteigen. Wäre das Wetter ein Kasino, würde die Temperatur mit 50 % Wahrscheinlichkeit fallen und mit 50 % Wahrscheinlichkeit steigen. Doch das Wetter ist kein Kasino. Komplexe Rückkopplungen sorgen dafür, dass Extremwerte sich wieder ausgleichen. In anderen Fällen allerdings verstärkt sich das Extrem: Reiche werden tendenziell immer reicher. Eine Aktie, die in die Höhe schießt, schafft sich bis zu einem gewissen Punkt eine eigene Nachfrage, einfach weil sie so heraussticht – eine Art umgekehrter Ausgleichseffekt.

Fazit: Schauen Sie also genau hin, ob Sie abhängige oder unabhängige Ereignisse vor sich haben – diese gibt es eigentlich nur im Kasino, im Lotto und in den Theoriebüchern. Im richtigen Leben sind die Ereignisse meistens voneinander abhängig – was bereits geschehen ist, hat einen Einfluss darauf, was in Zukunft geschehen wird. Also vergessen Sie (außer in den Regression-zur-Mitte-Fällen) die ausgleichende Kraft des Schicksals.

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