THE SELF-SERVING BIAS

Warum Sie nie selber schuld sind

Lesen Sie Geschäftsberichte – insbesondere die Kommentare der CEOs? Nein? Schade, denn dort blühen Beispiele eines Irrtums, dem wir alle in der einen oder anderen Form verfallen sind. Der Denkfehler geht so: Hat die Firma ein ausgezeichnetes Jahr hinter sich, begründet es der CEO mit glänzenden Entscheidungen, seinem unermüdlichen Einsatz und der dynamischen Unternehmenskultur, die er in Schwung hält. Hat die Firma hingegen ein schlechtes Jahr hinter sich, so ist der starke Euro schuld, die Bundesregierung, die hinterlistigen Handelspraktiken der Chinesen, die versteckten Zölle der Amerikaner, überhaupt die verhaltene Konsumentenstimmung. Erfolge schreibt man sich selbst zu, Misserfolge externen Faktoren. Das ist der Self-Serving Bias (auf Deutsch etwa: selbstwertdienliche Beurteilung).

Auch wenn Sie den Ausdruck noch nicht kannten – Sie kennen den Self-Serving Bias von der Schule her. Für den Einser waren Sie verantwortlich; das Glanzresultat widerspiegelte Ihre wahren Kenntnisse und Fähigkeiten. Und wenn Sie einen Fünfer hatten, einen Reinfall? Dann war die Prüfung unfair. Heute kümmern Sie sich nicht mehr um Schulnoten, aber vielleicht um Börsenkurse. Haben Sie einen Gewinn eingefahren, glorifizieren Sie sich selbst. Bei einem Verlust geben Sie der »Börsenstimmung« (was auch immer das ist) die Schuld oder Ihrem Anlageberater. Auch ich mache vom Self-Serving Bias ausgiebig Gebrauch: Erklimmt mein neuer Roman die Bestsellerliste, klopfe ich mir auf die Schulter: Klar, mein bislang bestes Buch! Geht der Roman in der Flut der Neuheiten unter, erscheint mir das ebenso logisch: Die Kritiker sind neidisch und schreiben Verrisse, und die Leser begreifen nicht, was gute Literatur ist.

Absolventen eines Persönlichkeitstests wurden nach dem Zufallsprinzip gute oder schlechte Noten zugeteilt. Jene, die eine gute Note erhielten, fanden den Test stichhaltig und allgemeingültig. Wer zufällig eine schlechte Note bekam, fand den Test überhaupt nicht aussagekräftig. Warum diese Verzerrung? Warum interpretieren wir Erfolge als eigene Leistung und schreiben Misserfolge anderen zu? Es gibt viele Theorien. Die einfachste Erklärung ist wohl: Weil es sich gut anfühlt. Und weil der Schaden, den wir uns damit anrichten, sich normalerweise in Grenzen hält. Wäre das nicht der Fall, hätte die Evolution diesen Denkfehler im Verlauf der letzten 100.000 Jahre ausradiert. Aber Vorsicht. In einer modernen Welt mit unübersichtlichen Risiken kann der Self-Serving Bias schnell in die Katastrophe führen. Ein gutes Beispiel ist Richard Fuld, der sich selbst gerne als »Master of the Universe« bezeichnete. Bis 2008 zumindest – Fuld war CEO von Lehman Brothers.

In den USA gibt es einen standardisierten Test, den sogenannten SAT, den alle Schüler durchlaufen, die sich um einen Studienplatz bewerben. Das Resultat liegt jeweils zwischen 200 und 800 Punkten. Wenn die Studenten ein Jahr nach der Prüfung nach ihrem SAT-Resultat gefragt werden, geben sie ihr Prüfungsergebnis im Durchschnitt um 50 Punkte zu hoch an. Interessant: Sie lügen nicht dreist, sie übertreiben nicht maßlos, sondern »frisieren« das Resultat nur ein bisschen – bis sie selber daran glauben.

Im Haus, in dem ich wohne, gibt es eine WG, die sich fünf Studenten teilen. Den einen oder anderen treffe ich manchmal im Fahrstuhl. Ich fragte jeden von den Jungs separat, wie oft er den WG-Müll hinaustrage. Einer sagte: »Jedes zweite Mal.« Ein anderer: »Jedes dritte Mal.« Ein anderer, fluchend, denn ich traf ihn grad mit einem geplatzten Müllsack an: »Sozusagen immer, zu 90 %.« Obwohl alle Antworten zusammen 100 % ergeben sollten, addierten sie sich zu 320 %! Die WG-Bewohner überschätzten systematisch ihre Rolle – und sind darin nicht anders als wir alle. In einer Ehe spielt derselbe Mechanismus: Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass sowohl Männer als auch Frauen ihren Beitrag zum Funktionieren der Partnerschaft mit über 50 % bewerten.

Wie dem Self-Serving Bias entgegentreten? Haben Sie Freunde, die Ihnen ungeschminkt die Wahrheit sagen? Wenn ja, können Sie sich glücklich schätzen. Wenn nicht, haben Sie wenigstens einen persönlichen Feind? Gut. Dann springen Sie über Ihren Schatten und laden Sie ihn zum Kaffee ein. Bitten Sie ihn, seine Meinung zu Ihrer Person unverhohlen auszubreiten. Sie werden ihm ewig dankbar sein.

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