DAS EXPONENTIELLE WACHSTUM

Warum ein gefaltetes Blatt unser Denken übersteigt

Ein Stück Papier wird in der Mitte gefaltet, dann wieder in der Mitte gefaltet und wieder und wieder. Wie dick wird es nach 50-mal falten, sein? Schreiben Sie Ihre Schätzung auf, bevor Sie weiterlesen.

Zweite Frage. Sie dürfen wählen: A) In den nächsten 30 Tagen schenke ich Ihnen jeden Tag 1.000 Euro. B) In den nächsten 30 Tagen schenke ich Ihnen am ersten Tag einen Cent, am zweiten Tag zwei Cent, am dritten Tag vier Cent, am vierten Tag acht und so weiter. Entscheiden Sie, ohne lang zu rechnen: A oder B.

Sind Sie so weit? Also gut: Wenn wir annehmen, dass ein Blatt Papier ein Zehntelmillimeter dünn ist, dann beträgt seine Dicke nach 50 Faltungen 100 Millionen Kilometer. Das entspricht etwa der Distanz Erde–Sonne, wie Sie mit einem Taschenrechner leicht nachrechnen können. Bei der zweiten Frage lohnt es sich, auf Antwort B zu setzen, auch wenn A verlockender klingt. Wählen Sie A, haben Sie nach 30 Tagen 30.000 Euro verdient, bei Antwort B über zehn Millionen.

Lineares Wachstum verstehen wir intuitiv. Doch wir haben kein Gefühl für exponentielles (oder prozentuales) Wachstum. Warum nicht? Weil die evolutionäre Vergangenheit uns nicht darauf vorbereitet hat. Die Erfahrungen unserer Vorfahren waren größtenteils linearer Art. Wer doppelt so viel Zeit aufs Sammeln investierte, brachte die doppelte Menge Beeren ein. Wer gleich zwei Mammuts über den Abgrund jagte statt nur eines, zehrte doppelt so lange davon. Es gibt kaum ein Beispiel aus der Steinzeit, wo Menschen exponentiellem Wachstum begegnet wären. Heute ist das anders.

Ein Politiker sagt: »Die Anzahl der Verkehrsunfälle steigt jedes Jahr um 7 %.« Seien wir ehrlich, intuitiv verstehen wir das nicht. Wenden Sie deshalb einen Trick an: Berechnen Sie die Verdopplungszeit. Teilen Sie die Zahl 70 durch die Wachstumsrate in Prozent. Im besagten Fall der Verkehrsunfälle: 70 : 7 = 10 Jahre. Was der Politiker also sagt: »Die Anzahl der Verkehrsunfälle verdoppelt sich alle zehn Jahre.« Ziemlich alarmierend.

Ein anderes Beispiel: »Die Teuerung beträgt 5 %.« Wer das hört, denkt: »Nicht so schlimm, was sind schon 5 %?« Berechnen wir schnell die Verdopplungszeit: 70 : 5 = 14 Jahre. In 14 Jahren wird ein Euro nur noch die Hälfte wert sein – ein Skandal für alle, die ein Sparkonto besitzen.

Angenommen, Sie sind Journalist und bekommen eine Statistik zugespielt, wonach die Anzahl der registrierten Hunde in Ihrer Stadt um 10 % pro Jahr wächst. Welche Schlagzeile setzen Sie über Ihren Artikel? Sicher nicht »Hundezulassungen um 10 % gestiegen«. Das interessiert niemanden. Sondern: »Hundeschwemme: Doppelt so viele Köter in nur sieben Jahren!«

Nichts, was prozentual wächst, wächst ewig – auch das vergessen die meisten Politiker, Ökonomen und Journalisten. Jedes exponentielle Wachstum kommt irgendwann an eine Grenze – garantiert. Das Darmbakterium Escherichia Coli teilt sich alle 20 Minuten. In wenigen Tagen hätte es die ganze Erde überzogen. Doch es wird mehr Sauerstoff und Zucker verbrauchen, als neuer zugeführt wird, was die Population bald in ihrem Wachstum bremsen würde.

Dass unser Hirn Mühe mit prozentualem Wachstum hat, war schon im alten Persien bekannt. Von dort stammt dieses Märchen: Es war einmal ein kluger Höfling, der seinem König ein Schachbrett schenkte. Der König fragte ihn: »Sage mir, wie ich dich zum Dank belohnen kann.« »Nichts weiter will ich, edler Gebieter, als dass Ihr das Schachbrett mit Reis auffüllen möget. Legt ein Reiskorn auf das erste Feld, und dann auf jedes weitere Feld stets die doppelte Anzahl an Körnern. Also zwei Reiskörner auf das zweite Feld, vier Reiskörner auf das dritte und so fort.« Der König war erstaunt: »Es ehrt dich, lieber Höfling, dass du einen so bescheidenen Wunsch äußerst.« Wie viel Reis ist das? Der König dachte wohl an ein Säckchen. In Wahrheit hätte er mehr Reis gebraucht, als auf der Erde wächst.

Fazit: Wenn es um Wachstumsraten geht, vertrauen Sie nicht auf Ihr Gefühl. Sie haben keines – akzeptieren Sie das. Was Ihnen wirklich hilft, ist der Taschenrechner, oder, bei kleinen Wachstumsraten, der Trick mit der Verdopplungszeit.

Загрузка...