DIE INDUKTION

Wie Sie Leute um ihre Millionen bringen

Eine Gans wird gefüttert. Anfangs zögert das scheue Tier und denkt: »Warum füttern mich diese Menschen? Irgendetwas muss doch dahinterstecken.« Wochen vergehen, doch jeden Tag kommt der Bauer vorbei und wirft ihr Getreidekörner vor die Füße. Ihre Skepsis lässt allmählich nach. Nach einigen Monaten ist sich die Gans sicher: »Die Menschen sind mir zutiefst gutgesinnt!« – eine Gewissheit, die sich jeden Tag aufs Neue bestätigt, ja festigt. Vollends überzeugt von der Güte des Bauern staunt sie, als sie dieser am Weihnachtstag aus ihrem Gehege holt – und schlachtet. Die Weihnachtsgans ist dem induktiven Denken zum Opfer gefallen. Schon David Hume hat im 18. Jahrhundert vor der Induktion gewarnt, mit ebendiesem Beispiel. Aber nicht nur Gänse sind anfällig dafür. Wir alle haben die Tendenz, aus Einzelbeobachtungen auf allgemeingültige Gewissheiten zu schließen. Das ist gefährlich.

Ein Anleger hat Aktie X gekauft. Der Kurs geht ab wie eine Rakete. Anfänglich ist er skeptisch. »Sicher eine Blase«, denkt er. Als die Aktie auch nach Monaten noch zulegt, wird seine Vermutung zur Gewissheit: »Dieser Titel kann gar nicht mehr abstürzen« – zumal jeder Tag diese Erkenntnis aufs Neue bestätigt. Nach einem halben Jahr investiert er seine ganzen Ersparnisse in diesen einen Aktientitel. Jetzt sitzt er auf einem Klumpenrisiko. Er ist der Induktion zum Opfer gefallen und wird irgendwann dafür büßen.

Man kann sich das induktive Denken auch zunutze machen. Hier ist ein Tipp, wie Sie damit anderen Leuten das Geld aus der Tasche ziehen. Verschicken Sie 100.000 Börsenprognosen. In der Hälfte ihrer E-Mails prognostizieren Sie, dass die Kurse im kommenden Monat steigen werden, in der anderen Hälfte warnen Sie vor einem Rückgang. Angenommen, nach einem Monat sind die Indizes gesunken. Nun verschicken Sie wieder eine E-Mail, aber diesmal nur an die 50.000 Leute, denen Sie eine richtige Vorhersage gemacht hatten (dass die Kurse sinken würden). Diese 50.000 teilen Sie wieder in zwei Gruppen. Der ersten Hälfte schreiben Sie, dass die Kurse im kommenden Monat steigen werden, der zweiten Hälfte, dass sie fallen werden, und so weiter. Nach zehn Monaten bleiben 100 Personen übrig, die Sie ohne Fehl richtig beraten haben. Aus Sicht dieser 100 Personen sind Sie ein Held. Sie haben bewiesen, dass Sie im Besitz wahrlich prophetischer Prognosefähigkeiten sind. Einige dieser Fans werden Ihnen ihr Vermögen anvertrauen. Mit dem Geld setzen Sie sich nach Brasilien ab.

Nicht nur andere lassen sich so betrügen, wir betrügen uns auch selbst. Menschen, die selten krank sind, halten sich für unsterblich. Ein CEO, der viele Quartale nacheinander eine Gewinnsteigerung bekannt geben darf, hält sich für unfehlbar – und seine Mitarbeiter und Aktionäre ihn auch.

Ich hatte einen Freund, er war Base Jumper. Er sprang von Felsen, Sendemasten und Gebäuden, wobei er erst im letzten Moment die Reißleine des Fallschirms zog. Als ich ihn einmal auf das Risiko seines Sports ansprach, antwortete er: »Ich habe schon über 1.000 Sprünge hinter mir. Noch nie ist etwas passiert.« Zwei Monate nach unserer Konversation war er tot. Er starb, als er in Südafrika von einem besonders gefährlichen Felsen sprang. Eine einzige gegenteilige Beobachtung genügt, um eine tausendmal bestätigte Theorie vom Tisch zu fegen.

Induktives Denken kann also verheerende Folgen haben – und doch geht es nicht ohne. Wir bauen darauf, dass die aerodynamischen Gesetze auch morgen funktionieren, wenn wir den Flieger besteigen. Wir rechnen damit, dass wir auf der Straße nicht grundlos niedergeprügelt werden. Wir rechnen damit, dass unser Herz auch morgen schlagen wird. Das sind Gewissheiten, ohne die wir nicht leben könnten. Wir brauchen die Induktion, aber wir dürfen nie vergessen, dass sämtliche Gewissheiten immer nur vorläufig sind. Wie sagte Benjamin Franklin? »Nichts ist sicher, außer der Tod und die Steuern.«

Induktion kann verführerisch sein: »Die Menschheit hat es noch immer geschafft, also werden wir auch die zukünftigen Herausforderungen meistern.« Klingt gut, aber was wir nicht bedenken: Diese Aussage kann nur eine Spezies machen, die bis jetzt überlebt hat. Die Tatsache, dass es uns gibt, als Hinweis zu nehmen, dass es uns auch in Zukunft geben wird, ist ein gravierender Denkfehler. Vermutlich der gravierendste.

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