12

«Was soll das heißen, er ist noch nicht zurück? Das Semester fängt nächste Woche an. Du kannst dir doch so etwas nicht bieten lassen!»

Lady Plackett war verstimmt. Seit ihr Mann seinen neuen Posten als Vizekanzler der Universität Thameside übernommen hatte, hatte sie unter beträchtlichen Mühen angemessene Veranstaltungen zum Empfang des Lehrkörpers und der Studenten geplant. Ihr Vorgänger, Lord Charlefont, war unglaublich nachlässig gewesen, und die Lage des Hauses, das nur durch seine dorischen Säulen und den wilden Wein vom Kunstbau abgegrenzt war, lud zu jener Art willkürlichen Kommens und Gehens ein, das sie auf keinen Fall zu dulden gedachte. Sie hatte auf dem gepflasterten Weg, der vom Haupthof zu ihrer Haustür führte, bereits ein Schild mit der Aufschrift «Privat» aufstellen lassen und den Hausmeister der Universität angewiesen, ihren Teil der Flußterrasse mit einem Maschendrahtzaun abzusperren, um ihn von Studenten freizuhalten, die sich offensichtlich einbildeten, sich überall niederlassen zu können, um ihr Mittagbrot zu verspeisen.

Die eigene Privatsphäre zu wahren, war so wichtig wie die Wiederherstellung hoher moralischer Maßstäbe an der Universität. Studenten, die in aller Öffentlichkeit Händchen hielten oder sich gar küßten, konnten selbstverständlich nicht geduldet werden. Aber Lady Plackett wollte auch geben – das Universitätsleben durch ihre Gastfreundschaft bereichern und das Haus des Vizekanzlers zu einem Ort machen, an dem gute Gespräche und gute Kinderstube garantiert waren. Um dies zu verwirklichen, mußte sie jedoch zunächst die Spreu vom Weizen sondern und sich vom vorhandenen Material ein Bild machen. Zu diesem Zweck hatte sie für den Semesterbeginn eine Reihe gesellschaftlicher Veranstaltungen geplant. Zuerst sollten die Professoren zum Sherry gebeten werden, natürlich mit Namensschildchen, die auch über die Fakultät des Gastes Auskunft gaben, denn Gesellschaften ohne Namensschildchen brachten niemals den rechten Erfolg; dann die Dozenten zum Fruchtsaft ... und schließlich, in Gruppen von jeweils etwa zwanzig, die Studenten zu Schreibspielen.

Als sie jetzt die Namensschildchen mit der Gästeliste verglich, entdeckte sie neben dem Namen Somerville die Anmerkung: «Kann leider nicht teilnehmen.»

«Er ist in Schottland», erläuterte Sir Desmond, ein blasser Mann mit einem jener unscheinbaren Gesichter, die höchstens einen Eindruck von Durchschnittlichkeit hinterlassen. Seine Berufung zum Vizekanzler von Thameside verdankte er der Tatsache, daß alle anderen Kandidaten genug Persönlichkeit besaßen, um sich Feinde geschaffen zu haben. «Offenbar wollte das Außenministerium ihn für einen Posten beim Nachrichtendienst haben. Er sollte Geheimcodes knacken oder so etwas. Da er sich daraufhin den ganzen Krieg in einem Bunker sitzen sah, wollte er versuchen, bei der Marine unterzukommen. Deshalb ist er nach Schottland gereist.»

«Ich kann nur hoffen, daß du ein ernstes Wort mit ihm reden wirst», sagte Lady Plackett.

Sie war größer als ihr Mann, hatte einen langen Rücken und ein langes, schmales Gesicht mit den engstehenden blauen Augen der Croft-Ellis'. Nachdem sie mehrere Jahre hindurch die Londoner Saison mitgemacht hatte, ohne daß, um es einmal so auszudrücken, ein größerer Fisch angebissen hatte, nahm sie den Antrag des Sohnes eines ganz gewöhnlichen Wirtschaftsprüfers an und setzte sich zum Ziel, ihm zu einer Karriere zu verhelfen. Leicht war es nicht gewesen. Desmond konnte, als sie ihn kennenlernte, seine soziale Herkunft nicht verleugnen, aber sie hatte nicht locker gelassen, und nun, fünfundzwanzig Jahre später, konnte sie aufrichtig sagen, daß sie sich nicht mehr schämte, ihn nach Hause mitzubringen.

«Nein, meine Liebe, das wäre unklug», widersprach Sir Desmond milde. «Wir brauchen Professor Somerville dringender als er uns.»

«Wie meinst du das?»

«Er ist ein prominenter Wissenschaftler. Er bekommt immer wieder Angebote aus dem Ausland, und Cambridge versucht, ihn zurückzuholen, seit er dort Examen gemacht hat. Charlefont hatte alle Mühe, ihn dazu zu bewegen, den Posten hier anzunehmen, und Somerville sagte nur unter der Bedingung zu, daß er jederzeit Urlaub für seine Reisen bekäme. Die Universität hat ihm einiges zu verdanken – aufgrund seines Rufs ist für die Paläontologie immer Geld da, und die alljährliche Exkursion mit seinen Studenten auf seinen Landsitz nach Northumberland soll der Höhepunkt des Studienjahres sein.»

«Northumberland?» sagte Lady Plackett scharf. «Wo denn in Northumberland?»

Sir Desmond runzelte die Stirn. «Den Namen habe ich nicht mehr im Kopf. Bow-irgendwas, glaube ich.»

«Doch nicht ...» Sie war hochrot vor Erregung – «doch nicht etwa Bowmont?»

«Doch, richtig. So hieß es.»

Bow-irgendwas, in der Tat! Nicht zum erstenmal wurde sich Lady Plackett bewußt, wie einsam man ist, wenn man unter seinem Stand heiratet. «Du meinst, er ist dieser Somerville? Quinton Somerville – der Eigentümer von Bowmont? Der Enkel vom alten Barher?»

Gewiß, sein Vorname sei Quinton, sagte Sir Desmond und wollte wissen, was denn an Bowmont so bemerkenswert sei. Doch das war eine Frage, die unmöglich zu beantworten war. Die Leute aus den richtigen Kreisen wußten, warum Bowmont etwas Besonderes war, und den anderen war es nicht zu erklären.

«Ich kenne seine Tante», sagte Lady Plackett. «Jedenfalls flüchtig. Ich werde ihr schreiben.» Sie sah ihren Mann, der im Adressenverzeichnis der Professoren und Dozenten blätterte, und fragte gespannt: «Er ist doch noch unverheiratet, nicht wahr?»

«Ja, soviel ich weiß.»

Ohne einen Moment des Zögerns ließ Lady Plackett das Namensschildchen für Professor Somerville in den Papierkorb fallen. Dieser Mann hatte in einem Gewühl brötchenvertilgender Leute nichts zu suchen. Professor Somerville würde zu einem der intimen kleinen Essen kommen, durch die sie Thameside gesellschaftlichen Glanz zu verleihen gedachte, und in der kultivierten Ambiance ihres Hauses würde er eine ihm intellektuell und gesellschaftlich gleichwertige Frau, seine zukünftige Studentin, kennenlernen – ihre Tochter Verena.

Die einzige Tochter der Placketts war dreiundzwanzig Jahre alt und hatte nicht nur das blaue Blut ihrer Mutter geerbt, sondern auch die Intelligenz ihres Vaters. Von dem Moment an, als sie im zarten Alter von vier Jahren gezeigt hatte, daß sie lieber mit ihrem Rechengestell als mit Puppen spielte, war klargewesen, daß Verena zu einer Intellektuellen heranwachsen würde. Dem großen Dr. Samuel Johnson, Verfasser des berühmten Dictionary of the English Language, war als Kind von seiner Mutter befohlen worden, alles, was sie ihn gelehrt hatte, sogleich vor der nächsten Person zu wiederholen, die ihm begegnete, und sei es auch der Milchmann.

«Auf die Weise wirst du es immer im Kopf behalten», hatte sie zu ihrem Sohn gesagt.

Lady Plackett brauchte ihrer Tochter keine solchen Verhaltensregeln zu geben. Verena hatte mit der Aufnahme von Informationen so wenig Probleme wie mit ihrer Wiedergabe. In Indien hatten sie sie mit einem Heer von Privatlehrern umgeben, und mit neunzehn hatte sie sich an der europäischen Universität in Haiderabad eingeschrieben. Es war ein mutiger Schritt für ihre Eltern gewesen, ihr das zu gestatten: Zwar waren Studenten und Lehrkörper ausschließlich Weiße, aber sie hatten Verena ein ungewöhnliches Maß an Freiheit zugestehen müssen.

Verena hatte diese Freiheit nicht mißbraucht. Ihre Vorliebe hatte den Naturwissenschaften gegolten, und ohne alle Mühe bestand sie jede Prüfung, der sie sich unterzog, als Beste. Doch als sie das Vorstudium abgeschlossen hatte, bestand ihre Mutter darauf, sie nach England vorauszuschicken, um sie von ihren Verwandten aus Rutland, dem Stammsitz der Croft-Ellis', in die Londoner Gesellschaft einführen zu lassen.

So gut Lady Placketts Absichten waren, der Plan wurde kein Erfolg. Verena war in Socken einen Meter achtzig groß, und in Socken tanzt es sich nun einmal nicht sehr anmutig. Außerdem machte Verena kein Hehl daraus, daß die hohlköpfigen jungen Männer, über deren Köpfe sie beim Tanz hinwegsah, sie tödlich langweilten. Sobald ihre Eltern aus Indien eintrafen, teilte sie ihnen daher mit, daß sie vorhabe, den Magistergrad zu erwerben, und daß sie das an der Thameside-Universität tun werde.

Ihre Mutter war darüber nicht begeistert gewesen. Zwar hatte sie die Absicht gehabt, unter der Intelligenz des Landes nach einem Ehemann für Verena Ausschau zu halten, aber doch eher unter Nobelpreisträgern oder Mitgliedern der Royal Society und nicht gerade unter schlichten Dozenten, die meist in zerknittertem Cord und mit stinkenden Pfeifen daherkamen. Aber jetzt sah es ganz so aus, als hätte Verenas Instinkt sie richtig geführt. Beschwingten Schrittes eilte sie daher in das Zimmer ihrer Tochter hinauf.

«Verena! Ich muß dir etwas erzählen.»

Ihre Tochter saß an ihrem ordentlich aufgeräumten Schreibtisch. Vor sich hatte sie ein Lehrbuch mit Abbildungen und Diagrammen, rechts lagen ein aufgeschlagenes Heft und ein Drehbleistift, links lag ihr Lineal.

«Ja?»

Verena, die die engstehenden, abwärts gezogenen Augen und die römische Nase ihrer Mutter geerbt hatte, sah ohne Verstimmung über die Störung auf, obwohl sie gerade bei einem schwierigen Kapitel angelangt war und lieber ungestört geblieben wäre.

«Ich habe eben mit deinem Vater gesprochen, und dabei hat sich herausgestellt, daß Professor Somerville – der Leiter der zoologischen Abteilung – Quin Somerville ist, der Eigentümer von Bowmont. Frances Somervilles Neffe.»

«Ja, Mutter. Ich weiß.»

Ihre Mutter starrte sie an. «Du weißt das?»

Verena nickte. «Ich habe mich erkundigt. Deswegen habe ich mich ja für Zoologie entschieden. Er genießt einen hervorragenden Ruf.»

Nicht zum erstenmal staunte Lady Plackett über die Umsicht ihrer Tochter. Verena hatte den Sommer bei ihren Verwandten in Rutland verbracht, dennoch war sie bereits besser informiert als ihre Eltern.

«Ich werde ihn zum Essen einladen, sobald er wieder hier ist», sagte sie. «Zusammen mit einer ausgewählten kleinen Gruppe von Gästen. Du wirst natürlich neben ihm sitzen, damit ihr Zeit habt, euch zu unterhalten.»

Verena wandte sich wieder ihrem Buch zu. «Es wird mir ein Vergnügen sein», sagte sie.


Ruth ging durch das Tor der Thameside-Universität, grüßte den Pförtner in seinem Häuschen und betrachtete mit Entzücken den gepflegten Rasen, den alten Walnußbaum, das Standbild eines Mannes, der ausnahmsweise einmal nicht hoch zu Roß war.

Thameside war schön. Sie wußte, daß es eines der ältesten Bauwerke Londons war, aber diesen klösterlichen Frieden hatte sie nicht erwartet. Blumenbeete zogen sich zu Füßen der grauen Mauern entlang, und durch einen breiten Torbogen auf der anderen Seite des quadratischen Hofs bot sich ein atemberaubender Blick auf die Themse und die gewaltige Kuppel der St.-Pauls-Kathedrale auf dem anderen Ufer. Die Universität von Wien war größer, würdevoller, aber Ruth, die an den Fenstern von Bibliotheksräumen und Vorlesungssälen vorüberging, fühlte sich zu Hause.

Das Standbild war, wie sich zeigte, als sie es erreichte, das des Dichters William Wordsworth. Absolut passend, fand sie. Er hatte im Jahr 1802 auf der Westminster-Brücke gestanden und die Worte «Nichts Schön'res hat die Erde je geseh'n» gesprochen, mit denen sie, da sie soeben den Fluß überquert und mit eigenen Augen gesehen hatte, völlig übereinstimmte.

Ihr Termin bei Dr. Felton war für halb drei vereinbart. Ein Blick auf die Uhr über dem Torbogen zum Fluß zeigte ihr, daß sie noch zehn Minuten zeit hatte. Sie wollte sich solange ans Wasser setzen. Aber als sie sich zum Gehen wandte, hörte sie aus dem Keller des Naturwissenschaftlichen Baus zu ihrer Linken einen Laut, der unglaublich schwermütig klang. Sie drehte erstaunt den Kopf. Wieder vernahm sie den Laut. Diesmal erkannte sie ihn klar. Irgendwo dort unten befand sich, offenbar tief traurig und einsam, ein Schaf.

Sie stieg die Steintreppe hinunter, stieß eine Tür auf und trat in ein dunkles, staubiges Labor; ein Physiologielabor, ihr augenblicklich vertraut aus den Tagen in Wien, als sie, von den rotglühenden Blicken von tausend weißen Ratten begleitet, durch die Tierhaltungsräume der Universität gefahren war. Auch hier waren Ratten und die großen Behälter mit dem gelben Mais, von dem sie sich ernährten, eine Waage, Mikroskope, eine Zentrifuge ... und in einer Ecke, in einen hölzernen Pferch eingesperrt, stand ein weißgesichtiges, melancholisch dreinblickendes Schaf.

«Ja, natürlich, du fühlst dich einsam», sagte Ruth und trat näher. «Aber weißt du, ich darf dich nicht anfassen, weil du der Wissenschaft gehörst. Du bist ein Versuchstier. Du bist so ähnlich wie eine Vestalin – Höherem geweiht.»

Das Schaf stieß mit dem Kopf gegen die Wand seines Pferchs, dann sah es auf und blickte sie mit goldgelben Augen an. Ruth konnte nirgends Schläuche oder andere Anzeichen experimenteller Untersuchungen entdecken – das Schaf wirkte wohlgenährt und schien bei ausgezeichneter Gesundheit zu sein –, aber gut gedrillt, wie sie war, hielt sie sich dennoch von dem Tier fern.

«Ich kann mir vorstellen, daß du viel lieber woanders wärst», fuhr sie fort, «aber da bist du nicht allein. Zur Zeit gibt es massenhaft Leute, die lieber woanders wären. Überall in Belsize Park, in Finchley und in Swiss Cottage könnte ich dir solche Leute zeigen. Du gehörst einer edlen Rasse an, ich weiß, denn du kommst in den Psalmen vor, und der heilige Franz hat dir gepredigt. Ich weiß auch, warum; weil du Augen hast, die hören können.»

Das Schaf rammte seinen Kopf noch heftiger gegen die Wand des Pferchs, aber sein Blöken klang längst nicht mehr so melancholisch wie zuvor. Dann setzte es sich plötzlich, streckte ein Bein aus und reckte den Hals wie jemand, der einem Vortrag lauscht.

«Na schön, dann sag ich dir jetzt was von Goethe auf. Das wird dir bestimmt gefallen, er ist nämlich ein Dichter, bei dem es meistens sehr beschaulich zugeht, manchmal vielleicht ein bißchen schwermütig. Laß mich nachdenken, was würde dir gefallen?»


In seinem Zimmer im zweiten Stockwerk des Naturwissenschaftlichen Baus blies Dr. Roger Felton den Inhalt einer Pipette in einen Behälter mit Wasserschnecken und runzelte die Stirn. Eigentlich hätten jetzt Girlanden durchscheinender Eier im Tang hängen müssen, aber das war nicht der Fall. Natürlich konnte er sich jederzeit mehr Schnecken im Zoologischen Garten besorgen, aber er hatte es sich in den Kopf gesetzt, seine eigenen Tiere zu züchten – nicht nur für die Studenten, die seine Kurse in Meeresbiologie besuchten, sondern weil den Opisthobranchia mit ihren erstaunlich großen Nervenzellen sein besonderes Interesse galt.

Meerestiere aller Art – Seeigel, Seesterne, Garnelen, Tintenfische – schwammen, krochen, schwebten in Salzwasserbehältern, die durch ein kompliziertes System von Schläuchen und Pumpen gekühlt und belüftet wurden. Dr. Felton liebte sein Fach und unterrichtete es mit Leidenschaft und Begeisterung. Aber es gab Probleme, und nicht das geringste unter ihnen war der neue Vizekanzler, der keinen Zweifel daran gelassen hatte, daß für ihn Veröffentlichungen zählten, nicht die reine Lehrtätigkeit.

Roger Felton war sich darüber im klaren, daß er mehr Zeit auf die Forschung verwenden sollte, aber jemand mußte sich schließlich um die Studenten kümmern, wenn der Professor soviel unterwegs war. Er neidete Quin seine Reisen nicht – einen Mann solchen Kalibers in der Fakultät zu haben, war ein wahres Gottesgeschenk.

Dennoch – anstatt sich jetzt mit seinen Schnecken zu beschäftigen, mußte er die neue Studentin empfangen, die ihnen vom University College geschickt worden war, nachdem man dort offenbar Mist gemacht hatte. Er setzte sich an seinen Schreibtisch und zog sich Ruth Bergers Unterlagen heran. Was die Universität von Wien da über sie schrieb, war ja eine wahre Eloge. Sie würde, so schien es, ohne weiters im dritten Jahr anfangen und im Sommer ihr Abschlußexamen ablegen können. Sie hatte ausgezeichnete Noten mitgebracht, und ihr Vater war ein hervorragender Paläontologe. Selbst wenn der Professor keine Anweisung gegeben hätte, Flüchtlinge auf jeden Fall aufzunehmen, hätte er sich bemüht, einen Platz für dieses Mädchen zu finden.

Als es an seine Tür klopfte, blickte er in der Erwartung auf, Ruth Berger vor sich zu sehen. Statt dessen jedoch trat Dr. Elke Sonderstrom ein, groß, blond, mit der Figur einer Walküre. Sie war Dozentin in Parasitologie und hatte ihr Arbeitszimmer neben dem seinen.

«Komm einen Moment mit hinunter, Roger. Aber leise – sprich kein Wort.»

Roger Felton sah sie fragend an, aber Elke sagte nur: «Ich bin in den Keller gegangen, weil ich die Zentrifuge benutzen wollte, und – komm, du wirst es ja sehen.»

Verwundert folgte er ihr die zwei Treppen hinunter. Vor dem Keller wartete Humphrey Fitzsimmons auf sie, der lange, magere Physiologe.

«Sie ist noch da», flüsterte er und legte einen Finger auf die Lippen.

Das Labor war in Düsternis getaucht, doch an seinem hinteren Ende konnten sie einen hellen Schein ausmachen – das offene, in wirren Locken vom Kopf abstehende Haar eines jungen Mädchens. Das Mädchen selbst stand ganz vertieft über die Wand des Schafspferchs gebeugt.

Aber nicht das leuchtende Haar, nicht der geneigte Kopf des Mädchens waren es, die sie bannten. Es war nicht einmal die ungewöhnliche Haltung des lauschenden Schafs. Nein, bis zur Reglosigkeit fasziniert waren die drei stummen Beobachter von der Stimme des Mädchens. Sie sprach ein Gedicht und sie tat es auf Deutsch.

Die deutsche Sprache war ihnen allen bis zu einem gewissen Grad vertraut. Täglich schallte sie ihnen in Form von Hitlers Haß- und Hetztiraden aus dem Radio entgegen. Als Wissenschaftler hatten sie sich in allen möglichen Fachzeitschriften mit ihr abplagen müssen, immer auf der Suche durch endlose Sätze nach einem kleinen bescheidenen Verb.

Aber das hier ... Daß das Deutsche so weich klingen konnte, so zärtlich, so – liebevoll. Elke Sonderstrom schloß die Augen und war wieder in dem Holzhaus am weißen Strand von Öland bei ihrer Mutter, die Glockenblumen in einem Keramikkrug verteilte. Humphrey Fitzsimmons, zu sehr Sproß der Oberklasse, um viel von seiner Mutter gesehen zu haben, erinnerte sich der sanften Augen des Wasserspaniels, den er als Junge gehabt hatte. Und Roger Felton dachte daran, daß seine Frau, deren tränenfeuchter Blick ihm in stummem Vorwurf zu folgen pflegte, weil sie einfach nicht schwanger wurde, früher einmal eine Schneeflocke beim Ballett von Monte Carlo gewesen war, mit einem falschen russischen Namen und einem bezaubernden Lächeln.

Die Stimme wurde leiser, und das Mädchen schwieg. Dann warf sie kurz einen Blick auf ihre Uhr, wandte sich zum Gehen – und sah sie.

«Oh, entschuldigen Sie», sagte sie auf Englisch. «Aber ich schwöre Ihnen, ich habe es nicht angerührt – nicht einmal mit einem Finger. Ich schwöre es bei Mozarts Kopf.»

«Es spielt keine Rolle», antwortete Fitzsimmons, immer noch ein wenig benommen. «Wir brauchen es nicht. Es war für einen Versuch zur Ernährung gedacht, den die Regierung in Auftrag gegeben hatte, aber nach München wurde die Sache abgeblasen, und die anderen Tiere sind nie hier angekommen.»

«Was war das für ein Gedicht?» frage Elke Sonderstrom.

«Wanderers Nachtlied von Goethe. Es ist ein bißchen traurig, aber das sind große Gedichte wahrscheinlich immer, und es ist eine Art ländlicher Traurigkeit mit Bergen und Vogelgezwitscher und Frieden.»

Roger Felton kam wieder auf die Erde und besann sich auf seine Rolle als Dozent und stellvertretender Abteilungsleiter der zoologischen Fakultät, der für die Neueinschreibungen zuständig war. «Sind Sie zufällig Miss Ruth Berger? Wenn ja, dann habe ich Sie schon erwartet.»


Eine halbe Stunde später steckten sie in Roger Feltons Büro mitten in den Aufnahmeformalitäten.

«Ach, das wird wunderbar!» sagte Ruth glücklich. «Alles, was ich gern mag. Ich wollte immer schon Meeresbiologie nehmen. In Wien gab's das nicht, weil ja kein Meer in der Nähe ist. Ich war immer nur an der Ostsee. Da ist die Küste schnurgerade, und die Leute liegen nackt im Sand und lesen Schopenhauer.»

Sie hob die Arme und blähte die Wangen, um einen korpulenten Nudisten bei der Schopenhauerlektüre darzustellen.

«Schön, damit haben wir Ihre Hauptfächer», meinte Felton. «Parasitologie, Physiologie, Meeresbiologie. Kommen wir jetzt zu Ihrem besonderen Wahlfach. Ich nehme an, Sie werden sich für Paläontologie entscheiden, da ja auch Ihr Vater Paläontologe ist.»

Einen Moment zögerte Ruth, und Felton, der bereits bemerkt hatte, daß Ruth Berger nicht unbedingt zu den großen Schweigern gehörte, sah von dem Formular auf, das er gerade ausfüllte.

«Diese Studien leitet Professor Somerville selbst», fügte er hinzu. «Wir haben immer viel zuviele Anmeldungen, aber ich denke, wir können Sie da schon noch hineinmogeln. Seine Vorlesungen sind einfach brillant.»

«Kann ich sie dann belegen? Wäre das in Ordnung?»

«Aber sicher. Wir haben auch eine Exkursion mit Feldstudien; sie findet im allgemeinen im Frühjahr statt, aber da der Professor weg war, haben wir sie auf den Herbst verschoben.»

Er krauste die Stirn, weil für die Exkursion eigentlich kein Platz mehr frei war. Den letzten hatte vor ein paar Tagen Verena Plackett genommen. Aber Felton hatte nicht die Absicht, sich davon bremsen zu lassen.

«Ich glaube nicht, daß ich die Exkursion mitmachen kann. Die Quäker bezahlen meine Studiengelder, aber für Reisekosten ist nichts vorgesehen. Und meine Eltern sind jetzt sehr arm.»

«Wir werden sehen», meinte Felton. Es gab einen Fonds für Härtefälle, der vom Finanzausschuß verwaltet wurde, dem er selbst angehörte, aber er hielt es für besser, vorläufig nichts davon zu sagen.

«Sie sind so nett», sagte sie beinahe verlegen. «Sie können sich nicht vorstellen, was es für mich bedeutet, hier sein zu können nach dem – was passiert ist. Ich habe nicht geglaubt, daß ich hier weiterstudieren könnte. Ich dachte, ich würde arbeiten müssen, um zum Unterhalt der Familie beizutragen. Aber jetzt, wo ich hier bin – nicht einmal mit Gewalt könnte man mich jetzt noch von hier wegbringen.»

«Es war schlimm?»

Sie zuckte die Achseln. «Einen Freund von mir haben sie vor der Universität die Treppe hinuntergestoßen. Er brach sich das Bein. Aber hier ist alles wie früher, man will die Welt erforschen und Wissen ansammeln ...»

«Zum Beispiel über Meeresschnecken», warf Felton ein wenig bitter ein. «Und die weigern sich sogar, sich fortzupflanzen.»

«Ja, aber das ist ja auch eine schwierige Sache – die Kompatibilität. Das ist schon bei den Menschen schwierig, und wenn man männlich und weiblich zugleich ist, kann es gar nicht einfach sein.»

Auf rätselhafte Weise getröstet, stimmte Roger Felton ihr zu. Als sie gegangen war, mit dem kurzen, angedeuteten Knicks, der die verlorene Welt Mitteleuropas ins Gedächtnis rief, zog er ihr Formular näher zu sich heran und betrachtete es mit Befriedigung. Quin beschwerte sich dauernd, daß die Studenten von heute keine Persönlichkeit mehr besäßen. Dieser neuen Studentin würde er das kaum vorwerfen können. Im Gegenteil, er würde gewiß höchst erfreut sein über seine neue Schülerin. Ob es ihm mit Verena Plackett, deren Anmeldung unter der Ruths lag, ebenso ergehen würde, war eine andere Frage.


«Nun?» Mrs. Weiss neigte fragend den Kopf unter dem Federhütchen, als Ruth, die immer noch im Tea-Room Willow bediente, zu ihr an den Tisch trat.

»Oh, es wird bestimmt wunderbar», antwortete Ruth und stellte der alten Dame ihren Kaffee hin.

Alle, auch ihre Eltern, hatten sich im Tea-Room versammelt, denn Ruths Rückkehr an den ihr angestammten Platz in der Welt der Akademiker mußte gefeiert und gründlich besprochen werden. Sie hatten von dem netten Dr. Felton und der walkürenhaften Dr. Sonderstrom und ihren Parasiten gehört, von der idyllischen Schönheit der Universität und dem Schaf, das Goethe liebte.

«Und Professor Somerville?» fragte Kurt Berger, der gerade erst gekommen war, da die Bibliothek freitags länger geöffnet war.

«Der ist noch nicht zurück. Er ist nach Schottland gefahren, weil er sich zur Marine melden wollte», erzählte Ruth, die darüber selbst etwas verwundert war, da sie fest geglaubt hatte, ein Mann von dreißig müßte nicht mehr am Krieg teilnehmen. «Aber alle sagen, daß seine Vorlesungen fabelhaft sind.»

Jetzt traf die Dame mit dem Pudel ein, und aus Höflichkeit ihr gegenüber wurde das Gespräch auf Englisch weitergeführt.

«Hast du schon die anderen Studenten kennengelernt?» fragte Paul Ziller.

«Nur ein paar», antwortete Ruth und verschwand einen Moment in der Küche, um den Fruchtsaft für den Schauspieler zu holen. «Aber ich weiß, daß zur gleichen Zeit wie ich noch ein anderes Mädchen im dritten Jahr anfängt – Verena Plackett. Sie ist die Tochter des Vizekanzlers. Ich vermute, sie hätte jedes Fach nehmen können, das sie wollte, aber sie hat sich auch für Paläontologie entschieden. Ich denke, das ist ein Beweis dafür, wie gut es ist.»

Ziller stellte seine Tasse nieder. «Moment mal!» rief er und hob mit majestätischer Geste die Hand. «Die habe ich doch gesehen.»

Alle blickten ihn gespannt an.

«Wieso hast du sie gesehen?» wollte Leonie wissen.

Ziller stand auf und ging zu dem Korbtisch, auf dem die Zeitschriften lagen. Er schob Woman und Woman's Own, die regelmäßig von der Pudeldame gestiftet wurden, zur Seite, ebenso Home Chat, Mrs. Burtts Beitrag, und ging die Ausgaben von Country Lift durch, bis er die gefunden hatte, die er suchte. Langsam begann er zu blättern.

Mittlerweile hatte sich beträchtliche Spannung aufgebaut, und Mrs. Burtt und Miss Violet kamen sogar aus der Küche, um sich nichts entgehen zu lassen.

«Ha!» rief Ziller triumphierend und hielt die gesuchte Seite hoch.

Country Life brachte in jeder Ausgabe das Ganzfoto eines jungen Mädchens, unweigerlich Tochter aus gutem Hause und häufig kurz vor der Heirat mit einem angemessenen jungen Mann, das den Prototyp gediegener Upper-class-Weiblichkeit verkörperte. Hier nun war Verena Plackett, Tochter des neuen Vizekanzlers der Thameside-Universität, zur Vorstellung am königlichen Hof in fleischfarbenen Satin gewandet, mit einer glitzerdurchwirkten Schleppe und Straußenfedern im Haar.

Ruth, die ihr Tablett abgestellt hatte, wurde der erste Blick gegönnt, und sie betrachtete ihre Kommilitonin aufmerksam. «Sie sieht intelligent aus», sagte sie.

Verena wurde herumgereicht und schien allgemein Anklang zu finden. Ziller gefiel ihr langer Hals, von Hofmann war entzückt von ihren Schlüsselbeinen, und Miss Maud erklärte, an ihrer Nase hätte sie auf Anhieb erkannt, daß sie eine Croft-Ellis war. Nur Mrs. Burtt hüllte sich in Schweigen, ließ lediglich ein kleines Schniefen hören, das leicht dem Klassenhaß zuzuschreiben war.

Leonie jedoch sah sich das Bild am längsten an und fragte, bevor sie nach Hause ging, ob sie sich die Zeitschrift ausleihen dürfte.

«Ich bin kein Snob», sagte sie zu ihrem Mann, der wissend lächelte, «aber daß Ruth nun wieder in der Welt ist, in die sie gehört ... ach Kurt, das ist so gut.»

Erst als Ruth zu Bett gegangen war, stellte Leonie ihr Bügelbrett auf; ihre Tochter sollte nicht wissen, wie lange und wie billig sie arbeitete. Doch während sie sorgsam die Rüschen und Volants an Mrs. Carters Bluse glattbügelte, summte sie eine Walzermelodie vor sich hin, zu der sie in ihrer Jugend getanzt hatte. Und nach einer Weile stellte sie das Eisen weg und betrachtete noch einmal eingehend Verena Placketts Gesicht.

Besonders liebenswürdig sah sie nicht aus; aber wer war vor dem Fotografen nicht befangen? Und wenn ihre Mundwinkel etwas abwärts hingen, so war dies vermutlich ein Familienmerkmal und kein Zeichen von Übellaunigkeit. Ganz gleich, Hauptsache war, daß Ruth wieder dort war, wohin sie gehörte. Die Tochter eines Vizekanzlers war genau die passende Freundin für die Tochter eines ehemaligen Dekans der Naturwissenschaftlichen Fakultät an der Universität Wien. Verena und Ruth würden die besten Freundinnen werden – Leonie war dessen ganz sicher –, und nichts konnte sie an diesem Abend um ihre gute Laune bringen; nicht einmal der Geruch nach verbrannter Linsensuppe, der um Mitternacht, als die Psychoanalytikerin aus Breslau ihr Abendessen kochte, durch das ganze Haus zog.

Загрузка...