14

«Lieber Himmel, Ruth, was hast du mit deinen Haaren gemacht?» rief Leonie, als ihre Tochter am Montag morgen zum Frühstück erschien.

«Ich habe mir einen Zopf geflochten», antwortete Ruth mit Würde.

«Ja, das seh ich. Aber wie! Du hast die Haare ja so stramm zurückgezogen, daß man meinen könnte, du wolltest dich skalpieren.»

Ruth jedoch, deren Ziel die gänzliche Unauffälligkeit war, erklärte, sie fühle sich sehr wohl, und fragte, ob sie Hildas Regenmantel ausleihen dürfe, der schwarz war und männlich wirkte und bessere Zeiten gesehen hatte. Nachdem sie den Kragen hochgeklappt und sich eine Baskenmütze über den Kopf gezogen hatte, war sie sicher, daß es ihr gelingen würde, sich Quin Somervilles Aufmerksamkeit zu entziehen; dann machte sie sich, ohne auf ihre Mutter zu achten, die behauptete, sie sähe aus wie ein Straßenmädchen in einem Experimentalfilm von Pabst, auf den Weg zur Universität. Dort geriet sie von neuem unter Beschuß. Janet machte sie darauf aufmerksam, daß es keinen Tropfen regnete, und Sam fragte bekümmert, ob das jetzt ihre neue Frisur sei. Doch wenn schon Ruths Aussehen seltsam war, so war es ihr Verhalten noch mehr.

«Ist was?» fragte Pilly, als Ruth sich in den Hörsaal schlich wie die Bisamratte Chu Chundra in Kiplings Dschungelbuch, die sich niemals in die Mitte eines Zimmers wagte.

«Nein, nein», versicherte Ruth. «Das heißt, mir ist irgendwie nicht ganz gut. Ich glaube, ich setze mich hinten hin, damit ich jederzeit raus kann. Aber geh du ruhig nach vorn und such dir einen guten Platz.»

Das war eine sinnlose Aufforderung. Wo Ruth hinging, da ging auch Pilly hin, und wenig später gesellten sich Janet, Sam und Huw zu ihnen.

«Es ist nicht so schlimm», versicherte Sam, der sich schweren Herzens damit abfand, daß er seinem Idol so fern sein würde.»Man kann immer hören, was er sagt.»

Der Saal war voll bis auf den letzten Platz. Nicht nur Studenten anderer Jahrgänge, sondern auch anderer Disziplinen hatten sich eingefunden und dazu die Gasthörer, von denen Pilly erzählt hatte: Hausfrauen, alte Damen, ein rotgesichtiger Colonel mit einem Knebelbart.

«Ah, da kommt Verena», bemerkte Janet. «Sollte sie sich diese schwungvollen Würste auf der Stirn zu Ehren des Professors gedreht haben?»

In der Tat zeigte sich Verena im Glanz einer neuen Frisur, auch wenn sie wie immer ein Schneiderkostüm und eine hochgeschlossene Bluse strengen Schnitts anhatte. Als sie mit ihrer Krokodilledertasche unter dem Arm die Stufen des Hörsaals herunterkam, sah sie sich mit einer unerwarteten Schwierigkeit konfrontiert. Ihr Platz in der Mitte der ersten Reihe war besetzt.

Der Angestellte, der angewiesen war, Verena vor den Vorlesungen stets ihren Platz zu reservieren, hatte aufgemuckt. Er hatte sich beim Quästor beschwert und gesagt, das gehöre nicht zu seinem Aufgabengebiet, und der Quästor, der wahrscheinlich mit der Gewerkschaft unter einer Decke steckte, hatte ihn unterstützt. Bisher hatte sich das nicht weiter ausgewirkt, da inzwischen jedermann wußte, was ihr zustand; heute jedoch, bei dem Zustrom von Hörern, war die ganze erste Reihe besetzt.

Jeder andere hätte sich davon vielleicht abschrecken lassen; nicht Verena Plackett, Tochter ihrer Mutter.

«Entschuldigung», sagte sie, hielt ihre edle Aktentasche hoch und drängte sich an den Sitzenden vorbei bis zur Mitte der Reihe direkt vor dem Podium mit dem Rednerpult und der Wasserkaraffe. Hier saß sie immer, hier beabsichtigte sie auch heute zu sitzen.

Ihr Hinterteil anmutig gelüpft, wartete Verena, um sich auf dem ihr angestammten Platz niederzulassen – und wartete nicht vergeblich. Solcherart war die Autorität, die überlegene Klasse, die selbst von ihrem Gesäß ausging, daß die Frau rechts von ihr näher zu ihrem Nachbar rückte, der Student links sich mit nur einem kleinen Murren an seinen Freund drängte – und mit einem höflichen «Danke sehr» setzte sich Verena, öffnete die Aktentasche, nahm den Block und den Füller mit der Goldfeder heraus und war bereit.

Quin betrat den Vorlesungssaal, legte ein einzelnes Blatt Papier auf das Pult, schob die Wasserkaraffe weg, blickte auf, um «Guten Morgen» zu sagen – und entdeckte augenblicklich Ruth, die so tief wie möglich zusammengekrümmt in der letzten Reihe saß. Sie war teilweise verdeckt von einem breitschultrigen jungen Mann in der Reihe vor ihr, aber das herzförmige Gesicht, die großen umschatteten Augen waren deutlich zu erkennen, und nicht minder eine nackte Fläche dort, wo ihr Haar nicht war. Einen Moment lang glaubte er, sie habe es abgeschnitten, und spürte ein Aussetzen seines Herzschlags, als hätte sein Vegetativum die Absicht gehabt, eine Protestmeldung zu senden, und sich dann eines anderen besonnen, einerseits weil es ihn nichts anging, andererseits weil sie es gar nicht abgeschnitten hatte. Offensichtlich hatte sie mit Regen gerechnet, denn er konnte den Zopf unter ihrem Mantel verschwinden sehen und mußte an das Museum in Wien denken, an ihr tropfnasses Haar, als er sie zu ihrer Hochzeit abgeholt hatte.

Diese Gedanken, wenn es wirklich bewußte Gedanken waren, nahmen nur wenige Sekunden in Anspruch, ehe sie von einem weiteren, ebenso flüchtigen abgelöst wurden, der Frage nämlich, wieso das University College seine Studenten zu seiner Vorlesung schickte. Nachdem er sich vorgenommen hatte, das in Zukunft zu unterbinden, ergriff er ein Stück Kreide, trat an die Tafel und begann.

Die folgende Stunde vergaß Ruth nie. Wenn jemand ihr gesagt hätte, daß sie einem Vortrag über Leitfossilien, die kennzeichnend für bestimmte geologische Schichten waren und zur Altersbestimmung herangezogen wurden, so gebannt folgen würde wie einer Gute-Nacht-Geschichte – ihn so aufregend, faszinierend und manchmal komisch finden würde wie jedes Märchen –, so hätte sie dem Betreffenden kaum geglaubt.

Das Thema des Vortrags war hoch wissenschaftlich. Quin präsentierte eine Neueinschätzung der von Rowe geleisteten Arbeit über die englische Kreidezeit und brachte sie in Bezug zu Darwins Theorien und den neuen Ideen Julian Huxleys. Aber während er sprach – ohne je die Stimme zu erheben, seine Worte nur selten mit einer Geste seiner ausdrucksvollen Hände unterstreichend –, empfand sie einen beinahe körperlichen Kontakt. Es war, als stünde er hinter ihr und stieße sie vorwärts, der Schlußfolgerung entgegen, die er gleich erreichen würde, so daß sie dachte: Ja – ja, natürlich, so muß es sein.

Rund um Ruth herum folgten die anderen dem Vortrag mit gleicher Faszination. Sam hatte seinen Füller aus der Hand gelegt; nur wenige Studenten machten sich mehr als gelegentliche Notizen, weil keiner auch nur ein Wort überhören wollte und weil sie wußten, daß sie danach lesen und lesen würden und irgendwie sogar die nötigen Reisen unternehmen ... daß sie Teil des Abenteuers werden würden, das sich dort auf dem Podium für sie auftat. Nur Verena schrieb unablässig mit ihrer Goldfeder – schrieb und schrieb und schrieb.

Irgendwann in der Mitte seines Vortrags machte Quin eine kurze Pause, fuhr sich mit der für ihn charakteristischen Handbewegung, die ihm selbst gar nicht bewußt war, durch das Haar, und sein Blick fiel erneut auf Ruth. Sie hatte ihre Zurückhaltung aufgegeben und saß gespannt vorgebeugt, den Zeigefinger quer über dem Mund, in der, wie er sich erinnerte, für sie typischen Haltung, wenn sie aufmerksam zuhörte. Auch ihr Haar hatte sich die Unterdrückung nicht länger gefallen lassen: eine Locke hatte sich aus dem strengen Zopf gelöst und ringelte sich um ihren Kragen.

Er richtete seinen Blick wieder auf das Papier, das vor ihm lag, und setzte seinen Vortrag fort. Genau fünf Minuten vor der vollen Stunde begann er mit der Rekapitulierung, präsentierte ihnen noch einmal die ungelöste Kontroverse und machte Schluß.

Er war noch keine drei Schritte gegangen, da wurde er schon umringt. Studenten wollten ihn begrüßen; der rotgesichtige Colonel erinnerte ihn daran, daß sie sich in Simla begegnet waren; Hausfrauen warteten schüchtern im Hintergrund.

Verena ließ sich Zeit. Sie wollte nicht in der Menge untergehen. Erst als Quin Somerville endlich den Weg zur Tür nahm, ging sie mit wenigen großen Schritten auf ihn zu und trat ihm in den Weg, um ihm das Erfreuliche mitzuteilen.

«Ich bin Verena Plackett», sagte sie.


«Wie soll ich das verstehen, Sie haben sie aufgenommen?»

Roger Felton seufzte. Vor zwei Stunden war er noch so froh gewesen, den Professor zu sehen. Somervilles Rückkehr hatte auf alle in der Abteilung wie ein frischer Wind der Zuversicht und der Unternehmungslust gewirkt. Jetzt aber fühlte Felton sich gedrückt und zu Unrecht zurechtgewiesen.

«Ich habe Ihnen doch gesagt – Sir», begann er, und Quin runzelte die Stirn. Das «Sir» bedeutete, daß er Roger härter angefaßt hatte als beabsichtigt. «Am University College hatte man ihren Platz weggegeben. Als sie sich dann doch noch meldete, haben die Leute unter anderem bei uns angerufen, um zu fragen, ob wir sie aufnehmen könnten. Ich dachte mir, wir würden schon noch ein Plätzchen für sie finden, zumal ich wußte, daß Sie ganz dafür sind, Flüchtlinge wenn irgend möglich aufzunehmen.»

«Aber nicht Ruth Berger. Sie muß weg.»

«Warum denn? Sie ist eine hervorragende Studentin. Sie glauben vielleicht, die Tatsache, daß sie ein hübsches Ding ist und ab und zu Zwiesprache mit dem Schaf hält ...»

«Sie redet mit einem Schaf? Mit was für einem Schaf?»

«Es wurde uns vom Forschungsinstitut Cambridge geschickt, und jetzt will man es nicht zurücknehmen.» Er erklärte und erläuterte und versuchte dabei zu begreifen, wieso der Prof, der am Morgen in glänzender Stimmung hereinmarschiert war, plötzlich so barsch und gereizt war. «Das Schaf fühlt sich einsam, und Ruth trägt ihm Gedichte vor. Goethe vor allem. Wanderers Nachtlied hat es besonders gern – das klingt auf Deutsch ganz anders, wissen Sie ...» Er bemerkte plötzlich die steinerne Miene Somervilles und sagte hastig: «Was ich sagen wollte – die Tatsache, daß sie ein originelles junges Ding ist und sehr – nun ja, emotional, ändert nichts daran, daß sie ausgezeichnete Arbeit leistet. Gerade auch im Labor, beim Sezieren und den Versuchen.»

«Das kann schon sein, aber Sie werden sie an einer anderen Universität unterbringen.»

«Das kann ich nicht. Es gibt keine Plätze. Die Leute vom University College haben es überall versucht, ehe sie sich an uns wandten. Und ich muß ehrlich sagen, ich verstehe nicht, was hier eigentlich los ist», fügte Roger hinzu, allen Respekt in den Wind schlagend. «In London wimmelt es von Flüchtlingen, denen Sie Arbeit beschafft haben – denken Sie nur mal an das alte Monstrum, das Sie der Geographischen Gesellschaft aufgehalst haben, Professor Zinlinsky, der dauernd versucht, den Frauen unter die Röcke zu schauen! Und als Ihre Tante zur Gartenausstellung in Chelsea hier war, kam sie auf einen Sprung vorbei und erzählte, in Northumberland sei es genauso schlimm – da versucht anscheinend irgendein von Ihnen vermittelter Opernsänger verzweifelt, die Kühe zu melken –, und jetzt wollen Sie plötzlich eine der besten Studentinnen an die Luft setzen, die wir hier je hatten. Es ist natürlich noch früh, aber Elke und ich sind ziemlich sicher, daß sie in den Prüfungen sogar Verena Plackett schlagen kann. Sie ist jedenfalls die einzige, bei der die Möglichkeit besteht.»

«Und wer ist Verena Plackett?»

«Die Tochter des Vizekanzlers. Ist sie nicht nach der Vorlesung zu Ihnen gekommen, um Ihnen für Ihren interessanten Vortrag zu danken?»

«Ach doch, ja», antwortete Quin desinteressiert. «Hören Sie, Roger, es tut mir leid, aber in dieser Angelegenheit lasse ich nicht mit mir handeln. O'Malley unten in Tonbridge wird sie bestimmt nehmen. Er schuldet mir sowieso noch einen Gefallen.»

«Mein Gott, da muß sie eine Stunde mit der Eisenbahn fahren! Sie spart doch für Heinis Klavier und ...»

«Ach was, tatsächlich? Und wer, zum Teufel, ist Heini, wenn man fragen darf?»

«Ihr Freund. Er sitzt noch in Budapest, aber er wird bald auch hierher kommen. Wenn Sie mich fragen, ich finde ja, er sollte sich sein Klavier selbst beschaffen. Seinetwegen verzichtet sie aufs Mittagessen und ...»

«Lieber Himmel, Sie haben sich wohl in die Kleine verguckt?»

Diesmal hatte er Felton ernstlich gekränkt. Die Augen hinter den Brillengläsern blitzten zornig. «Ich habe noch nie etwas mit einer Studentin angefangen, und ich werde es auch nie tun; das müßten Sie eigentlich wissen. Selbst wenn ich nicht verheiratet wäre, würde ich mir so etwas nicht einfallen lassen. Leute, die ihre Stellung dazu ausnützen, sich an Studentinnen heranzumachen, stehen bei mir ganz unten.»

«Ja, ja, das weiß ich doch. Tut mir leid, ich hätte das nicht sagen sollen. Aber schauen Sie, ich bin mit den Bergers recht gut bekannt. Ich habe einmal einen Sommer bei ihnen verbracht, als Ruth noch ein Kind war. Es geht nicht, daß sie bei mir studiert.»

Felton atmete auf. «Ach, wenn es nur das ist ... Du lieber Gott, wen interessiert denn das?»

«Mich.»

«Sie fürchten wohl, Sie könnten ihr in den Prüfungen zu gute Noten geben, aber die Wahrscheinlichkeit ist doch nun wahrhaftig äußerst gering», sagte Felton ironisch. «Sie werden voraussichtlich nicht einmal hier sein, wenn es ans Benoten geht.»

«Gut, da haben Sie nicht unrecht. Aber ...»

«Sie tut uns gut», sagte Felton mit Gefühl. «Sie ist so dankbar dafür, daß sie überhaupt studieren kann. Sie bringt den anderen zu Bewußtsein, was für ein Privileg es ist, an einer Universität arbeiten zu können. Sie wissen doch selbst, wie zynisch diese jungen Leute oft sind, wie sie über alles murren. Und wir wahrscheinlich genauso. Und da ist nun plötzlich jemand, der ins Mikroskop schaut, als wäre der Objektträger mit dem Pantoffeltierchen von Gott selbst vom Himmel herabgesandt worden. Und sie hilft dem kleinen Pillenmädchen, das immer bei sämtlichen Prüfungen durchfällt.»

«Seit wann ist Miss Berger eigentlich genau hier?» fragte Quin, dessen Laune von Minute zu Minute schwärzer zu werden schien.

«Seit einer Woche. Aber was spielt das denn für eine Rolle? Sie wissen doch selbst, daß man schon beim erstenmal, wenn jemand eine Pipette zur Hand nimmt, sehen kann, wie die Aussichten stehen.»

«Trotzdem geht sie», sagte Quin kurz.

«Dann sagen Sie es ihr selbst.» Zum erstenmal in den Jahren ihrer Zusammenarbeit trotzte Felton seinem Vorgesetzten.

«Das werde ich tun», antwortete Quin mit gewitterfinsterer Miene. «Bitte beschaffen Sie mir so schnell wie möglich die Anmeldezahlen vom letzten Jahr. Der Vizekanzler möchte sie sehen.»

Felton nickte. «Ich habe sie fast fertig. Sie können sie heute abend haben.»


Quin Somervilles Zimmer war in der zweiten Etage und blickte über den Walnußbaum hinweg auf die Fassade des Hauses, in dem der Vizekanzler wohnte, und auf den Torbogen mit seinem Durchblick zum Fluß. In einer mit Sand gefüllten seichten Wanne lagen teilweise geordnet die Teile eines Plesiosauriers; der Schädel eines Mastodon-Babys diente als Briefbeschwerer. Am Fenster stand, mit einem Wollschal um den Hals, den seine Tante Frances vergessen hatte, ein lebensgroßes Modell Daphnes, eines weiblichen Hominiden aus Java, das Quin von der Oriental Exploration Society geschenkt worden war. Die Vase mit der langstieligen Rose, die auf seinem Schreibtisch stand, war von seiner Sekretärin dorthin gestellt worden. Hazel war eine friedfertige, glücklich verheiratete Frau, die die Abteilung auch ohne Einmischung ihrer Chefs reibungslos hätte leiten können und das häufig auch tat.

Als Ruth, zum Professor zitiert, das Zimmer betreten hatte, war sie noch ganz beglückt gewesen von dem Erlebnis der Vorlesung. Jetzt aber stand sie mit gesenktem Kopf und hatte Mühe, die Tränen zurückzuhalten.

«Aber warum? Warum muß ich gehen? Ich verstehe das nicht.»

«Ruth, ich habe es Ihnen erklärt. In meinem alten College in Cambridge durften die Mitglieder des Lehrkörpers nicht einmal Frauen haben, geschweige denn sie ins Institut mitbringen. Es geht einfach nicht an, daß ich eine Frau unterrichte, mit der ich verheiratet bin.»

«Aber Sie sind doch gar nicht mit mir verheiratet!» widersprach sie leidenschaftlich. «Jedenfalls nicht richtig. Sie schicken mir doch dauernd nur Papiere über die Auflösung der Ehe – über Epilepsie und Blutsverwandtschaft und Nichtvollzug oder Vollziehung oder wie es sonst heißt.»

«Es geht trotzdem nicht, Ruth, glauben Sie mir. Wenn hier noch der alte Vizekanzler wäre, würde sich vielleicht etwas machen lassen. Aber doch nicht mit den Placketts! Der Skandal wäre entsetzlich. Ich müßte meinen Posten zur Verfügung stellen, was mir eigentlich gar nichts ausmachen würde, aber man würde natürlich auch Sie mit hineinziehen, und Ihr Leben hier stünde von Anfang an unter einem schwarzen Schatten. Ganz zu schweigen davon, daß Sie Ihre Freiheit nicht so schnell bekämen, wenn bekannt würde, daß wir uns täglich gesehen haben.»

«Ach so – die – na, wie heißt es gleich? Die Kollusion – das schweigende Einverständnis, den Staat zu beschummeln», sagte Ruth.

«Richtig. Die Kollusion. Seien Sie vernünftig, Ruth. Ich werde mich um alles kümmern. Ich bin ziemlich sicher, daß ich Ihnen in Kent einen Studienplatz besorgen kann. Dort gibt es zwar kein Förderprogramm ...»

«Ich will aber nicht weg.» Ihre Stimme war leise und leidenschaftlich. Sie war zum Fenster hinübergegangen, und jetzt hob sie eine Hand und legte sie Daphne auf den Arm, als suchte sie eine Gefährtin in der Not. «Ich will nicht. Hier sind alle so nett. Ich habe mich gerade erst mit Pilly angefreundet, sie muß Wissenschaftlerin werden, nur weil ihr Vater Sie in der Wochenschau irgendwo mit Yaks herummarschieren sah, und das ist doch weiß Gott nicht ihre Schuld. Und Sam hab ich versprochen, daß ich mal Paul Ziller in den Musikkreis mitbringe, und Dr. Feltons Unterricht ist so interessant, und dabei haben er und seine Frau solchen Kummer, weil sie einfach kein Baby bekommen, obwohl sie immer die Temperatur ...»

«Das hat er Ihnen erzählt?» rief Quin, der seinen Ohren nicht trauen wollte.

«Nein, nicht direkt – aber Mrs. Felton war hier, um ihn abzuholen, und er hatte sich verspätet, und da sind wir ins Reden gekommen. Ich bin nicht so reserviert wie die Engländer, wissen Sie. Gut, unsere Heirat ist ein Geheimnis, das war so ausgemacht, und das ist klar. Aber sonst ... Meine Großmutter, die Ziegenhirtin, war auch immer offen und gesprächig. Sie hat zum Beispiel ihre Strümpfe heruntergerollt und gesagt: , und dann mußte man sich ihre Krampfadern ansehen. Sie fragte nicht erst, ob man sie sehen wollte; sie mußte sie einfach herzeigen. Und meine jüdische Seite hat für Distanz sowieso nicht viel übrig. Bei Ihnen ist das anders, weil Sie Engländer sind und aus der Oberklasse, und Verena Plackett studiert extra Paläontologie, damit sie Sie heiraten kann, wenn wir geschieden sind.»

«Reden Sie keinen Quatsch, Ruth!» fuhr Quin sie mit einer ungeduldigen Geste an. «Lassen Sie uns jetzt lieber darüber nachdenken ...»

«Es ist kein Quatsch. Sie hat sich für das Abendessen heute extra ein neues Kleid gekauft, weil Sie kommen. Es ist aus metallblauem Taft und hat Puffärmel. Ich weiß es, weil das Dienstmädchen von Placketts die Nichte vom Pförtner ist, und er hat's mir erzählt. Sie ist natürlich sehr groß, aber Sie könnten ja einen Bürstenschnitt tragen und ...»

Quin zog sein Taschentuch heraus und wischte sich die Stirn. «Ruth, es tut mir leid. Ich weiß, Sie haben sich hier schon eingelebt ...»

«Ja, das habe ich!» rief sie erregt. «Es ist so schön hier. Dr. Sonderstrom hat mir ihre Wanzeneier gezeigt. Sie können sich nicht vorstellen, wie niedlich sie sind, mit einem kleinen Käppchen an einem Ende, und durch die Schale kann man die Augen der Kleinen sehen. Und ich liebe den Fluß und den Walnußbaum ...»

«Und das Schaf», warf Quin ein.

«Ja, das Schaf auch. Aber am schönsten war Ihre Vorlesung heute morgen. Was ich da alles begriffen habe! Nur mit dem, was Sie über Hackenstreicher gesagt haben, kann ich nicht ganz übereinstimmen. Es könnte doch sein, daß er absolut aufrichtig war, als er schrieb ...»

«Ach, glauben Sie?» meinte Quin nicht im geringsten erfreut. «Sie halten es für möglich, daß ein Mann, der absichtlich das Beweismaterial fälscht, um eine vorgefaßte Hypothese zu stützen, ernst zu nehmen ist?»

«Wenn es wirklich Absicht war. Mein Vater hatte aber einen Aufsatz, in dem stand, daß der Schädel, den man Hackenstreicher zeigte, von einer weit tieferen Stufe stammen könnte und daß es dann verständlich wäre, daß er zu den Schlußfolgerungen gelangte, die er veröffentlicht hat.»

«Ja, den Aufsatz habe ich gelesen, aber sehen Sie denn nicht ...» Obwohl Quin versucht war, die Diskussion weiterzuverfolgen, zwang er sich, seine Aufmerksamkeit wieder der Aufgabe zuzuwenden, die er jetzt zu erledigen hatte. Daß Ruth eine interessante Studentin gewesen wäre, daran gab es keinen Zweifel.

«Schauen Sie, Ruth, es hat keinen Sinn, daß wir die Sache weiter hinausschieben. Ich werde O'Malley anrufen und Sie nach Tonbridge versetzen lassen. Und bis dahin kommen Sie am besten nicht mehr zu den Lehrveranstaltungen hier.»

Sie hatte ihm den Rücken zugewandt und knotete zerstreut den Schal um Daphnes Hals. In der andauernden Stille wuchs Quins Unbehagen. Er erinnerte sich plötzlich des Kindes am Grundlsee, das Keats deklamiert hatte ... erinnerte sich, wie sie selbst im Museum versucht hatte, sich heimisch zu fühlen. Und nun vertrieb er sie von neuem.

Doch als sie sich herumdrehte, sah er nicht das traurige Geschöpf seiner Vorstellung, nicht Ruth in Tränen im Kornfeld in der Fremde. Ihr Kopf war hocherhoben, ihr Gesicht zeigte hartnäckige Entschlossenheit, und einen Moment lang glich sie der primitiven, kämpferischen Hominidenfrau, neben der sie stand.

«Ich kann Sie nicht daran hindern, mich von hier wegzuschicken. Sie haben ja hier eine Stellung wie ein Gott. Das habe ich schon gemerkt, bevor Sie kamen. Aber Sie können mich nicht zwingen, nach Tonbridge zu gehen. Ich wollte sowieso nicht studieren, sondern arbeiten und meine Familie unterstützen. Erst Sie haben gesagt, ich solle mein Studium abschließen. Als ich dann dachte, Sie wollten, daß ich hierher komme, war ich so ...» Sie brach ab und schneuzte sich. «Aber woanders fange ich nicht noch einmal an. Nach Tonbridge gehe ich bestimmt nicht.»

«Und wie Sie gehen!» fuhr er sie wütend an. «Sie werden nach Tonbridge gehen und einen anständigen Abschluß machen und ...»

«Nein, das werde ich nicht tun. Ich suche mir eine Arbeit, die bestbezahlte Arbeit, die ich finden kann. Wenn Sie mir erlaubt hätten, hierzubleiben, hätte ich alles getan, was Sie von mir verlangt hätten. Da wären Sie mein Professor gewesen, und das wäre in Ordnung gewesen. Aber jetzt haben Sie kein Recht, mich herumzukommandieren. Jetzt bin ich frei.»

Quin sprang aus seinem Sessel auf. «Merken Sie sich eines: Selbst wenn ich nicht Ihr Professor bin, so bin ich doch immer noch Ihr gesetzlicher Ehemann, und ich kann Ihnen befehlen, nach Tonbridge ...» Der Satz blieb unvollendet, als Quin sich bewußt wurde, daß dies die Worte Basher Somervilles waren, die da aus seinem eigenen Mund sprangen.

Ruth nickte nur kurz. «Aha», sagte sie. «Sie haben Nietzsche gelesen: »

Quin hatte endgültig genug. Er rannte zur Tür und hielt sie auf. «Gehen Sie jetzt!» sagte er. «Und zwar schleunigst.»


Lady Plackett war stolz auf die Gästeliste zu ihrem intimen kleinen Abendessen: ein anerkannter Ichthyologe, soeben von einer Expedition zur Erforschung der Knochenfische am Titicacasee zurückgekehrt; ein Kunsthistoriker, der sich als Fachmann für russische Ikonen international einen Namen gemacht hatte; ein Philologe des Britischen Museums, der sieben chinesische Dialekte sprach; und Simeon LeClerque, der für seine Biographie Bischof Berkeleys einen Literaturpreis erhalten hatte. Aber der Ehrengast, der Mann, den sie neben Verena gesetzt hatte, war natürlich Professor Somerville, den sie bereits am Morgen dieses Tages in Thameside willkommen geheißen hatte.

Um sechs Uhr vergewisserte sich Lady Plackest ein letztes Mal, daß in der Küche alles reibungslos lief und daß die Dienstmädchen funktionierten, dann ging sie nach oben, um mit ihrer Tochter zu sprechen.

Verena, die etwas früher ein Bad genommen hatte, saß jetzt im Morgenrock an ihrem mit Bücherstapeln beladenen Schreibtisch.

«Wie kommst du zurecht, Kind?» fragte Lady Plackett fürsorg lich, denn sie war immer wieder gerührt, mit welcher Gewissenhaftigkeit sich Verena auf die Gäste des Hauses vorzubereiten pflegte.

«Ich bin fast fertig, Mama. Ich habe es sogar geschafft, mir Professor Somervilles ersten Aufsatz zu besorgen – den über die Dinosaurier-Lagerstätten von Tendaguru, und ich habe natürlich alle seine Bücher gelesen. Aber wenn ich auf der anderen Seite Sir Harold habe, muß ich meine Ichthyologiekenntnisse noch ein wenig auffrischen. Er ist gerade aus Südamerika zurückgekommen, nicht wahr?»

«Ja – vom Titicacasee. Nur denk daran, Kind – es sind die Knochenfische.»

Sir Harold war verheiratet, aber wirklich ein herausragender Wissenschaftler, und es war nur recht, daß Verena sich auf das Gespräch mit ihm vorbereitete. «Mit den russischen Ikonen werden wir, glaube ich, keine Schwierigkeiten haben – Professor Frank soll sehr redselig sein. Wenn du nur die Schlüsselnamen parat hast ...»

«Oh, die habe ich», versicherte Verena gelassen. «Andrej Rubljew ... Eitempera ...» Sie warf einen kurzen Blick auf ihre Aufzeichnungen. «Die Wirkung des Manierismus, die sich im siebzehnten Jahrhundert zeigte ...»

Lady Plackett, die eigentlich keine überschwengliche Person war, gab ihrer Tochter einen Kuß auf die Wange. «Auf dich kann ich mich immer verlassen.» An der Tür blieb sie stehen. «Professor Somerville solltest du vielleicht auch ein paar Fragen nach Bowmont stellen – über die neue Forstverordnung vielleicht. Ich werde selbstverständlich erwähnen, daß ich seine Tante kenne. Und mach dir wegen der chinesischen Phonetik kein Kopfzerbrechen, Liebes. Mr. Fellowes war nur ein Lückenbüßer– er ist dieser alte Professor vom Britischen Museum, und er sitzt genau am anderen Ende der Tafel.»

Wieder allein, widmete sich Verena den Knochenfischen, ehe sie noch einmal die Veröffentlichungen Professor Somervilles durchging. Auf der intellektuellen Seite würde er nichts an ihr bemängeln können, das war sicher. Nun war es zeit für sie, sich der anderen Seite ihrer Persönlichkeit anzunehmen: nicht der Wissenschaftlerin, sondern der Frau. Sie legte den Morgenrock ab und schlüpfte in das blaue Taftkleid, das Ruth so genau beschrieben hatte. Dann nahm sie die Lockenwickler aus ihrem Haar.


«Ich fand das absolut faszinierend!» sagte Verena und richtete ihren zwingenden Blick auf Professor Somerville. «Ihre Auffassung vom Wert der Lumbalkurvenmessungen zur Erkennung von Hominiden erscheint mir absolut überzeugend. Sie haben das in der Fußnote von Kapitel dreizehn so einleuchtend erklärt.»

Quin war angesichts dieses seltenen Phänomens, eines Lesers, der auch die Fußnoten las, bereit, beeindruckt zu sein. «Es ist immer noch recht spekulativ, aber interessanterweise hat sich in Java eine gewisse Bestätigung gefunden. Die amerikanische Expedition ...»

Verena schlug einen Moment erschrocken die Augen nieder. Sie hatte keine Zeit gehabt, über Java nachzulesen.

«Wie ich höre, sind Sie soeben in Wien geehrt worden», sagte sie, das Gespräch wieder in sicherere Bahnen lenkend. «Ich kann mir vorstellen, daß das ein hochinteressanter Aufenthalt war. Hitler scheint bei der deutschen Wirtschaft ja wahre Wunder gewirkt zu haben.»

«Ja.» Das von Kräuselfältchen begleitete Lächeln, das sie so bezaubert hatte, war erloschen. «Er hat auch noch auf anderen Gebieten wahre Wunder gewirkt. So hat er es beispielsweise im Handumdrehen geschafft, dreihundert Jahre deutscher Kultur von Grund auf zu vernichten.»

«Oh.» Doch so leicht ließ Verena sich nicht bange machen. Es dauerte nur einen Moment, dann hatte sie ihre Fassung wiedergefunden. «Wie sind Sie eigentlich auf den Gedanken gekommen, in Bowmont ein praktisches Seminar anzubieten, Professor Somerville?»

«Nun, die Fauna an dieser Küste ist erstaunlich vielgestaltig, und die Nordsee ist dort in den Buchten recht zahm. Außerdem befinden wir uns direkt gegenüber den Farne-Inseln, wo die Ornithologen schon seit geraumer Zeit sehr interessante Arbeit mit Brutkolonien leisten – kurz, der Ort eignet sich ideal dafür, auf verschiedenen Wissensgebieten praktische Erfahrung zu sammeln.»

«Auch auf Ihrem Gebiet? Sie werden auch dort sein?»

«Aber natürlich. Ich helfe Dr. Felton bei der meeresbiologischen Arbeit, aber ich werde auch Ausflüge zu den Kohleflözen unternehmen und hinunter nach Staithes in Yorkshire.»

«Und die Studenten wohnen getrennt – ich meine, nicht im Haus?»

«Das ist richtig. Ich habe ein ehemaliges Bootshaus und einige Fischerhütten am Strand zu diesem Zweck umbauen lassen. Meine Tante ist nicht mehr die Jüngste; ich könnte es ihr nicht zumuten, die Studenten im Haus aufzunehmen. Außerdem sind die jungen Leute lieber unabhängig.»

Verena runzelte die Stirn. Sie sah Probleme voraus. Aber da der Professor Anstalten machte, sich seiner Nachbarin zur Linken zuzuwenden, der unerwartet hübschen Mrs. LeClerque, Ehefrau des Berkeley-Biographen, stimmte sie eilig eine Lobeshymne über die Vorlesung dieses Morgens an.

«Ihre Analyse der Fehlinterpretationen Dr. Hackenstreichers fand ich faszinierend. Es scheint tatsächlich keinen Zweifel zu geben, daß der Mann sich von A bis Z etwas vorgemacht hat.»

«Freut mich, daß Sie es so sehen», sagte Quin, während ein verfroren aussehendes Mädchen ihm Salzkartoffeln reichte. «Miss Berger fand meine Auffassung nicht zwingend.»

«Ach. Aber sie verläßt uns ja, nicht wahr?»

«Ja.»

«Meine Mutter war froh, das zu hören», sagte Verena mit einem Blick zu Lady Plackett, die sich mit einem unerwarteten, in letzter Minute eingetroffenen Gast unterhielt, einem Musikologen, der eben aus New York zurückgekehrt war und dessen Zusage auf die Einladung in der Post verloren gegangen war. «Ich glaube, sie ist der Meinung, daß es einfach zu viele sind.»

«Zu viele?» Quin zog eine Augenbraue hoch.

«Ach, Sie wissen schon – Ausländer – Flüchtlinge. Sie findet, die Studienplätze sollten unseren eigenen Staatsbürgern vorbehalten bleiben.»

Lady Plackett, die den Erfolg ihrer Tochter bei Professor Somerville mit Genugtuung beobachtet hatte, mißachtete jetzt das Protokoll, um über den Tisch hinweg zu sprechen.

«Nun, natürlich wagt keiner, etwas zu sagen», bemerkte sie, «aber man kann sich des Gefühls nicht erwehren, daß sie hier allmählich das Regiment übernehmen. Natürlich kann man auch nicht rückhaltlos billigen, was Hitler da macht.»

«Nein», antwortete Quin. «Es gehörte schon einiges dazu, das zu billigen.»

«Aber sie ist in jedem Fall ein ziemlich merkwürdiges Mädchen», warf Verena ein. «Ich meine, sie führt Gespräche mit einem Schaf. Das hat doch etwas Schrulliges, ganz Unwissenschaftliches.»

«Jesus hat auch mit ihnen gesprochen», bemerkte der Philologe aus dem Britischen Museum, ein alter Mann mit weißem Bart, der unerwartet energisch sprach.

«Hm, ja, das ist wohl richtig», gestand Verena ihm zu. «Aber sie trägt ihm auf Deutsch Gedichte vor.»

«Was für Gedichte?» fragte der Berkeley-Biograph.

«Goethe», antwortete Quin kurz. Die Schafsaga begann ihm auf die Nerven zu fallen. «Wanderers Nachtlied.»

Der Philologe war angetan. «Eine ausgezeichnete Wahl. Auch wenn man vielleicht einen der pastoralen Lyriker des achtzehnten Jahrhunderts erwartet hätte. Zum Beispiel Matthias Claudius.»

Darauf folgte eine erstaunlich lebhafte Diskussion über die Frage, welche Art von Lyrik in deutscher Sprache Haus- und Hoftieren wohl am ehesten entsprechen würde, und obwohl dies genau die Art gelehrten Geplänkels war, das Lady Plackett nur zu gern förderte, hörte sie mit tief gerunzelter Stirn zu.

«War Goethe nicht der Mann, der sich dauernd in irgendeine Charlotte verliebt hat?» fragte die reizend dumme Ehefrau des Biographen.

Quin wandte sich ihr mit Erleichterung zu. «Richtig. Er hat das alles in einem Roman mit dem Titel Die Leiden des jungen Werthers verarbeitet, in dem der Held so unsterblich in eine Charlotte verliebt ist, daß er sich am Ende das Leben nimmt. Thackeray hat ein Gedicht darüber geschrieben.»

«War es gut?»

«Sehr gut», antwortete Quin. «Es fängt so an:


Die ging über alle Worte hinaus:

Er sah die Schöne das erstemal

beim Brotestreichen in ihrem Haus.>


Und am Schluß trägt man ihn

Verena, die diesen Abstieg ins Frivole mit unmutig gekrauster Stirn verfolgte, machte einen letzten Versuch, das Gespräch wieder auf ein Thema zu bringen, das ihr am Herzen lag.

«Wann wird denn Miss Berger nun eigentlich gehen?» fragte sie. «Das ist noch nicht entschieden.»

Worauf er sich wieder Mrs. LeClerque zuwandte, die ihm nun von einer Freundin erzählte, die sich nicht weniger als dreimal mit Männern namens Henry verlobt hatte, deren jeder sich leider als zum Ehemann ungeeignet entpuppte. Verena beschloß resigniert, sich ihrem anderen Nachbarn zu widmen.

«Ach, sagen Sie, haben Sie vor, Ihre Forschungsarbeit über die Knochenfische hier in England weiterzuverfolgen?» fragte sie.

Doch für dieses eine Mal hatte ihre Mutter sie im Stich gelassen. Die unerwartete Ankunft des Musikologen hatte eine Änderung der Sitzordnung erforderlich gemacht. Verständnislos und einigermaßen verblüfft starrte der Ikonenexperte sie an.


Quin hatte die Gewohnheit, in einem großen Crossley Tourenwagen mit Messinglampen und einer dröhnenden Hupe nach Thameside zu fahren. Am Tag nach dem Abendessen bei den Placketts empfing ihn, als er den Wagen unter dem Torbogen parkte, nicht wie gewohnt ein ganzer Haufen junger Leute, die ihm guten Morgen wünschten, sondern ein Fähnlein von zwei durchgefroren aussehenden Aufrechten mit einem Transparent, auf dem die Worte standen: RUTH BERGERS AUSSCHLUSS IST UNGERECHT!

Sobald er in seinem Zimmer war, griff er zum Telefon. «Verbinden Sie mich mit O'Malley in Tonbridge, bitte, Hazel.»

«In Ordnung, Professor. Sir Lawrence Dempster hat übrigens eben angerufen. Er bittet Sie, sobald wie möglich zurückzurufen.»

«Gut. Erledigen wir das zuerst.»

Als Quin das Gespräch mit dem Direktor der Geophysikalischen Gesellschaft beendet hatte, war es zu spät, O'Malley noch anzurufen, der um diese Zeit bereits unterrichtete. Quin widmete sich also seiner Korrespondenz, bis es Zeit war, ins Dozentenzimmer zu gehen, wo Elke Sonderstrom, mit ihren prächtigen Zähnen ein Cremeschnittchen zermalmend, ein Thema zur Sprache brachte, das er für erledigt erklärt hatte.

«Sie hat mir nach nicht einmal einer Woche eine erstklassige Arbeit geschrieben. Und das in einer Sprache, die nicht ihre Muttersprache ist.»

«Mir ist nicht bekannt, daß Miss Berger mit dem Englischen Schwierigkeiten hat», versetzte Quin. «Sie ist schließlich jahrelang von einer englischen Gouvernante unterrichtet worden.»

Sein nächster Versuch, in Tonbridge anzurufen, wurde von Hazel verhindert, die ihm meldete, daß eine Abordnung von Studenten ihn zu sehen wünschte.

«Aber ich habe allerhöchstens zehn Minuten Zeit», sagte er verdrossen. «Um elf fängt meine Vorlesung an.»

Die Studenten kamen im Gänsemarsch herein. Er erkannte Sam und die verschüchterte kleine Tochter des Pillendrehers und den massigen Waliser mit den Blumenkohlohren – lauter Studenten im dritten Jahr, die er wegen seines ausgedehnten Aufenthalts in Indien nicht so gut kannte, wie er sie eigentlich hätte kennen müssen. Aber es waren auch andere Studenten in der Gruppe; solche, die gar nicht seiner Abteilung angehörten.

Sam, wie immer in seinen Schal gewickelt, ergriff das Wort. «Wir sind wegen Miss Berger hier, Sir. Wir sind der Ansicht, daß sie nicht ausgeschlossen werden darf.» Es kostete ihn einiges, diese Rede zu halten; bis zu diesem Moment war Professor Somerville ja sein Idol gewesen. «Wir sind der Meinung, daß der Ausschluß eine Ungerechtigkeit ist. Miss Berger wird für irgend etwas bestraft, das sie gar nicht verbrochen hat. In Anbetracht dessen, was das jüdische Volk ...»

«Danke, Sie brauchen mich nicht an das Schicksal des jüdischen Volkes zu erinnern.»

«Nein.» Sam schluckte. «Aber wir sehen nicht ein, warum sie nur wegen irgendwelcher Formalitäten ausgeschlossen werden soll.»

«Miss Berger wird nicht ausgeschlossen. Sie wird lediglich an eine andere Universität überwiesen.»

«Richtig. Wie die Juden und die Zigeuner und die Freimaurer und die Sozialisten in Deutschland in Lager überwiesen werden», erwiderte Sam tapfer.

«Und dabei will sie gar nicht weg von hier», stammelte Pilly nervös. «Es gefällt ihr hier, und sie hilft mir. Sie kann einem Dinge begreiflich machen.»

«Das ist wahr, Sir.» Ein großer blonder Mann, den Quin nicht kannte, sprach aus der hinteren Reihe. «Ich bin Germanist und – nun, ich muß ehrlich sagen, ich hatte kaum noch Lust, mich mit der deutschen Sprache zu beschäftigen, nachdem ich im Radio nichts anderes mehr gehört hatte als Hitlers giftige Tiraden. Aber dann habe ich sie in der Bibliothek getroffen und – also, wenn sie die Nazis vergessen kann ...»

Schweigend betrachtete Quin die kleine Abordnung. Dann sagte er trocken: «Sie scheinen einen von Miss Bergers größten Bewunderern vergessen zu haben. Wieso haben Sie das Schaf nicht mitgebracht?»


Als Quin später vom Mittagessen zurückkam, fand er in seinem Zimmer Besuch vor.

«Verzeihen Sie mir, daß ich Sie störe», sagte Kurt Berger und stand aus seinem Sessel auf.

«Aber das ist doch keine Störung, Sir! Es ist mir eine Freude, Sie zu sehen.»

Die Veränderung allerdings, die mit Berger vorgegangen war, erschreckte Quin. Professor Berger war ein großer, aufrechter Mann mit einem stolzen und würdevollen Gesicht gewesen. Jetzt war er hager und verfallen, und in seiner Stimme lag eine tiefe Müdigkeit.

«Ist es Ihnen recht, wenn wir deutsch sprechen?»

«Selbstverständlich.» Quin schloß die Tür.

«Ich bin wegen meiner Tochter hier. Ruths wegen. Ich habe den Eindruck, es hat Ärger gegeben, und ich würde gern wissen, ob ich etwas tun kann, um ihn zu bereinigen.»

Quin nahm ein Lineal zur Hand und drehte es unablässig hin und her, während er sprach. «Sie wird Ihnen berichtet haben, daß ich mich bemühe, ihr einen Studienplatz an der Universität Tonbridge in Kent zu beschaffen.»

«Aha. So ist das. Nein, das wußte ich nicht. Mir hat sie nur erzählt, daß sie hier nicht bleiben kann.»

«Nun, hier an der Universität ist es ein offenes Geheimnis.»

«Darf ich fragen, warum sie hier nicht bleiben kann?»

Bergers Ton war trocken und distanziert, aber die tiefe Bekümmerung hinter seinen Worten war deutlich zu hören, und Quin, der sich stets als Schüler Bergers gesehen hatte, wurde immer unbehaglicher zumute.

«Ich hielt es für unangebracht, eine junge Dame zu unterrichten, mit deren Familie ich so gut bekannt bin. Das würde Ihre Tochter möglicherweise der Beschuldigung der Begünstigung aussetzen.»

Kurt Berger strich über seinen schwarzen Hut. «Wirklich? Ich muß sagen, wenn ich es abgelehnt hätte, die Kinder der Leute zu unterrichten, die mir in Wien gut bekannt waren, so hätte es bei meinen Vorlesungen viele leere Plätze gegeben.»

«Möglich. Aber an britischen Universitäten geht es anders zu. Da gibt es mehr Klatsch. Sie sind kleiner.»

«Professor Somerville, bitte sagen Sie mir die Wahrheit», bat Kurt Berger, und erst als Quin hörte, wie dieser Mann, der fast dreißig Jahre älter war als er, ihn mit seinem Titel ansprach, erkannte er, wie tief verletzt der Mann war. «Hat Ruth sich etwas zuschulden kommen lassen? Ist sie den Anforderungen hier nicht gewachsen? Wir haben uns bemüht, ihr eine gute Bildung mitzugeben, aber ...»

«Nein, aber nein! Ruth ist eine hervorragende Studentin.»

«Was ist es dann? Ihr Verhalten? Finden Sie sie vielleicht zu direkt? Zu keck? Sie ist das Universitätsmilieu gewohnt, da mag es scheinen, daß es ihr an Respekt fehlt.»

«Keineswegs. Sie hat sich hier bereits viele Freunde geschaffen, sowohl unter den Studenten als auch unter den Dozenten.»

«Dann – ist es möglich – hat es vielleicht einen Skandal gegeben? Sie ist ein hübsches Ding, ich weiß, aber ich würde meine Hand dafür ins Feuer legen, daß sie ...»

Quin beugte sich über seinen Schreibtisch, um mit dem gehörigen Nachdruck zu sprechen. «Bitte glauben Sie mir, Sir. wenn ich Ihnen versichere, daß ich sie einzig deswegen an eine andere Universität schicke, weil ich glaube, daß die Verbindung zu Ihrer Familie, meine Schuld Ihnen gegenüber ...»

«Schuld? Was für eine Schuld?» unterbrach Kurt Berger scharf.

«Das Symposion in Wien, Ihre Gastfreundschaft, der Ehrendoktor.»

«Ach ja, der Ehrendoktor. Wir hörten von Kollegen, daß Sie an der Zeremonie teilgenommen haben, aber zum Bankett nicht erschienen sind.»

«Das ist richtig. Als ich hörte, daß Sie nicht da waren ...», begann Quin und brach ab. «Ich hätte Ihnen danken sollen, daß Sie mich vorgeschlagen haben, aber ich bin direkt nach Bowmont hinaufgereist.»

Danach trat eine kleine Pause ein. Dann sagte Kurt Berger nachdenklich: «Meine Frau ist überzeugt, daß Sie es waren, der Ruth in Wien geholfen hat.»

Quin schwieg einen ganz kleinen Moment zu lange. «So? Wie kommt sie denn darauf?»

«Eine gute Frage», meinte Kurt Berger mit einer Spur Bitterkeit. «Normale Denkvorgänge sind Leonie völlig fremd. Soweit ich ihren Worten entnehmen konnte, glaubt sie es, weil Sie damals in den Grundlsee gesprungen sind, um die Monographie ihrer Schwägerin über die Mi-Mi zu retten. Und weil Sie auf dem Universitätsball zweimal mit ihrer Patentochter Franzi getanzt haben. Franzi hatte eine sehr schlimme Akne, und sie schielte auf einem Auge. Nur weil Sie sie zum Tanz aufgefordert haben und so nett zu ihr waren, war sie endlich damit einverstanden, sich am Auge operieren zu lassen. Die Akne verging von selbst, und heute ist sie verheiratet und hat zwei schrecklich schlecht erzogene Kinder. Zum Glück hat sie sich in New York niedergelassen.»

«Ich kann Ihnen leider nicht recht folgen», sagte Quin entschuldigend.

«Es gab noch andere Gründe, mit denen ich Sie jetzt nicht langweilen will. Anscheinend warfen Sie Ihren Hut über einen Steinpilz, auf den Onkel Mishak es abgesehen hatte, und verhinderten damit, daß Frau Pollack ihn ihm wegschnappte. Wir haben die Pilze rund ums Haus immer als unser Eigentum betrachtet, und ...» Er schüttelte den Kopf.»Ach, wie fern das alles zu sein scheint. Aber wie dem auch sei, die Argumente meiner Frau laufen darauf hinaus, daß Menschen sich treu bleiben. Mit anderen Worten, wenn Sie damals hilfsbereit waren, dann müssen Sie es auch heute noch sein. Wenn Sie mich an der Universität nicht angetroffen hätten, dann hätten Sie versucht, mich aufzusuchen, und hätten Ruth vorgefunden. Das glaubt meine Frau – ich nicht. Und Sie brauchen mir auch nichts zu sagen, was Sie gern für sich behalten möchten. Aber wenn Leonies Vermutung richtig ist, dann ist es möglich, daß Ihnen die Vorstellung, Ruth hierzuhaben, Unbehagen verursacht. Dann könnte es sein, daß Sie fürchten, sie könnte sich allzusehr an Sie anschließen.»

«Nein, das fürchte ich wahrhaftig nicht.»

«Aber es wäre nur natürlich. Sie ist sehr warmherzig, und sie hat damals, nach dem Sommer, den Sie bei uns verbrachten, ständig von Ihnen gesprochen. Ganz zu schweigen von dem blauen Kaninchen.» Als Quin verständnislos die Stirn runzelte, erklärte er: «Das Stofftier, das Sie ihr an der Schießbude im Prater geschossen haben. Sie hat es jeden Abend mit ins Bett genommen, und als es sein Ohr verlor, mußten wir Dr. Levy zur Behandlung rufen.»

«Das hatte ich ganz vergessen.»

«Sie waren jung. Sie hatten das Leben noch vor sich; wie Sie es auch heute noch vor sich haben. Möge Gott verhüten, daß Sie jemals so an der Vergangenheit hängen müssen, wie wir das heute tun. Aber was ich sagen wollte, war, daß Sie in dieser Hinsicht keine Befürchtungen zu hegen brauchen – wie groß Ruths Zu neigung zu Ihnen auch ist, wie sehr sie auch zu Ihnen als ihrem Retter aufsehen mag, ihre ganze Hingabe gilt ihrem Vetter, Heini Radek. Alles, was sie tut, tut sie letztlich für ihn. Sie sehen also, Sie hätten nichts zu befürchten. Sie wird Radek heiraten und ihm die Noten umblättern und die Kamelien für das Knopfloch seines Fracks auswählen. So war es, seit er das erstemal nach Wien kam.»

«Spielt es denn dann eine so große Rolle, wo sie studiert? Oder ob sie überhaupt studiert?»

«Vielleicht messe ich dem Wissen und der Bildung zuviel Bedeutung bei. Vielleicht bin ich auch einer jener Väter, die meinen, für ihre Tochter sei keiner gut genug. Heini ist ein begabter Junge, aber mir wäre es lieber gewesen, sie hätte eine Wahl gehabt.» Er wechselte abrupt das Thema. «Eines steht fest, nach Tonbridge wird Ruth nicht gehen. Sie war den ganzen Morgen auf dem Arbeitsamt, und jetzt sitzt sie zu Hause und schreibt Bewerbungen und versucht, nicht zu weinen.»

«Ich bin sicher, sie wird zur Einsicht kommen.»

«Gestatten Sie mir zu sagen, daß ich meine Tochter kenne», versetzte Berger mit Würde. Er griff zu seinem Spazierstock. «Tja, Sie müssen tun, was Sie für richtig halten. Mir wäre es auch nicht recht gewesen, wenn mir jemand hätte sagen wollen, wie ich meine Abteilung führen soll. Ich reise für einige Wochen nach Manchester und hatte gehofft ...»

«Ach ja!» Quin ging froh und flink auf den Themawechsel ein. «Das Institut wird Ihnen gefallen. Feldberg ist ein großartiger Mensch – aber lassen Sie sich von dem knausrigen Buchhalter ja nicht um ihr rechtmäßiges Honorar bringen. Es gibt extra einen gutausgestatteten Fonds für Klassifizierungsarbeit.»

«Ach, ich kann mich gar nicht erinnern, meinen Ruf an das Institut erwähnt zu haben», sagte Kurt Berger mit strenger Miene. «Und auch nicht, daß man mich gebeten hat, die Howard-Kollektion zu ordnen.»

So seinem Ausweichmanöver von hinten durch die Brust geschossen, schob Quin verlegen einige Papiere auf seinem Schreibtisch hin und her. «So etwas spricht sich herum», murmelte er.

«Sie haben also diese Sache mit Manchester arrangiert? Sie haben Feldberg den Vorschlag gemacht, sich mit mir in Verbindung zu setzen? Das hätte ich mir eigentlich denken können.»

«Ja, um Himmels willen, Sie haben aber auch seit Ihrer Ankunft hier nichts getan, um sich selbst zu helfen. Da sitzt ein Mann von Ihrem Format Tag für Tag mit einem Landstreicher zusammen in der öffentlichen Bibliothek! Warum haben Sie nicht mit den Leuten Kontakt aufgenommen, denen Sie irgendwann einmal geholfen haben? Ich brauchte nur Ihren Namen zu erwähnen – Feldberg wußte nicht einmal, daß Sie in England sind.»

Berger setzte seinen Hut auf und erhob sich. Als er wieder sprach, lächelte er. «Es ist schon merkwürdig – da habe ich jahrelang studiert und Wissen angehäuft, während meine Frau nicht einmal ihre Prüfung in der Blumensteckkunst bestanden hat, weil sie immer viel zu viele Blumen in die Vase tat, und doch hatte sie recht. Die Menschen bleiben sich treu.»

Erst an der Tür drehte er sich noch einmal um. Seine Stimme war jetzt wieder ernst, sein Gesicht wirkte erschöpft. «Lassen Sie das Kind dableiben, Quin», sagte er, den Namen gebrauchend, den er vor so vielen Jahren gebraucht hatte. «Es ist ja nicht einmal ein Jahr, und wer weiß, was für ein Schicksal uns erwartet.» Sehr leise fügte er hinzu: «Sie wird Ihnen keine Umstände machen.»

Aber letztendlich waren es nicht die Bitte ihres Vaters und nicht die Intervention ihrer Kommilitonen, die Ruth die Begnadigung brachten. Und auch nicht Lady Placketts offensichtliche Genugtuung über den beabsichtigten Ausschluß dieses Mädchens, das nicht in den allgemeinen Rahmen paßte. Es war ein Plakat an dem Zeitungskiosk, an dem Quin auf der Heimfahrt vorbeikam. HITLER IN DER TSCHECHOSLOWAKEI lautete die Schlagzeile.

Quin kaufte die Zeitung. Die Bilder zeigten einen grinsenden, mit Blumenkränzen geschmückten Führer, flatternde Hakenkreuzfahnen an allen Häusern, genau wie im Frühjahr in Wien. Österreich im März, die Tschechoslowakei im Oktober ... Konnte irgend jemand noch ernstlich glauben, daß es da ein Ende haben würde?

Die durchschnittliche Lebensspanne eines Infanterieoffiziers hatte im Jahr 1918 sechs Wochen betragen. In der Marine hatte der Soldat auf eine nur unwesentlich längere Lebensdauer hoffen können. Wenn es Krieg geben sollte – und er schien unvermeidlich zu sein –, würde es dann noch eine Menschenseele kümmern, wer mit wem wie lange verheiratet war?

«O'Malley sagte, er hätte keine freien Plätze mehr.» Mit diesem Satz gab Quin Roger Felton seine Entscheidung bekannt. «Sagen Sie Miss Berger, sie kann bleiben.»

Roger nickte nur, verriet weder jetzt noch später auch nur mit einem Wort, was er soeben in den University News gelesen hatte: daß O'Malley nach einem Autounfall mit einer Gehirnerschütterung im Krankenhaus lag und gar nicht in der Lage war, irgend etwas zu sagen.

Загрузка...