27

Ruth arbeitete während der ganzen Osterferien. Die Arbeit war, wie sie ihrer Mutter versicherte, schuld an den Schatten unter ihren Augen, an ihrem mangelnden Appetit und einem grünlichen Schimmer auf ihrer Haut.

«Dann mußt du eben aufhören!» schrie Leonie sie an, die es nicht aushalten konnte, ihre Tochter so elend und unglücklich zu sehen.

«Das kann ich nicht», antwortete Ruth und zitierte unweigerlich Mozart, der gesagt hatte, er arbeite weiter, weil es ihn weniger ermüde, als zu rasten.

Ruth mochte körperlich und seelisch erschöpft sein; Heini war dagegen glänzender Stimmung. Er und Ruth hatten sich wieder ganz ausgesöhnt. Sie war zu ihm gekommen und hatte ihn um Verzeihung gebeten, und er hatte sie ihr von ganzem Herzen gewährt.

«Es ist nicht deine Schuld, Liebste», hatte er gesagt. «Diese Wohnung hätte jeden abgeschreckt. Aber wenn du mir jetzt hilfst, Ruth, wenn du mir jetzt zur Seite stehst, dann kann ich gewinnen, das weiß ich. Ich verlange nichts Körperliches – wenn ich mir einen Namen gemacht habe, können wir heiraten und irgendwo in einem herrlichen Hotel unsere Flitterwochen verbringen. Mantella meint nämlich, er könnte mir helfen, nach Amerika zu kommen, wenn alles gutgeht, und wenn ihm das gelingen sollte, mußt du mitkommen. Du mußt einfach – ich könnte niemals allein dorthin gehen.»

«Nach Amerika? Ach Heini, das ist so weit!»

Was er darauf gesagt hatte, während er in den grauen, kalten Regen hinausblickte, hatte sie tief getroffen.

«Weit weg?» hatte er wiederholt. «Von wo?» Und sie hatte erkannt, was er im Land ihrer Zuflucht sah: die schäbige Unterkunft, die Armut, die fremde Sprache, das erbärmliche Essen. Dennoch kämpfte sie.

«Ich könnte meine Eitern nicht verlassen.»

Er hatte sie bei beiden Händen genommen und ihr in die Augen gesehen. «Ruth, du bist egoistisch. Wir können sie doch nachholen, sobald ich festen Boden unter den Füßen habe. Alle sagen, daß es zum Krieg kommen wird – und was ist, wenn London bombardiert wird?»

«Ja, natürlich.» Er hatte recht. Sie war egoistisch. Sie konnte ihren Eltern so am besten helfen – und auch sich selbst. Fünftausend Kilometer Abstand müßten eigentlich ausreichen, alle Versuchung, auf Knien zu Quin zurückzukriechen, zu ersticken.

«Also gut, Heini, wenn du gewinnst und Mantella es arrangieren kann, dann komme ich mit. Und ich helfe dir, soviel ich kann.»

Das war vor zwei Wochen gewesen, und Ruth hatte sich ganz in seinen Dienst gestellt. Sie hatte seine zerfetzten Noten geklebt; sie massierte seine Finger; sie saß unermüdlich neben ihm, während er die gefürchteten Arpeggios der Hammerklaviersonate übte.

Sie half auch Pilly, fuhr täglich zu ihr und schrieb noch einen ganzen Stapel Merkzettel, die Pilly überall an die Wände kleben konnte, bis schließlich sogar Mr. Yarrowby, der sich jeden Tag unter Schaubildern der Fortpflanzung bei den Schwämmen oder der Dinosaurierfundstätten in den Vereinigten Staaten rasierte, ein achtbarer Zoologe wurde. Und sie bediente weiterhin im Willow.

Kurz vor Ostern zog Kurt Berger, den man in Manchester für ein weiteres Semester verpflichtet hatte, dort in ein größeres Zimmer um und bat Leonie, zu ihm zu kommen. Zwischen Mann und Tochter hin und her gerissen, wußte Leonie nicht, was sie tun sollte. Schließlich gab Ruth den Ausschlag. «Du mußt fahren, Mama», insistierte sie. «Mir geht es doch gut. Ich habe Mishak und Tante Hilda, und es ist ja nur für ein paar Wochen. Wenn alles vorbei ist, der Wettbewerb und die Examen, können wir es uns richtig schön machen.»

Leonie reiste also nach Manchester, und Ruth, von den Zwängen mütterlicher Fürsorge befreit, arbeitete noch härter und fühlte sich noch elender – und dann begann schon wieder das Sommersemester.


Quins Vorlesungen hatten zu Ostern geendet. In den Wochen vor den Abschlußexamen hielt er nur zwei Wiederholungsseminare ab, den Rest seiner Zeit verbrachte er im Museum. Er hatte sich innerlich darauf vorbereitet, wie er mit Ruth umgehen sollte, wenn er sie sehen sollte. Auf anfängliche Wut war eisige Gleichgültigkeit gefolgt. Die Vergangenheit war erledigt; Thameside trat mit dem Näherrücken seiner Abreise immer tiefer in die Schatten zurück. Doch die betonte Gleichgültigkeit, das kühle Nicken, das er ihr zugedacht hatte, waren gar nicht nötig. Ruth erschien nicht zu seinen Seminaren und schaffte es, niemals dort zu sein, wo er gerade war. Das war etwas ganz anderes als das Unsichtbarkeitsspiel, das sie zu Anfang des Jahres gespielt hatte; sie hatte jetzt einen sechsten Sinn dafür entwickelt, ihm aus dem Weg zu gehen, der sie selten im Stich ließ. Sie wußte, wann Quin im Haus war – sie wußte es schon, ehe sie den Crossley am Tor sah –, und reagierte entsprechend. Natürlich litt ihre Arbeit, aber das war ihr nicht mehr wichtig. Wichtig war jetzt nur das Überleben.

Ihren Freunden entging nicht, wie schlecht sie aussah; daß sie keinen Appetit hatte.

«Was ist denn nur los mit dir, Ruth?» fragte Pilly Tag für Tag, und Tag für Tag antwortete Ruth: «Nichts. Es geht mir gut. Ich sorge mich nur ein bißchen um Heini, das ist alles.»

Vor wenigen Wochen hatte man ihr noch zugetraut, daß sie bei den Prüfungen als Beste ihres Jahrgangs abschneiden würde; jetzt konnte man nur noch hoffen, daß sie überhaupt durchkommen würde. Elke Sonderstrom wollte mit ihr sprechen, entschied sich dann aber aus eigenen Gründen dagegen, und Roger Felton, der ihr normalerweise keine Ruhe gelassen hätte, bis sie ihm gesagt hätte, was ihr fehlte, hatte selbst alle Mühe, die Tage herumzubringen; die kanadische Tänzerin hatte nämlich zur allgemeinen Überraschung Zwillinge geboren. Die Babys waren hinreißend–ein Junge und ein Mädchen –, und Lillian war nach Jahren bitterer Enttäuschung rundum glücklich. Leider jedoch schienen die beiden Kleinen vom Schlaf nicht viel zu halten. Nacht für Nacht marschierte der arme Roger Felton in seinem Schlafzimmer auf und ab und dachte voller Wehmut an die Tage zurück, als das Thermometer seine einzige Sorge gewesen war. Er wußte, daß es Ruth nicht gutging, daß sie in ihrer Arbeit stark nachgelassen hatte, aber er schloß sich der allgemeinen Überzeugung an, daß sie sich um Heini sorgte und ihre Arbeit jetzt hinter der gemeinsamen Zukunft mit ihm den zweiten Platz einnahm.

Nur ein Vergnügen gestattete sich Ruth in diesen unglücklichen Wochen. Es ergab sich aus einem Gespräch, das sie mit ihrer Mutter führte, ehe diese nach Norden reiste.

«Was ist eigentlich aus dem alten Philosophen geworden», fragte Ruth, «der in Wien immer in Gedanken versunken auf der Bank vor der Börse saß?»

«Ach, den haben sie schon vor Jahren in eine Schweizer Heilanstalt gebracht. Er war total verrückt – als sie seine Wohnung ausräumten, fanden sie massenhaft Damenunterwäsche, die er in Geschäften gestohlen hatte, und seine Haushälterin hat er wie Dreck behandelt.»

Damit war es klar. Ein Mann konnte verrückt sein, und man konnte dennoch auf sein Wort hören; selbst daß er ein Unterwäschefetischist war, konnte man ihm verzeihen – aber die Haushälterin schlecht zu behandeln, das ging wirklich zu weit. Und ohne weitere Skrupel gab Ruth ihren langen Kampf, Verena Plackett zu lieben, auf.


Das Ergebnis der ersten Runde des Klavierwettbewerbs überraschte niemanden. Heini war ebenso weitergekommen wie die beiden Russen und Leblanc; und die zweite Runde bestätigte die allgemeine Überzeugung, daß der Sieger unter diesen vier zu suchen sei. Doch die Russen, wenn auch hochbegabt, waren unter dem «Schutz» ihrer Begleiter in ihren Hotels eingesperrt, und Leblanc war ein unzugänglicher, strenger Mann, der es einem nicht leichtmachte, ihn zu mögen. Heini mit seiner gewinnenden Art und seiner romantischen Liebe, von der mittlerweile alle wußten, war der eindeutige Liebling des Publikums, als die Zeit des Finales in der Albert Hall kam.


«Mir ist so übel», sagte Ruth, und Pilly, die neben ihr saß, drückte ihr tröstend die Hand.

«Er gewinnt bestimmt, Ruth. Ganz sicher. Alle sagen es.»

Ruth nickte. «Ja, ich weiß. Aber er war so nervös, weißt du. Und letzte Nacht ist er dauernd aufgewacht.»

Ruth selbst war die ganze vergangene Nacht wach gewesen, hatte für Heini Kakao gekocht, ihm den Kopf gestreichelt, bis er schlief, unfähig, selbst ein Auge zuzutun. Aber das war dieser Tage nichts Besonderes.

Überraschend viele Zuhörer hatten sich zur letzten Runde des Bootheby-Klavierwettbewerbs in der Albert Hall eingefunden. Von den sechs Finalisten hatten drei bereits am Vortag gespielt: einer der Russen, ein Schwede und Leblanc, den Heini ganz besonders fürchtete. Heute – am letzten Tag – würde die hübsche Amerikanerin, Daisy MacLeod, mit Tschaikowsky anfangen, und den Schluß würde der hochgewachsene Russe, Selnikow, mit Rachmaninow bilden. Dazwischen mußte Heini spielen. Er war enttäuscht gewesen, als sie die Lose gezogen hatten; er hatte gehofft, als letzter spielen zu können. Man mochte sagen, was man wollte, der letzte Vortragende blieb den Leuten immer am lebhaftesten im Gedächtnis.

Die Orchestermitglieder nahmen ihre Plätze ein. Dann folgte der Dirigent. Berthold und das BBC-Symphonie-Orchester für diese Konzerte zu bekommen, war eine große Leistung der Organisatoren. Heini, der am Morgen mit ihnen geprobt hatte, war begeistert gewesen.

Leonie, die auf Ruths anderer Seite saß, drehte den Kopf und lächelte ihrer Tochter zu. Sie war extra von Manchester heruntergekommen und wollte bis nach den Examen in der folgenden Woche bleiben. In ihre tiefe Besorgnis um Ruth, der es offensichtlich nicht gutging, mischte sich die Angst, ihre Tochter schon bald zu verlieren, denn sie wußte, daß Heini nach Amerika gehen würde, wenn er in diesem Wettbewerb siegen sollte.

«Du darfst es dir nicht anmerken lassen», hatte ihr Mann gesagt. «Du mußt es ihr wünschen. Dort ist sie in Sicherheit, und das ist das einzig Wichtige.»

Seit März, als Hitler, mit dem Sudentenland nicht zufrieden, in Prag einmarschiert war, glaubten nur noch wenige Menschen an den Frieden.

Die ganze Reihe war von Ruths Freunden und Verwandten besetzt. Neben Pilly saßen Janet und Huw und Sam. Der Doktorand aus der deutschen Abteilung war da; Mishak und Hilda ... sogar Paul Ziller war gekommen, und das war eine Ehre. Ziller ging dieser Tage viel im Kopf herum; der Chauffeur aus Northumberland ließ einfach nicht locker, wollte unbedingt vorspielen. Von allen Seiten wuchs der Druck auf Ziller, ein neues Quartett zu gründen.

Es war heiß in dem Saal mit dem Kuppeldach. Leonie, die selbst um drei Uhr nachmittags wie eine ernsthafte Konzertbesucherin in schwarzen Rock und gestärkte weiße Bluse gekleidet war, fächelte sich mit ihrem Programm Kühlung zu. Und jetzt kam Daisy MacLeod heraus, in einem hübschen blauen Kleid, das dunkle Haar zurückgebunden. Sie lächelte scheu ins Publikum, und ein Sturm von Applaus begrüßte sie. Das Tschaikowsky-Konzert war das richtige für sie. Sie war sehr jung; es gab ein paar Stolperer, und ein-, zweimal kam sie aus dem Tempo, aber Berthold führte sie zurück, und insgesamt war ihr Vortrag ausgesprochen gefällig. Gleich, ob sie siegte oder nicht, eine Karriere war ihr sicher.

Langer, stürmischer Applaus folgte; Blumen wurden auf das Podium gebracht; die Mitglieder der Jury machten sich Notizen und nickten. Ruth mochte Daisy, ihr gefiel ihr Spiel, aber: Lieber Gott, bitte laß sie nicht siegen!

Und nun der Höhepunkt all der Wochen der Aufregung und der Arbeit. Mit seinem leichten, federnden Schritt kam Heini auf das Podium heraus und verbeugte sich. Ruth hatte sämtliche Blumengeschäfte von Hampstead nach der perfekten Kamelie durchstöbert. Leonie hatte jede einzelne Rüsche seines Hemdes mit Akribie gebügelt. Aber der Charme, das gewinnende Lächeln hatten mit ihren Bemühungen nichts zu tun. Seine Bühnenpräsenz war schon immer eine seiner starken Seiten gewesen, das wußte Ruth, und sie sah hinauf zu der Loge, in der Mantella mit Jacques Fleury saß, dem Impresario, der genau wie die Preisrichter den Schlüssel zu Himmel oder Hölle in der Hand hielt. Mantella war wichtig, Fleury war Gott – er konnte Heini mit einem Wort in die Staaten versetzen, ihn zu einem Virtuosen und Star machen.

Berthold hob seinen Stab; das Orchester setzte ein ... zart stimmten die Geigen das Thema an, das dann von den Holzbläsern aufgenommen wurde ...

Und alle lächelten. Mantella hatte recht gehabt. Die Zuhörer waren für diese Musik bereit.

«Wenn die Engel für Gott singen, dann singen sie Bach, aber wenn sie zur Freude singen, dann singen sie Mozart, und Gott lauscht heimlich.»

Heini wartete in diesem Augenblick der Stille, den sie immer geliebt hatte, den Blick auf die Tasten gerichtet. Dann schlug er an, brachte das Thema so lebendig, so freudvoll ... und sie atmete auf, weil er so herrlich spielte. All seine Nervosität war verflogen, aufgegangen in dieser durchsichtigen, zarten, tröstlichen Musik, die vom Himmel kommend, wenn es überhaupt einen Himmel gab, durch ihn hindurchströmte. Er hatte dieses Wunder für sie vollbracht, als sie ihn zum erstenmal gehört hatte, und sie würde seiner niemals müde werden, immer dafür dankbar sein. Ihre ganze Vergangenheit war in dieser Musik enthalten – ihr ganzes Leben in der Stadt, von der sie einst geglaubt hatte, sie würde für immer ihr Zuhause sein. Kein Wunder, daß sie bestraft worden war, als sie diese Welt verlassen hatte.

Die Musik trug sie über Traurigkeit und Elend, Sorgen und körperliche Beschwerden hinaus – immer weiter empor. Ach, könnte man nur dort oben bleiben; könnte man nur so leben, wie Musik klang; würde doch die Musik niemals aufhören.

Dann der langsame Satz. Sie war jetzt alt genug für langsame Sätze, sie war uralt. Es mußte doch möglich sein, einen Menschen zu lieben, der dem Klavier solchen Zauber zu entlocken vermochte. Und es war möglich. Sie konnte Heini lieben, als Freund, als Bruder, als einen Menschen, dessen kindischer Egoismus belanglos wurde angesichts dieser Gottesgabe. Aber nicht als Mann, niemals, jetzt, da sie wußte ... Plötzlich verschwammen das Orchester und Heini hinter einem Tränenschleier. Was für einen grausamen Scherz hatte sich das Schicksal mit ihr erlaubt, sie auf ewig einen Mann lieben zu lassen, dem sie nichts bedeutete.

Der letzte Satz war Erleichterung, denn kein Mensch konnte allzulange in den himmlischen Sphären des Andante leben, und nun erklang auch das berühmte Rondo. Das mußte schon ein sehr ungewöhnlicher Star gewesen sein, der eine solche Melodie gezwitschert hatte, aber was spielte das für eine Rolle? Nur Mozart konnte so heiter und so schön zugleich sein. Alle waren hingerissen, und Ziller nickte mit dem Kopf. Das wollte viel sagen, denn Ziller mochte Heini nicht, aber er erkannte den brillanten Musiker.

Dann war es vorbei, und Heini wurde mit Ovationen gefeiert. Die Leute trampelten und schrien; eine Gruppe Schulmädchen warf Blumen auf das Podium, und sogar Jacques Fleury war in seiner Loge aufgestanden.

«Es tut mir leid, daß ich mich immer darüber beschwert habe, daß er zu lange im Bad war», sagte Leonie und tupfte sich die Augen. «Er war wirklich immer zu lange im Bad, aber es tut mir leid, daß ich mich beklagt habe.»

Heini mußte der Preisträger sein. Daran konnte es eigentlich keinen Zweifel mehr geben.

Aber jetzt kehrte Berthold aufs Dirigentenpult zurück, und der lange Russe Selnikow setzte sich an den Flügel. Er spielte gut, er spielte unglaublich gut, dank auch seiner hervorragenden Ausbildung und der ungeheuren Seele, die eine russische Spezialität ist.

Ruth wurde wieder übel. Bitte, lieber Gott, ich werde alles tun, was du von mir verlangst, aber laß Heini den ersten Preis gewinnen!


Das Abendessen war ausgezeichnet gewesen, wie immer bei Rules; sie hatten einen erlesenen Chablis getrunken, und Claudine Fleury, in einem kleinen schwarzen Kleid, das bemerkenswerte Ähnlichkeit mit einem raffinierten Hemdchen hatte, hatte Quin zu einem vielbeneideten Mann gemacht.

Jetzt gähnte sie verhalten. «Das war ein wunderschöner Abend, Darling. Ich wünschte, wir könnten jetzt zu mir fahren, aber Jacques ist noch eine ganze Woche hier.»

«Natürlich, das verstehe ich», sagte Quin, und es gelang ihm, gerade das richtige Maß an Bedauern in seine Worte zu legen. Claudine hatte ihn einige Tage zuvor angerufen, weil sie ihn noch einmal sehen wollte, ehe er nach Afrika abreiste, und er war bereit gewesen, den Abend so zu nehmen, wie sie ihn gestalten wollte. Er schuldete ihr viele vergnügliche Stunden; dennoch kam ihm die vorübergehende Heimkehr ihres Vaters nicht ungelegen.

«Wie geht es Jacques? Hat er wieder ein paar junge Genies aufgetrieben?»

«Du wirst lachen, das hat er tatsächlich. Er rief an, kurz bevor ich ging. Er hat einen jungen Österreicher unter Vertrag genommen, einen Pianisten, den er nach New York mitnehmen und dort groß herausbringen will. Heute hat irgendein Wettbewerb stattgefunden; er hatte mich aufgefordert mitzukommen, aber drei Klavierkonzerte an einem Nachmittag – nein, danke!»

«Dann hat dieser junge Österreicher gesiegt?»

«Nein. Er mußte sich den ersten Preis mit einem Russen teilen, und das scheint ihm gar nicht recht gewesen zu sein. Jacques hält den Russen für musikalischer, aber mit den Russen ist im Moment nichts anzufangen; sie werden ja so streng bewacht. Den Osterreicher, Heini Radek, hingegen kann er praktisch sofort in die Staaten mitnehmen. Und seine Freundin auch – ein sehr hübsches Mädchen offenbar, die Radek abgöttisch zu lieben scheint. Ich glaube, sie hat monatelang in einem Café als Bedienung gearbeitet, um Radeks Klavier zu bezahlen oder so was Ähnliches.» Sie gähnte wieder, legte dann ihre Hand auf die seine. «Wir werden uns wohl vor deiner Abreise nicht mehr sehen?»

«Nein, es sind ja nicht einmal mehr drei Wochen. Und Claudine – ich danke dir für alles.»

«Oh, das klingt aber sehr nach endgültigem Abschied, Darling!» Sie sah ihn forschend an. «Wir werden uns doch wiedersehen?»

«Ja, natürlich.»

Sie lächelte. «Du wirst mir fehlen, chéri. Du wirst mir sogar sehr fehlen, aber ich glaube, du brauchst diese Reise», sagte sie. «Ja, ich glaube, du brauchst sie ganz dringend.»


Die Nachricht von Quins Entschluß, Thameside zu verlassen, die der Vizekanzler offiziell am ersten Tag des Sommersemesters erhielt, hatte Lady Plackett so mitgenommen, daß Verena sich gezwungen sah, unter vier Augen mit ihrer Mutter zu sprechen und sie in den wahren Stand der Dinge einzuweihen.

«Es gibt gar keinen Zweifel, Mama, daß er die Absicht hat, mich nach Afrika mitzunehmen, aber es muß vorläufig noch ein Geheimnis bleiben. Ich kann mich doch auf dich verlassen, nicht wahr?»

Lady Plackett war nicht so erfreut gewesen, wie Verena gehofft hatte. Sie wünschte einen Heiratsantrag von Quin, nicht daß er sich ihrer Tochter als unbezahlte Forschungsassistentin bediente. Doch sie mußte einsehen, daß Verena, die bisher immer nur getan hatte, was sie selber wollte, nun ihre eigenen Wege ging. Sie blieb daher Quin gegenüber freundlich und entgegenkommend und lud ihn weiterhin zu exklusiven kleinen Abendessen ein.

Verenas Reisevorbereitungen liefen derweilen auf vollen Touren. Sie hatte sich eine Höhensonne gekauft; sie hatte sich mit Netzhemden und Khakihosen eingedeckt; sie rieb sich ihre Füße allabendlich mit Franzbranntwein ein. Andere hätten sich vielleicht gewundert, weshalb der Professor so lange brauchte, um sie in seine Pläne einzuweihen, aber Verena kannte keine Minderwertigkeitsgefühle, und wenn sie doch irgendwelche Zweifel an sich gehabt hätte, so wären sie von Brille-Lamartaine ausgeräumt worden, dessen aufgeregte Beschreibungen der akademischen femme fatale, die Somerville in ihren Netzen gefangen hatte, genau auf sie paßten.

Doch nun, da die Abschlußexamen nur noch eine Woche entfernt waren, fand Verena, sie könnte dem Professor wenigstens einen Wink geben. Er hatte ihre letzte Arbeit so freundlich gelobt, daß ihr ganz warm geworden war, und die intime Diskussion über luftdurchlässige Unterwäsche, die sie mit ihm geführt hatte, schien ihr ein Hinweis darauf, daß die Zeit strenger Geheimhaltung nun vorüber sei.

Quin wurde also zum Tee eingeladen, und da er sich der Tatsache bewußt war, daß dies sein letztes gesellschaftliches Beisammensein mit der Familie Plackett sein würde, bemühte er sich, liebenswürdig zu sein.

Es war ein schöner Frühsornmertag, die Terrassentüren waren weit geöffnet, der Blick hinaus war Quin aus früheren Jahren vertraut, als Placketts Vorgänger noch gelebt hatte und die Gespräche zwanglos und amüsant gewesen waren.

«Wollen wir nicht einen Moment auf die Terrasse hinausgehen?» schlug Verena vor, und er nickte und folgte ihr, während Lady Plackett taktvoll zurückblieb. An die Brüstung gelehnt, ließ Quin seine Gedanken schweifen, während er zum träge dahinströmenden Fluß hinuntersah.

«Du lebst immer irgendwo am Wasser, nicht wahr?» hatte die törichte kleine Tansy Mallet gesagt, und es stimmte, er lebte immer am Wasser, wenn es irgend möglich war, und würde wahrscheinlich auf ihm sterben, denn er war immer noch entschlossen, im Kriegsfall zur Marine zu gehen.

Wasser, Flüsse verbanden auch ihn und Ruth: die Arve, die sie mit einem Rucksack auf dem Rücken hatte durchschwimmen wollen ... die Donau, die Mishak seinen Herzenswunsch erfüllt hatte ... und die Themse, an der sie in jener Nacht gestanden hatten, die, wie er geglaubt hatte, ihre Liebe besiegelte. Plötzlich wurde Quin von einer so qualvollen Sehnsucht nach Ruth erfaßt, daß er meinte, er müßte daran sterben. Und noch während er versuchte, sich gegen diesen Schmerz, der ihn zu Boden zu werfen drohte, zu wehren, begann Verena, die neben ihm stand, zu sprechen. Im ersten Moment konnte er ihre Worte gar nicht hören. Erst als sie sie wiederholte und dabei eine Hand auf seinen Arm legte, gelang es ihm, den Sinn ihrer Worte zu erfassen.

«Ist es nicht Zeit, daß wir es publik machen, Quin?» fragte sie, und er fuhr zurück vor der Vertraulichkeit, dem Unterton in ihrer Stimme.

«Daß wir was publik machen?»

«Daß Sie mich nach Afrika mitnehmen werden. Sie sehen, ich weiß es schon. Brille-Lamartaine hat mir erzählt, daß Sie die Absicht haben, eine Ihrer Studentinnen, die jetzt Examen machen, mitzunehmen, und Milner hat es bestätigt. Sie hätten mir vertrauen können.»

Quin war entsetzt. Zu spät sah er den Pfad von Mißverständnissen, der zu diesem Augenblick geführt hatte. Aber Ruths Bild war noch so frisch in seinem Herzen, der Schmerz um sie noch zu bitter, als daß er hätte höflich sein können. Was er sagte, war grausam, doch er konnte nicht anders.

«Um Gottes willen, Verena», sagte er, «Sie glauben doch nicht etwa, ich hätte Sie mitnehmen wollen!»


Die Abschlußexamen fanden in der King's Hall statt, einem großen roten Backsteinbau, häßlich und abschreckend, dessen Mauern von der Furcht von Generationen von Prüflingen getränkt zu sein schienen. Dunkle Holzbänke standen in angemessenem Abstand voneinander zu Füßen eines hohen Podiums, auf dem die Aufsichtspersonen saßen. Große Schilder verboten das Rauchen, das Essen, das Sprechen. Eine Uhr, die zwischen Porträts rotgesichtiger Vizekanzler hing, tickte erbarmungslos, und auf dem fleckigen Holzboden lag kein Teppich.

Tag für Tag hatten sich Ruth und ihre Freunde mit flatternden Mägen zu diesem schrecklichen, kargen Ort begeben, hatten bleich vor Furcht und Schlaflosigkeit vor der Tür gewartet, versucht, sich die Zeit mit Witzen zu vertreiben, bis es läutete und sie hineingelassen und mit Nummern versehen wurden wie Sträflinge, um dann zu den häßlichen Pulten mit den blauen Mappen und den weißen Löschblättern zu gehen, die sie noch Jahre später im Traum sehen würden.

Aber heute war die letzte Prüfung, wenn auch die wichtigste. In drei Stunden würden sie frei sein! Die paläontologische Prüfung war heute an der Reihe, die, in der Ruth ganz besonders zu glänzen gehofft hatte. Jetzt hoffte sie nur noch, irgendwie durchzukommen.

«Du schaffst es schon, Pilly.» So schlecht es ihr selbst ging, schaffte es Ruth doch, der Freundin ermutigend zuzulächeln. «Mach als erstes die Kurzfragen, da kannst du dir immer ein paar Punkte holen.»

Es läutete. Die Tür wurde geöffnet. Selbst an diesem strahlenden Junimorgen war es kalt im Saal. Die beiden Aufsichtspersonen auf dem Podium waren ihnen fremd; Dozenten einer anderen Fakultät: eine Frau mit einem strengen Knoten und einer dunkelroten Strickjacke; ein grauhaariger Mann. Nicht Quin, der in einer Woche abreisen würde, und Ruth war froh.

«Sie können jetzt Ihre Blätter umdrehen und anfangen», sagte die Frau mit dem Knoten mit klarer, heller Stimme.

Papier raschelte. «Lesen Sie die Fragen mindestens zweimal durch», hatte Dr. Felton gesagt. «Hetzen Sie nicht. Wählen Sie aus. Überlegen Sie genau.»

Aber es war besser, nicht zu lange auszuwählen und zu überlegen. Jedenfalls an diesem Morgen ...

«Was versteht man unter der Theorie des allometrischen Wachstums?» Das konnte sie; das war eine Frage, die sie unter anderen Umständen mit Vergnügen in Angriff genommen hätte – eine Frage, bei der man ein bißchen brillieren konnte. «Diskutieren Sie Osborns Konzept der bei der Entwicklung fossiler Wirbeltiere.» Das war auch interessant, aber vielleicht war es besser, wenn sie sich zuerst die Frage für die geistig Minderbemittelten vornahm – Frage Nummer 4. «Schreiben Sie kurz, was Sie zu folgenden Begriffen wissen: a) Die Funde von Piltdown; b) Archäopterix ...»

Verena hatte schon zu schreiben begonnen; Ruth konnte das Kratzen ihrer Goldfeder hören. Verena machte ihr in letzter Zeit richtig angst. Ihre Augen schienen sie zu durchbohren. Aber Verena war nicht wichtig. Nichts war wichtig außer die nächsten drei Stunden, von denen sieben Minuten bereits verstrichen waren, hinter sich zu bringen.

«Die Theorie des allometrischen Wachstums zur Quantifizierung des Verhältnisses kleiner Tiere zu großen», begann Ruth zu schreiben, die sich entschlossen hatte, das Risiko einzugehen.

Pilly, die schon dabei war, niederzuschreiben, was sie über die Funde von Piltdown wußte, blickte kurz auf, sah Ruth über ihr Blatt gebeugt und tauschte einen erleichterten Blick mit Janet.

Die Uhrzeiger rückten vor, die erste halbe Stunde war um. Eine Frage beantwortet, dachte Ruth; noch vier ... Dann also die Kurzfragen, weil es jetzt wieder anfing; es war sogar ziemlich schlimm, aber sie würde sich dagegen wehren; sie würde tief durchatmen, und es würde vergehen. Mein Gott, ich habe so hart gearbeitet, dachte sie, plötzlich von Selbstmitleid überschwemmt. Das kann doch nicht alles vergeudet sein.

Wieder beugte sie sich über ihr Blatt und begann zu schreiben. Sie schrieb sehr schnell, weil sie unbedingt etwas zu Papier bringen mußte, wofür man ihr eine Note geben konnte. Wenn sie in dieser Prüfung versagte, würde sie ihren Magister nicht bekommen. Sie konnte es nicht im Dezember noch einmal versuchen; sie nicht.

Aber sie konnte nicht schnell genug schreiben. Sie merkte, wie ihr der Schweiß aus allen Poren brach. Sie konnte kaum noch etwas sehen vor Schwindel ... wieder holte sie tief Atem.

Sie hob die Hand.

Die Frau mit dem Knoten, die auf dem Podium saß, sah auf. Sie sagte etwas zu dem Mann neben ihr und ging dann langsam, entsetzlich langsam zwischen den Bänken hindurch.

«Ja?»

«Ich möchte gern zur Toilette.»

«So bald schon?» Die Frau war verstimmt. «Muß das sein?» Wieder sah sie Ruth an, sah den Schweiß auf ihrer Stirn. «Also gut. Kommen Sie mit.»

Alle sahen auf, als Ruth hinausgeführt wurde. Es war ein umständliches Verfahren, niemand durfte allein hinausgehen. Die Prüflinge wurden wie Gefängnisinsassen behandelt, man mußte doch darauf achten, daß nicht etwa ein Spickzettel hinter der Toilette versteckt war.

Pilly biß sich auf die Lippe. Sie und Sam tauschten besorgte Blicke. So früh hatte Ruth sonst nie hinaus gemußt.

Dann hob auch Verena die Hand. Das war nicht nur ungelegen; das war schon eine kleinere Krise. Kein Prüfling konnte den Saal ohne Begleitung verlassen – andererseits mußte wenigstens eine Aufsichtsperson jederzeit im Saal sein. Der grauhaarige Mann oben auf dem Podium runzelte die Stirn und drückte auf einen Klingelknopf unter seinem Pult. Eine Sekretärin aus dem Prüfungsbüro erschien an der Tür und wurde zu dem Pult gewiesen, an dem Verena, mit der rechten Hand immer noch schreibend, den linken Arm in die Höhe hielt.

»Ich möchte einen Moment hinaus», sagte Verena.

Die Sekretärin nickte. Verena stand auf, und die ungläubigen Blicke sämtlicher Prüflinge folgten ihr zur Tür. Es war schwer zu glauben, daß Verena überhaupt körperliche Funktionen besaß.

Der goldene Zeiger der Uhr rückte vor. Drei Minuten – vier ...

Dann kam Verena zurück. Sie sah wohl und zufrieden aus und griff sofort wieder zu ihrem Füllfederhalter. Von Ruth war nichts zu sehen.

Es wird schon alles in Ordnung sein, dachte Pilly verzweifelt. Während der Physiologieprüfung und beim Parasitologie-Praktikum hatte Ruth auch hinaus gemußt; aber niemals so lange wie diesmal. Niemals gleich zwanzig Minuten lang ... eine halbe Stunde ... vierzig Minuten. Ruth war gescheit, aber selbst sie konnte es sich nicht leisten, bei der Prüfung so viel Zeit zu versäumen.

Die Frau mit dem Knoten war schon lange wieder im Saal; sie sprach leise mit dem grauhaarigen Mann, beide sahen zu Ruths leerer Bank hinüber.

Eine Dreiviertelstunde – eine Stunde ...

Dann war die Zeit abgelaufen, und sie war noch immer nicht zurück.

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