1. Phantásien in Not

Alles Getier im Haulewald duckte sich in seine Höhlen, Nester und Schlupflöcher.

Es war Mitternacht, und in den Wipfeln der uralten riesigen Bäume brauste der Sturmwind. Die turmdicken Stämme knarrten und ächzten.

Plötzlich huschte ein schwacher Lichtschein in Zickzacklinien durchs Gehölz, blieb da und dort zitternd stehen, flog empor, setzte sich auf einen Ast und eilte gleich darauf wieder weiter. Es war eine leuchtende Kugel etwa von der Größe eines Kinderballs, es hüpfte in weiten Sprüngen dahin, berührte ab und zu den Boden und schwebte wieder aufwärts. Aber es war kein Ball.

Es war ein Irrlicht. Und es hatte den Weg verloren. Es war also ein verirrtes Irrlicht, und das gibt es selbst in Phantásien ziemlich selten. Normalerweise sind es gerade die Irrlichter, die andere Leute dazu bringen, sich zu verirren.

Im Inneren des runden Lichtscheins war eine kleine, äußerst bewegliche Gestalt zu sehen, die aus Leibeskräften sprang und rannte. Es war weder ein Männchen noch ein Weibchen, denn derlei Unterschiede gibt es bei Irrlichtern nicht. In der rechten Hand trug es eine winzige weiße Fahne, die hinter ihm herflatterte. Es handelte sich also um einen Boten oder einen Unterhändler.

Gefahr, bei seinen weiten Schwebesprüngen in der Finsternis gegen einen Baumstamm zu prallen, bestand nicht, denn Irrlichter sind ganz unglaublich geschickt und flink und vermögen mitten im Sprung ihre Richtung zu ändern. Daher kam der Zickzackweg, den es nahm, doch im großen und ganzen genommen bewegte es sich immer in einer bestimmten Richtung fort.

Bis zu dem Augenblick, da es um einen Felsvorsprung kam und erschrocken zurückfuhr. Hechelnd wie ein kleiner Hund saß es in einem Baumloch und überlegte eine Weile, ehe es sich wieder hervorwagte und vorsichtig um die Ecke des Felsens lugte.

Vor ihm lag eine Waldlichtung, und dort saßen beim Schein eines Lagerfeuers drei Gestalten sehr unterschiedlicher Art und Größe. Ein Riese, der aussah, als bestünde alles an ihm aus grauem Stein, lag ausgestreckt auf dem Bauch und war fast zehn Fuß lang. Er stützte den Oberkörper auf die Ellbogen und blickte ins Feuer. In seinem verwitterten Steingesicht, das seltsam klein über den gewaltigen Schultern stand, ragte das Gebiß hervor wie eine Reihe von stählernen Meißeln. Das Irrlicht erkannte, daß er zu der Gattung der Felsenbeißer gehörte. Das waren Wesen die unvorstellbar weit vom Haulewald in einem Gebirge lebten, - aber sie lebten nicht nur in diesem Gebirge, sie lebten auch - von ihm, denn sie aßen es nach und nach auf. Sie ernährten sich von Felsen. Glücklicherweise waren sie sehr genügsam und kamen mit einem einzigen Bissen der für sie äußerst gehaltvollen Kost wochen- und monatelang aus. Es gab auch nicht viele Felsenbeißer, und außerdem war das Gebirge sehr groß. Aber da diese Wesen schon sehr lang dort lebten - sie wurden viel älter als die meisten anderen Geschöpfe in Phantásien -, hatte das Gebirge im Laufe der Zeit doch ein recht sonderbares Aussehen angenommen. Es glich einem riesenhaften Emmentaler Käse voller Löcher und Höhlen. Deshalb hieß es wohl auch der Gänge-Berg.

Aber die Felsenbeißer ernährten sich nicht nur vom Gestein, sie machten alles daraus, was sie benötigten: Möbel, Hüte, Schuhe, Werkzeuge, ja sogar Kuckucksuhren. Und so war es nicht weiter verwunderlich, daß dieser Felsenbeißer hier eine Art Fahrrad hinter sich stehen hatte, das ganz und gar aus besagtem Material bestand und zwei Räder hatte, die wie gewaltige Mühlsteine aussahen. Im ganzen glich es eher einer Dampfwalze mit Pedalen.

Die zweite Gestalt, die rechts vom Feuer saß, war ein kleiner Nachtalb. Er war höchstens doppelt so groß wie das Irrlicht und glich einer pechschwarzen, fellbedeckten Raupe, die sich aufgesetzt hat. Er gestikulierte heftig beim Sprechen mit zwei winzigen rosa Händchen, und dort, wo unter den schwarzen Wuschelhaaren vermutlich das Gesicht war, glühten zwei große kreisrunde Augen wie Monde.

Nachtalben der verschiedensten Form und Größe gab es überall in Phantásien, und so konnte man zunächst nicht erraten, ob dieser hier von nah oder weit gekommen war. Allerdings schien auch er auf Reisen zu sein, denn das bei Nachtalben gebräuchliche Reittier, eine große Fledermaus, hing kopfunter in ihre Flügel gewickelt wie ein zugeklappter Regenschirm hinter ihm an einem Ast.

Die dritte Gestalt auf der linken Seite des Feuers entdeckte das Irrlicht erst nach einer Weile, denn sie war so klein, daß man sie aus dieser Entfernung nur schwer ausmachen konnte. Sie gehörte der Gattung der Winzlinge an, war ein überaus feingliedriges Kerlchen in einem bunten Anzüglein und mit einem roten Zylinder auf dem Kopf.

Über Winzlinge wußte das Irrlicht so gut wie nichts. Es hatte nur einmal sagen hören, daß dieses Volk ganze Städte auf den Ästen von Bäumen baute, wobei die Häuschen untereinander durch Treppchen, Strickleitern und Rutschbahnen verbunden seien. Doch wohnten diese Leute in einem ganz anderen Teil des grenzenlosen Phantásischen Reiches, noch viel, viel weiter weg von hier als die Felsenbeißer. Um so erstaunlicher war es, daß das Reittier, das der hier anwesende Winzling bei sich hatte, ausgerechnet eine Schnecke war. Sie saß hinter ihm. Auf ihrem rosa Gehäuse glitzerte ein kleiner silberner Sattel, und auch das Zaumzeug und die Zügel, die an ihren Fühlern befestigt waren, glänzten wie Silberfäden.

Das Irrlicht wunderte sich, daß gerade diese drei so verschiedenartigen Wesen hier einträchtig beisammen saßen, denn normalerweise war es in Phantásien durchaus nicht so, daß alle Gattungen in Frieden und Eintracht miteinander lebten. Es gab oft Kämpfe und Kriege, es gab auch jahrhundertelange Fehden unter gewissen Arten, und es gab außerdem nicht nur ehrliche und gute Geschöpfe, sondern auch räuberische, bösartige und grausame. Das Irrlicht selbst gehörte ja durchaus einer Familie an, der man, was Glaubwürdigkeit und Zuverlässigkeit betraf, einiges vorwerfen konnte.

Erst nachdem es eine Weile die Szene im Feuerschein beobachtet hatte, bemerkte das Irrlicht, daß jede der drei Gestalten dort entweder ein weißes Fähnchen bei sich hatte oder eine weiße Schärpe quer über der Brust trug. Also waren auch sie Boten oder Unterhändler, und das erklärte natürlich, daß sie sich so friedlich verhielten.

Sollten sie am Ende sogar in der gleichen Angelegenheit unterwegs sein wie das Irrlicht selbst?

Was sie sprachen, war aus der Entfernung nicht zu verstehen wegen des brausenden Windes, der in den Baumwipfeln wühlte. Aber da sie sich gegenseitig als Boten respektierten, würden sie vielleicht auch das Irrlicht als solchen anerkennen und ihm nichts tun. Und irgend jemanden mußte es schließlich nach dem Weg fragen. Eine günstigere Gelegenheit würde sich mitten im Wald und mitten in der Nacht wohl kaum bieten. Es faßte sich also ein Herz, kam aus seinem Versteck hervor, schwenkte das weiße Fähnchen und blieb zitternd in der Luft stehen.

Der Felsenbeißer, der ja mit dem Gesicht in seiner Richtung lag, bemerkte es als erster.

»Mächtig viel Betrieb hier heute nacht«, sagte er mit knarrender Stimme.»Da kommt noch einer.«

»Huhu, ein Irrlicht!« raunte der Nachtalb, und seine Mondaugen glühten auf.»Freut mich, freut mich!«

Der Winzling stand auf, ging ein paar Schrittchen auf den Ankömmling zu und piepste:»Wenn ich richtig sehe, so sind auch Sie in Ihrer Eigenschaft als Bote hier?«

»Ja«, sagte das Irrlicht.

Der Winzling nahm seinen roten Zylinder ab, machte eine kleine Verbeugung und zwitscherte:»Oh, so treten Sie doch näher, bitte sehr. Auch wir sind Boten. Nehmen Sie Platz in unserem Kreis.«

Und er wies einladend mit dem Hütchen auf die freie Stelle am Feuer.

»Vielen Dank«, sagte das Irrlicht und trat schüchtern näher,»ich bin so frei. Darf ich mich vorstellen: Ich heiße Blubb.«

»Sehr erfreut«, antwortete der Winzling.»Ich heiße Ückück.«

Der Nachtalb verbeugte sich im Sitzen.»Mein Name ist Wúschwusul.«

»Angenehm!« knarrte der Felsenbeißer,»ich bin Pjörnrachzarck.«

Alle drei schauten das Irrlicht an, das sich vor Verlegenheit wand. Irrlichtern ist es äußerst unangenehm, ganz unverhohlen betrachtet zu werden.

»Wollen Sie sich nicht setzen, lieber Blubb?« fragte der Winzling.

»Eigentlich«, antwortete das Irrlicht,»bin ich sehr in Eile und wollte Sie nur fragen, ob Sie mir vielleicht sagen könnten, in welcher Richtung ich von hier aus zum Elfenbeinturm komme.«

»Huhu!« machte der Nachtalb,»will man zur Kindlichen Kaiserin?«

»Ganz recht«, sagte das Irrlicht,»ich habe ihr eine wichtige Botschaft zu überbringen.«

»Was denn für eine?« knarzte der Felsenbeißer.

»Nun -«, das Irrlicht trat von einem Bein aufs andere,»- es ist eine geheime Botschaft.«

»Wir drei haben das gleiche Ziel wie du - huhu!« erwiderte der Nachtalb Wúschwusul.»Man ist unter Kollegen.«

»Möglicherweise haben wir sogar die gleiche Botschaft«, meinte der Winzling Ückück.

»Setz dich und red!« knirschte Pjörnrachzarck.

Das Irrlicht ließ sich auf den freien Platz nieder.

»Mein Heimatland«, begann es nach kurzem Bedenken,»liegt ziemlich weit von hier - ich weiß nicht, ob einer der Anwesenden es kennt. Es heißt das Moder-Moor.«

»Huuu!« seufzte der Nachtalb entzückt,»eine wunderschöne Gegend!«

Das Irrlicht lächelte schwach.

»Ja, nicht wahr?«

»Ist das schon alles?« knarrte Pjörnrachzarck.»Warum bist du unterwegs, Blubb?«

»Bei uns im Moder-Moor«, fuhr das Irrlicht stockend fort,»ist etwas geschehen - etwas Unbegreifliches - das heißt, es geschieht eigentlich immer noch - es ist schwer zu beschreiben - es begann damit, daß - also im Osten unseres Landes gibt es einen See - oder vielmehr, es gab ihn - er hieß Brodelbrüh. Und es begann also damit, daß der See Brodelbrüh eines Tages nicht mehr da war - einfach weg, versteht ihr?«

»Wollen Sie sagen«, erkundigte sich Ückück,»er sei ausgetrocknet?«

»Nein«, versetzte das Irrlicht,»dann wäre eben dort jetzt ein ausgetrockneter See. Aber das ist nicht der Fall. Dort, wo der See war, ist jetzt gar nichts mehr - einfach gar nichts, versteht ihr?«

»Ein Loch?« grunzte der Felsenbeißer.

»Nein, auch kein Loch«, - das Irrlicht wirkte zusehends hilfloser -»ein Loch ist ja irgend etwas. Aber dort ist nichts.«

Die drei anderen Boten wechselten Blicke miteinander.

»Wie sieht denn das aus - huhu - dieses Nichts?« fragte der Nachtalb.

»Das ist es ja gerade, was so schwer zu beschreiben ist«, versicherte das Irrlicht unglücklich.»Es sieht eigentlich gar nicht aus. Es ist - es ist wie - ach, es gibt kein Wort dafür!«

»Es ist«, fiel der Winzling ein,»als ob man blind wäre, wenn man auf die Stelle schaut, nicht wahr?«

Das Irrlicht starrte ihn mit offenem Mund an.

»Das ist der richtige Ausdruck!« rief es.»Aber woher - ich meine, wieso - oder kennt ihr auch dieses -?«

»Augenblick!« knarrte der Felsenbeißer dazwischen.»Ist es bei der einen Stelle geblieben, sag?«

»Zunächst ja«, erklärte das Irrlicht,»das heißt, die Stelle wurde nach und nach immer größer. Irgendwie fehlte immer mehr von der Gegend. Die Ur-Unke Umpf, die mit ihrem Volk im Brodelbrüh-See lebte, war dann auch plötzlich einfach weg. Andere Einwohner begannen zu fliehen. Aber nach und nach fing es auch an anderen Stellen im Moder-Moor an. Manchmal war es anfangs nur ganz klein, ein Nichts, so groß wie ein Sumpfhuhn-Ei. Aber diese Stellen machten sich breit. Wenn jemand aus Versehen mit dem Fuß hineintrat, dann war auch der Fuß weg - oder die Hand - oder was eben sonst hineingeraten war. Es tut übrigens nicht weh - nur daß dem Betreffenden dann eben plötzlich ein Stück fehlt. Manche haben sich sogar absichtlich hineinfallen lassen, wenn sie dem Nichts zu nahe gekommen sind. Es übt eine unwiderstehliche Anziehungskraft aus, die um so stärker wird, je größer die Stelle ist. Niemand von uns konnte sich erklären, was diese schreckliche Sache sein konnte, woher sie kam und was man dagegen tun sollte. Und da es von selbst nicht wieder verschwand, sondern sich immer mehr ausbreitete, wurde schließlich beschlossen, einen Boten zur Kindlichen Kaiserin zu senden, um sie um Rat und Hilfe zu bitten. Und dieser Bote bin ich.«

Die anderen drei blickten schweigend vor sich hin.

»Huhu!« ließ sich nach einer Weile die jammernde Stimme des Nachtalbs vernehmen,»dort, wo ich herkomme, ist es genau dasselbe. Und ich bin mit dem gleichen Ziel unterwegs - huhu!«

Der Winzling wandte sein Gesicht dem Irrlicht zu.»Jeder von uns«, piepste er,»kommt aus einem anderen Land Phantásiens. Wir haben uns ganz zufällig hier getroffen. Aber jeder bringt der Kindlichen Kaiserin die gleiche Botschaft.«

»Und das heißt«, ächzte der Felsenbeißer,»ganz Phantásien ist in Gefahr.«

Das Irrlicht blickte zu Tode erschrocken von einem zum anderen.

»Aber dann«, rief es und sprang auf,»dürfen wir doch keinen Augenblick mehr versäumen!«

»Wir wollten sowieso gerade aufbrechen«, erklärte der Winzling.»Wir hatten nur Rast gemacht wegen der undurchdringlichen Finsternis hier im Haulewald. Aber jetzt, wo Sie bei uns sind, Blubb, können Sie uns ja leuchten.«

»Unmöglich!« rief das Irrlicht,»ich kann nicht auf jemand warten, der auf einer Schnecke reitet, tut mir leid!«

»Aber es ist eine Renn-Schnecke!« sagte der Winzling etwas gekränkt.

»Und außerdem - huhu! -«, raunte der Nachtalb,»sagen wir dir sonst einfach nicht die richtige Richtung!«

»Mit wem redet ihr überhaupt?« knurrte der Felsenbeißer.

Und in der Tat, das Irrlicht hatte die letzten Worte der anderen Boten schon nicht mehr vernommen, sondern hüpfte bereits in langen Sprüngen durch den Wald davon.

»Nun ja«, meinte Uckück, der Winzling, und schob sein rotes Zylinderchen ins Genick,»als Wegbeleuchtung wäre ein Irrlicht vielleicht sowieso nicht ganz das Richtige gewesen.«

Dabei schwang er sich in den Sattel seiner Renn-Schnecke.

»Mir wäre es übrigens auch lieber«, erklärte der Nachtalb und rief durch ein leises Huhu! seine Fledermaus herbei,»wenn jeder von uns auf eigene Faust reist. Man fliegt ja schließlich!«

Und husch! fort war er.

Der Felsenbeißer löschte das Lagerfeuer aus, indem er einfach ein paarmal mit der flachen Hand draufpatschte.

»Ist mir auch lieber«, hörte man ihn in der Dunkelheit knarren,»da brauche ich nicht aufzupassen, ob ich irgendwas Winziges plattwalze.«

Und dann hörte man ihn mit Geprassel und Geknacke auf seinem gewaltigen Felsenfahrrad einfach ins Gehölz hineinfahren. Ab und zu prallte er dumpf gegen einen Baumriesen, man hörte ihn knirschen und knurren. Langsam entfernte sich das Getöse in der Finsternis.

Ückück, der Winzling, blieb allein zurück. Er ergriff die Zügel aus feinen Silberfäden und sagte:

»Nun ja, wir werden ja sehen, wer zuerst ankommt. Hü, meine Alte, hü!«

Und er schnalzte mit der Zunge.

Und dann war nichts mehr zu hören als der Sturmwind, der in den Wipfeln des Haulewaldes brauste.

Die Turmuhr in der Nähe schlug neun.

Bastians Gedanken kehrten nur ungern in die Wirklichkeit zurück. Er war froh, daß die Unendliche Geschichte nichts mit ihr zu tun hatte.

Er mochte keine Bücher, in denen ihm auf eine schlechtgelaunte und miesepetrige Art die ganz alltäglichen Begebenheiten aus dem ganz alltäglichen Leben irgendwelcher ganz alltäglichen Leute erzählt wurden. Davon hatte er ja schon in Wirklichkeit genug, wozu sollte er auch noch davon lesen? Außerdem haßte er es, wenn er merkte, daß man ihn zu was kriegen wollte. Und in dieser Art von Büchern sollte man immer, mehr oder weniger deutlich, zu was gekriegt werden.

Bastians Vorliebe galt Büchern, die spannend waren oder lustig oder bei denen man träumen konnte, Bücher, in denen erfundene Gestalten fabelhafte Abenteuer erlebten und wo man sich alles mögliche ausmalen konnte.

Denn das konnte er - vielleicht war es das einzige, was er wirklich konnte: Sich etwas vorstellen, so deutlich, daß er es fast sah und hörte. Wenn er sich selbst seine Geschichten erzählte, dann vergaß er manchmal alles um sich herum und wachte erst am Schluß auf wie aus einem Traum. Und dieses Buch hier war genau von der Art wie seine eigenen Geschichten! Beim Lesen hatte er nicht nur das Knarren der dicken Stämme und das Brausen des Windes in den Baumwipfeln gehört, sondern auch die verschiedenartigen Stimmen der vier komischen Boten, ja, er bildete sich sogar ein, den Geruch von Moos und Walderde zu riechen.

Unten in der Klasse fing jetzt bald der Naturkundeunterricht an, der hauptsächlich im Aufzählen von Blütenständen und Staubgefäßen bestand. Bastian war froh, daß er hier oben in seinem Versteck saß und lesen konnte. Es war genau das richtige Buch für ihn, fand er, ganz genau das richtige!

Eine Woche später erreichte Wúschwusul, der kleine Nachtalb, als erster das Ziel. Oder vielmehr, er war davon überzeugt, der erste zu sein, da er ja durch die Lüfte dahinritt.

Es war zur Stunde des Sonnenuntergangs, und die Wolken des Abendhimmels sahen aus wie flüssiges Gold, als er gewahr wurde, daß seine Fledermaus bereits über dem Labyrinth schwebte. So lautete der Name einer weiten Ebene, die von Horizont zu Horizont reichte, und die nichts anderes war als ein einziger großer Blumengarten voll verwirrender Düfte und traumhafter Farben. Zwischen Büschen, Hecken, Wiesen und Beeten mit den seltsamsten und seltensten Blüten verliefen breite Wege und schmale Pfade in so kunstvoller und vielverzweigter Anordnung, daß die ganze Anlage einen Irrgarten von unvorstellbarer Weitläufigkeit bildete. Natürlich war dieser Irrgarten nur zum Spiel und zum Vergnügen angelegt, nicht um etwa jemanden ernstlich in Gefahr zu bringen oder gar um Angreifer abzuwehren. Dazu hätte er nicht getaugt, und einen solchen Schutz hätte die Kindliche Kaiserin auch gar nicht nötig gehabt. Im ganzen grenzenlosen phantasischen Reich gab es niemand, gegen den sie sich hätte schützen müssen. Das hatte einen Grund, den wir bald erfahren werden.

Während der kleine Nachtalb auf seiner Fledermaus völlig geräuschlos über diesen Blumen-Irrgarten hinschwebte, konnte er auch allerlei seltenes Getier beobachten. Auf einer kleinen Lichtung zwischen Flieder und Goldregen spielte eine Gruppe junger Einhörner in der Abendsonne, und einmal war ihm sogar, als habe er unter einer blauen Riesenglockenblume den berühmten Vogel Phönix in seinem Nest erblickt, aber ganz sicher war er nicht, und umkehren und nachsehen wollte er auch nicht, um keine Zeit zu verlieren. Denn nun tauchte schon vor ihm in der Mitte des Labyrinths und in feenhaftem Weiß schimmernd der Elfenbeinturm auf, das Herz Phantásiens und der Wohnort der Kindlichen Kaiserin.

Das Wort»Turm« könnte bei einem, der diesen Ort nie gesehen hat, vielleicht eine falsche Vorstellung erwecken, etwa die eines Kirchturms oder eines Burgturms. Der Elfenbeinturm war groß wie eine ganze Stadt. Er sah von fern aus wie ein spitzer, hoher Bergkegel, der in sich wie ein Schneckenhaus gedreht war und dessen höchster Punkt in den Wolken lag. Erst beim Näherkommen konnte man erkennen, daß dieser riesenhafte Zuckerhut sich aus zahllosen Türmen, Türmchen, Kuppeln, Dächern, Erkern, Terrassen, Torbögen, Treppen und Balustraden zusammensetzte, die in- und übereinander geschachtelt waren. Alles das bestand aus dem allerweißesten phantasischen Elfenbein, und jede Einzelheit war so kostbar geschnitzt, daß man es für das Gitterwerk feinster Spitze halten konnte.

In all diesen Gebäuden lebte der Hofstaat, der die Kindliche Kaiserin umgab, die Kämmerer und Dienerinnen, die weisen Frauen und Sterndeuter, die Magier und Narren, die Boten, Köche und Akrobaten, die Seiltänzerinnen und die Geschichtenerzähler, die Herolde, Gärtner, Wächter, Schneider, Schuster und Alchemisten. Und ganz oben, auf der höchsten Spitze des gewaltigen Turmes, wohnte die Kindliche Kaiserin in einem Pavillon, der die Gestalt einer weißen Magnolienknospe hatte. In manchen Nächten, wenn der Vollmond besonders prächtig am gestirnten Himmel stand, öffneten sich die elfenbeinernen Blätter weit und entfalteten sich zu einer herrlichen Blüte, in deren Mitte dann die Kindliche Kaiserin saß.

Der kleine Nachtalb landete mit seiner Fledermaus auf einer der unteren Terrassen, dort, wo die Stallungen für die Reittiere waren. Irgend jemand mußte seine Ankunft offenbar angekündigt haben, denn er wurde bereits von fünf kaiserlichen Tierwärtern erwartet, die ihm aus dem Sattel halfen, sich vor ihm verneigten und ihm dann schweigend den zeremoniellen Begrüßungstrunk reichten. Wúschwusul nippte nur ein wenig an dem Elfenbeinbecher, um der Form Genüge zu tun, dann gab er ihn zurück. Jeder der Wärter trank ebenfalls einen Schluck, dann verneigten sie sich abermals und brachten die Fledermaus in die Stallungen. All das geschah schweigend.

Als die Fledermaus den Platz erreicht hatte, der für sie vorgesehen war, rührte sie weder Trank noch Futter an, sondern rollte sich sogleich zusammen, hängte sich kopfunter an ihren Haken und fiel in einen tiefen Schlaf der Erschöpfung. Es war ein bißchen viel gewesen, was der kleine Nachtalb ihr abverlangt hatte. Die Wärter ließen sie in Ruhe und gingen auf Zehenspitzen fort.

In diesem Stall gab es übrigens noch viele andere Reittiere: Einen rosa und einen blauen Elefanten, einen riesenhaften Vogel Greif, dessen vordere Körperhälfte einem Adler glich und die hintere einem Löwen, ein weißes geflügeltes Pferd, dessen Name früher einmal auch außerhalb Phantásiens bekannt war, aber jetzt vergessen ist, einige fliegende Hunde, auch ein paar andere Fledermäuse, ja sogar Libellen und Schmetterlinge für besonders kleine Reiter. In weiteren Stallgebäuden gab es noch andere Reittiere, die nicht flogen, sondern liefen, krochen, hüpften oder schwammen. Und jedes von ihnen hatte besondere Wächter zu seiner Pflege und Wartung.

Für gewöhnlich hätte man hier eigentlich ein beträchtliches Durcheinander von Stimmen hören müssen: Brüllen, Kreischen, Flöten, Piepsen, Quaken und Schnattern. Aber es herrschte völlige Stille.

Der kleine Nachtalb stand noch immer auf der Stelle, wo die Wärter ihn verlassen hatten. Er fühlte sich plötzlich niedergeschlagen und mutlos, ohne recht zu wissen warum. Auch er war sehr erschöpft von der langen, langen Reise. Und nicht einmal die Tatsache, daß er als erster angekommen war, munterte ihn auf.

»Hallo«, hörte er plötzlich ein piepsendes Stimmchen,»ist das nicht Freund Wúschwusul? Wie schön, daß Sie auch endlich hier sind.«

Der Nachtalb blickte sich um, und seine Mondaugen glühten vor Verwunderung auf, denn auf einer Balustrade, nachlässig gegen einen elfenbeinernen Blumentopf gelehnt, stand dort der Winzling Ückück und schwenkte seinen roten Zylinder.

»Huhu!« mächte der Nachtalb fassungslos und nach einer Weile noch einmal»huhu!« Es fiel ihm einfach nichts Gescheiteres ein.

»Die anderen beiden«, erklärte der Winzling,»sind bis jetzt noch nicht eingetroffen. Ich bin seit gestern morgen hier.«

»Wie - huhu! - wie hat man das gemacht?« fragte der Nachtalb.

»Nun ja«, meinte der Winzling und lächelte ein wenig überlegen,»ich sagte Ihnen doch, ich habe eine Renn-Schnecke.«

Der Nachtalb kratzte sich mit seiner kleinen rosa Hand das schwarze Fellgestrüpp auf seinem Kopf.

»Ich muß sofort zur Kindlichen Kaiserin«, sagte er weinerlich.

Der Winzling blickte ihn nachdenklich an.

»Hm«, machte er,»nun ja, ich habe mich schon gestern angemeldet.«

»Angemeldet?« fragte der Nachtalb.»Kann man denn nicht sofort zu ihr?«

»Ich fürchte, nein«, piepste der Winzling,»man muß lange warten. Es ist - wie soll ich sagen - ein enormer Andrang von Boten hier.«

»Huhu -«, wimmerte der Nachtalb,»wieso?«

»Am besten«, zwitscherte der Winzling,»Sie sehen sich die Sache selbst an. Kommen Sie, lieber Wúschwusul, kommen Sie!«

Sie machten sich zu zweit auf den Weg.

Die Hauptstraße, die in einer immer enger werdenden Spirale um den Elfenbeinturm aufwärts lief, war voll von einer dichtgedrängten Menge der seltsamsten Gestalten. Riesenhafte turbangeschmückte Dschinns, winzige Kobolde, dreiköpfige Trolle, bärtige Zwerge, leuchtende Feen, bocksbeinige Faune, Wildweibchen mit goldlockigem Fell, glitzernde Schneegeister und zahllose andere Wesen bewegten sich die Straße hinauf und hinunter, standen in Gruppen beieinander und redeten leise oder hockten auch stumm auf dem Boden und blickten trübselig vor sich hin.

Als Wúschwusul ihrer ansichtig wurde, blieb er stehen.

»Huhu!« sagte er,»was ist denn hier los? Was tun die alle hier?«

»Das sind alles Boten«, erklärte Ückück leise,»Boten aus allen Gegenden Phantásiens. Und alle haben die gleiche Botschaft wie wir. Ich habe schon mit vielen von ihnen gesprochen. Es scheint überall die gleiche Gefahr ausgebrochen zu sein.«

Der Nachtalb ließ ein langes wimmerndes Seufzen hören.

»Und weiß man denn«, fragte er,»was es ist und woher es kommt?«

»Ich fürchte, nein. Niemand kann es erklären.«

»Und die Kindliche Kaiserin selbst?«

»Die Kindliche Kaiserin -«, sagte der Winzling leise,»ist krank, sehr, sehr krank. Vielleicht ist das der Grund des unbegreiflichen Unglücks, das über Phantásien gekommen ist. Aber bis jetzt hat keiner der vielen Ärzte, die im Palastbezirk dort oben beim Magnolienpavillon versammelt sind, herausbekommen, woran sie erkrankt ist und was man dagegen tun kann. Niemand weiß ein Heilmittel.«

»Das«, sagte der Nachtalb dumpf,»- huhu! - ist eine Katastrophe.«

»Ja«, antwortete der Winzling,»das ist es.«

Unter diesen Umständen verzichtete Wúschwusul vorerst darauf, sich bei der Kindlichen Kaiserin anmelden zu lassen.

Zwei Tage später kam übrigens auch das Irrlicht Blubb an, das natürlich in die falsche Richtung gelaufen war und dadurch einen Riesenumweg gemacht hatte.

Und schließlich - weitere drei Tage später - traf auch der Felsenbeißer Pjörnrachzarck ein. Er kam zu Fuß dahergestampft, denn er hatte in einem plötzlichen Anfall von Heißhunger sein steinernes Fahrrad aufgegessen - als Reiseproviant sozusagen.

Während der langen Wartezeit befreundeten sich die vier ungleichen Boten innig und blieben auch späterhin zusammen.

Aber das ist eine andere Geschichte und soll ein andermal erzählt werden.

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