2. Atréjus Berufung

Beratungen, die das Wohl und Wehe ganz Phantásiens betrafen, wurden für gewöhnlich im großen Thronsaal des Elfenbeinturms abgehalten, der innerhalb des eigentlichen Palastbezirks nur wenige Stockwerke unter dem Magnolienpavillon lag.

Jetzt war dieser weite, kreisrunde Raum von gedämpftem Stimmengewirr erfüllt. Die vierhundertneunundneunzig besten Ärzte des ganzen phantasischen Reiches waren hier versammelt und sprachen flüsternd oder raunend miteinander in kleineren oder größeren Gruppen. Jeder von ihnen hatte der Kindlichen Kaiserin seine Visite gemacht - die einen schon vor einiger Zeit, die anderen erst vor kurzem -, und jeder hatte versucht, ihr mit seiner Kunst zu helfen. Aber keinem war es gelungen, keiner kannte ihre Krankheit und deren Ursache, keiner wußte, wie man sie heilen konnte. Und der fünfhundertste, der berühmteste aller Ärzte Phantásiens, von dem die Sage ging, daß es kein Heilkraut, kein Zaubermittel und kein Geheimnis der Natur gäbe, das ihm nicht bekannt wäre, er war nun schon seit Stunden bei der Patientin, und alle erwarteten mit Spannung das Ergebnis seiner Untersuchung.

Nun darf man sich eine solche Versammlung natürlich nicht so vorstellen wie einen menschlichen Ärztekongreß. Zwar gab es in Phantásien sehr viele Wesen, die in ihrer äußeren Gestalt mehr oder weniger menschenähnlich waren, aber es gab mindestens ebenso viele, die Tieren oder überhaupt völlig anders gearteten Geschöpfen glichen. So vielgestaltig die Menge der Boten war, die sich draußen tummelte, so mannigfaltig war auch die Gesellschaft hier im Saal. Es gab Zwergenärzte mit weißen Barten und Buckeln, es gab Feenärztinnen in blausilbern schimmernden Gewändern und mit funkelnden Sternen im Haar, es gab Wassermänner mit dicken Bäuchen und Schwimmhäuten an Händen und Füßen (für sie waren eigens Sitzbadewannen aufgestellt worden), aber es gab auch weiße Schlangen, die sich auf dem langen Tisch in der Mitte des Saales zusammengeringelt hatten, es gab Bienenelfen, ja sogar Hexer, Vampire und Gespenster, die im allgemeinen nicht als besonders wohltätig und gesundheitsfördernd gelten.

Um die Anwesenheit dieser letzteren zu begreifen, muß man unbedingt etwas wissen:

Die Kindliche Kaiserin galt zwar - wie ihr Titel ja schon sagt - als die Herrscherin über all die unzähligen Länder des grenzenlosen phantásischen Reiches, aber sie war in Wirklichkeit viel mehr als eine Herrscherin, oder besser gesagt, sie war etwas ganz anderes.

Sie herrschte nicht, sie hatte niemals Gewalt angewendet oder von ihrer Macht Gebrauch gemacht, sie befahl nichts und richtete niemanden, sie griff niemals ein und mußte sich niemals gegen einen Angreifer zur Wehr setzen, denn niemandem wäre es eingefallen, sich gegen sie zu erheben oder ihr etwas anzutun. Vor ihr galten alle gleich.

Sie war nur da, aber sie war auf eine besondere Art da: Sie war der Mittelpunkt allen Lebens in Phantásien.

Und jedes Geschöpf, ob gut oder böse, ob schön oder häßlich, lustig oder ernst, töricht oder weise, alle, alle waren nur da durch ihr Dasein. Ohne sie konnte nichts bestehen, so wenig ein menschlicher Körper bestehen könnte, der kein Herz mehr hat.

Niemand konnte ihr Geheimnis ganz begreifen, aber alle wußten, daß es so war. Und so wurde sie von allen Geschöpfen dieses Reiches gleichermaßen respektiert, und alle machten sich gleichermaßen Sorgen um ihr Leben. Denn ihr Tod wäre zugleich das Ende für sie alle gewesen, der Untergang des unermeßlichen Reiches Phantásien.

Bastians Gedanken schweiften ab.

Er sah in der Erinnerung plötzlich wieder den langen Korridor der Klinik vor sich, wo die Mama operiert worden war. Er hatte mit dem Vater viele Stunden vor dem Operationssaal gesessen und gewartet. Ärzte und Krankenschwestern waren hin und her gelaufen. Wenn der Vater danach fragte, wie es der Mama ging, hatte er nur immer ausweichende Antworten bekommen. Niemand schien so richtig zu wissen, wie es mit ihr stand. Dann war zuletzt ein glatzköpfiger Mann im weißen Kittel gekommen, der müde und traurig aussah. Er hatte ihnen gesagt, daß alle Anstrengungen umsonst gewesen wären und daß es ihm leid täte. Er hatte ihnen beiden die Hand gedrückt und»herzliches Beileid« gemurmelt.

Danach war alles anders geworden zwischen dem Vater und Bastian.

Nicht äußerlich. Bastian hatte alles, was er sich nur wünschen konnte. Er besaß ein Dreigangfahrrad, eine elektrische Eisenbahn, viele Vitamintabletten, dreiundfünfzig Bücher, einen Goldhamster, ein Aquarium mit Warmwasserfischen, einen kleinen Fotoapparat, sechs Patenttaschenmesser und alles mögliche andere. Aber er machte sich im Grunde nichts aus alledem.

Bastian erinnerte sich, daß der Vater früher gern Späße mit ihm getrieben hatte. Manchmal hatte er sogar Geschichten erzählt oder vorgelesen. Aber das war seit damals vorbei. Er konnte mit dem Vater nicht sprechen. Es war wie eine unsichtbare Mauer um ihn, durch die niemand dringen konnte. Er schimpfte nie und lobte nie. Auch als Bastian sitzengeblieben war, hatte der Vater nichts gesagt. Er hatte ihn nur auf diese abwesende und bekümmerte Art angesehen, und Bastian hatte das Gefühl gehabt, überhaupt nicht da zu sein. Dieses Gefühl hatte er meistens dem Vater gegenüber. Wenn sie zusammen abends vor dem Fernsehapparat saßen, dann merkte Bastian, daß der Vater gar nicht zuschaute, sondern mit seinen Gedanken weit, weit fort war, wo er ihn nicht erreichen konnte. Oder manchmal, wenn sie beide ein Buch hatten, sah Bastian, daß der Vater überhaupt nicht las, weil er stundenlang auf ein und dieselbe Seite blickte, ohne umzublättern.

Bastian verstand ja, daß der Vater traurig war. Er selbst hatte damals viele Nächte lang geweint, so sehr, daß er sich manchmal vor Schluchzen übergeben mußte - aber das war nach und nach vorübergegangen. Und er war doch noch da. Warum redete der Vater nie mit ihm, nicht über die Mama, nicht über wichtige Dinge, nur gerade eben so über das Nötigste?

»Wenn man nur wüßte«, sagte ein langer, magerer Feuergeist mit einem Bart aus roten Flammen,»worin ihre Krankheit überhaupt besteht. Sie hat kein Fieber, nichts ist geschwollen, keinen Ausschlag, keine Entzündung. Es ist einfach, als ob sie am Erlöschen wäre - man weiß nicht warum.«

Wenn er sprach, stiegen nach jedem Satz kleine Rauchwölkchen aus seinem Mund, die Figuren bildeten. Diesmal war es ein Fragezeichen.

Ein alter zerrupfter Rabe, der aussah wie eine große Kartoffel, in die jemand kreuz und quer ein paar schwarze Federn gesteckt hat, antwortete mit krächzender Stimme (er war Fachmann für Erkältungskrankheiten):

»Sie hustet nicht, sie hat keinen Schnupfen, es ist überhaupt keine Krankheit im medizinischen Sinne.«

Er rückte an der großen Brille auf seinem Schnabel und blickte die Umstehenden herausfordernd an.

»Eines scheint mir jedenfalls offensichtlich«, summte ein Skarabäus (ein Käfer, der auch manchmal»Pillendreher« genannt wird),»zwischen ihrer Krankheit und den furchtbaren Dingen, die uns die Boten aus ganz Phantásien melden, besteht ein geheimnisvoller Zusammenhang.«

»Ach Sie«, warf ein Tintenmännchen spöttisch ein,»Sie sehen ja immer und überall geheimnisvolle Zusammenhänge!«

»Und Sie sehen niemals über den Rand Ihres Tintenfasses!« surrte der Skarabäus erbost.

»Aber meine Herrn Kollegen!« wimmerte ein hohlwangiges Gespenst dazwischen, das in einem langen weißen Kittel steckte,»wir wollen doch nicht in unsachliche, persönliche Auseinandersetzungen geraten. Und vor allem - dämpfen Sie Ihre Stimmen!«

Solche und ähnliche Unterhaltungen fanden überall in dem großen Thronsaal statt. Vielleicht mag es verwunderlich scheinen, daß so verschiedenartige Wesen sich überhaupt miteinander verständigen konnten. Aber in Phantásien waren fast alle Wesen, auch die Tiere, mindestens zweier Sprachen mächtig: Erstens der eigenen, die sie nur mit ihresgleichen redeten und die kein Außenstehender verstand, und zweitens einer allgemeinen, die man Hochphantásisch oder auch die Große Sprache nannte. Sie beherrschte jeder, wenngleich manche sie in etwas eigentümlicher Weise benützten.

Plötzlich trat Stille im Saal ein, und aller Augen wandten sich nach der großen Flügeltür, die geöffnet wurde. Herein trat Caíron, der berühmte und sagenumwobene Meister der Heilkunst.

Er war, was man in älteren Zeiten einen Zentauren genannt hat. Er hatte menschliche Gestalt bis zur Hüfte, der übrige Teil war der Körper eines Pferdes. Doch Caíron war ein sogenannter Schwarz-Zentaur. Er war aus einer sehr fernen Gegend gekommen, die weit, weit im Süden lag. So war sein menschlicher Teil ebenholzfarben, nur sein Haupthaar und sein Bart waren weiß und kraus, sein Pferdekörper jedoch war gestreift wie bei einem Zebra. Er trug einen seltsamen Hut aus Binsengeflecht. Um seinen Hals hing an einer Kette ein großes goldenes Amulett, auf dem zwei Schlangen zu sehen waren, eine helle und eine dunkle, die einander in den Schwanz bissen und ein Oval bildeten.

Bastian hielt überrascht inne. Er klappte das Buch zu - nicht ohne vorsorglich den Finger zwischen den Seiten zu lassen - und schaute noch einmal ganz genau auf den Einband. Da waren doch die beiden Schlangen, die sich in den Schwanz bissen und ein Oval bildeten! Was mochte dieses seltsame Zeichen wohl bedeuten?

Jeder in ganz Phantásien wußte, was dieses Medaillon bedeutete: Es war das Zeichen dessen, der im Auftrag der Kindlichen Kaiserin stand und in ihrem Namen handeln konnte, so als sei sie selbst anwesend.

Es hieß, daß es dem Träger geheimnisvolle Kräfte verlieh, obgleich niemand genau wußte welche. Seinen Namen kannte jeder: AURYN.

Aber viele, die sich scheuten, diesen Namen auszusprechen, nannten es»das Kleinod« oder auch»das Pantakel« oder nur einfach»der Glanz« .

Also trug auch das Buch das Zeichen der Kindlichen Kaiserin!

Ein Wispern lief durch den Saal, und einige Ausrufe des Staunens waren zu hören. Es war schon lange nicht mehr vorgekommen, daß jemandem das Kleinod anvertraut worden war.

Caíron stampfte einige Male mit den Hufen, bis sich die Unruhe gelegt hatte, dann sagte er mit tiefer Stimme:

»Freunde, verwundert euch nicht allzusehr, ich trage AURYN nur für kurze Zeit. Ich bin nur der Überbringer. Bald werde ich»den Glanz« einem Würdigeren übergeben.«

Atemlose Stille hatte sich im Saal ausgebreitet.

»Ich will unsere Niederlage nicht mit schönen Worten zu mildern versuchen«, fuhr Caíron fort.»Wir alle stehen der Krankheit der Kindlichen Kaiserin ratlos gegenüber. Wir wissen nur, daß die Vernichtung Phantásiens mit dieser Krankheit zugleich gekommen ist. Mehr wissen wir nicht. Nicht einmal, ob es überhaupt ärztliche Kunst ist, die sie retten könnte. Aber es ist möglich - und ich hoffe, daß es keinen von euch beleidigt, wenn ich es offen ausspreche - es ist möglich, daß wir, die wir hier versammelt sind, nicht alle Kenntnisse, nicht alle Weisheit besitzen. Es ist sogar meine letzte und einzige Hoffnung, daß es irgendwo in diesem grenzenlosen Reich ein Wesen gibt, das weiser ist als wir, das uns Rat und Hilfe geben könnte. Aber das ist mehr als ungewiß. Worin auch immer die Möglichkeit einer Rettung bestehen mag - eins steht fest: Die Suche danach erfordert einen Fährtenfinder, der Wege im Unwegsamen zu entdecken vermag und vor keiner Gefahr und keiner Anstrengung zurückweicht, mit einem Wort: einen Helden. Und die Kindliche Kaiserin hat mir den Namen dieses Helden genannt, dem sie ihr und unser aller Los anvertraut: Er heißt Atréju und wohnt im Gräsernen Meer hinter den Silberbergen. Ihm werde ich AURYN übergeben und ihn auf die Große Suche schicken. Nun wißt ihr alles.«

Damit polterte der alte Zentaur aus dem Saal.

Die Zurückbleibenden blickten einander verwirrt an.

»Wie war der Name dieses Helden?« fragte einer.

»Atréju oder so ähnlich«, sagte ein anderer.

»Nie gehört!« meinte ein dritter. Und alle vierhundertneunundneunzig Ärzte schüttelten sorgenvoll die Köpfe.

Die Turmuhr schlug zehn. Bastian wunderte sich, wie schnell die Zeit vergangen war. Während des Unterrichts kam ihm jede Stunde für gewöhnlich wie eine kleine Ewigkeit vor. Unten in der Klasse hatten sie jetzt Geschichte bei Herrn Dröhn, einem mageren, meist schlechtgelaunten Mann, der Bastian besonders gern vor allen lächerlich machte, weil er die Jahreszahlen von Schlachten, die Geburtsdaten und Regierungszeiten irgendwelcher Leute einfach nicht behalten konnte.

Das Gräserne Meer, das hinter den Silberbergen lag, war viele, viele Tagereisen vom Elfenbeinturm entfernt. Es handelte sich um eine Prärie, die tatsächlich so weit und groß und flach war wie ein Meer. Saftiges Gras wuchs mannshoch, und wenn der Wind darüber hinstrich, zogen Wellen über die Ebene wie auf dem Ozean, und es rauschte wie Wasser. Das Volk, das hier lebte, hieß»Die Grasleute« oder auch»Die Grünhäute« . Sie hatten blauschwarze Haare, die auch von den Männern lang und manchmal in Zöpfen getragen wurden, und ihre Haut war von dunkelgrüner, ein wenig ins Bräunliche gehender Farbe - wie die der Oliven. Sie führten ein äußerst genügsames, strenges und hartes Leben, und ihre Kinder, Knaben wie Mädchen, wurden zur Tapferkeit, zur Großmut und zum Stolz erzogen. Sie mußten Hitze, Kälte und große Entbehrungen ertragen lernen und ihren Mut unter Beweis stellen. Das war nötig, denn die Grünhäute waren ein Volk von Jägern. Alles, was sie zum Leben brauchten, stellten sie entweder aus dem harten, faserigen Präriegras her oder sie nahmen es von den Purpurbüffeln, die in riesigen Herden über das Gräserne Meer zogen.

Diese Purpurbüffel waren ungefähr doppelt so groß wie gewöhnliche Stiere oder Kühe, hatten ein langes, seidig glänzendes und purpurrotes Fell und gewaltige Hörner, deren Spitzen scharf und hart wie Dolche waren. Im allgemeinen waren sie friedlich, aber wenn sie Gefahr witterten oder sich angegriffen fühlten, dann konnten sie furchtbar werden wie eine Naturgewalt. Niemand, außer den Grünhäuten, hätte es wagen können, auf diese Tiere Jagd zu machen - und sie taten es obendrein nur mit Pfeil und Bogen. Sie bevorzugten den ritterlichen Kampf, und so geschah es oft, daß nicht das Tier, sondern der Jäger sein Leben lassen mußte. Die Grünhäute liebten und verehrten die Purpurbüffel und meinten, das Recht, sie zu töten, nur durch die Bereitschaft zu erwerben, von ihnen getötet zu werden.

Bis in dieses Land war die Nachricht von der Krankheit der Kindlichen Kaiserin und dem Verhängnis, das ganz Phantásien bedrohte, noch nicht gedrungen. Lange schon waren keine Reisenden mehr in die Zeltlager der Grünhäute gekommen. Das Gras wuchs saftiger denn je, die Tage waren hell und die Nächte voller Sterne. Alles schien gut.

Aber eines Tages erschien ein weißhaariger, alter Schwarz-Zentaur im Zeltlager. Sein Fell troff von Schweiß, er wirkte zu Tode erschöpft, und sein bärtiges Gesicht war mager und ausgezehrt. Auf dem Kopf trug er einen seltsamen Hut aus Binsengeflecht und um den Hals eine Kette, an der ein großes goldenes Amulett hing. Es war Caíron.

Er stand mitten auf dem freien Platz, den die Zelte des Lagers in immer weiteren Kreisen umgaben, dort, wo sich die Ältesten zur Beratung zusammensetzten oder wo an Festtagen Tänze getanzt und alte Lieder gesungen wurden. Er wartete und schaute sich um, aber rings um ihn drängten sich nur sehr alte Frauen und Männer und ganz kleine Kinder, die ihn neugierig anstarrten. Er stampfte ungeduldig mit den Hufen.

»Wo sind die Jäger und Jägerinnen?« schnaubte er, nahm den Hut ab und trocknete sich die Stirn.

Eine weißhaarige Frau mit einem Baby auf dem Arm antwortete:»Sie sind alle auf der Jagd. Sie werden erst in drei oder vier Tagen zurückkommen.«

»Ist Atréju auch mit ihnen?« fragte der Zentaur.

»Ja, Fremdling, aber woher kennst du ihn?«

»Ich kenne ihn nicht. Holt ihn her!«

»Fremdling«, antwortete ein alter Mann mit Krücken,»er wird ungern kommen, denn heute ist seine Jagd. Sie beginnt mit Sonnenuntergang. Weißt du, was das bedeutet?«

Caíron schüttelte seine Mähne und stampfte mit den Hufen.

»Ich weiß es nicht, und es spielt auch keine Rolle, denn er hat jetzt Wichtigeres zu tun. Ihr kennt dieses Zeichen, das ich trage. Also holt ihn her!«

»Wir sehen das Kleinod«, sagte ein junges Mädchen,»und wir wissen, daß du von der Kindlichen Kaiserin kommst. Aber wer bist du?«

»Ich heiße Caíron«, brummte der Zentaur,»der Arzt Caíron, falls euch das was sagt.«

Eine gebückte alte Frau drängte sich vor und rief:

»Ja, es ist wahr. Ich erkenne ihn wieder. Ich habe ihn schon einmal gesehen, als ich noch jung war. Er ist der berühmteste und größte Arzt in ganz Phantásien!«

Der Zentaur nickte ihr zu.»Danke, Frau«, sagte er,»und jetzt ist vielleicht jemand von euch so freundlich, endlich diesen Atréju zu holen. Es ist dringend. Das Leben der Kindlichen Kaiserin steht auf dem Spiel.«

»Ich werde es tun!« rief ein kleines Mädchen, das vielleicht fünf, sechs Jahre alt war.

Es lief fort, und wenige Sekunden später sah man es zwischen den Zelten auf einem ungesattelten Pferd davongaloppieren.

»Na endlich!« brummte Caíron. Und dann brach er bewußtlos zusammen.

Als er wieder zu sich kam, wußte er zunächst nicht, wo er war, denn es war dunkel um ihn. Erst nach und nach erkannte er, daß er sich in einem geräumigen Zelt befand und auf weichen Felldecken lag. Es schien Nacht zu sein, durch einen Spalt am Türvorhang drang der flackernde Schein von Feuer.

»Heiliger Hufnagel!« murmelte er, während er versuchte sich aufzurichten,»wie lang liege ich denn hier schon so?«

Ein Kopf guckte durch den Türvorhang herein, wurde wieder zurückgezogen, und jemand sagte:»Ja, er scheint aufgewacht zu sein.«

Dann wurde der Türvorhang beiseite gezogen, und ein Junge von etwa zehn Jahren trat herein. Er trug lange Hosen und Schuhe aus weichem Büffelleder. Sein Oberkörper war nackt, nur um die Schultern hing ein purpurroter Mantel, offenbar aus Büffelhaar gewebt, bis zum Boden herab. Sein langes, blauschwarzes Haar war am Hinterkopf mit Lederschnüren zu einem Schöpf zusammengebunden. Auf die olivgrüne Haut seiner Stirn und Wangen waren mit weißer Farbe einige einfache Ornamente gemalt. Seine dunklen Augen funkelten den Eindringling zornig an, sonst aber war seinen Zügen keine Gemütsbewegung anzumerken.

»Was willst du von mir, Fremdling?« fragte er,»warum bist du in mein Zelt gekommen? Und warum hast du mir meine Jagd genommen? Wenn ich heute den großen Büffel getötet hätte - und mein Pfeil lag schon auf der Sehne, als man mich rief -, dann wäre ich morgen ein Jäger gewesen. Nun muß ich ein ganzes Jahr warten. Warum?«

Der alte Zentaur starrte ihn fassungslos an.

»Soll das etwa heißen«, fragte er schließlich,»daß du dieser Atréju bist?«

»Ja, Fremdling.«

»Gibt es da nicht vielleicht noch einen anderen, einen erwachsenen Mann, einen erfahrenen Jäger dieses Namens?«

»Nein, Atréju bin ich und kein anderer.«

Der alte Caíron ließ sich auf das Lager zurücksinken und keuchte:

»Ein Kind! Ein kleiner Junge! Wahrhaftig, die Entscheidungen der Kindlichen Kaiserin sind schwer zu begreifen.«

Atréju schwieg und wartete unbewegt ab.

»Verzeih mir, Atréju«, sagte Caíron, der seine Erregung nur mit Mühe beherrschen konnte,»ich hatte nicht die Absicht, dich zu kränken, aber es kam einfach zu überraschend für mich. Ehrlich gesagt, ich bin außer mir! Ich weiß nicht mehr, was ich denken soll! Ich frage mich ernstlich, ob die Kindliche Kaiserin wirklich wußte, was sie tat, als sie ein Kind wie dich erwählte. Das ist hellichter Wahnsinn! Und wenn sie's mit voller Absicht tat, dann… dann…«

Er schüttelte heftig den Kopf und stieß hervor:

»Nein! Nein! Wenn ich gewußt hätte, zu wem sie mich schickt, dann hätte ich mich einfach geweigert, dir ihren Auftrag zu überbringen. Ich hätte mich geweigert!«

»Welchen Auftrag?« fragte Atréju.

»Es ist eine Ungeheuerlichkeit!« rief Caíron, den sein Unwille nun doch hinriß.»Ihren Auftrag zu erfüllen wäre selbst für den größten und erfahrensten Helden wahrscheinlich ein Ding der Unmöglichkeit, aber für dich… Sie schickt dich auf eine Suche ins Ungewisse nach etwas, das niemand kennt. Niemand kann dir helfen, niemand kann dir raten, niemand kann absehen, was dir begegnen wird. Und doch mußt du dich sofort entscheiden, jetzt gleich, auf der Stelle, ob du den Auftrag annimmst oder nicht. Es ist kein Augenblick mehr zu verlieren. Ich bin zehn Tage und Nächte fast ohne Pause galoppiert, um dich zu erreichen. Aber jetzt - jetzt wünschte ich fast, ich wäre hier nie angekommen. Ich bin sehr alt, ich bin am Ende meiner Kräfte. Gib mir einen Schluck Wasser, bitte!«

Atréju holte einen Krug frisches Quellwasser. Der Zentaur trank in langen Zügen, dann wischte er sich den Bart und sagte etwas ruhiger:

»Ah, danke, das tut gut! Jetzt geht mir's schon besser. Hör zu, Atréju, du brauchst diesen Auftrag nicht anzunehmen. Die Kindliche Kaiserin überläßt es dir. Sie befiehlt dir nichts. Ich werde es ihr erklären, und sie wird einen anderen finden. Sie kann nicht gewußt haben, daß du ein kleiner Junge bist. Sie hat dich verwechselt, das ist die einzige Erklärung.«

»Worin besteht der Auftrag?« wollte Atréju wissen.

»Das Heilmittel für die Kindliche Kaiserin zu finden«, antwortete der alte Zentaur,»und Phantásien zu retten.«

»Ist sie denn krank?« fragte Atréju verwundert.

Caíron begann zu erzählen, wie es um die Kindliche Kaiserin stand und was die Boten aus allen Teilen Phantásiens berichtet hatten. Atréju stellte immer weitere Fragen, und der Zentaur gab Auskunft, so gut er es vermochte. Es wurde ein langes nächtliches Gespräch. Und je mehr Atréju das ganze Ausmaß des Verhängnisses begriff, das da über Phantásien hereingebrochen war, desto deutlicher malte sich in seinem anfangs so verschlossenen Gesicht offene Bestürzung.

»Und von all dem«, murmelte er schließlich mit blassen Lippen,»habe ich nichts gewußt.«

Caíron blickte den Jungen unter seinen buschigen weißen Augenbrauen ernst und kummervoll an.

»Nun weißt du, wie die Dinge stehen, und vielleicht verstehst du jetzt, warum ich die Fassung verloren habe, als ich dich sah. Und doch hat die Kindliche Kaiserin deinen Namen genannt.»Geh und suche Atréju auf!« sagte sie zu mir.»Ich setze all mein Vertrauen auf ihn«, sagte sie.»Frage ihn, ob er für mich und Phantásien die Große Suche auf sich nehmen will«, sagte sie. Ich weiß nicht, warum ihre Wahl auf dich gefallen ist. Vielleicht kann nur ein kleiner Junge wie du diese unmögliche Aufgabe lösen. Ich weiß es nicht, und ich kann dir nicht raten.«

Atréju saß mit gesenktem Kopf und schwieg. Er verstand, daß ihm hier eine Prüfung auferlegt war, die weit, weit größer war als seine Jagd. Selbst für den größten Jäger und den besten Fährtenfinder war sie kaum zu bestehen, für ihn war sie zu schwer.

»Nun?« erkundigte sich der alte Zentaur leise,»willst du?«

Atréju hob den Kopf und schaute ihn an.

»Ich will«, sagte er fest.

Caíron nickte langsam, dann nahm er die Kette mit dem goldenen Amulett von seinem Hals und legte sie Atréju um.

»AURYN gibt dir große Macht«, sagte er feierlich,»aber du darfst sie nicht benützen. Denn auch die Kindliche Kaiserin macht niemals Gebrauch von ihrer Macht. AURYN wird dich schützen und führen, aber du darfst niemals eingreifen, was auch immer du sehen wirst, denn deine eigene Meinung zählt von diesem Augenblick an nicht mehr. Darum mußt du ohne Waffen ausziehen. Du mußt geschehen lassen, was geschieht. Alles muß dir gleich gelten, das Böse und das Gute, das Schöne und das Häßliche, das Törichte und das Weise, so wie es vor der Kindlichen Kaiserin gleich gilt. Du darfst nur suchen und fragen, aber nicht urteilen nach deinem eigenen Urteil. Vergiß das niemals, Atréju!«

»AURYN!« wiederholte Atréju ehrfürchtig,»ich will mich des Kleinods würdig erweisen. Wann soll ich aufbrechen?«

»Jetzt sofort«, antwortete Caíron.»Niemand weiß, wie lang deine Große Suche dauern wird. Es ist möglich, daß es schon jetzt um jede Stunde geht. Verabschiede dich von deinen Eltern und Geschwistern!«

»Ich habe keine«, erwiderte Atréju.»Meine Eltern wurden beide vom Büffel getötet, kurz nachdem ich zur Welt kam.«

»Wer hat dich aufgezogen?«

»Alle Frauen und alle Männer gemeinsam. Darum nannten sie mich Atréju, das heißt in den Worten der Großen Sprache:»Der Sohn aller« .«

Niemand konnte besser verstehen, was das bedeutete, als Bastian. Obwohl sein Vater ja immerhin noch am Leben war. Und Atréju hatte weder Vater noch Mutter. Dafür war Atréju aber von allen Männern und Frauen gemeinsam aufgezogen worden und war»der Sohn aller«, während er, Bastian, im Grunde gar niemand hatte - ja, er war»der Sohn niemands« . Trotzdem freute Bastian sich darüber, daß er auf diese Weise etwas mit Atréju gemeinsam hatte, denn sonst hatte er ja leider keine große Ähnlichkeit mit ihm, weder was dessen Mut und Entschlossenheit noch was seine Gestalt betraf. Und doch war auch er, Bastian, auf einer Großen Suche, von der er nicht wußte, wohin sie ihn führen und wie sie enden würde.

»Dann«, meinte der alte Zentaur,»ist es besser, du gehst ohne Abschied fort. Ich werde bleiben und ihnen alles erklären.«

Atréjus Gesicht wurde noch schmaler und härter.

»Wo soll ich beginnen?« fragte er.

»Überall und nirgends«, antwortete Caíron.»Von nun an bist du allein, und niemand kann dir raten. Und so wird es sein bis zum Ende der Großen Suche - wie auch immer sie enden wird.«

Atréju nickte.

»Leb wohl, Caíron!«

»Leb wohl, Atréju. Und - viel Glück!«

Der Junge wandte sich um und wollte schon aus dem Zelt treten, als der Zentaur ihn noch einmal zurückrief. Als sie voreinander standen, legte der Alte ihm beide Hände auf die Schultern, schaute ihm mit einem respektvollen Lächeln in die Augen und sagte langsam:

»Ich glaube, ich fange an zu verstehen, warum die Wahl der Kindlichen Kaiserin auf dich gefallen ist, Atréju.«

Der Junge senkte ein wenig die Stirn, dann ging er rasch hinaus.

Draußen vor dem Zelt stand Artax, sein Pferd. Es war gefleckt und klein wie ein Wildpferd, seine Beine waren stämmig und kurz, und doch war es der schnellste und ausdauerndste Renner weit und breit. Es war noch gesattelt und gezäumt, so wie es mit Atréju von der Jagd gekommen war.

»Artax«, flüsterte Atréju und klopfte ihm auf den Hals,»wir müssen aufbrechen. Wir müssen fort, sehr weit fort. Niemand weiß, ob und wann wir zurückkehren.«

Das Pferdchen nickte mit dem Kopf und schnaubte leise.

»Ja, Herr«, antwortete es,»und was wird aus deiner Jagd?«

»Wir gehen auf eine viel größere Jagd«, erwiderte Atréju und schwang sich in den Sattel.

»Halt, Herr!« schnaubte das Pferdchen,»du hast deine Waffen vergessen. Willst du ohne Pfeil und Bogen ausziehen?«

»Ja, Artax«, antwortete Atréju,»denn ich trage den»Glanz« und muß unbewaffnet sein.«

»Ho!« rief das Pferdchen,»und wohin soll's gehen?«

»Wohin du willst, Artax«, erwiderte Atréju,»von diesem Augenblick an sind wir auf der Großen Suche.«

Damit sprengten sie davon, und die Dunkelheit der Nacht verschlang sie.

Zur gleichen Zeit geschah an einer anderen Stelle Phantásiens etwas, das niemand beobachtete und wovon weder Atréju noch Artax und auch nicht Caíron das geringste ahnte.

Auf einer weit entfernten nächtlichen Heide zog sich die Finsternis zu einer sehr großen, schattenhaften Gestalt zusammen. Das Dunkel verdichtete sich, bis es selbst in der lichtlosen Nacht jener Heide als ein gewaltiger Körper aus Schwärze erschien. Noch waren seine Umrisse nicht deutlich, aber es stand auf vier Pranken und in den Augen seines mächtigen zottigen Kopfes glühte grünes Feuer. Jetzt hob es die Schnauze hoch in die Luft und nahm Witterung auf. So stand es lange Zeit. Dann plötzlich schien es den Geruch gefunden zu haben, den es suchte, denn ein tiefes, triumphierendes Grollen drang aus seiner Kehle.

Es begann zu laufen. In langen lautlosen Sprüngen raste das Schattengeschöpf durch die sternenlose Nacht dahin.

Die Turmuhr schlug elf. Jetzt begann die große Pause. Aus den Korridoren scholl das Geschrei der Kinder herauf, die in den Schulhof hinunter liefen.

Bastian, der noch immer im Türkensitz auf den Turnmatten saß, waren die Beine eingeschlafen. Er war eben kein Indianer. Er stand auf, holte das Pausebrot und einen Apfel aus seiner Mappe und begann auf dem Speicher ein wenig auf und ab zu laufen. Die Füße kribbelten und wachten langsam wieder auf.

Dann kletterte er auf den Turnbock und setzte sich rittlings darauf. Er stellte sich vor, er wäre Atréju, der auf Artax durch die Nacht galoppierte. Er legte sich über den Hals seines Pferdchens.

»Hoi!« schrie er,»lauf, Artax, hoi! hoi!«

Dann erschrak er. Es war höchst unvorsichtig, so laut zu schreien. Wenn ihn nun jemand gehört hatte? Er wartete eine Weile und horchte. Aber nur das vielstimmige Geschrei aus dem Schulhof drang zu ihm herauf.

Ein wenig beschämt kletterte er wieder von dem Turnbock herunter. Wahrhaftig, er benahm sich wie ein kleines Kind!

Er wickelte das Pausebrot aus und rieb den Apfel an seiner Hose blank. Doch ehe er hineinbiß, hielt er inne.

»Nein«, sagte er laut zu sich selbst,»ich muß meinen Proviant sorgfältig einteilen. Wer weiß, wie lang ich damit auskommen muß.«

Schweren Herzens packte er das Brot wieder ein und steckte es zusammen mit dem Apfel in die Mappe zurück. Dann ließ er sich seufzend auf den Turnmatten nieder und griff wieder nach dem Buch.

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