6. Die drei Magischen Tore

Fuchur schlief noch immer tief, als Engywuck mit Atréju zur Gnomenhöhle zurückkehrte. Die alte Urgl hatte inzwischen das Tischchen ins Freie hinausgeschafft und es mit allerhand Süßigkeiten und eingedickten Säften aus Beeren und Pflanzen gedeckt.

Außerdem standen kleine Trinknäpfchen da und ein Kännchen voll duftendem heißen Kräutertee. Zwei winzige Windlichter, die mit Öl gespeist wurden, vervollständigten die Szene.

»Hinsetzen!« befahl das Gnomenweibchen.»Atréju muß erst mal was essen und trinken, damit er zu Kräften kommt. Die Arznei allein genügt nicht.«

»Danke«, sagte Atréju,»ich fühle mich schon sehr gut.«

»Keine Widerrede!« schnaubte die Urgl,»solang du hier bist, tust du, was man dir sagt, verstanden! Das Gift in deinem Leib ist neutralisiert. Brauchst dich also nicht mehr zu beeilen, mein Junge. Hast so viel Zeit, wie du willst, also nimm dir auch Zeit.«

»Es geht nicht nur um mich«, wandte Atréju ein,»die Kindliche Kaiserin liegt im Sterben. Vielleicht geht es schon jetzt um jede Stunde.«

»Schnickschnack!« brummte die kleine Alte,»mit Hast erreicht man gar nichts. Setz dich! Iß! Trink! Hopp, wird's bald?«

»Besser, man gibt ihr nach«, flüsterte Engywuck,»hab' so meine Erfahrung mit dem Weib. Wenn sie was will, hilft alles nichts. Müssen außerdem viel besprechen, wir beide.«

Atréju setzte sich also mit untergeschlagenen Beinen vor das winzige Tischchen und langte zu. Bei jedem Schluck und bei jedem Bissen war ihm tatsächlich, als ob goldenes, warmes Leben in seine Adern und Muskeln strömte. Erst jetzt merkte er, wie entkräftet er gewesen war.

Bastian lief das Wasser im Mund zusammen. Ihm war plötzlich, als ob er den Duft der Gnomenmahlzeit roch. Er schnupperte in der Luft herum, aber es war natürlich nur Einbildung gewesen.

Sein Magen knurrte vernehmlich. Er konnte es nicht mehr aushalten. Er holte den Rest seines Pausebrotes und den Apfel aus seiner Mappe und aß beides auf. Danach war ihm etwas besser, obwohl er noch längst nicht satt war.

Dann wurde ihm klar, daß dies seine letzte Mahlzeit gewesen war. Das Wort erschreckte ihn. Er versuchte, nicht mehr daran zu denken.

»Wo hast du nur all die guten Sachen her«, sagte Atréju zur Urgl.

»Ja, Söhnchen«, sagte sie,»man muß weit herumlaufen, weit herum, um die richtigen Kräuter und Pflanzen zu finden. Aber er, dieser Dickschädel von Engywuck, will ja ausgerechnet hier wohnen - wegen seiner wichtigen Studien! Wie man das Essen auf den Tisch bringt, kümmert ihn nicht.«

»Weib«, antwortete Engywuck würdevoll,»was verstehst du davon, was wichtig ist und was nicht. Hebe dich hinweg und laß uns reden!«

Die Urgl verzog sich maulend in die kleine Höhle, wo sie mit allerhand Geschirr herumlärmte.

»Laß sie nur!« raunte Engywuck,»sie ist eine gute alte Haut, muß nur manchmal was zu mümmeln haben. Hör zu, Atréju! Werde dir jetzt einiges über das Südliche Orakel erklären, was du wissen mußt. Ist nicht ganz einfach, bis zur Uyulála vorzudringen. Ziemlich schwierig sogar. Möchte dir aber keinen wissenschaftlichen Vortrag halten. Ist vielleicht besser, wenn du Fragen stellst. Verliere mich leicht ein bißchen in Einzelheiten. Also frag!«

»Gut«, meinte Atréju,»wer oder was also ist die Uyulála?«

»Verflixt!« knurrte Engywuck und funkelte ihn verärgert an,»du fragst so direkt wie meine Alte. Kannst du nicht mit was anderem anfangen?«

Atréju überlegte und fragte dann:

»Dieses große Felsentor mit den Sphinxen, das du mir gezeigt hast - ist das der Eingang?«

»Schon besser!« antwortete Engywuck,»so kommen wir weiter. Das Felsentor ist der Eingang, aber danach kommen noch zwei andere Tore, und erst hinter dem dritten wohnt die Uyulála - wenn man von ihr überhaupt sagen kann, daß sie wohnt.«

»Bist du selbst schon einmal bei ihr gewesen?«

»Wo denkst du hin!« erwiderte Engywuck, schon wieder etwas verstimmt,»arbeite schließlich wissenschaftlich. Habe alle Berichte gesammelt von denen, die drin waren. Sofern sie zurückgekommen sind, versteht sich. Sehr wichtige Arbeit! Kann mir kein persönliches Risiko erlauben. Könnte meine Arbeit beeinflussen.«

»Ich verstehe«, sagte Atréju.»Und was hat es nun mit diesen drei Toren auf sich?«

Engywuck stand auf, verschränkte die Arme auf dem Rücken und begann auf und ab zu gehen, während er folgendes erklärte:

»Das erste heißt das Große Rätsel Tor. Das zweite heißt das Zauber Spiegel Tor. Und das dritte heißt das Ohne Schlüssel Tor…«

»Seltsam«, unterbrach ihn Atréju,»soweit ich sehen konnte, war hinter dem Felsen tor nichts weiter als eine leere Ebene. Wo sind denn diese anderen Tore?«

»Ruhe!« herrschte ihn Engywuck an,»wenn du dauernd unterbrichst, kann man nichts erklären. Alles sehr schwierig! Die Sache ist so: Das zweite Tor ist erst da, wenn man durch das erste durch ist. Und das dritte erst, wenn man das zweite hinter sich hat. Und die Uyulála erst, wenn man durch das dritte gekommen ist. Vorher ist nichts von allem da. Es ist einfach nicht da, verstehst du?«

Atréju nickte, zog es aber vor zu schweigen, um den Gnom nicht von neuem ärgerlich zu machen.

»Das erste, das Große Rätsel Tor, hast du durch mein Fernrohr gesehen. Auch die zwei Sphinxen. Dieses Tor ist immer offen - versteht sich von selbst. Hat ja gar keine Torflügel. Kann aber trotzdem niemand durch, außer -«, hier streckte Engywuck ein winziges Zeigefingerchen in die Höhe,»- außer die Sphinxen schließen die Augen. Und weißt du, warum? Der Blick einer Sphinx ist was ganz und gar anderes, als der Blick irgendeines anderen Wesens. Wir beide und alle anderen, wir nehmen durch unseren Blick etwas auf. Wir sehen die Welt. Aber eine Sphinx sieht nichts, sie ist in gewissem Sinne blind. Dafür senden ihre Augen etwas aus. Und was ist das, was ihr Blick aussendet? Alle Rätsel der Welt. Deshalb schauen die beiden Sphinxen sich immerfort gegenseitig an. Denn den Blick einer Sphinx kann nur eine andere Sphinx ertragen. Und nun stell dir vor, was aus einem wird, der es einfach wagt, in den Blickwechsel dieser beiden hineinzulaufen! Er erstarrt auf der Stelle und kann sich nicht wieder rühren, ehe er nicht alle Rätsel der Welt gelöst hat. Na, du wirst die Spuren solcher armen Teufel vorfinden, wenn du hinkommst.«

»Aber sagtest du nicht«, warf Atréju ein,»daß sie manchmal ihre Augen schließen? Müssen sie nicht bisweilen schlafen?«

»Schlafen?« Engywuck schüttelte sich vor Kichern.»Du meine Güte, eine Sphinx und schlafen. Nein, wahrhaftig nicht. Bist wirklich ein ahnungsloser Bursche. Ist aber trotzdem nicht ganz verkehrt, deine Frage. Ist sogar genau der Punkt, dem meine Forschung gewidmet ist. Bei manchen Besuchern schließen die Sphinxen ihre Augen und lassen ihn durch. Die Frage, die bis heute aber noch niemand geklärt hat, ist die: Warum gerade den einen und warum nicht den anderen? Ist nämlich keineswegs so, daß sie etwa die Weisen, die Tapferen, die Guten vorbeilassen, und die Dummen, die Feigen oder die Bösewichte ausschließen. Ja, Pustekuchen! Hab's mit eigenen Augen beobachtet, und mehr als einmal, daß sie gerade irgendeinem albernen Schwachkopf oder einem niederträchtigen Halunken den Zutritt erlaubt haben, während die anständigsten und vernünftigsten Leute oft monatelang vergebens warteten und zuletzt unverrichteter Dinge abzogen. Auch ob einer aus Not und Bedrängnis zum Orakel will oder es nur mal so aus Jux versucht, scheint gar keine Rolle zu spielen.«

»Und deine Forschungen«, fragte Atréju,»haben sie keinerlei Anhaltspunkt ergeben?«

Sofort bekam Engywuck wieder seinen zornig funkelnden Blick.

»Hörst du zu oder nicht? Hab' doch eben gesagt, daß niemand die Frage bis heute geklärt hat. Habe natürlich einige Theorien ausgearbeitet im Lauf der Jahre. Dachte zunächst, der entscheidende Punkt, nach dem die Sphinxen urteilen, wären vielleicht bestimmte körperliche Merkmale - Größe, Schönheit, Stärke oder so was. Mußte ich aber bald wieder fallen lassen. Hab' dann versucht, bestimmte Zahlenverhältnisse festzustellen, zum Beispiel, daß von fünfen immer drei ausgeschlossen bleiben, oder daß nur die mit Primzahlen Zutritt bekommen. Ging auch ganz gut, was die Vergangenheit betrifft, nur bei der Vorhersage hat es absolut nicht geklappt. Bin inzwischen der Ansicht, die Entscheidung der Sphinxen ist ganz und gar zufällig und hat überhaupt keinen Sinn. Aber mein Weib behauptet, das wäre eine lästerliche und obendrein unphantásische Meinung und hätte mit Wissenschaft nichts mehr zu tun.«

»Kommst du schon wieder mit deinem Unsinn?« hörte man das Gnomenweibchen aus der Höhle keifen.»Schäm dich! Nur weil dein bißchen Hirn dir im Kopf eingetrocknet ist, meinst du, solche großen Geheimnisse einfach ableugnen zu können, alter Schwachkopf!«

»Da hörst du's!« sagte Engywuck seufzend.»Und das Schlimme ist, daß sie recht hat.«

»Und das Amulett der Kindlichen Kaiserin?« fragte Atréju.»Glaubst du, sie werden es nicht respektieren? Schließlich sind auch sie Geschöpfe Phantásiens.«

»Schon«, meinte Engywuck und wiegte sein apfelgroßes Köpfchen,»aber dazu müßten sie es sehen. Und sie sehen doch nichts. Aber ihr Blick würde dich treffen. Bin auch nicht sicher, daß die Sphinxen der Kindlichen Kaiserin gehorchen. Vielleicht sind sie größer als sie. Weiß nicht, weiß nicht. Ist jedenfalls sehr bedenklich.«

»Was rätst du mir also?« wollte Atréju wissen.

»Du wirst tun müssen, was alle tun müssen«, antwortete der Gnom.»Warten, wie sie entscheiden - ohne zu wissen warum.«

Atréju nickte nachdenklich.

Die kleine Urgl kam aus der Höhle. Sie schleppte ein Eimerchen mit einer dampfenden Flüssigkeit, unter dem anderen Arm hatte sie einige Bündel getrockneter Pflanzen. Vor sich hinmurmelnd ging sie zu dem Glücksdrachen hinüber, der noch immer reglos schlief. Sie begann auf ihm herumzuklettern und die Umschläge auf seinen Wunden zu erneuern. Ihr riesenhafter Patient seufzte nur einmal zufrieden und streckte sich aus, sonst schien er von der Behandlung kaum etwas zu bemerken.

»Könntest dich lieber auch ein bißchen nützlich machen«, sagte sie zu Engywuck, als sie noch einmal in die Küche zurücklief,»anstatt hier herumzuhocken und Unsinn zu schwätzen.«

»Mache mich sehr nützlich«, rief ihr Mann ihr nach,»vielleicht nützlicher als du, aber das wirst du nie begreifen, einfältiges Weib!«

Und zu Atréju gewandt fuhr er fort:»Sie kann nur ans Praktische denken. Für die großen Überblicke hat sie einfach keinen Sinn.«

Die Turmuhr schlug drei.

Wenn überhaupt, dann hatte der Vater spätestens jetzt gemerkt, daß Bastian nicht nach Hause gekommen war. Ob er sich wohl Sorgen machte? Vielleicht würde er losgehen und ihn suchen. Vielleicht hatte er schon die Polizei benachrichtigt. Am Ende wurden schon Fahndungsmeldungen im Rundfunk durchgegeben. Bastian fühlte einen Stich in der Magengrube.

Und wenn es so war, wo würden sie ihn suchen? In der Schule? Vielleicht sogar hier auf dem Dachboden?

Hatte er überhaupt die Tür abgeschlossen, als er vom Klo zurückkam? Er konnte sich nicht mehr erinnern. Er stand auf, um nachzusehen. Ja, die Tür war verschlossen und verriegelt.

Draußen begann es schon langsam dämmerig zu werden. Das Licht, das durch die Dachluke hereinkam, wurde unmerklich schwächer.

Um seine Unruhe loszuwerden, lief Bastian ein bißchen im Speicher hin und her. Dabei entdeckte er eine Menge Sachen, die eigentlich gar nichts mit den Schulgegenständen zu tun hatten, die sonst hier waren. So zum Beispiel ein altes, verbeultes Trichtergrammophon - wer weiß, wann und von wem es hierhergebracht worden war? In einer Ecke standen mehrere Gemälde in verschnörkelten Goldrahmen, auf denen fast nichts mehr zu sehen war, außer da und dort ein blasses, streng blickendes Gesicht, das aus dem dunklen Hintergrund hervorschimmerte. Es gab auch einen von Rost zerfressenen siebenarmigen Kerzenleuchter, in dem noch die Stümpfe dicker Wachslichter steckten, die lange Tropfenbärte gebildet hatten.

Dann erschrak Bastian, denn in einem dunklen Winkel bewegte sich eine Gestalt. Erst auf den zweiten Blick erkannte er, daß dort ein großer, halbblinder Spiegel stand, in dem er undeutlich sich selbst gesehen hatte. Er ging näher heran und betrachtete sich eine Weile. Schön war er wahrhaftig nicht mit seiner dicken Figur und den X-Beinen und diesem käsigen Gesicht. Er schüttelte langsam den Kopf und sagte laut:

»Nein!«

Dann ging er zu seinem Mattenlager zurück. Er mußte das Buch jetzt schon nahe an seine Augen halten, um weiterlesen zu können.

»Wo waren wir stehengeblieben?« fragte Engywuck.

»Beim Großen Rätsel Tor«, erinnerte ihn Atréju.

»Richtig! Nehmen wir an, es ist dir gelungen, durchzukommen. Dann - und erst dann - wird für dich das zweite Tor da sein. Das Zauber Spiegel Tor. Kann dir darüber, wie gesagt, nichts aus eigener Beobachtung sagen, sondern nur das, was ich an Berichten gesammelt habe. Dieses zweite Tor ist sowohl offen als auch geschlossen. Hört sich verrückt an, wie? Vielleicht sagt man besser, es ist weder geschlossen noch offen. Obwohl es dadurch nicht weniger verrückt wird. Kurzum: Es handelt sich dabei um einen großen Spiegel oder so was, obwohl die Sache weder aus Glas noch aus Metall besteht. Woraus, hat mir nie jemand sagen können. Jedenfalls, wenn man davorsteht, dann sieht man sich selbst - aber eben nicht wie in einem gewöhnlichen Spiegel, versteht sich. Man sieht nicht sein Äußeres, sondern man sieht sein wahres inneres Wesen, so wie es in Wirklichkeit beschaffen ist. Wer da durch will, der muß - um es mal so auszudrücken - in sich selbst hineingehen.«

»Jedenfalls«, meinte Atréju,»scheint mir dieses Zauber Spiegel Tor leichter zu durchschreiten als das erste.«

»Irrtum!« rief Engywuck und begann wieder aufgeregt hin und her zu laufen,»ganz gewaltiger Irrtum, mein Freund! Habe erlebt, daß gerade solche Besucher, die sich für besonders untadelig hielten, schreiend vor dem Ungeheuer geflohen sind, das ihnen in dem Spiegel entgegengrinste. Manche mußten wir sogar wochenlang kurieren, ehe sie überhaupt wieder in der Lage waren, die Heimreise anzutreten.«

»Wir!« brummte die Urgl, die eben mit einem neuen Eimerchen vorbeikam,»ich höre immer wir. Wen hast du denn kuriert?«

Engywuck winkte nur mit der Hand ab.

»Andere«, fuhr er in seinem Vortrag fort,»haben offenbar noch viel Schrecklicheres gesehen, hatten aber den Mut, trotzdem durchzugehen. Für manche war es auch weniger erschreckend, aber Überwindung kostete es jeden. Man kann darüber nichts sagen, was für alle Geltung hätte. Ist für jeden anders.«

»Gut«, sagte Atréju,»aber man kann jedenfalls hindurchgehen durch diesen Zauberspiegel?«

»Kann man«, bestätigte der Gnom,»natürlich kann man, sonst war's ja kein Tor. Logisch, nicht wahr?«

»Man kann ja auch außen herumgehen«, meinte Atréju,»oder nicht?«

»Kann man«, wiederholte Engywuck,»kann man durchaus! Nur ist dann dahinter nichts mehr. Das dritte Tor ist erst da, wenn man durch das zweite gegangen ist, wie oft muß man dir das noch sagen!«

»Und was hat es mit diesem dritten Tor auf sich?«

»Hier wird die Sache überhaupt erst richtig schwierig! Das Ohne Schlüssel Tor ist nämlich zu. Einfach zu. Punktum! Da gibt's keine Klinke und keinen Knauf und kein Schlüsselloch, nichts! Nach meiner Theorie besteht der einzige Türflügel, der fugenlos schließt, aus phantásischem Selén. Du weißt vielleicht, daß es nichts gibt, womit man phantásisches Selén zerstören, verbiegen oder auflösen kann. Ist absolut unzerstörbar.«

»Also kann man überhaupt nicht durch dieses Tor?«

»Langsam, langsam, mein Junge! Es sind ja Leute hineingekommen und haben mit der Uyulála gesprochen, nicht wahr? Also kann man die Tür öffnen.«

»Aber wie?«

»Hör zu: Phantasisches Selén reagiert nämlich auf unseren Willen. Gerade unser Wille ist es, der es so unnachgiebig macht. Je mehr einer hinein will, desto fester schließt die Tür. Aber wenn es einer fertigbringt, jede Absicht zu vergessen und gar nichts zu wollen - vor dem öffnet sich die Tür ganz von selbst.«

Atréju senkte den Blick und sagte leise:»Wenn das wahr ist - wie soll es mir dann möglich sein, hindurchzukommen? Wie könnte ich es nicht wollen?«

Engywuck nickte seufzend.

»Sagte ja schon: Das Ohne Schlüssel Tor ist am schwersten.«

»Und wenn es mir dennoch gelingen sollte«, fuhr Atréju fort,»bin ich dann im Südlichen Orakel?«

»Ja«, sagte der Gnom.

»Und werde ich mit der Uyulála sprechen können?«

»Ja«, sagte der Gnom.

»Und wer oder was ist die Uyulála?«

»Keine Ahnung«, sagte der Gnom, und seine Augen funkelten wütend,»niemand von allen, die bei ihr waren, hat es mir verraten wollen. Wie soll da einer sein wissenschaftliches Werk zu Ende bringen, wenn alle sich in geheimnisvolles Schweigen hüllen, he? Es ist zum Haareausraufen - wenn man noch welche hat. Wenn du bis zu ihr vordringst, Atréju, wirst du mir's dann endlich sagen? Wirst du? Ich komm noch um vor Wißbegier, und niemand, niemand will mir helfen. Bitte, versprich mir, daß du mir's sagen wirst!«

Atréju stand auf und blickte zu dem Großen Rätsel Tor hinüber, das im hellen Mondschein lag.

»Ich kann es dir nicht versprechen, Engywuck«, sagte er leise,»obgleich ich dir gern meine Dankbarkeit beweisen würde. Aber wenn niemand je darüber gesprochen hat, wer oder was die Uyulála ist, so muß es einen Grund dafür geben. Und ehe ich den nicht kenne, kann ich nicht darüber entscheiden, ob einer es wissen darf, der nicht selbst vor ihr gestanden hat.«

»Dann mach, daß du wegkommst!« schrie der Gnom ihn an, und seine Äuglein sprühten förmlich Funken.»Nichts als Undank erntet man! Da bemüht man sich ein Leben lang, ein Geheimnis von allgemeinem Interesse zu erforschen. Aber Hilfe bekommt man nicht. Ich hätte mich überhaupt nicht um dich kümmern sollen!«

Damit rannte er in die kleine Höhle hinein, in deren Innerem das heftige Zuschlagen eines Türchens zu hören war.

Die Urgl kam an Atréju vorbei, kicherte und sagte:»Er meint's nicht so, der alte Schrumpfkopf. Ist nur wieder mal schrecklich enttäuscht wegen seiner lächerlichen Forschungen. Möchte eben zu gern der sein, der das große Rätsel gelöst hat. Der berühmte Gnom Engywuck. Nimm's ihm nicht übel!«

»Nein«, sagte Atréju,»sage ihm bitte, daß ich ihm von ganzem Herzen danke für alles, was er für mich getan hat. Und auch dir danke ich. Wenn es mir erlaubt ist, werde ich ihm das Geheimnis sagen - falls ich zurückkomme.«

»Willst du uns denn verlassen?« fragte die alte Urgl.

»Ich muß«, antwortete Atréju,»ich darf keine Zeit verlieren. Ich werde jetzt ins Orakel gehen. Leb wohl! Und hüte mir inzwischen Fuchur, den Glücksdrachen!«

Damit wandte er sich ab und ging fort, auf das Große Rätsel Tor zu.

Die Urgl sah seine aufrechte Gestalt mit dem wehenden Mantel zwischen den Felsen verschwinden. Sie lief ihm nach und rief:

»Viel Glück, Atréju!«

Aber sie wußte nicht, ob er es noch gehört hatte. Während sie in ihre kleine Höhle zurückwatschelte, brummte sie vor sich hin:»Er wird es nötig haben - wahrhaftig, wird viel Glück nötig haben.«

Atréju hatte sich dem Felsentor bis auf etwa fünfzig Schritte genähert. Es war viel riesenhafter, als er es sich aus der Entfernung vorgestellt hatte. Dahinter lag die vollkommen öde Ebene, die dem Auge keinen einzigen Anhaltspunkt bot, so daß der Blick wie ins Leere stürzte. Vor dem Tor und zwischen den beiden Pfeilern sah Atréju nun unzählige Totenschädel und Gerippe liegen - die Knochenreste der verschiedenartigsten Bewohner Phantásiens, die versucht hatten, das Tor zu durchschreiten und durch den Blick der Sphinxen für immer erstarrt waren.

Aber nicht das war es, was Atréju dazu veranlaßte, stehenzubleiben. Was ihn innehalten ließ, das war der Anblick der Sphinxen.

Atréju hatte manches erfahren auf seiner Großen Suche, er hatte Herrliches und Entsetzliches gesehen, aber was er bis zu dieser Stunde noch nicht gewußt hatte, war, daß es beides in einem gibt, daß Schönheit schrecklich sein kann.

Das Mondlicht überflutete die beiden gewaltigen Wesen, und während er langsam auf sie zuging, schienen sie ins Unendliche zu wachsen. Ihm war, als ob sie mit den Häuptern bis zum Mond emporreichten, und der Ausdruck, mit welchem sie einander anblickten, schien sich mit jedem Schritt, den er näher kam, zu wandeln. Durch die hochaufgerichteten Leiber, vor allem aber durch die menschenähnlichen Gesichter liefen und zuckten Ströme einer furchtbaren, unbekannten Kraft - so als wären sie nicht einfach da, wie Marmorstein eben vorhanden ist, sondern so als wären sie jeden Augenblick im Begriff zu verschwinden und würden gleichzeitig aus sich selbst heraus neu erschaffen. Und es war, als seien sie gerade deshalb viel wirklicher als jeder Fels.

Atréju empfand Furcht.

Es war nicht so sehr die Furcht vor der Gefahr, die ihm drohte, es war eine Furcht, die über ihn selbst hinausging. Er dachte kaum daran, daß er - falls der Blick der Sphinxen ihn treffen würde - für immer festgebannt und erstarrt stehenbleiben müßte. Nein, es war die Furcht vor dem Unbegreiflichen, vor dem über alle Maßen Großartigen, vor der Wirklichkeit des Übermächtigen, die seine Schritte immer schwerer machte, bis er sich fühlte, als sei er aus kaltem, grauem Blei.

Dennoch ging er weiter. Er blickte nicht mehr empor. Er hielt den Kopf gesenkt und ging sehr langsam, Fuß vor Fuß, auf das Felsentor zu. Und immer gewaltiger wurde die Last der Furcht, die ihn zu Boden drücken wollte. Doch er ging weiter. Er wußte nicht, ob die Sphinxen ihre Augen geschlossen hatten oder nicht. Er hatte keine Zeit zu verlieren. Er mußte es darauf ankommen lassen, ob er Zutritt erhalten würde oder ob dies das Ende seiner Großen Suche war.

Und gerade in dem Augenblick, als er glaubte, alle Kraft seines Willens reiche nicht mehr aus, um ihn auch nur noch einen einzigen Schritt vorwärts zu tragen, hörte er den Widerhall dieses Schrittes im Inneren des Felsenbogens. Und zugleich fiel alle Furcht von ihm ab, so völlig und ohne Rest, daß er fühlte, er würde von nun an nie wieder Furcht empfinden, was auch geschehen mochte.

Er hob den Kopf und sah, daß das Große Rätsel Tor hinter ihm lag. Die Sphinxen hatten ihn durchgelassen.

Vor ihm, nur etwa zwanzig Schritte entfernt, stand nun dort, wo zuvor nur die endlose leere Ebene zu sehen gewesen war, das Zauber Spiegel Tor. Es war groß und rund wie eine zweite Mondscheibe (denn die richtige schwebte noch immer hoch droben am Himmel) und glänzte wie blankes Silber. Es war schwer zu glauben, daß man gerade durch diese metallene Fläche sollte hindurchgehen können, doch Atréju zögerte keinen Augenblick. Er rechnete damit, daß ihm, wie Engywuck es beschrieben hatte, irgendein Entsetzen erregendes Bild seiner selbst in diesem Spiegel entgegentreten würde, doch das erschien ihm nun - da er alle Furcht zurückgelassen hatte - kaum noch der Beachtung wert.

Indessen, statt eines Schreckbildes sah er etwas, worauf er ganz und gar nicht gefaßt gewesen war und das er auch nicht begreifen konnte. Er sah einen dicken Jungen mit blassem Gesicht - etwa ebenso alt wie er selbst - der mit untergeschlagenen Beinen auf einem Mattenlager saß und in einem Buch las. Er war in graue, zerrissene Decken gewickelt. Die Augen dieses Jungen waren groß und sahen sehr traurig aus. Hinter ihm waren einige reglose Tiere im Dämmerlicht auszumachen, ein Adler, eine Eule und ein Fuchs, und noch weiter entfernt schimmerte etwas, das wie ein weißes Gerippe aussah. Genau war es nicht zu erkennen.

Bastian fuhr zusammen, als er begriff, was er da eben gelesen hatte. Das war ja er! Die Beschreibung stimmte in allen Einzelheiten. Das Buch begann in seinen Händen zu zittern. Jetzt ging die Sache entschieden zu weit! Es war doch überhaupt nicht möglich, daß in einem gedruckten Buch etwas stehen konnte, was nur in diesem Augenblick und nur für ihn zutraf. Jeder andere würde an dieser Stelle dasselbe lesen. Es konnte gar nichts anderes sein als ein verrückter Zufall. Obgleich es ohne Zweifel ein höchst merkwürdiger Zufall war.

»Bastian«, sagte er laut vor sich hin,»du bist wirklich ein Spinner. Nimm dich gefälligst zusammen!«

Er hatte es in möglichst strengem Ton zu sagen versucht, aber seine Stimme zitterte ein wenig, denn so ganz überzeugt war er nicht davon, daß es nur ein Zufall war.

»Stell dir vor«, dachte er,»wenn sie in Phantásien wirklich etwas von dir wüßten. Das wäre fabelhaft.«

Aber er traute sich nicht, es laut zu sagen.

Nur ein kleines erstauntes Lächeln lag auf Atréjus Lippen, als er in das Spiegelbild hineinging - er war ein wenig verwundert, daß ihm so leicht gelingen sollte, was anderen unüberwindlich schwer geschienen hatte. Doch während er hindurchging, fühlte er ein seltsames, prickelndes Erschauern. Und er ahnte nicht, was in Wahrheit mit ihm geschehen war:

Als er nämlich auf der anderen Seite des Zauber Spiegel Tors stand, da hatte er jede Erinnerung an sich selbst, an sein bisheriges Leben, an seine Ziele und Absichten vergessen. Er wußte nichts mehr von der Großen Suche, die ihn hierhergeführt hatte, und kannte nicht einmal mehr seinen eigenen Namen. Er war wie ein neugeborenes Kind.

Vor sich, nur wenige Schritte entfernt, sah er das Ohne Schlüssel Tor, aber Atréju erinnerte sich weder an diese Bezeichnung noch daran, daß er vorgehabt hatte hindurchzugehen, um ins Südliche Orakel zu kommen. Er wußte überhaupt nicht, was er da wollte oder sollte und warum er hier war. Er fühlte sich leicht und sehr heiter, und er lachte ohne Grund, nur einfach aus Vergnügen.

Das Tor, das er vor sich sah, war klein und niedrig wie eine gewöhnliche Pforte, die ganz für sich - ohne umgebende Mauern - auf der öden Fläche stand. Und der Türflügel dieser Pforte war geschlossen.

Atréju betrachtete ihn eine Weile. Er schien aus einem Material zu bestehen, das kupferfarben schimmerte. Das war hübsch, doch verlor Atréju nach einiger Zeit das Interesse daran. Er ging um die Pforte herum und betrachtete sie von der Rückseite, aber der Anblick unterschied sich nicht von dem der Vorderseite. Auch gab es weder eine Klinke noch einen Türknauf, noch ein Schlüsselloch darin. Offensichtlich war die Tür nicht zu öffnen, und wozu auch, da sie ja nirgendwohin führte und nur einfach so dastand. Denn hinter der Pforte war nur die weite, glatte und vollkommen leere Ebene.

Atréju hatte Lust, wegzugehen. Er wandte sich zurück, ging auf das runde Zauber Spiegel Tor zu und betrachtete dessen Rückseite einige Zeit, ohne zu begreifen, was es bedeuten solle. Er beschloß, fortzugehen,

»Nein, nein, nicht fortgehen!« sagte Bastian laut,»kehr um, Atréju. Du mußt durch das Ohne Schlüssel Tor!«

wandte sich dann aber doch wieder dem Ohne Schlüssel Tor zu. Er wollte noch einmal den kupfernen Schimmer betrachten. So stand er wieder vor der Pforte, neigte sich nach links und nach rechts und freute sich. Er strich zärtlich über das seltsame Material. Es fühlte sich warm und sogar lebendig an. Und die Tür öffnete sich einen Spalt.

Atréju steckte den Kopf hindurch, und nun sah er etwas, das er vorher, als er um die Pforte herumgegangen war, nicht auf der anderen Seite gesehen hatte. Er zog den Kopf wieder zurück und blickte an der Pforte vorbei: Da war nur die leere Ebene. Er blickte wieder durch den Türspalt und sah einen langen Gang, den unzählige mächtige Säulen bildeten. Und dahinter waren Stufen und andere Säulen und Terrassen und wieder Treppen und ein ganzer Wald von Säulen. Doch keine von diesen Säulen trug ein Dach. Denn darüber war der Nachthimmel zu sehen.

Atréju trat durch die Pforte und blickte voll Staunen umher. Hinter ihm fiel die Tür ins Schloß.

Die Turmuhr schlug vier.

Das trübe Tageslicht, das durch die Dachluke fiel, war mehr und mehr geschwunden. Es war einfach zu dunkel, um weiterzulesen. Schon die letzte Seite hatte Bastian nur noch mit Mühe entziffern können. Er legte das Buch beiseite.

Was sollte er jetzt tun?

Sicherlich gab es doch auf diesem Speicher elektrisches Licht. Bastian tappte im Halbdunkel zur Tür und tastete die Wand ab. Er konnte keinen Schalter finden. Auch auf der anderen Seite war keiner.

Bastian holte eine Schachtel Streichhölzer aus der Hosentasche (er hatte immer welche bei sich, weil er gern Feuerchen machte), aber sie waren feucht, und erst das vierte brannte. Beim schwachen Schein der kleinen Flamme suchte er nach einem Lichtschalter, aber da war keiner.

Damit hatte er nicht gerechnet. Bei der Vorstellung, daß er hier den ganzen Abend und die ganze Nacht in völliger Finsternis sitzen sollte, wurde ihm kalt vor Schreck. Er war zwar kein kleines Kind mehr, und zu Hause oder an irgendeinem anderen bekannten Ort fürchtete er sich durchaus nicht vor der Dunkelheit, aber hier oben auf diesem riesigen Speicher mit all den sonderbaren Sachen war das etwas ganz anderes.

Das Streichholz verbrannte ihm die Finger, und er warf es fort.

Eine Weile stand er bloß da und horchte. Der Regen hatte nachgelassen und trommelte nur noch ganz leise auf das große Blechdach.

Dann fiel ihm der siebenarmige, verrostete Kerzenleuchter ein, den er unter dem Gerumpel entdeckt hattte. Er tastete sich zu der Stelle hin, fand ihn und schleppte ihn zu seinen Turnmatten hinüber.

Er zündete die Dochte der dicken Wachsstümpfe an - alle sieben - und alsbald verbreitete sich goldenes Licht. Die Flammen knisterten leise und schwankten manchmal im Luftzug hin und her.

Bastian atmete auf und griff wieder nach dem Buch.

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