21. Das Sternenkloster

Ununterbrochen stießen neue Abgesandte aus allen Ländern Phantásiens zur Menge derer, die Bastian auf seinem Zug zum Elfenbeinturm begleiteten. Zählungen erwiesen sich als vergeblich, denn kaum war man damit fertig, waren schon wieder neue eingetroffen. Ein vieltausendköpfiges Heer setzte sich allmorgendlich in Bewegung, und wenn gerastet wurde, war das Lager die allersonderbarste Zeltstadt, die sich nur denken läßt. Da die Weggenossen Bastians sich nicht nur an Gestalt, sondern auch an Körpergröße sehr voneinander unterschieden, gab es Zelte von den Ausmaßen einer Zirkusarena bis herab zu solchen, die nicht größer waren als ein Fingerhut. Auch die Wagen und Fahrzeuge, mit denen die Abgesandten reisten, waren vielgestaltiger, als es sich beschreiben läßt, angefangen von ganz gewöhnlichen Planwagen und Kutschen, bis zu höchst absonderlichen rollenden Tonnen, hüpfenden Kugeln oder selbständig krabbelnden Behältern mit Beinen.

Für Bastian hatte man inzwischen ebenfalls ein Zelt beschafft, und es war das prächtigste von allen. Es hatte die Gestalt eines kleinen Hauses, war aus glänzender, farbenprächtiger Seide und über und über mit goldenen und silbernen Bildern bestickt. Auf dem Dach wehte eine Fahne, die einen siebenarmigen Leuchter als Wappenzier zeigte. Das Innere war mit Decken und Kissen weich gepolstert. Wo auch immer das Heerlager aufgeschlagen wurde - dieses Zelt stand im Zentrum. Und der blaue Dschinn, der inzwischen so etwas wie Bastians Kammerdiener und Leibwächter geworden war, stand vor seinem Eingang Posten.

Atréju und Fuchur befanden sich noch unter der Schar von Bastians Begleitern, aber seit des öffentlichen Tadels hatte er kein Wort mehr mit ihnen geredet. Bastian wartete insgeheim darauf, daß Atréju nachgeben und um Verzeihung bitten würde. Aber Atréju tat nichts dergleichen. Auch Fuchur schien nicht bereit zu sein, Bastian zu respektieren. Und gerade das, sagte sich Bastian, mußten sie nun einmal lernen! Wenn es darauf ankam, wer es so länger aushalten konnte, dann würden die beiden schließlich einsehen müssen, daß sein Wille unbeugsam war. Aber wenn sie nachgeben würden, dann wollte er ihnen mit offenen Armen entgegenkommen. Wenn Atréju vor ihm niederkniete, so wollte er ihn aufheben und sagen: Du sollst nicht vor mir niederknien, Atréju, denn du bist und bleibst mein Freund…

Aber vorerst zogen die beiden als letzte im Zuge mit. Fuchur schien das Fliegen verlernt zu haben und lief zu Fuß, und Atréju ging neben ihm her, meistens gesenkten Hauptes. Wenn sie früher als Vorhut dem Zug in den Lüften vorausgeeilt waren, um die Gegend zu erkunden, so marschierten sie jetzt als Nachhut hinterdrein. Bastian war darüber nicht froh, aber er konnte es nicht ändern.

Wenn der Heerzug unterwegs war, ritt Bastian meistens an der Spitze auf der Mauleselin Jicha. Immer öfter kam es allerdings vor, daß er dazu keine Lust hatte und statt dessen Xayíde in ihrer Sänfte besuchte. Sie empfing ihn stets mit großer Ehrerbietung, überließ ihm den bequemsten Platz und setzte sich zu seinen Füßen. Sie wußte immer ein interessantes Gesprächsthema und vermied es, ihn über seine Vergangenheit in der Menschenwelt zu befragen, nachdem sie bemerkt hatte, daß ihm das Reden darüber unangenehm war. Sie rauchte fast ununterbrochen aus einer orientalischen Wasserpfeife, die neben ihr stand. Der Schlauch daran sah aus wie eine smaragdgrüne Viper, und das Mundstück, das sie zwischen ihren langen, marmorweißen Fingern hielt, glich einem Schlangenkopf. Wenn sie daran sog, schien es, als ob sie ihn küßte. Die Rauchwölkchen, die sie genießerisch aus Mund und Nase quellen ließ, hatten bei jedem Zug eine andere Farbe, mal blau, mal gelb, rosarot, grün oder lila.

»Eines wollte ich dich schon längst fragen, Xayíde«, sagte Bastian bei einem solchen Besuch, wobei er nachdenklich auf die riesigen Kerle in den schwarzen Insektenpanzern blickte, welche im völligen Gleichschritt die Sänfte trugen.

»Deine Sklavin hört«, antwortete Xayíde.

»Als ich mit deinen Panzerriesen gekämpft habe«, fuhr Bastian fort, »hat sich herausgestellt, daß sie nur aus Rüstungen bestehen und innen hohl sind. Wodurch bewegen sie sich eigentlich?«

»Durch meinen Willen«, erwiderte Xayíde lächelnd. »Gerade weil sie hohl sind, gehorchen sie meinem Willen. Alles, was leer ist, kann mein Wille lenken.«

Sie musterte Bastian mit ihren zweifarbigen Augen.

Bastian fühlte sich auf undeutliche Weise durch diesen Blick beunruhigt, aber schon hatte sie die Wimpern wieder niedergeschlagen.

»Könnte ich sie auch mit meinem Willen lenken?« fragte er.

»Gewiß, mein Herr und Meister«, gab sie zur Antwort, »und hundertmal besser als ich, die ich im Vergleich zu dir ein Nichts bin. Willst du es versuchen?«

»Jetzt nicht«, entgegnete Bastian, dem die Sache unbehaglich war, »vielleicht ein andermal.«

»Findest du es wirklich schöner«, fuhr Xayíde fort, »auf einer alten Mauleselin zu reiten, als von Gebilden getragen zu werden, die dein eigener Wille bewegt?«

»Jicha trägt mich gern«, sagte Bastian ein wenig mürrisch, »sie freut sich darüber, daß sie mich tragen darf.«

»Dann tust du es also um ihretwillen?«

»Warum nicht?« erwiderte Bastian. »Was ist schlecht daran?«

Xayíde ließ grünen Rauch aus ihrem Mund steigen.

»Oh, nichts, Herr. Wie könnte etwas schlecht sein, was du tust.«

»Worauf willst du hinaus, Xayíde?«

Sie neigte den Kopf mit dem feuerfarbenen Haar.

»Du denkst viel zuviel an andere, Herr und Meister«, flüsterte sie. »Aber niemand ist es wert, deine Aufmerksamkeit von deiner eigenen wichtigen Entwicklung abzuziehen. Wenn du mir nicht dafür zürnst, o Herr, so wage ich es, dir den Rat zu geben: Denke mehr an deine Vollkommenheit!«

»Was hat das mit der alten Jicha zu tun?«

»Nicht viel, Herr, fast gar nichts. Nur - sie ist kein würdiges Reittier für einen wie dich. Es kränkt mich, dich auf dem Rücken eines so - gewöhnlichen Tieres zu sehen. Alle deine Weggenossen wundern sich darüber. Nur du, Herr und Meister, weißt als einziger nicht, was du dir schuldig bist.«

Bastian sagte nichts, aber Xayídes Worte hatten ihm Eindruck gemacht.

Als das Heer mit Bastian und Jicha an der Spitze am nächsten Tag durch eine wunderschöne Auenlandschaft zog, die ab und zu durch kleine Wälder aus duftendem Flieder unterbrochen wurde, benutzte er die Mittagsrast, um Xayídes Vorschlag auszuführen.

»Hör zu, Jicha«, sagte er und streichelte den Hals der Mauleselin, »der Augenblick ist gekommen, wo wir uns trennen müssen.«

Jicha stieß einen Wehlaut aus.

»Warum, Herr?« klagte sie. »Habe ich meine Sache denn so schlecht gemacht?« Aus den Winkeln ihrer dunklen Tieraugen rannen Tränen.

»Aber nein«, beeilte Bastian sich, sie zu trösten, »im Gegenteil, du hast mich diesen ganzen langen Weg so sanft getragen und warst so geduldig und willig, daß ich dich nun zum Dank belohnen will.«

»Ich möchte keinen anderen Lohn«, erwiderte Jicha, »ich möchte dich weitertragen. Was kann ich mir denn Größeres wünschen?«

»Hast du nicht gesagt«, fuhr Bastian fort, »daß du traurig darüber bist, daß euereins keine Kinder bekommen kann?«

»Ja«, meinte Jicha bekümmert, »weil ich ihnen gern von diesen Tagen erzählen würde, wenn ich sehr alt bin.«

»Gut«, sagte Bastian, »dann will ich dir jetzt eine Geschichte erzählen, die wahr werden soll. Und ich will sie nur dir, dir ganz allein erzählen, denn sie gehört dir.«

Dann nahm er Jichas langes Ohr in die Hand und flüsterte hinein:

»Nicht weit von hier, in einem kleinen Wald aus Flieder, wartet der Vater deines Sohnes auf dich. Es ist ein weißer Hengst mit Flügeln aus Schwanengefieder. Seine Mähne und sein Schweif sind so lang, daß sie bis zum Boden reichen. Er ist uns schon seit Tagen heimlich gefolgt, weil er unsterblich in dich verliebt ist.«

»In mich?« rief Jicha fast erschrocken, »aber ich bin doch bloß eine Mauleselin und jung bin ich auch nicht mehr!«

»Für ihn«, sagte Bastian leise, »bist du das schönste Geschöpf Phantásiens, gerade weil du so bist, wie du bist. Und vielleicht auch, weil du mich getragen hast. Aber er ist sehr scheu und wagt es nicht, sich dir zu nähern unter all diesen vielen Wesen hier. Du mußt zu ihm gehen, sonst wird er vor Sehnsucht nach dir sterben.«

»Ach du liebe Zeit«, meinte Jicha ratlos, »so arg ist es?«

»Ja«, flüsterte Bastian ihr ins Ohr, »und nun leb wohl, Jicha! Lauf nur zu, du wirst ihn finden.«

Jicha machte ein paar Schritte, drehte sich aber noch einmal nach Bastian um.

»Ehrlich gesagt«, erklärte sie, »ich fürchte mich ein bißchen.«

»Nur Mut!« sagte Bastian lächelnd, »und vergiß nicht, deinen Kindern und Enkeln von mir zu erzählen.«

»Danke, Herr!« erwiderte Jicha auf ihre einfache Art und ging.

Bastian blickte ihr lange nach, wie sie da davonzockelte, und fühlte sich nicht recht froh darüber, daß er sie fortgeschickt hatte. Er trat in sein Prachtzelt, legte sich auf die weichen Kissen und starrte zur Decke hinauf. Immer wieder sagte er sich, daß er Jichas größten Wunsch erfüllt hatte. Aber das vertrieb seine düstere Stimmung nicht. Es kommt eben sehr darauf an, wann und warum man jemand etwas zuliebe tut.

Aber das betraf nur Bastian, denn Jicha fand tatsächlich den schneeweißen, geflügelten Hengst und machte Hochzeit mit ihm. Und sie bekam später einen Sohn, der ein weißer, schwingentragender Maulesel war und Pataplán genannt wurde. Er machte noch viel von sich reden in Phantásien, doch das ist eine andere Geschichte und soll ein andermal erzählt werden.

Von nun an reiste Bastian in Xayídes Sänfte weiter. Sie hatte ihm sogar angeboten, auszusteigen und zu Fuß nebenher zu gehen, um ihm alle nur erdenkliche Bequemlichkeit zu verschaffen, aber das hatte Bastian nicht von ihr annehmen wollen. So saßen sie nun also zusammen in der geräumigen Korallensänfte, die sich an die Spitze des Heerzuges setzte.

Bastian war noch immer ein wenig verstimmt, auch Xayíde gegenüber, die ihm ja den Rat gegeben hatte, sich von der Mauleselin zu trennen. Und Xayíde hatte das sehr bald heraus. Seine einsilbigen Antworten ließen keine rechte Unterhaltung zustande kommen.

Um ihn aufzumuntern, sagte sie heiter:

»Ich möchte dir ein Geschenk machen, mein Herr und Meister, wenn du die Gnade haben willst, es von mir anzunehmen.«

Sie zog unter den Sitzpolstern ein äußerst kostbar verziertes Kästchen hervor. Bastian richtete sich erwartungsvoll auf. Sie öffnete es und holte einen schmalen Gürtel daraus hervor, der wie eine Art Kette aus beweglichen Gliedern bestand. Jedes Glied und auch die Schließe waren aus klarem Glas.

»Was ist das?« wollte Bastian wissen.

Der Gürtel klirrte leise in ihrer Hand.

»Es ist ein Gürtel, der unsichtbar macht. Doch du, Herr, mußt ihm seinen Namen geben, damit er dir gehört.«

Bastian betrachtete ihn. »Gürtel Gémmal«, sagte er dann.

Xayíde nickte lächelnd. »Nun gehört er dir.«

Bastian nahm den Gürtel entgegen und hielt ihn unschlüssig in der Hand.

»Willst du ihn nicht gleich einmal ausprobieren«, fragte sie, »um dich von seiner Wirkung zu überzeugen?«

Bastian legte sich den Gürtel um die Hüfte und fühlte, daß er wie angegossen paßte. Allerdings fühlte er es nur, denn er konnte sich selbst nicht mehr sehen, weder seinen Leib noch seine Füße, noch seine Hände. Es war ein höchst unangenehmes Gefühl, und er versuchte, die Schließe gleich wieder zu öffnen. Doch da er weder seine Hände noch den Gürtel mehr sehen konnte, gelang es ihm nicht.

»Hilfe!« stieß er mit erstickter Simme hervor. Er hatte plötzlich Angst, nie wieder diesen Gürtel Gémmal abstreifen zu können und für immer unsichtbar bleiben zu müssen.

»Man muß es erst lernen, damit umzugehen«, sagte Xayíde, »das ging mir auch so, Herr und Gebieter. Erlaube, daß ich dir helfe!«

Sie griff in die leere Luft, und im Nu hatte sie den Gürtel Gémmal geöffnet, und Bastian sah sich selbst wieder. Er stieß einen erleichterten Seufzer aus. Dann lachte er, und auch Xayíde lächelte und sog Rauch aus dem Schlangenmundstück ihrer Wasserpfeife.

Jedenfalls hatte sie ihn auf andere Gedanken gebracht.

»Nun bist du besser gegen jeden Schaden geschützt«, meinte sie sanft, »und daran liegt mir mehr, als ich dir sagen kann, Herr.«

»Schaden?« erkundigte sich Bastian, noch immer ein wenig konfus, »was für ein Schaden denn?«

»Oh, niemand ist dir gewachsen«, flüsterte Xayíde, »nicht, wenn du weise bist. Die Gefahr liegt in dir selbst, und deshalb ist es schwer, dich vor ihr zu schützen.«

»Was meinst du damit - in mir selbst?« wollte Bastian wissen.

»Weise ist es, über den Dingen zu stehen, niemand zu hassen und niemand zu lieben. Aber dir, Herr, liegt noch immer an Freundschaft. Dein Herz ist nicht kühl und teilnahmslos wie ein schneeiger Berggipfel - und so kann einer dir Schaden zufügen.«

»Und wer sollte das sein?«

»Der, dem du trotz all seiner Anmaßung noch immer zugetan bist, Herr.«

»Drück dich deutlicher aus!«

»Der freche und ehrfurchtslose kleine Wilde aus dem Stamm der Grünhäute, Herr.«

»Atréju?«

»Ja, und mit ihm der unverschämte Fuchur.«

»Und die beiden sollten mir schaden wollen?« Bastian muite fast lachen.

Xayíde saß mit gesenktem Kopf.

»Das glaube ich nie und nimmer«, fuhr Bastian fort, »ich will nichts mehr davon hören.«

Xayíde schwieg und senkte den Kopf noch tiefer.

Nach einer langen Stille fragte Bastian:

»Und was sollte das überhaupt sein, was Atréju gegen mich vorhat?«

»Herr«, flüsterte Xayíde, »ich wollte, ich hätte nichts gesagt!«

»Nun sag auch alles!« rief Bastian, »und mache nicht nur Andeutungen! Was weißt du?«

»Ich zittere vor deinem Zorn, Herr«, stammelte Xayíde und bebte wahrhaftig am ganzen Körper, »aber auch wenn es mein Ende ist, so will ich es dir doch sagen: Atréju sinnt darauf, dir das Zeichen der Kindlichen Kaiserin zu nehmen, heimlich oder mit Gewalt.«

Bastian verschlug es einen Augenblick die Luft.

»Kannst du das beweisen?« fragte er mit belegter Stimme.

Xayíde schüttelte den Kopf und murmelte:

»Meine Art von Wissen, Herr, gehört nicht zu der, die sich beweisen läßt.«

»Dann behalt es für dich!« sagte Bastian, und das Blut schoß ihm ins Gesicht, »und verleumde nicht den ehrlichsten und tapfersten Jungen, den es in ganz Phantásien gibt!«

Damit schwang er sich aus der Sänfte und ging fort.

Xayídes Finger spielten gedankenvoll mit dem Schlangenkopf, und ihre grün-roten Augen glommen. Nach einer Weile lächelte sie wieder, und während sie violetten Rauch aus ihrem Mund steigen ließ, flüsterte sie:

»Es wird sich zeigen, mein Herr und Meister. Der Gürtel Gémmal wird dir's beweisen.«

Als das Nachtlager aufgeschlagen wurde, ging Bastian in sein Zelt. Er befahl Illuán, dem blauen Dschinn, niemand vorzulassen, auf keinen Fall Xayíde. Er wollte allein sein und nachdenken.

Was ihm die Magierin über Atréju gesagt hatte, hielt er der Überlegung kaum für wert. Aber etwas anderes beschäftigte seine Gedanken: die wenigen Worte, die sie über das Weisesein eingestreut hatte.

So vieles hatte er nun erlebt, Ängste und Freuden, Traurigkeiten und Triumphe, er war von einer Wunscherfüllung zur nächsten geeilt und keinen Augenblick zur Ruhe gekommen. Nichts von allem hatte ihn ruhig und zufrieden gemacht. Aber Weisesein, das hieß, erhaben sein über Freude und Leid, über Angst und Mitleid, über Ehrgeiz und Kränkung. Weisesein bedeutete, über allen Dingen stehen, nichts und niemand hassen oder lieben, aber auch die Ablehnung oder die Zuneigung anderer vollkommen gleichmütig hinnehmen. Wer wahrhaft weise war, der machte sich aus nichts mehr was. Der war unerreichbar, und nichts konnte ihm mehr etwas anhaben. Ja, so zu sein, das war wirklich wünschenswert! Bastian war überzeugt, damit bei seinem letzten Wunsch angekommen zu sein, jenem letzten Wunsch, der ihn zu seinem Wahren Willen führen würde, wie Graógramán gesagt hatte. Jetzt glaubte er verstanden zu haben, was damit gemeint war. Er wünschte sich, ein großer Weiser zu sein, der weiseste Weise in ganz Phantásien!

Ein wenig später trat er aus seinem Zelt.

Der Mond beleuchtete eine Landschaft, der er zuvor kaum Beachtung geschenkt hatte. Die Zeltstadt breitete sich in einem Talkessel aus, der ringsum in einem weiten Bogen von bizarr geformten Bergen umgeben war. Die Stille war vollkommen. Im Tal gab es noch kleine Wälder und Gebüsche, weiter oben an den Berghängen wurde die Vegetation spärlicher, und noch weiter oben hörte sie ganz auf. Die Felsgruppen, die sich darüber erhoben, bildeten allerlei Figuren und wirkten fast wie absichtliche Formen von der Hand eines Riesenbildhauers. Es war windstill, und der Himmel war wolkenlos. Alle Sterne glitzerten und schienen näher als sonst.

Ganz hoch droben auf einer der höchsten Bergspitzen entdeckte Bastian etwas, das wie ein Kuppelbau aussah. Offenbar war es bewohnt, denn ein schwacher Lichtschein ging davon aus.

»Ich habe es auch bemerkt, Herr«, sagte Illuán mit seiner schnarrenden Stimme. Er stand auf seinem Posten neben dem Zelteingang. »Was mag das sein?«

Er hatte noch kaum ausgeredet, als aus weiter Ferne ein merkwürdiger Ruf zu vernehmen war. Er klang wie das langgezogene »Uhuhuhu!« eines Eulenschreis, aber tiefer und mächtiger. Dann erscholl der Ruf ein zweites und drittes Mal, nun aber mehrstimmig.

Es waren tatsächlich Eulen, sechs an der Zahl, wie Bastian bald feststellen konnte. Sie kamen aus der Richtung des Berggipfels mit dem Kuppelbau auf der Spitze. Auf beinahe reglosen Schwingen segelten sie heran. Und je näher sie kamen, desto deutlicher war ihre erstaunliche Größe zu erkennen. Sie flogen mit unglaublicher Geschwindigkeit. Ihre Augen leuchteten hell, auf den Köpfen hatten sie aufgestellte Ohren mit Flaumbüscheln darauf. Ihr Flug war völlig geräuschlos. Als sie vor Bastians Zelt landeten, war kaum ein leichtes Sausen der Schwungfedern zu hören.

Da saßen sie nun auf dem Boden, jede größer als Bastian, und drehten die Köpfe mit den großen, runden Augen nach allen Richtungen. Bastian trat auf sie zu.

»Wer seid ihr, und wen sucht ihr?«

»Uns schickt Uschtu, die Mutter der Ahnung«, antwortete eine der sechs Eulen, »wir sind Flugboten vom Sternenkloster Gigam.«

»Was ist das für ein Kloster?« fragte Bastian.

»Es ist der Ort der Weisheit«, antwortete eine andere Eule, »wo die Mönche der Erkenntnis wohnen.«

»Und wer ist Uschtu?« forschte Bastian weiter.

»Eine der drei Tief Sinnenden, die das Kloster leiten und die Mönche der Erkenntnis lehren«, erklärte eine dritte Eule. »Wir sind die Boten der Nacht und gehören zu ihr.«

»Wäre es Tag«, setzte eine vierte Eule hinzu, »so hätte Schirkrie, der Vater der Schau, seine Boten gesandt, die Adler sind. Und in der Stunde der Dämmerung zwischen Tag und Nacht schickt Jisipu, der Sohn der Klugheit, die seinen, und es sind Füchse.«

»Wer sind Schirkrie und Jisipu?«

»Die anderen zwei Tief Sinnenden, unsere Oberen.«

»Und was sucht ihr hier?«

»Wir suchen den Großen Wissenden«, sagte die sechste Eule. »Die drei Tief Sinnenden wissen, daß er in dieser Zeltstadt weilt und bitten ihn um Erleuchtung.«

»Der Große Wissende?« fragte Bastian. »Wer ist das?«

»Sein Name«, antworteten alle sechs Eulen zugleich, »ist Bastian Balthasar Bux.«

»Ihr habt ihn schon gefunden«, antwortete er, »ich bin es.«

Die Eulen verbeugten sich ruckartig tief, was trotz ihrer erschreckenden Größe beinahe possierlich aussah.

»Die drei Tief Sinnenden«, sagte die erste Eule, »bitten in Demut und Ehrfurcht um deinen Besuch, auf daß du ihnen die Frage lösest, die sie in ihrem langen Leben nicht lösen konnten.«

Bastian strich sich nachdenklich das Kinn.

»Gut«, antwortete er schließlich, »aber ich möchte meine beiden Schüler mitnehmen.«

»Wir sind sechs«, erwiderte die Eule, »je zwei von uns können einen von euch tragen.«

Bastian wandte sich zu dem blauen Dschinn.

»Illuán, hole Atréju und Xayíde!«

Der Dschinn entfernte sich rasch.

»Welche Frage ist es«, wollte Bastian wissen, »die ich beantworten soll?«

»Großer Wissender«, erklärte eine der Eulen, »wir sind nur arme unwissende Flugboten und gehören nicht einmal zum niedersten Rang der Mönche der Erkenntnis. Wie könnten wir dir die Frage mitteilen, die die drei Tief Sinnenden in ihrem langen Leben nicht lösen konnten.«

Nach wenigen Minuten kam Illuán mit Atréju und Xayíde zurück. Er hatte ihnen unterwegs rasch erklärt, worum es ging.

Als Atréju vor Bastian stand, fragte er leise:

»Warum ich?«

»Ja«, erkundigte sich auch Xayíde, »warum er?«

»Das werdet ihr erfahren«, entgegnete Bastian.

Es zeigte sich, daß die Eulen vorausschauenderweise drei Trapeze mitgebracht hatten. Je zwei von ihnen ergriffen nun mit ihren Krallen die Seile, an denen diese Trapeze hingen, Bastian, Atréju und Xayíde setzten sich auf die Stangen, und die großen Nachtvögel erhoben sich mit ihnen in die Luft.

Als sie das Sternenkloster Gigam erreichten, zeigte sich, daß die große Kuppel nur der oberste Teil eines sehr weitläufigen Gebäudes war, das sich aus vielen würfelartigen Trakten zusammensetzte. Es hatte zahllose kleine Fenster und stand mit der hohen Außenmauer direkt an einem Felsenabsturz. Für ungebetene Besucher war es schwer oder gar nicht zugänglich.

In den würfelartigen Trakten lagen die Zellen der Mönche der Erkenntnis, die Bibliotheken, die Wirtschaftsräume und die Unterkünfte für die Boten. Unter der großen Kuppel befand sich der Versammlungssaal, in dem die drei Tief Sinnenden ihre Lehrstunden abhielten.

Die Mönche der Erkenntnis waren Phantasier der verschiedensten Gestalt und Herkunft. Aber wenn sie in dieses Kloster eintreten wollten, so mußten sie jede Verbindung mit ihrem Land und ihrer Familie abbrechen. Das Leben dieser Mönche war hart und entsagungsvoll und einzig und allein der Weisheit und der Erkenntnis gewidmet. Bei weitem nicht jeder, der es wollte, wurde in die Gemeinschaft aufgenommen. Die Prüfungen waren streng und die drei Tief Sinnenden unerbittlich. So kam es, daß fast nie mehr als dreihundert Mönche hier lebten, doch bildeten diese dadurch die Auslese der Klügsten in ganz Phantásien. Es hatte schon Zeiten gegeben, wo die Bruder- und Schwesternschaft auf nur sieben Mitglieder zusammengeschrumpft war. Doch hatte das nichts an der Strenge der Prüfungen geändert. Zur Zeit war die Anzahl der Mönche und Mönchinnen etwas über zweihundert.

Als Bastian, gefolgt von Atréju und Xayíde, nun in den großen Lehrsaal geführt wurde, sah er eine buntgemischte Menge aller möglichen phantásischen Wesen vor sich, die sich nur dadurch von seiner eigenen Gefolgschaft unterschied, daß alle, gleich welcher Gestalt, in rauhe, schwarzbraune Kutten gekleidet waren. Man mag sich vorstellen, wie das zum Beispiel bei einem der schon früher erwähnten Wanderfelsen oder einem Winzling aussah.

Die drei Oberen aber, die Tief Sinnenden, hatten menschliche Gestalt. Nicht menschlich waren dagegen ihre Köpfe. Uschtu, die Mutter der Ahnung, hatte ein Eulengesicht. Schirkrie, der Vater der Schau, hatte einen Adlerkopf. Und Jisipu endlich, der Sohn der Klugheit, hatte den Kopf eines Fuchses. Sie saßen auf erhöhten Stühlen aus Stein und wirkten sehr groß. Atréju und sogar Xayíde schienen bei ihrem Anblick von Scheu befallen zu werden. Aber Bastian trat gelassen auf sie zu. Tiefe Stille herrschte in dem großen Saal.

Schirkrie, der offenbar der Älteste der drei war und in der Mitte saß, wies langsam mit der Hand auf einen leerstehenden Thronsessel, der den ihren gegenüberstand. Bastian nahm darauf Platz.

Nach einem längeren Schweigen begann Schirkrie zu reden. Er sprach leise, und seine Stimme klang überraschenderweise tief und voll.

»Seit Urzeiten sinnen wir nach über das Rätsel unserer Welt. Jisipu denkt anders darüber, als Uschtu erahnt, und Uschtus Ahnung lehrt anderes, als ich erschaue, und wiederum schaue ich anderes, als Jisipu denkt. So soll es nicht länger sein. Darum haben wir dich, den Großen Wissenden, gebeten, zu uns zu kommen und uns zu lehren. Willst du unsere Bitte erfüllen?«

»Ich will es«, sagte Bastian.

»So höre denn, Großer Wissender, unsere Frage: Was ist Phantásien?«

Bastian schwieg eine Weile, dann antwortete er:

»Phantásien ist die Unendliche Geschichte.«

»Gib uns Zeit, deine Antwort zu verstehen«, sagte Schirkrie. »Wir wollen uns morgen zur selben Stunde hier wieder treffen.«

Schweigend erhoben sich alle, die drei Tief Sinnenden und auch alle Mönche der Erkenntnis, und gingen hinaus.

Bastian, Atréju und Xayíde wurden in Gästezellen geführt, wo auf jeden ein schlichtes Mahl wartete. Die Lagerstätten waren einfache Holzpritschen mit rauhen Wolldecken. Bastian und Atréju machte das natürlich nichts aus, nur Xayíde hätte sich gern ein angenehmeres Bett gezaubert, aber sie mußte feststellen, daß ihre magischen Kräfte in diesem Kloster nicht wirkten.

In der nächsten Nacht zur festgesetzten Stunde versammelten sich wieder alle Mönche und die drei Tief Sinnenden in dem großen Kuppelsaal. Bastian setzte sich wieder auf den Thronsessel, Xayíde und Atréju standen links und rechts von ihm.

Diesmal war es Uschtu, die Mutter der Ahnung, die Bastian groß mit ihren Eulenaugen ansah und sprach:

»Wir haben über deine Lehre nachgedacht, Großer Wissender. Doch hat sich uns eine neue Frage ergeben. Wenn Phantásien die Unendliche Geschichte ist, wie du sagst, wo steht diese Unendliche Geschichte geschrieben?«

Wiederum schwieg Bastian eine Weile und antwortete dann:

»In einem Buch, das in kupferfarbene Seide gebunden ist.«

»Gib uns Zeit, deine Worte zu verstehen«, sagte Uschtu. »Wir wollen uns morgen zur selben Stunde hier wieder treffen.«

Alles geschah wie in der vorhergehenden Nacht. Und in der darauffolgenden, als sie sich alle wiederum im Lehrsaal versammelt hatten, nahm Jisipu, der Sohn der Klugheit, das Wort:

»Auch diesmal haben wir über deine Lehre nachgedacht, Großer Wissender. Und wiederum stehen wir ratlos vor einer neuen Frage. Wenn unsere Welt Phantásien eine Unendliche Geschichte ist, und wenn diese Unendliche Geschichte in einem kupferfarbenen Buch steht - wo befindet sich dann dieses Buch?«

Und nach kurzem Schweigen antwortete Bastian:

»Auf dem Speicher eines Schulhauses.«

»Großer Wissender«, versetzte Jisipu, der Fuchsköpfige, »wir zweifeln nicht an der Wahrheit dessen, was du uns sagst. Und doch wollen wir dich bitten, uns diese Wahrheit sehen zu lassen. Kannst du das?«

Bastian überlegte, dann sagte er:

»Ich glaube, ich kann es.«

Atréju blickte Bastian überrascht an. Auch Xayíde hatte einen fragenden Ausdruck in ihren verschiedenfarbigen Augen.

»Wir wollen uns morgen nacht um dieselbe Stunde wiedertreffen«, sagte Bastian, »aber nicht hier im Lehrsaal, sondern draußen auf den Dächern des Sternenklosters Gigam. Und ihr müßt aufmerksam und ohne Unterlaß den Himmel betrachten.«

In der darauffolgenden Nacht - sie war ebenso sternenklar wie die drei vorhergehenden - standen alle Mitglieder der Bruderschaft, einschließlich der drei Tief Sinnenden, zur festgesetzten Stunde auf den Dächern des Klosters und blickten mit zurückgebeugten Köpfen in den Nachthimmel empor. Auch Atréju und Xayíde, die beide nicht wußten, was Bastian vorhatte, befanden sich unter ihnen.

Bastian aber kletterte auf den höchsten Punkt der großen Kuppel hinauf. Als er oben stand, schaute er weit herum - und in diesem Augenblick sah er zum ersten Mal, fern, fern am Horizont und im Mondlicht feenhaft schimmernd, den Elfenbeinturm.

Er nahm den Stein Al' Tsahir aus seiner Tasche, der mild leuchtete. Bastian rief sich die Worte der Inschrift ins Gedächtnis zurück, die an der Tür der Bibliothek von Amargánth gestanden hatten:

»…doch spricht er meinen Namen noch ein zweites Mal

vom Ende zum Anfang,

verstrahl' ich hundert Jahre Leuchten

in einem Augenblick« .

Er hielt den Stein hoch empor und rief:

»Rihast'la!«

Im gleichen Moment gab es einen Blitz von solcher Helligkeit, daß der Sternenhimmel verblaßte und der dunkle Weltraum dahinter erleuchtet wurde. Und dieser Raum war der Speicher des Schulhauses mit seinen altersschwarzen, mächtigen Balken. Dann war es vorüber. Das Licht von hundert Jahren war verstrahlt. Al'Tsahir war ohne Rest verschwunden.

Alle, auch Bastian, brauchten erst eine Weile, bis ihre Augen sich wieder an das schwache Leuchten des Mondes und der Sterne gewöhnt hatten.

Erschüttert von der Vision versammelten sich alle schweigend im großen Lehrsaal. Als letzter kam Bastian. Die Mönche der Erkenntnis und die drei Tief Sinnenden erhoben sich von ihren Plätzen und verneigten sich tief und lange vor ihm.

»Es gibt keine Worte«, sagte Schirkrie, »mit denen ich dir für den Blitz der Erleuchtung danken könnte, Großer Wissender. Denn ich habe auf jenem geheimnisvollen Speicher ein Wesen meiner Art erblickt, einen Adler.«

»Du irrst dich, Schirkrie«, widersprach ihm mit mildem Lächeln die eulengesichtige Uschtu, »ich habe genau gesehen, daß es eine Eule war.«

»Ihr beide täuscht euch«, fiel ihr Jisipu mit leuchtenden Augen ins Wort, »das Wesen dort ist mir verwandt. Es ist ein Fuchs.«

Schirkrie hob abwehrend die Hände.

»Da sind wir nun wieder, wo wir vorher waren«, sagte er. »Nur du kannst uns auch diese Frage beantworten, Großer Wissender. Wer von uns dreien hat recht?«

Bastian lächelte kühl und sagte:

»Alle drei.«

»Gib uns Zeit, deine Antwort zu verstehen«, bat Uschtu.

»Ja«, erwiderte Bastian, »so viel Zeit wie ihr wollt. Denn wir werden euch nun verlassen.«

Enttäuschung lag auf den Gesichtern der Mönche der Erkenntnis und auch ihrer drei Oberen, aber Bastian lehnte ihre inständige Bitte, lang oder besser noch für immer bei ihnen zu bleiben, gleichmütig ab.

So wurde er denn mit seinen beiden Schülern hinausbegleitet, und die Flugboten brachten sie in die Zeltstadt zurück.

In dieser Nacht begann übrigens im Sternenkloster Gigam eine erste grundsätzliche Meinungsverschiedenheit zwischen den drei Tief Sinnenden, die viele Jahre später dazu führte, daß die Bruderschaft aufgelöst wurde und Uschtu, die Mutter der Ahnung, Schirkrie, der Vater der Schau, und Jisipu, der Sohn der Klugheit, jeweils ein eigenes Kloster gründeten. Aber das ist eine andere Geschichte und soll ein andermal erzählt werden.

Bastian aber hatte von dieser Nacht an jede Erinnerung daran verloren, daß er je in eine Schule gegangen war. Auch der Speicher und sogar das gestohlene Buch mit dem kupferfarbenen Seideneinband waren aus seinem Gedächtnis verschwunden. Und er fragte sich nicht mehr, wie er überhaupt nach Phantásien gekommen war.

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