12. Der Alte vom Wandernden Berge


Lawinen stürzten donnernd über zerklüftete Bergwände, Schneestürme tobten zwischen den Felsentürmen eisgepanzerter Gipfelgrate, verfingen sich heulend in Höhlen und Schluchten, und fegten von neuem über die weiten Flächen der Gletscher. Es war für diese Landschaft durchaus kein ungewöhnliches Wetter, denn das Schicksalsgebirge - so war sein Name - war das größte und höchste in ganz Phantásien und sein mächtigster Gipfel reichte buchstäblich bis in Himmelshöhen hinauf.

In diese Region des ewigen Eises wagten sich auch die kühnsten Bergsteiger nicht. Oder genauer gesagt: Es war schon so undenkbar lange Zeit her, daß einem der Aufstieg gelungen war, daß niemand mehr davon wußte. Denn dies war eines der unbegreiflichen Gesetze, von denen es im phantásischen Reich viele gab: Das Schicksalsgebirge konnte erst dann von einem Gipfelstürmer bezwungen werden, wenn der vorhergehende, der es vermocht hatte, ganz und gar vergessen war und auch keine steinerne oder eherne Inschrift mehr von ihm zeugte. So war jeder, der es vollbrachte, immer der erste.

Hier oben konnte kein lebendes Wesen existieren, außer einigen riesenhaften Eisbolden - falls man diese überhaupt zu den lebenden Wesen rechnen wollte, denn sie bewegten sich so unvorstellbar langsam, daß sie Jahre zu einem einzigen Schritt brauchten und Jahrhunderte zu einem kleinen Spaziergang. So war es klar, daß sie nur mit ihresgleichen verkehren konnten und vom Vorhandensein der übrigen phantásischen Welt nicht die geringste Ahnung hatten. Sie hielten sich für die einzigen Lebewesen des Universums.

Um so fassungsloser glotzten sie nun auf jenes winzige Pünktchen hinunter, das sich auf gewundenen Wegen, auf kaum betretbaren Felsvorsprüngen an eisglänzenden senkrechten Wänden, über messerscharfe Grate und durch tiefe Schluchten und Risse, immer mehr dem Gipfel näherte.

Es war die gläserne Sänfte, in der die Kindliche Kaiserin ruhte und die von vieren ihrer unsichtbaren Mächte getragen wurde. Sie hob sich kaum von der Umgebung ab, denn das Glas der Sänfte glich einem klaren Stück Eis, und das weiße Gewand und die Haare der Kindlichen Kaiserin waren vom Schnee ringsum fast nicht zu unterscheiden.

Lang war sie nun schon unterwegs, viele Tage und Nächte, durch Regen und Sonnenglut, durch Finsternisse und Mondlicht hatten die vier Mächte ihre Sänfte getragen, immer weiter, wie sie es befohlen hatte, immer weiter, irgendwohin. Sie machte keinen Unterschied zwischen dem, was für sie erträglich und dem, was für sie unerträglich sein mochte, so wie sie früher alles in ihrem Reich, das Finstere und das Lichte, das Schöne und das Häßliche hatte gleich gelten lassen. Sie war bereit, sich allem auszusetzen, denn der Alte vom Wandernden Berge konnte überall und nirgends sein.

Dennoch war die Wahl des Weges, den ihre vier unsichtbaren Mächte einschlugen, nicht ganz zufällig. Immer häufiger ließ das Nichts, das nun schon ganze Länder verschlungen hatte, ihnen nur einen einzigen Pfad als Ausweg frei. Manchmal war es eine Brücke, eine Höhle oder ein Tor gewesen, durch das sie gerade noch hatten entschlüpfen können, manchmal waren es sogar die Wellen eines Sees oder eines Meeresarms, über die die Mächte die Sänfte mit der Todkranken hintrugen, denn für diese Träger gab es keinen Unterschied zwischen fest und flüssig.

Und so waren sie schließlich in die eisstarrende Gipfelwelt des Schicksalsgebirges emporgestiegen und stiegen weiter, unaufhaltsam und unermüdlich. Und ehe die Kindliche Kaiserin ihnen keinen anderslautenden Befehl gab, würden sie sie immer weiter emportragen. Aber sie lag in ihren Kissen, hatte die Augen geschlossen und regte sich nicht. So lag sie schon seit langem. Und das letzte Wort, das sie gesprochen hatte, war jenes»irgendwohin« gewesen, das sie beim Abschied vom Elfenbeinturm befohlen hatte.

Die Sänfte bewegte sich jetzt durch eine tiefe Klamm, einen Einschnitt zwischen zwei Felswänden, die kaum weiter auseinander standen, als die Sänfte breit war. Der Boden war mit lockerem Schnee bedeckt, der metertief sein mochte, aber die unsichtbaren Träger sanken nicht ein und hinterließen noch nicht einmal Fußstapfen. Es war sehr dunkel am Grunde dieser Felsenspalte, denn das Tageslicht war nur ein schmaler Streifen hoch droben. Der Weg führte sacht aufwärts und je höher die Sänfte kam, desto näher rückte der Streifen Tageslicht. Dann, fast unerwartet, traten die Felswände plötzlich ganz beiseite und gaben den Blick auf eine weite, weißglitzernde Fläche frei. Dies war die höchste Stelle, denn das Schicksalsgebirge gipfelte nicht in einer Spitze, wie die meisten anderen Berge, sondern in dieser Hochebene, die so weit war wie ein Land.

Jetzt aber erhob sich mitten auf dieser Fläche überraschenderweise ein kleinerer Berg von eigentümlichem Aussehen. Er war ziemlich schmal und hoch, ähnlich wie der Elfenbeinturm, aber von leuchtendem Blau. Er bestand aus vielen bizarr geformten Zacken, die wie lauter riesenhafte umgekehrte Eiszapfen in den Himmel ragten. Etwa auf halber Höhe dieses Berges stand auf drei solchen Zackenspitzen ein Ei von der Größe eines Hauses.

Im Halbkreis um dieses Ei und dahinter ragten größere blaue Zapfen wie die Pfeifen einer gewaltigen Orgel in die Höhe und bildeten den eigentlichen Gipfel. Das große Ei hatte eine kreisrunde Öffnung, die wie eine Tür oder wie ein Fenster aussah. Und in dieser Öffnung erschien nun ein Gesicht, das der Sänfte entgegenblickte.

Als habe die Kindliche Kaiserin diesen Blick gespürt, schlug sie die Augen auf und erwiderte ihn.

»Halt!« sagte sie leise.

Die unsichtbaren Mächte blieben stehen.

Die Kindliche Kaiserin richtete sich auf.

»Er ist es«, fuhr sie fort.»Es muß sein, daß ich das letzte Stück des Weges allein zu ihm gehe. Wartet hier auf mich, was auch immer geschehen mag.«

Das Gesicht in der kreisrunden Öffnung des Eis war verschwunden.

Die Kindliche Kaiserin stieg aus der Sänfte und machte sich auf den Weg über die weite Schneefläche. Es war ein mühevoller Gang, denn sie war barfuß und der Schnee war harschig. Bei jedem Schritt brach sie durch die Eiskruste und der glasharte Schneeharsch zerschnitt ihre zarten Füße. Der eisige Wind zerrte an ihrem weißen Haar und Gewand.

Endlich hatte sie den blauen Berg erreicht und stand vor den glasglatten Zapfen.

Aus der kreisrunden, dunklen Öffnung des großen Eis schob sich eine lange Leiter hervor, viel, viel länger, als sie überhaupt in dem Ei Platz gehabt haben konnte. Schließlich reichte sie bis zum Fuß des blauen Berges hinunter, und als die Kindliche Kaiserin sie ergriff, sah sie, daß sie sich ganz und gar aus aneinanderhängenden Buchstaben zusammensetzte, und jede Sprosse war eine Zeile. Die Kindliche Kaiserin machte sich an den Aufstieg, und während sie Sprosse um Sprosse erklomm, las sie zugleich die Worte:

KEHR UM KEHR UM GEH FORT GEH FORT

ZU KEINER ZEIT AN KEINEM ORT

DARFST DU MICH TREFFEN LASS ES SEIN

GERADE DIR UND DIR ALLEIN

MUSS ICH DEN WEG VERWEHREN

KEHR UM LASS DICH BELEHREN

BEGEGNEST DU MIR ALTEM MANN

GESCHIEHT WAS NICHT GESCHEHEN KANN

DER ANFANG SUCHT DAS ENDE AUF

KEHR UM KEHR UM STEIG NICHT HINAUF

SONST WIRST DU NUR ERREICHEN

VERWIRRUNG OHNEGLEICHEN


Sie hielt inne, um neue Kräfte zu sammeln, und blickte nach oben. Es ging noch sehr hoch hinauf. Bis jetzt hatte sie noch nicht einmal die Hälfte hinter sich gebracht.

»Alter vom Wandernden Berge«, sagte sie laut,»wenn du nicht willst, daß wir uns begegnen, dann hättest du mir diese Leiter nicht zu schreiben brauchen. Dein Verbot zu kommen ist es, das mich zu dir bringt.« Und sie stieg weiter.


WAS DU ERSCHAFFST UND WAS DU BIST

BEWAHRE ICH ALS DER CHRONIST

BUCHSTABE TOT UNWANDELBAR

WIRD ALLES WAS EINST LEBEN WAR

WILLST DU ZU MIR NUN STREBEN

ES WIRD EIN UNHEIL GEBEN

HIER ENDET WAS DURCH DICH BEGINNT

DU WIRST NIE ALT SEIN KAISERKIND

ICH ALTER WAR NIE JUNG WIE DU

WAS DU ERREGST BRING ICH ZUR RUH

DEM LEBEN IST VERBOTEN

SICH SELBST ZU SEHN IM TOTEN


Wieder mußte sie innehalten, um zu Atem zu kommen.

Sie war nun schon sehr hoch und die Leiter schwankte im Schneesturm wie ein Zweig. Die Kindliche Kaiserin klammerte sich an den eisigen Buchstaben-Sprossen fest und stieg auch noch das letzte Stück der Leiter empor.


UND HÖRST DU AUF DIE WARNUNG NICHT

DIE SO BEREDT DIE LEITER SPRICHT

UND BIST DU DOCH ZU TUN BEREIT

WAS NICHT SEIN DARF IN RAUM UND ZEIT

SO KANN ICH DICH NICHT HALTEN

WILLKOMMEN DENN BEIM ALTEN


Als die Kindliche Kaiserin diese letzten Sprossen hinter sich gebracht hatte, stieß sie einen leisen Seufzer aus und sah an sich hinunter. Ihr weites, weißes Gewand war zerfetzt, es war an all den Querstrichen, Häkchen und Dornen der Buchstabenleiter hängen geblieben. Nun, es war nichts Neues für sie, daß Buchstaben ihr nicht wohlgesinnt waren. Das beruhte auf Gegenseitigkeit.

Vor sich sah sie das Ei und die kreisrunde Öffnung, in welcher die Leiter endete. Sie stieg hindurch. Die Öffnung schloß sich augenblicklich hinter ihr. Ohne sich zu regen stand sie im Finstern und wartete, was geschehen würde.

Doch zunächst geschah lange Zeit nichts.

»Hier bin ich«, sagte sie schließlich leise in die Dunkelheit hinein. Ihre Stimme hallte wider wie in einem großen leeren Saal - oder war es eine andere, viel tiefere Stimme gewesen, die ihr mit den gleichen Worten geantwortet hatte?

Nach und nach konnte sie in der Finsternis einen schwachen, rötlichen Lichtschein sehen. Er strahlte von einem Buch aus, das aufgeschlagen in der Mitte des eiförmigen Raumes in der Luft schwebte. Es stand schräg, so daß sie den Einband sehen konnte. Es war in kupferfarbene Seide gebunden, und wie auf dem Kleinod, das die Kindliche Kaiserin um den Hals trug, waren auch auf diesem Buch zwei Schlangen zu sehen, die einander in den Schwanz bissen und ein Oval bildeten. Und in diesem Oval stand der Titel:


Die unendliche Geschichte

Bastians Gedanken verwirrten sich. Das war doch genau das Buch, in dem er gerade las! Er schaute es noch einmal an. Ja, kein Zweifel, es war das Buch, das er in der Hand hatte, von dem da die Rede war. Aber wie konnte dieses Buch denn in sich selbst vorkommen?

Die Kindliche Kaiserin war nahe herangetreten und sah nun auf der anderen Seite des schwebenden Buches das Gesicht eines Mannes, das von unten her aus den aufgeschlagenen Seiten bläulich beleuchtet wurde. Dieser Schimmer ging von der Schrift im Buch aus, die blaugrün war.

Das Gesicht des Mannes sah aus wie die Rinde eines uralten Baumes, so durchpflügt war es von Furchen. Sein Bart war weiß und lang und seine Augen lagen so tief in dunklen Höhlen, daß sie nicht zu sehen waren. Er trug eine blaue Mönchskutte mit einer Kapuze über dem Kopf und hielt in der Hand einen Schreibstift, mit dem er in dem Buch schrieb. Er blickte nicht auf.

Die Kindliche Kaiserin stand lange Zeit schweigend und sah ihm zu. Es war kein eigentliches Schreiben, was er tat, vielmehr glitt sein Stift langsam über die leere Seite hin und die Buchstaben und Wörter bildeten sich wie von selbst, sie tauchten gleichsam aus der Leere auf.

Die Kindliche Kaiserin las, was da stand, und es war genau das, was in diesem Augenblick geschah, nämlich: »Die Kindliche Kaiserin las, was da stand…«

»Alles, was geschieht«, sagte sie, »schreibst du auf.«

»Alles, was ich aufschreibe, geschieht«, war die Antwort. Und wieder war es diese tiefe, dunkle Stimme, die sie wie ein Echo ihrer eigenen Stimme vernommen hatte.

Das Eigenartige war, daß der Alte vom Wandernden Berge den Mund nicht geöffnet hatte. Er hatte ihre und seine Worte hingeschrieben, und sie hatte sie so gehört, als ob sie sich nur erinnere, daß er eben gesprochen habe. »Du und ich«, fragte sie, »und ganz Phantásien - alles ist in diesem Buch verzeichnet?«

Er schrieb und zugleich vernahm sie seine Antwort:

»Nicht so. Dieses Buch ist ganz Phantásien und du und ich.«

»Und wo ist dieses Buch?«

»Im Buch«, war die Antwort, die er schrieb.

»Dann ist es nur Schein und Widerschein?« fragte sie.

Und er schrieb und sie hörte ihn sagen:

»Was zeigt ein Spiegel, der sich in einem Spiegel spiegelt? Weißt du das, Goldäugige Gebieterin der Wünsche?«

Die Kindliche Kaiserin schwieg eine Weile und der Alte schrieb zugleich auf, daß sie schwieg.

Dann sagte sie leise: »Ich brauche deine Hilfe.«

»Ich weiß«, antwortete und schrieb er.

»Ja«, meinte sie, »so muß es wohl sein. Du bist die Erinnerung Phantásiens und weißt alles, was geschehen ist bis zu diesem Augenblick. Aber kannst du nicht vorblättern in deinem Buch und sehen, was erst geschehen wird?«

»Leere Seiten!« war die Antwort. »Ich kann nur zurückschauen auf das, was geschehen ist. Ich konnte es lesen, während ich es schrieb. Und ich weiß es, weil ich es las. Und ich schrieb es, weil es geschah. So schreibt sich die Unendliche Geschichte selbst durch meine Hand.«

»Du weißt also nicht, warum ich zu dir gekommen bin?«

»Nein«, hörte sie seine dunkle Stimme, während er schrieb, »und ich wollte, du hättest es nicht getan. Durch mich wird alles unveränderlich und endgültig - auch du, Goldäugige Gebieterin der Wünsche. Dieses Ei ist dein Grab und dein Sarg. Du bist in die Erinnerung Phantásiens eingegangen. Wie willst du diesen Ort je wieder verlassen?«

»Jedes Ei«, antwortete sie, »ist der Anfang neuen Lebens.«

»Wahr«, schrieb und sagte der Alte, »aber nur, wenn seine Schale aufspringt.«

»Du kannst sie öffnen«, rief die Kindliche Kaiserin, »du hast mich eingelassen.«

Der Alte schüttelte den Kopf und schrieb es auf.

»Es war deine Kraft, die es bewirkte. Aber da du nun hier bist, hast du sie nicht mehr. Wir sind eingeschlossen für immer. Wahrlich, du hättest nicht kommen dürfen! Dies ist das Ende der Unendlichen Geschichte.«

Die Kindliche Kaiserin lächelte und schien nicht im geringsten beunruhigt.

»Du und ich«, sagte sie, »vermögen es nicht mehr. Aber es gibt einen, der es kann.«

»Einen neuen Anfang schaffen«, schrieb der Alte, »kann nur ein Menschenkind.«

»Ja«, erwiderte sie, »ein Menschenkind.«

Langsam hob der Alte vom Wandernden Berge seinen Blick und sah die Kindliche Kaiserin zum ersten Mal an. Es war, als käme dieser Blick vom anderen Ende des Universums, aus solcher Ferne kam er und aus solcher Dunkelheit. Sie erwiderte ihn mit ihren goldenen Augen und hielt ihm stand. Es war wie ein schweigender und regloser Kampf. Schließlich beugte sich der Alte wieder über sein Buch und schrieb:

»Wahre die Grenze, die auch dir gesetzt ist!«

»Das will ich«, antwortete sie, »aber der, von dem ich rede und auf den ich warte, hat sie längst überschritten. Er liest in diesem Buch, in dem du schreibst, und vernimmt jedes Wort, das wir sprechen. Er ist also bei uns.«

»Wahr«, hörte sie die Stimme des Alten, während er schrieb, »auch er gehört schon unwiderruflich zur Unendlichen Geschichte, denn es ist seine eigene Geschichte.«

»Erzähle sie mir!« befahl die Kindliche Kaiserin. »Du, der du die Erinnerung Phantásiens bist, erzähle sie mir - von Anfang an und Wort für Wort, so wie du sie geschrieben hast!«

Die schreibende Hand des Alten begann zu zittern.

»Wenn ich das tue, so muß ich auch alles von neuem schreiben. Und was ich schreibe, wird von neuem geschehen.«

»So soll es sein!« sagte die Kindliche Kaiserin.

Bastian wurde unbehaglich zumut.

Was mochte sie vorhaben? Irgend etwas hatte es mit ihm zu tun. Aber wenn selbst dem Alten vom Wandernden Berge die Hand zu zittern anfing…

Der Alte schrieb und sagte:

»Wenn die Unendliche Geschichte

sich selbst enthält,

dann geht die Welt

in diesem Buch zunichte!«

Und die Kindliche Kaiserin antwortete:

»Doch wenn der Held

sich uns gesellt,

kann neues Leben sprießen.

Er muß sich jetzt entschließen!«

»Wahrlich, du bist schrecklich«, sagte und schrieb der Alte, »das bedeutet das Ende ohne Ende. Wir werden eintreten in den Kreis der ewigen Wiederkehr. Daraus gibt es kein Entrinnen.«

»Für uns nicht«, antwortete sie und ihre Stimme war nicht mehr sanft, sondern hart und klar wie ein Diamant, »aber auch für ihn nicht - es sei denn, er rettet uns alle.«

»Willst du wirklich alles in die Hände eines Menschenkindes legen?«

»Das will ich.«

Und dann fügte sie leiser hinzu:

»Oder weißt du anderen Rat?«

Lang war es still, ehe die dunkle Stimme des Alten sagte:

»Nein.«

Er stand tief über das Buch gebeugt, in dem er schrieb. Sein Gesicht war von der Kapuze verdeckt und nicht mehr zu sehen.

»Dann tu, worum ich dich gebeten habe!«

Der Alte vom Wandernden Berge unterwarf sich dem Willen der Kindlichen Kaiserin und begann, ihr die Unendliche Geschichte von Anfang an zu erzählen.

In diesem Augenblick wechselte der Lichtschein, der aus den Seiten des Buches strahlte, die Farbe. Er wurde rötlich wie die Schriftzeichen, die sich jetzt unter dem Stift des Alten bildeten. Auch seine Mönchskutte und die Kapuze waren nun kupferfarben. Und während er schrieb, erklang zugleich seine tiefe Stimme.

Auch Bastian hörte sie ganz deutlich.

Dennoch waren ihm die ersten Worte, die der Alte sprach, unverständlich. Sie klangen etwa wie »Tairauqitna rednaerok darnok lrak rebahni« .

Merkwürdig, dachte Bastian, warum redete der Alte plötzlich in einer fremden Sprache? Oder war es vielleicht eine Zauberformel?

Die Stimme des Alten fuhr fort und Bastian mußte ihr folgen.

»Diese Inschrift stand auf der Glastür eines kleinen Ladens, aber so sah sie natürlich nur aus, wenn man vom Inneren des dämmerigen Raumes durch die Scheibe auf die Straße hinausblickte.

Draußen war ein grauer, kalter Novembermorgen und es regnete in Strömen. Die Tropfen liefen am Glas herunter und über die geschnörkelten Buchstaben. Alles, was man durch die Scheibe sehen konnte, war eine graue, regenfleckige Mauer auf der anderen Straßenseite.«

Die Geschichte kenne ich gar nicht, dachte Bastian etwas enttäuscht, sie kommt überhaupt nicht in dem Buch vor, das ich bis jetzt gelesen habe. Na ja, jetzt zeigt es sich ja, daß ich mich eben doch die ganze Zeit geirrt habe. Ich hab' schon wirklich geglaubt, der Alte würde jetzt anfangen, die Unendliche Geschichte von vorn zu erzählen.

»Plötzlich wurde die Tür so heftig aufgerissen, daß eine kleine Traube von Messingglöckchen, die über ihr hing, aufgeregt zu bimmeln begann und sich eine ganze Weile nicht wieder beruhigen konnte.

Der Urheber dieses Tumults war ein kleiner, dicker Junge von vielleicht zehn oder elf Jahren. Das dunkelbraune Haar hing ihm naß ins Gesicht, sein Mantel war vom Regen durchweicht und tropfte, an einem Riemen über der Schulter trug er eine Schulmappe. Er war ein wenig blaß und außer Atem, aber ganz im Gegensatz zu der Eile, die er eben noch gehabt hatte, stand er nun wie angewurzelt in der offenen Tür…«

Während Bastian dies las und zugleich die tiefe Stimme des Alten vom Wandernden Berge hörte, begann es ihm in den Ohren zu brausen und vor den Augen zu flimmern.

Was da erzählt wurde, war seine eigene Geschichte! Und die war in der Unendlichen Geschichte. Er, Bastian, kam als Person in dem Buch vor, für dessen Leser er sich bis jetzt gehalten hatte! Und wer weiß, welcher andere Leser ihn jetzt gerade las, der auch wieder nur glaubte, ein Leser zu sein - und so immer weiter bis ins Unendliche!

Jetzt bekam Bastian es mit der Angst. Er hatte plötzlich das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Er fühlte sich wie in einem unsichtbaren Gefängnis eingeschlossen. Er wollte aufhören, wollte nicht mehr weiter lesen.

Aber die tiefe Stimme des Alten vom Wandernden Berge fuhr fort, zu erzählen, und Bastian konnte nichts dagegen tun. Er hielt sich die Ohren zu, aber es nützte nichts, denn die Stimme klang in seinem Inneren. Obwohl er längst wußte, daß es nicht so war, klammerte er sich noch an den Gedanken, daß diese Übereinstimmung mit seiner eigenen Geschichte vielleicht doch nur ein verrückter Zufall war, aber die tiefe Stimme sprach unerbittlich weiter und nun hörte er ganz deutlich, wie sie sagte:

»… Manieren hast du nicht für fünf Pfennig, sonst hättest du dich wenigstens erst mal vorgestellt.«

»Ich heiße Bastian«, sagte der Junge, »Bastian Balthasar Bux.«

In diesem Augenblick machte Bastian eine schwerwiegende Erfahrung: Man kann davon überzeugt sein, sich etwas zu wünschen - vielleicht jahrelang - solang man weiß, daß der Wunsch unerfüllbar ist. Steht man aber plötzlich vor der Möglichkeit, daß der Wunschtraum Wirklichkeit wird, dann wünscht man sich nur noch eins: Man hätte es sich nie gewünscht.

So jedenfalls erging es Bastian.

Jetzt, wo es unerbittlicher Ernst wurde, wäre er am liebsten davongelaufen. Nur, daß es in diesem Fall kein »davon« mehr gab. Und deshalb tat er, was ihm freilich ganz und gar nichts nützen konnte: Er stellte sich einfach tot wie ein Käfer, der auf dem Rücken liegt. Er wollte so tun, als gäbe es ihn nicht, er wollte sich still halten und so klein wie möglich machen.

Der Alte vom Wandernden Berge fuhr fort zu erzählen und zugleich von neuem aufzuschreiben, wie Bastian das Buch gestohlen hatte, wie er auf den Speicher des Schulhauses geflohen war und dort zu lesen anfing. Und nun begann Atréjus Suche noch einmal, er kam zur Uralten Morla und fand Fuchur in Ygramuls Netz am Tiefen Abgrund, wo er Bastians Schreckensruf hörte. Noch einmal wurde er von der alten Urgl geheilt und von Engywuck belehrt. Er schritt durch die drei Magischen Tore und ging in Bastians Bild hinein und redete mit der Uyulála. Und dann kamen die Windriesen und Spukstadt und Gmork und Atréjus Rettung und Rückkehr zum Elfenbeinturm. Und dazwischen geschah auch alles das, was Bastian erlebt hatte, das Anzünden der Kerzen und wie er die Kindliche Kaiserin gesehen hatte und sie vergeblich darauf wartete, daß er käme. Und noch einmal machte sie sich auf, um den Alten vom Wandernden Berge zu suchen, noch einmal stieg sie die Buchstabenleiter empor und trat in das Ei und noch einmal vollzog sich das ganze Gespräch, Wort für Wort, das die beiden miteinander geführt hatten und das damit endete, daß der Alte vom Wandernden Berge die Unendliche Geschichte zu schreiben und zu erzählen begann.

Und hier fing alles wieder von vorne an - unverändert und unabänderlich - und wiederum endete alles bei der Begegnung der Kindlichen Kaiserin mit dem Alten vom Wandernden Berge, der abermals die Unendliche Geschichte zu schreiben und zu erzählen begann…

… und es würde in alle Ewigkeit so fortgehen, denn es war ja ganz unmöglich, daß etwas sich am Ablauf der Dinge ändern konnte. Nur er allein, Bastian, konnte eingreifen. Und er mußte es tun, wenn er nicht selbst in diesem Kreislauf eingeschlossen bleiben wollte. Ihm kam es so vor, als habe sich die Geschichte schon tausendmal wiederholt, nein, als gäbe es kein Vorher und kein Nachher, sondern als sei alles für immer gleichzeitig da. Jetzt begriff er, warum die Hand des Alten gezittert hatte. Der Kreis der ewigen Wiederkehr war das Ende ohne Ende!

Bastian fühlte nicht, daß ihm Tränen über das Gesicht liefen. Fast besinnungslos schrie er plötzlich:

»Mondenkind! Ich komme!«

Im selben Augenblick geschahen mehrere Dinge zugleich.

Die Schale des großen Eis wurde von einer ungeheuren Gewalt in Stücke gesprengt, wobei ein dunkles Donnergrollen zu hören war. Dann brauste ein Sturmwind von fern heran

und fuhr aus den Seiten des Buches heraus, das Bastian auf den Knieen hielt, so daß sie wild zu flattern begannen. Bastian fühlte den Sturm in seinem Haar und Gesicht, er nahm ihm fast den Atem, die Kerzenflammen des siebenarmigen Leuchters tanzten und legten sich waagrecht, und dann fuhr ein zweiter, noch gewaltigerer Sturmwind in das Buch hinein und die Lichter erloschen. Die Turmuhr schlug zwölf.

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