13. Perelín, der Nachtwald

»Mondenkind, ich komme!« sagte Bastian noch einmal leise in die Dunkelheit hinein. Er fühlte von diesem Namen eine unbeschreiblich süße, tröstliche Kraft ausgehen, die ihn ganz erfüllte. Darum sagte er ihn gleich noch ein paarmal vor sich hin:

»Mondenkind! Mondenkind! Ich komme, Mondenkind! Ich bin schon da.«

Aber wo war er?

Er konnte nicht den geringsten Lichtschein sehen, aber was ihn umgab, war nicht mehr die frostige Finsternis des Speichers, sondern ein samtenes, warmes Dunkel, in dem er sich geborgen und glücklich fühlte.

Alle Angst und Beklemmung war von ihm abgefallen. Er erinnerte sich nur noch daran, wie an etwas längst Vergangenes. Ihm war so heiter und leicht zumut, daß er sogar leise lachte.

»Mondenkind, wo bin ich?« fragte er.

Er fühlte die Schwere seines Körpers nicht mehr. Er tastete mit den Händen herum und wurde sich bewußt, daß er schwebte. Da waren keine Matten mehr und kein fester Boden.

Es war eine wunderbare, nie gekannte Empfindung, ein Gefühl von Losgelöstheit und grenzenloser Freiheit. Nichts, was ihn je belastet und beengt hatte, konnte ihn nun noch erreichen.

Schwebte er am Ende irgendwo im Weltall? Aber im Weltall gab es doch Sterne und er konnte nichts dergleichen sehen. Es gab nur noch das samtene Dunkel und ihm war so wohl, so wohl wie nie zuvor in seinem Leben. War er vielleicht gestorben?

»Mondenkind, wo bist du?«

Und nun hörte er eine vogelzarte Stimme, die ihm antwortete und vielleicht schon mehrmals geantwortet hatte, ohne daß er dessen innegeworden war. Er hörte sie ganz nah und hätte doch nicht sagen können, aus welcher Richtung sie kam:

»Hier bin ich, mein Bastian.«

»Mondenkind, bist du's?«

Sie lachte auf eine eigentümlich singende Art.

»Wer sollte ich wohl sonst sein. Du hast mir doch eben erst diesen schönen Namen gegeben. Ich danke dir dafür. Sei mir willkommen, mein Retter und mein Held.«

»Wo sind wir, Mondenkind?«

»Ich bin bei dir, und du bist bei mir.«

Es war wie ein Gespräch im Traum, und doch wußte Bastian ganz sicher, daß er wach war und nicht träumte.

»Mondenkind«, flüsterte er, »ist das nun das Ende?«

»Nein«, antwortete sie, »es ist der Anfang.«

»Wo ist Phantásien, Mondenkind? Wo sind die anderen alle? Wo ist Atréju und Fuchur? Ist denn alles verschwunden? Und der Alte vom Wandernden Berge und sein Buch? Gibt es sie nicht mehr?«

»Phantásien wird aus deinen Wünschen neu entstehen, mein Bastian. Durch mich werden sie Wirklichkeit.«

»Aus meinen Wünschen?« wiederholte Bastian staunend.

»Du weißt doch«, hörte er die süße Stimme, »daß man mich die Gebieterin der Wünsche nennt. Was wirst du dir wünschen?«

Bastian dachte nach, dann fragte er vorsichtig:

»Wieviele Wünsche habe ich denn frei?«

»Soviele du willst - je mehr, desto besser, mein Bastian. Um so reicher und vielgestaltiger wird Phantásien sein.«

Bastian war überrascht und überwältigt. Aber gerade weil er sich plötzlich einer Unendlichkeit von Möglichkeiten gegenüber sah, fiel ihm überhaupt kein Wunsch ein.

»Ich weiß nichts«, sagte er schließlich.

Es war eine Weile still, dann hörte er die vogelzarte Stimme:

»Das ist schlimm.«

»Warum?«

»Weil es dann kein Phantásien mehr geben wird.«

Bastian schwieg verwirrt. Es störte ein wenig sein Gefühl schrankenloser Freiheit, daß alles von ihm abhängen sollte.

»Warum ist es so dunkel, Mondenkind?« fragte er.

»Der Anfang ist immer dunkel, mein Bastian.«

»Ich möchte dich gern noch einmal sehen, Mondenkind, weißt du, wie in dem Augenblick, als du mich angeschaut hast.«

Er hörte wieder das leise, singende Lachen.

»Warum lachst du?«

»Weil ich froh bin.«

»Worüber denn?«

»Du hast eben deinen ersten Wunsch gesagt.«

»Und wirst du ihn erfüllen?«

»Ja, streck deine Hand aus!«

Er tat es und fühlte, daß sie etwas auf seine flache Hand legte. Es war winzig, wog aber seltsam schwer. Kälte ging davon aus und es fühlte sich hart und tot an.

»Was ist das, Mondenkind?«

»Ein Sandkorn«, antwortete sie. »Es ist alles, was von meinem grenzenlosen Reich übriggeblieben ist. Ich schenke es dir.«

»Danke«, sagte Bastian verwundert. Er wußte wahrhaftig nicht, was er mit dieser Gabe anfangen sollte. Wenn es wenigstens etwas Lebendiges gewesen wäre!

Während er noch überlegte, was Mondenkind wohl von ihm erwartete, fühlte er plötzlich ein zartes Kribbeln auf seiner Hand. Er sah genauer hin.

»Schau mal, Mondenkind!« flüsterte er, »es fängt ja an zu glimmen und zu glitzern! Und da - siehst du's - da züngelt eine winzige Flamme heraus. Nein, das ist ja ein Keim! Mondenkind, das ist ja gar kein Sandkorn! Das ist ein leuchtendes Samenkörnchen, das zu treiben anfängt!«

»Gut gemacht, mein Bastian!« hörte er sie sagen. »Siehst du, es ist ganz leicht für dich.«

Von dem Pünktchen auf Bastians Handfläche ging jetzt ein kaum wahrnehmbarer Schein aus, der rasch zunahm und aus dem samtenen Dunkel die beiden so verschiedenartigen Kindergesichter aufleuchten ließ, die über das Wunder geneigt waren.

Bastian zog langsam seine Hand zurück und der leuchtende Punkt blieb wie ein kleiner Stern zwischen ihnen schweben.

Der Keim wuchs sehr rasch, man konnte ihm dabei zusehen. Er entfaltete Blätter und Stengel, trieb Knospen hervor, die zu wunderbaren, vielfarbig glimmenden und phosphoreszierenden Blüten aufsprangen. Schon bildeten sich kleine Früchte, die, sobald sie reif waren, explodierten wie Miniaturraketen und einen bunten Funkenregen von neuen Samenkörnern um sich sprühten.

Aus den neuen Samenkörnern wuchsen wieder Pflanzen, doch hatten sie andere Formen, glichen Farnwedeln oder kleinen Palmen, Kakteenkugeln, Schachtelhalmen oder knorrigen Bäumchen. Jede glomm und leuchtete in einer anderen Farbe.

Bald war rund um Bastian und Mondenkind, über und unter ihnen und zu allen Seiten, das samtene Dunkel mit sprossenden und wuchernden Lichtpflanzen erfüllt. Ein farbenglühender Ball, eine neue, leuchtende Welt schwebte im Nirgendwo, wuchs und wuchs, und in ihrem innersten Inneren saßen Bastian und Mondenkind Hand in Hand und sahen mit staunenden Augen dem wunderbaren Schauspiel zu.

Die Pflanzen schienen unerschöpflich im Hervorbringen immer neuer Formen und Farben. Immer größere Blütenknospen taten sich auf, immer reichere Dolden sprühten hervor. Und dieses ganze Wachstum vollzog sich in völliger Stille.

Nach einer Weile hatten manche Pflanzen schon die Höhe von Sonnenblumen erreicht, ja, einige waren sogar schon groß wie Obstbäume. Da gab es Fächer oder Pinsel aus langen, smaragdgrünen Blättern, oder Blüten wie Pfauenschweife voller regenbogenfarbener Augen. Andere Gewächse glichen Pagoden aus übereinanderstehenden, aufgespannten Regenschirmen von violetter Seide. Einige dickere Stämme waren zopfartig verschlungen. Da sie durchscheinend waren, sahen sie aus wie aus rosa Glas, das von innen erleuchtet ist. Und Blütenbüschel waren da, die großen Trauben blauer und gelber Lampions glichen. An manchen Stellen hingen Abertausende von kleinen Sternblumen hernieder wie silberglitzernde Wasserfälle, oder dunkelgoldene Vorhänge aus Glockenblumen mit langen, quastenartigen Staubgefäßen. Und immer noch üppiger und dichter wuchsen diese leuchtenden Nachtpflanzen und verwoben sich nach und nach untereinander zu einem herrlichen Geflecht aus mildem Licht.

»Du mußt ihm einen Namen geben!« flüsterte Mondenkind.

Bastian nickte.

»Perelín, der Nachtwald«, sagte er.

Er blickte der Kindlichen Kaiserin in die Augen - und nun geschah ihm noch einmal, was ihm bei ihrem ersten Blickwechsel geschehen war. Er saß da wie verzaubert und schaute sie an und konnte seine Augen nicht mehr von ihr abwenden. Bei jenem ersten Mal hatte er sie todkrank gesehen, aber jetzt war sie noch viel, viel schöner. Ihr zerrissenes Gewand war wieder wie neu und über das makellose Weiß der Seide und ihres langen Haars spielte der Widerschein des vielfarbigen, sanften Lichts. Sein Wunsch war in Erfüllung gegangen.

»Mondenkind«, stammelte Bastian benommen, »bist du jetzt wieder gesund?«

Sie lächelte.

»Kannst du das nicht sehen, mein Bastian?«

»Ich möchte, daß es ewig so bleibt wie jetzt«, sagte er.

»Ewig ist der Augenblick«, antwortete sie.

Bastian schwieg. Er verstand ihre Antwort nicht, aber ihm war jetzt nicht nach Grübeln zumut. Er wollte nichts, als vor ihr sitzen und sie anschauen.

Um die beiden herum hatte das wuchernde Dickicht der Lichtpflanzen nach und nach ein dichtes Gitterwerk gebildet, ein farbenglühendes Gewebe, das sie einschloß wie ein großes, rundes Zelt aus Zauberteppichen. So achtete Bastian nicht darauf, was außerhalb geschah. Er wußte nicht, daß Perelín weiter- und weiterwuchs und die einzelnen Pflanzen immer größer wurden. Und noch immer regneten überall lichtfünkchenkleine Samenkörner herunter, aus denen neue Keime sproßten.

Er saß in Mondenkinds Anblick versunken.

Er hätte nicht sagen können, ob viel Zeit verstrichen war oder wenig, als Mondenkind ihm mit ihrer Hand die Augen verdeckte.

»Warum hast du mich so lang auf dich warten lassen?« hörte er sie fragen. »Warum hast du mich gezwungen, zum Alten vom Wandernden Berge zu gehen? Warum bist du nicht gekommen, als ich rief?«

Bastian schluckte.

»Es war, weil -«, brachte er verlegen heraus, »- ich dachte - es war alles mögliche, auch Angst - aber in Wirklichkeit hab' ich mich vor dir geschämt, Mondenkind.«

Sie zog ihre Hand zurück und sah ihn verwundert an.

»Geschämt? Aus welchem Grund denn?«

»Na ja«, druckste Bastian, »ich meine, du hast doch sicher jemand erwartet, der zu dir paßt.«

»Und du?« fragte sie, »paßt du nicht zu mir?«

»Das heißt«, stotterte Bastian und fühlte, daß er rot wurde, »ich wollte sagen, eben einen, der mutig ist und stark und schön - einen Prinzen oder so was - jedenfalls nicht so einen wie mich.«

Er hatte die Augen niedergeschlagen und hörte, daß sie wieder auf diese leise, singende Art lachte.

»Siehst du«, sagte er, »jetzt lachst du auch über mich.«

Es blieb lange still, und als Bastian es endlich über sich brachte, wieder aufzublicken, sah er, daß sie sich ganz nah zu ihm geneigt hatte. Ihr Gesicht war ernst.

»Ich will dir etwas zeigen, mein Bastian«, sagte sie, »schau mir in die Augen!«

Bastian tat es, obwohl ihm das Herz klopfte und ihm ein wenig schwindelig dabei wurde.

Und nun sah er im Goldspiegel ihrer Augen, erst noch klein und wie aus weiter Ferne, eine Gestalt, die nach und nach größer und immer deutlicher wurde. Es war ein Knabe, etwa in seinem Alter, doch war er schlank und von wunderbarer Schönheit. Seine Haltung war stolz und aufrecht, sein Gesicht edel, schmal und männlich. Er sah aus wie ein junger Prinz aus dem Morgenland. Sein Turban war aus blauer Seide, ebenso die silberbestickte Jacke, die er trug und die bis zu den Knien reichte. Seine Beine steckten in hohen, roten Stiefeln aus feinem, weichen Leder, deren Spitzen waren aufgebogen. Auf seinem Rücken hing von den Schultern bis zum Boden ein silberglitzernder Mantel nieder, der einen hoch aufgestellten Kragen hatte. Das schönste an diesem Jungen waren seine Hände, die feingliedrig und vornehm und doch zugleich ungewöhnlich kräftig wirkten.

Hingerissen und voll Bewunderung blickte Bastian dieses Bild an. Er konnte sich kaum satt sehen. Er wollte gerade fragen, wer dieser schöne junge Königssohn sei, als ihn wie ein Blitzstrahl die Erkenntnis durchzuckte, daß er es selber war.

Es war sein eigenes Spiegelbild in Mondenkinds Goldaugen!

Was in diesem Moment mit ihm geschah, ist mit Worten sehr schwer zu beschreiben. Es war ein Entzücken, das ihn aus sich selbst forttrug wie in einer Ohnmacht, weit fort, und als es ihn wieder absetzte und er ganz in sich zurückgekehrt war, fand er sich als jener schöne Junge wieder, dessen Bild er erblickt hatte.

Er sah an sich hinunter und alles war so, wie in Mondenkinds Augen, die feinen weichen Stiefel aus rotem Leder, die blaue silberbestickte Jacke, der Turban, der lange glitzernde Mantel, seine Gestalt und - soweit er es fühlen konnte - auch sein Gesicht. Staunend blickte er auf seine Hände.

Er wandte sich nach Mondenkind um.

Sie war nicht mehr da!

Er war allein in dem runden Raum, den das glimmende Pflanzendickicht gebildet hatte.

»Mondenkind!« rief er nach allen Seiten, »Mondenkind!«

Aber er bekam keine Antwort.

Ratlos setzte er sich nieder. Was sollte er nun anfangen? Warum hatte sie ihn allein gelassen? Wo sollte er nun hin - falls er überhaupt irgendwohin konnte und nicht wie in einem Käfig gefangen war?

Während er so dasaß und zu verstehen versuchte, was Mondenkind veranlaßt haben mochte, ihn ohne Erklärung und ohne Abschiedswort zu verlassen, spielten seine Finger mit einem goldenen Amulett, das an einer Kette um seinen Hals hing.

Er betrachtete es und stieß einen Laut der Überraschung aus.

Es war AURYN, das Kleinod, der Glanz, das Zeichen der Kindlichen Kaiserin, das seinen Träger zu ihrem Stellvertreter machte! Mondenkind hatte ihm ihre Macht über alle Wesen und Dinge Phantásiens hinterlassen. Und solange er dieses Zeichen trug, würde es sein, als wäre sie bei ihm.

Bastian blickte lange die beiden Schlangen an, die helle und die dunkle, die einander in den Schwanz bissen und ein Oval bildeten. Dann drehte er das Medaillon um und fand zu seiner Verwunderung auf der Rückseite eine Inschrift. Es waren vier kurze Worte in eigenartig verschlungenen Buchstaben:

Tu

Was Du

Willst

Davon war bisher in der Unendlichen Geschichte nie die Rede gewesen. Hatte Atréju diese Inschrift nicht bemerkt?

Aber das war jetzt nicht wichtig. Wichtig war allein, daß die Worte die Erlaubnis, nein, geradezu die Aufforderung ausdrückten, alles zu tun, wozu er Lust hatte.

Bastian trat an die Wand aus farbenglühendem Pflanzendickicht heran, um zu sehen, ob und wo er durchschlüpfen konnte, doch stellte er mit Vergnügen fest, daß sie sich ohne Mühe wie ein Vorhang beiseite schieben ließ. Er trat hinaus.

Das sanfte und zugleich urgewaltige Wachstum der Nachtpflanzen war inzwischen unaufhörlich weitergegangen und Perelín war zu einem Wald geworden, wie ihn vor Bastian noch nie ein menschliches Auge erblickt hat.

Die größten Stämme hatten jetzt die Höhe und Dicke von Kirchtürmen - und dennoch wuchsen sie noch immer weiter und hörten nicht auf zu wachsen. An manchen Stellen standen diese milchig schimmernden Riesensäulen schon so eng beieinander, daß es unmöglich war, zwischen ihnen hindurchzuschlüpfen. Und noch immer fielen wie ein Funkenregen neue Samenkörner herunter.

Während Bastian durch den Lichtdom dieses Waldes spazierte, gab er sich Mühe, keinen der glimmenden Keime auf dem Boden zu zertreten, aber das erwies sich bald als unmöglich. Es war einfach kein Fußbreit Boden mehr da, wo nichts sproßte. So ging er schließlich unbesorgt weiter, wo die riesigen Stämme ihm den Weg frei ließen.

Bastian genoß es, schön zu sein. Daß niemand da war, um ihn zu bewundern, störte ihn durchaus nicht. Im Gegenteil, er war froh darüber, dieses Vergnügen ganz für sich allein zu haben. Ihm lag ganz und gar nichts an der Bewunderung derer, die ihn bisher verspottet hatten. Jetzt nicht mehr. Er dachte fast mit Mitleid an sie.

In diesem Wald, in dem es keine Jahreszeiten und auch nicht den Wechsel von Tag und Nacht gab, war auch das Erlebnis der Zeit etwas ganz anderes, als das, was Bastian bisher darunter verstanden hatte. Und so wußte er nicht, wie lang er schon so dahinspazierte. Doch nach und nach verwandelte sich seine Freude darüber, schön zu sein, in etwas anderes: Sie wurde ihm selbstverständlich. Nicht, daß er weniger glücklich darüber gewesen wäre, es kam ihm nur so vor, als habe er es nie anders gekannt.

Das hatte einen Grund, den Bastian erst sehr, sehr viel später erkennen sollte und von dem er jetzt noch nicht das geringste ahnte. Für die Schönheit, die ihm geschenkt worden war, vergaß er nämlich nach und nach, daß er einmal dick und x-beinig gewesen war.

Selbst wenn er etwas davon gemerkt hätte, so wäre ihm sicher nicht sonderlich viel an dieser Erinnerung gelegen. Doch das Vergessen ging völlig unmerklich vor sich. Und als die Erinnerung ganz verschwunden war, kam es ihm so vor, als sei er immer schon so gewesen wie jetzt. Und genau dadurch war sein Wunsch, schön zu sein, gestillt, denn einer, der es immer schon war, wünscht es sich nicht mehr.

Kaum war er an diesem Punkt angelangt, als er sogar schon ein gewisses Ungenügen empfand und ein neuer Wunsch in ihm wach wurde. Nur schön zu sein, das war eigentlich nichts Rechtes! Er wollte auch stark sein, stärker als alle. Der Stärkste, den es überhaupt gab!

Während er weiter durch den Nachtwald Perelín spazierte, begann er Hunger zu fühlen. Er pflückte da und dort einige der sonderbar geformten und leuchtenden Früchte ab und versuchte vorsichtig, ob sie eßbar waren. Nicht nur das! stellte er mit Befriedigung fest, sondern sie schmeckten auch ganz hervorragend, manche herb, manche süß, manche ein wenig bitter, aber alle höchst appetitlich. Er aß im Weitergehen eine nach der anderen und spürte dabei, wie eine wunderbare Kraft in seine Glieder strömte.

Inzwischen war das glimmende Unterholz des Waldes rund um ihn her so dicht geworden, daß es ihm den Ausblick nach allen Seiten versperrte. Und überdies begannen nun auch noch Lianen und Luftwurzeln von oben herunter zu wachsen und sich mit dem Dickicht zu einem undurchdringlichen Gestrüpp zu verweben. Bastian bahnte sich mit Handkantenschlägen einen Pfad, und das Dickicht ließ sich zerteilen, als habe er eine Machete, ein Buschmesser benützt. Gleich hinter ihm schloß sich die Bresche wieder, so vollkommen, als habe es sie nie gegeben.

Er ging weiter, aber eine Mauer von Baumriesen versperrte ihm den Weg, deren Stämme ohne Zwischenraum aneinandergepreßt standen.

Bastian griff mit beiden Händen zu - und bog zwei Stämme auseinander! Hinter ihm schloß sich wieder geräuschlos der Spalt.

Bastian stieß einen wilden Jubelschrei aus.

Er war der Herr des Urwalds!

Eine Zeitlang vergnügte er sich damit, sich Bahn durch den Dschungel zu brechen, wie ein Elefant, der den Großen Ruf gehört hat. Seine Kräfte ließen nicht nach, keinen Augenblick mußte er innehalten, um zu Atem zu kommen, es gab kein Seitenstechen und kein Herzhämmern, er schwitzte noch nicht einmal.

Aber schließlich hatte er sich satt getobt und es überkam ihn Lust, Perelín, sein Reich, einmal aus der Höhe zu überblicken, um zu sehen, wie weit es sich schon erstreckte.

Er blickte prüfend nach oben, spuckte in die Hände, ergriff eine Liane und begann, sich hinaufzuziehen, einfach so, Hand über Hand, und ohne dazu die Beine zu benützen, wie er es bei Zirkusartisten gesehen hatte. Als ein verblaßtes Erinnerungsbild aus längst vergangenen Tagen sah er sich für einen Augenblick während der Turnstunden, wo er zum glucksenden Vergnügen der ganzen Klasse wie ein Mehlsack am untersten Ende des Kletterseils gebaumelt hatte. Er mußte lächeln. Sicherlich hätten sie Mund und Nase aufgesperrt, wenn sie ihn jetzt hätten sehen können. Sie wären stolz darauf gewesen, ihn zu kennen. Aber er würde sie nicht einmal beachtet haben.

Ohne ein einziges Mal innezuhalten, erreichte er schließlich den Ast, von dem die Liane herunterhing. Er setzte sich rittlings darauf. Der Ast war dick wie eine Tonne und phosphoreszierte von innen heraus rötlich. Bastian stellte sich vorsichtig auf und balancierte auf den Stamm des Baumes zu. Auch hier versperrte dichtes Rankengestrüpp den Weg, aber er verschaffte sich ohne Mühe Durchgang.

Der Stamm war hier oben noch immer so dick, daß fünf Männer ihn nicht umspannen konnten. Ein anderer Seitenast, der etwas höher und in anderer Richtung aus dem Stamm hervorragte, war von Bastians Standort aus nicht zu erreichen. Also schwang er sich mit einem Sprung zu einer Luftwurzel hinüber und schaukelte so lange hin und her, bis er den höheren Ast, wiederum durch einen gewagten Sprung, zu fassen bekam. Von dort aus konnte er sich zu einem noch höheren hinaufziehen. Er war nun schon sehr hoch im Gezweig, mindestens hundert Meter, aber das glimmende Blatt- und Astwerk ließ keine Sicht nach unten zu.

Erst als er etwa die doppelte Höhe erreicht hatte, gab es da und dort freie Stellen, die einen Rundblick gestatteten. Doch dann fing die Sache erst an, schwierig zu werden, gerade weil es immer weniger Zweige und Äste gab. Und schließlich, als er schon fast ganz oben war, mußte er innehalten, weil er nichts mehr fand, woran er sich hätte festhalten können, als den nackten, glatten Stamm, der immerhin noch die Dicke einer Telegraphenstange hatte.

Bastian blickte nach oben und sah, daß dieser Stamm oder Stengel ungefähr zwanzig Meter höher in einer riesengroßen, dunkelrot leuchtenden Blüte endete. Wie er dort von unten hineinkommen sollte, war ihm nicht klar. Aber er mußte hinauf, denn hier wo er war, wollte er nicht bleiben. Er umklammerte also den Stamm und kletterte die letzten zwanzig Meter wie ein Akrobat empor. Der Stamm schwankte hin und her und bog sich wie ein Grashalm im Wind.

Endlich hing er unmittelbar unter der Blüte, die sich wie eine Tulpe nach oben öffnete. Es gelang ihm, eine Hand zwischen die Blütenblätter zu schieben. So fand er Halt, drängte die Blätter weiter auseinander und zog sich hinauf.

Einen Augenblick lang blieb er liegen, denn nun war er doch ein wenig außer Atem. Aber gleich stand er auf und blickte über den Rand der rotglimmenden Riesenblüte wie aus einem Mastkorb nach allen Seiten.

Der Anblick war über alle Worte großartig!

Die Pflanze, in deren Blüte er stand, war eine der höchsten des ganzen Dschungels, und so reichte sein Blick sehr weit. Über ihm war noch immer das samtene Dunkel wie ein sternenloser Nachthimmel, aber unter ihm dehnte sich die Unendlichkeit der Wipfel von Perelín in einem Farbenspiel, daß ihm schier die Augen übergingen.

Und Bastian stand lange und trank das Bild in sich hinein. Das war sein Reich! Er hatte es erschaffen! Er war der Herr von Perelín.

Und noch einmal flog sein wilder Jubelschrei weit über den leuchtenden Dschungel hin.

Das Wachstum der Nachtpflanzen aber ging schweigend, sanft und unaufhaltsam weiter.

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