20. Die Sehende Hand

Tautropfen funkelten an den Blüten und Blättern der Orchideen in der ersten Morgensonne, als die Karawane sich erneut in Bewegung setzte. In der Nacht hatte es keine Zwischenfälle gegeben, außer daß abermals neue Abgesandte zu den bisherigen hinzugekommen waren, so daß die ganze Schar nun schon an die dreihundert ausmachte. Es war wahrhaftig ein sehenswertes Schauspiel, den Zug dieser so verschiedenartigen Wesen zu beobachten.

Je weiter sie in den Orchideenwald eindrangen, desto unglaublichere Formen und Farben nahmen die Blüten an. Und bald stellten die Herren Hýkrion, Hýsbald und Hýdorn fest, daß der beunruhigende Eindruck, der sie dazu veranlaßt hatte, Wachen aufzustellen, nicht ganz unbegründet gewesen war. Viele dieser Gewächse waren nämlich fleischfressende Pflanzen, groß genug, ein ganzes Kalb zu verschlingen. Zwar bewegten sie sich nicht von sich aus - insofern waren die Wachen unnötig gewesen - aber wenn man sie berührte, schnappten sie zu wie Schlageisen. Und ein paarmal mußten die Herren von ihren Schwertern Gebrauch machen, um den Arm oder Fuß eines Reisegenossen oder seines Reittiers zu befreien, indem sie die ganze Blüte abhieben und in Stücke schnitten.

Bastian, der auf Jicha ritt, war ständig dicht umdrängt von allen möglichen phantásischen Wesen, die sich ihm bemerkbar zu machen versuchten oder wenigstens einen Blick auf ihn werfen wollten. Aber Bastian ritt schweigend und mit verschlossenem Gesicht. Ein neuer Wunsch war in ihm erwacht, und zum ersten Mal war es einer, der ihn unnahbar und sogar düster erscheinen ließ.

Was ihn an Atréjus und Fuchurs Verhalten am meisten verdroß, trotz der Versöhnung, war die unbezweifelbare Tatsache, daß sie ihn wie ein unselbständiges Kind behandelten, für das sie sich verantwortlich fühlten und das sie gängeln und anleiten mußten. Wenn er es sich recht überlegte, dann war es schon vom ersten Tag ihres Zusammenseins an so gewesen. Wie kamen sie eigentlich dazu? Offenbar fühlten sie sich ihm aus irgendeinem Grund überlegen - auch wenn sie es dabei gut mit ihm meinten. Ohne Zweifel hielten Atréju und Fuchur ihn für einen harmlosen, schutzbedürftigen Jungen. Und das paßte ihm nicht, nein, das paßte ihm ganz und gar nicht! Er war nicht harmlos! Das sollten sie noch sehen! Er wollte gefährlich sein, gefährlich und gefürchtet! Einer, vor dem jeder sich in acht nehmen mußte - auch Fuchur und Atréju.

Der blaue Dschinn - er hieß übrigens Illuán - bahnte sich einen Weg durch das Gedränge rings um Bastian und verneigte sich mit auf der Brust überkreuzten Armen.

Bastian hielt an.

»Was gibt es, Illuán? Rede!«

»Herr«, sagte der Dschinn mit seiner Adlerstimme, »ich habe mich unter unseren neu hinzugekommenen Weggenossen etwas umgehört. Einige von ihnen behaupten, diese Gegend zu kennen und zu wissen, worauf wir uns zubewegen. Sie alle schlottern vor Angst, Herr.«

»Weshalb? Was ist es für eine Gegend?«

»Dieser Wald aus fleischfressenden Orchideen, Herr, heißt der Garten Oglais und gehört zum Zauberschloß Hórok, das auch die Sehende Hand genannt wird. Dort wohnt die mächtigste und schlimmste Magierin Phantásiens. Ihr Name ist Xayíde.«

»Es ist gut«, antwortete Bastian, »sage den Ängstlichen, daß sie sich beruhigen sollen. Ich bin bei ihnen.«

Illuán verneigte sich abermals und entfernte sich.

Ein wenig später landeten Fuchur und Atréju, die weit vorausgeflogen waren, neben Bastian. Der Heerzug machte gerade Mittagsrast.

»Ich weiß nicht, was ich davon halten soll«, begann Atréju. »Drei bis vier Wegstunden voraus haben wir mitten im Orchideenwald ein Bauwerk gesehen, das wie eine große Hand aussieht, die aus dem Boden ragt. Es macht einen ziemlich unheimlichen Eindruck. Wenn wir die bisherige Richtung beibehalten, laufen wir genau darauf zu.«

Bastian berichtete, was er inzwischen durch Illuán wußte.

»In diesem Fall«, meinte Atréju, »wäre es vernünftiger, die Richtung zu ändern, meinst du nicht?«

»Nein«, sagte Bastian.

»Aber es gibt keinen Grund, der uns zwingt, mit Xayíde zusammenzutreffen. Es wäre besser, wir vermeiden die Begegnung.«

»Es gibt einen Grund«, sagte Bastian.

»Welchen?«

»Weil ich es möchte«, sagte Bastian.

Atréju schwieg und schaute ihn groß an. Da sich wieder von allen Seiten Phantasier herandrängten, um einen Blick von Bastian zu erhaschen, setzten sie das Gespräch nicht fort.

Aber nach dem Mittagsmahl kam Atréju zurück und schlug Bastian in scheinbar unbekümmertem Ton vor:

»Hättest du nicht Lust, mit mir zusammen auf Fuchur zu fliegen?«

Bastian verstand, daß Atréju etwas auf dem Herzen hatte. Sie schwangen sich auf den Rücken des Glücksdrachen, Atréju vorne, Bastian hinter ihm, und stiegen in die Luft empor. Es war das erste Mal, daß sie gemeinsam flogen.

Kaum waren sie außer Hörweite, als Atréju sagte:

»Es ist jetzt schwer, dich allein zu sprechen. Aber wir müssen unbedingt miteinander reden, Bastian.«

»Das hab' ich mir gedacht«, antwortete Bastian lächelnd. »Was gibt's denn?«

»Wohin wir da geraten sind«, begann Atréju zögernd, »und worauf wir uns da zubewegen - hängt das mit einem neuen Wunsch von dir zusammen?«

»Vermutlich«, erwiderte Bastian ein wenig kühl.

»Ja«, fuhr Atréju fort, »das haben wir uns schon gedacht, Fuchur und ich. Was für ein Wunsch mag das wohl sein?«

Bastian schwieg.

»Versteh mich nicht falsch«, fügte Atréju hinzu, »es handelt sich nicht darum, daß wir Angst vor irgend etwas oder irgendwem haben. Aber als deine Freunde machen wir uns Sorgen um dich.«

»Das ist unnötig«, gab Bastian noch kühler zurück.

Atréju schwieg längere Zeit. Schließlich wandte Fuchur den Kopf nach ihnen und sagte:

»Atréju hat einen sehr vernünftigen Vorschlag zu machen, den solltest du dir anhören, Bastian Balthasar Büx.«

»Habt ihr wieder einen guten Rat?« fragte Bastian mit spöttischem Lächeln.

»Nein, kein Rat, Bastian«, antwortete Atréju, »einen Vorschlag, der dir vielleicht im ersten Augenblick nicht gefallen wird. Aber du solltest erst darüber nachdenken, ehe du ihn ablehnst. Wir haben uns die ganze Zeit den Kopf zerbrochen, wie wir dir helfen können. Alles liegt an der Wirkung, die das Zeichen der Kindlichen Kaiserin auf dich hat. Ohne AURYNS Macht kannst du dich nicht weiterwünschen, aber mit AURYNS Macht verlierst du dich selbst und erinnerst dich immer weniger daran, wohin du überhaupt willst. Wenn wir nichts tun, kommt der Moment, wo du es gar nicht mehr weißt.«

»Darüber haben wir schon gesprochen«, sagte Bastian, »was weiter?«

»Als ich damals das Kleinod trug«, fuhr Atréju fort, »war alles anders. Mich hat es geführt, und es hat mir nichts genommen. Vielleicht weil ich kein Mensch bin und deshalb keine Erinnerung an die Menschenwelt zu verlieren habe. Ich will sagen, es hat mir nicht geschadet, ganz im Gegenteil. Und deshalb wollte ich dir vorschlagen, daß du mir AURYN gibst und dich meiner Führung einfach anvertraust. Ich werde deinen Weg für dich suchen. Was hältst du davon?«

»Abgelehnt!« sagte Bastian kalt.

Fuchur wandte wieder seinen Kopf zurück.

»Willst du nicht wenigstens einen Augenblick darüber nachdenken?«

»Nein«, antwortete Bastian, »wozu?«

Jetzt wurde Atréju zum ersten Mal zornig.

»Bastian, nimm Vernunft an! Du mußt einsehen, daß du so nicht weitermachen kannst! Merkst du denn nicht, daß du dich ganz verändert hast? Was hast du überhaupt noch mit dir selbst zu tun? Und was wird noch aus dir werden?«

»Danke schön«, sagte Bastian, »vielen Dank, daß ihr euch pausenlos um meine Angelegenheiten kümmert! Aber es wäre mir, ehrlich gesagt, sehr viel lieber, wenn ihr mich endlich damit verschonen würdet. Ich - falls ihr das vergessen habt - ich bin nämlich der, der Phantásien gerettet hat, ich bin der, dem Mondenkind ihre Macht anvertraut hat. Und irgendeinen Grund muß sie dafür wohl gehabt haben, sonst hätte sie AURYN ja dir lassen können, Atréju. Aber sie hat dir das Zeichen abgenommen und hat es mir gegeben! Ich hab' mich verändert, sagst du? Ja, mein lieber Atréju, da kannst du schon recht haben! Ich bin nicht mehr der harmlose und nichtsahnende Tropf, den ihr in mir seht! Soll ich dir sagen, warum du AURYN in Wahrheit von mir haben willst? Weil du ganz einfach eifersüchtig auf mich bist, nichts als eifersüchtig. Ihr kennt mich noch nicht, aber wenn ihr in dieser Art weitermacht - ich sage es euch noch einmal im Guten - dann werdet ihr mich kennenlernen!«

Atréju antwortete nicht. Fuchurs Flug hatte plötzlich alle Kraft verloren, er schleppte sich mühsam durch die Luft und sank tiefer und tiefer wie ein angeschossener Vogel.

»Bastian«, brachte Atréju schließlich mit Mühe heraus, »was du da eben gesagt hast, kannst du nicht ernstlich glauben. Wir wollen es vergessen. Es ist nie gesagt worden.«

»Na gut«, antwortete Bastian, »wie du willst. Ich habe nicht damit angefangen. Aber meinetwegen: Schwamm drüber.«

Eine Weile sagte keiner mehr ein Wort.

In der Ferne tauchte vor ihnen aus dem Orchideenwald Schloß Hórok auf. Es sah tatsächlich wie eine riesige Hand mit fünf gerade hochgestreckten Fingern aus.

»Aber eins möchte ich doch noch ein für allemal klarstellen«, sagte Bastian unvermittelt, »ich habe mich entschlossen, überhaupt nicht zurückzukehren. Ich werde in Phantásien für immer bleiben. Mir gefällt es sehr gut hier. Und auf meine Erinnerungen kann ich deshalb leicht verzichten. Und was Phantásiens Zukunft betrifft: Ich kann der Kindlichen Kaiserin tausend neue Namen geben. Wir brauchen die Menschenwelt nicht mehr!«

Fuchur machte plötzlich ein scharfe Wendung und flog zurück.

»He!« rief Bastian, »was tust du? Flieg weiter! Ich will Hórok aus der Nähe sehen!«

»Ich kann nicht mehr«, antwortete Fuchur mit geborstener Stimme, »ich kann wirklich nicht mehr.«

Als sie später bei der Karawane landeten, fanden sie die Weggenossen in großer Aufregung. Es stellte sich heraus, daß der Zug überfallen worden war, und zwar von einer Bande von etwa fünfzig großmächtigen Kerlen, die in schwarzen insektenartigen Panzern oder Rüstungen steckten. Viele der Wegbegleiter waren geflohen und kehrten nun erst einzeln oder in Gruppen zurück, andere hatten sich tapfer zur Wehr gesetzt, ohne aber auch nur das mindeste ausrichten zu können. Diese gepanzerten Riesen hatten jede Gegenwehr zunichte gemacht, als handle es sich für sie um ein Kinderspiel. Die drei Herren Hýkrion, Hýsbald und Hýdorn hatten sich heldenhaft geschlagen, ohne jedoch auch nur einen einzigen der Gegner zu überwinden. Schließlich waren sie, von der Übermacht bezwungen, entwaffnet, in Ketten gelegt und fortgeschleift worden. Einer der schwarz Gepanzerten hatte mit einer eigentümlich blechernen Stimme folgendes gerufen:

»Dies ist die Botschaft von Xayíde, der Herrin auf Schloß Hórok, an Bastian Balthasar Bux. Sie fordert, daß der Retter sich ihr bedingungslos unterwirft und ihr mit allem, was er ist, was er hat und was er kann, als treuer Sklave zu dienen schwört. Ist er dazu aber nicht bereit und sollte er auf irgendeine List sinnen, um den Willen Xayídes zu vereiteln, so werden seine drei Freunde Hýkrion, Hýsbald und Hýdorn eines langsamen, schmählichen und grausamen Todes unter der Folter sterben. Er möge sich also rasch besinnen, denn die Frist läuft morgen mit Aufgang der Sonne ab. Dies ist die Botschaft von Xayíde, Herrin auf Schloß Hórok, an Bastian Balthasar Bux. Sie ist überbracht.«

Bastian biß sich auf die Lippen. Atréju und Fuchur blickten starr vor sich hin, aber Bastian wußte genau, was sie beide dachten. Und gerade, daß sie sich nichts anmerken ließen, brachte ihn innerlich noch mehr auf. Aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, sie deshalb zur Rede zu stellen. Später würde sich noch die passende Gelegenheit finden.

»Ich werde mich dieser Erpressung Xayídes auf keinen Fall beugen, das ist wohl klar«, sagte er laut zu den Umstehenden, »wir müssen sofort einen Plan entwerfen, wie wir die drei Gefangenen rasch befreien können.«

»Das wird nicht leicht sein«, meinte Illuan, der blaue Dschinn mit dem Adlerschnabel, »mit diesen schwarzen Burschen können wir alle nicht fertigwerden, das hat sich ja gezeigt. Und selbst wenn du, Herr, und Atréju und sein Glücksdrache an unserer Spitze kämpfen, wird es zu lange dauern, bis wir Schloß Hórok eingenommen haben. Das Leben der drei Herren liegt in Xayídes Hand, und sobald sie merkt, daß wir angreifen, wird sie sie töten. Das scheint mir sicher.«

»Dann darf sie es eben nicht merken«, erklärte Bastian, »wir müssen sie überraschen.«

»Wie können wir das?« fragte der Vier Viertel Troll, der jetzt sein zorniges Gesicht nach vorn gedreht hatte, was ziemlich erschreckend aussah, »Xayíde ist sehr schlau und wird auf jede Möglichkeit vorbereitet sein.«

»Das fürchte ich auch«, sagte der Gnomenfürst, »wir sind zu viele, als daß sie es nicht beobachten würde, wenn wir uns auf Schloß Hórok zubewegen. Ein solcher Heerzug läßt sich nicht verbergen, nicht einmal in der Nacht. Sie hat bestimmt Späher aufgestellt.«

»Dann«, überlegte Bastian, »könnten wir gerade das dazu benützen, sie zu täuschen.«

»Wie meinst du das, Herr?«

»Ihr müßt mit der ganzen Karawane in anderer Richtung weiterziehen, so daß es aussieht, als wärt ihr auf der Flucht, als hätten wir es aufgegeben, die drei Gefangenen zu befreien.«

»Und was wird aus den Gefangenen?«

»Ich werde das mit Atréju und Fuchur zusammen übernehmen.«

»Nur ihr drei?«

»Ja«, sagte Bastian, »natürlich nur, wenn Atréju und Fuchur zu mir stehen. Sonst mache ich es eben ganz allein.«

Bewundernde Blicke trafen ihn. Flüsternd teilten die Näherstehenden es den anderen mit, die es nicht hatten hören können.

»Das, Herr«, rief schließlich der blaue Dschinn, »wird in die Geschichte Phantásiens eingehen, gleich ob du siegen oder unterliegen wirst.«

»Kommt ihr mit?« wandte Bastian sich an Atréju und Fuchur, »oder habt ihr wieder einen eurer Vorschläge?«

»Nein«, sagte Atréju leise, »wir kommen mit dir.«

»Dann«, befahl Bastian, »soll der Zug sich jetzt in Bewegung setzen, solang es noch hell ist. Ihr müßt den Anschein erwecken, daß ihr auf der Flucht seid, also eilt euch! Wir werden hier die Dunkelheit abwarten. Morgen früh stoßen wir wieder zu euch - mit den drei Herren oder überhaupt nicht. Geht nun!«

Die Reisegenossen verneigten sich stumm vor Bastian, dann machten sie sich auf den Weg. Bastian, Atréju und Fuchur versteckten sich im Orchideengebüsch und warteten reglos und schweigend auf die Nacht.

Als die Dämmerung hereinbrach, hörten sie plötzlich ein leises Klirren und sahen fünf der riesenhaften schwarzen Kerle den verlassenen Lagerplatz betreten. Sie bewegten sich auf eine eigentümlich mechanische Art, alle ganz gleich. Alles an ihnen schien aus schwarzem Metall, sogar die Gesichter waren wie Masken aus Eisen. Sie blieben gleichzeitig stehen, drehten sich in die Richtung, in der die Karawane verschwunden war, und folgten, ohne ein Wort miteinander gesprochen zu haben, im Gleichschritt der Spur. Dann war es wieder still.

»Der Plan scheint zu funktionieren«, flüsterte Bastian.

»Es waren nur fünf«, erwiderte Atréju. »Wo sind die anderen?«

»Sicher werden die fünf sie auf irgendeine Weise rufen«, meinte Bastian.

Als es schließlich ganz dunkel geworden war, krochen sie vorsichtig aus ihrem Versteck, und Fuchur erhob sich mit seinen beiden Reitern lautlos in die Lüfte. Er flog möglichst niedrig über die Wipfel des Orchideenwaldes hin, um nicht entdeckt zu werden. Zunächst stand die Richtung ja fest, es war dieselbe, die er an diesem Nachmittag eingeschlagen hatte. Als sie etwa eine Viertelstunde rasch dahingeglitten waren, erhob sich die Frage, ob und wie sie nun das Schloß Hórok finden würden. Die Finsternis war undurchdringlich. Doch wenige Minuten später sahen sie das Schloß vor sich auftauchen. Seine tausend Fenster waren strahlend hell erleuchtet. Xayíde schien Wert darauf zu legen, daß man es sah. Das war allerdings leicht erklärlich, denn sie wartete ja auf Bastians Besuch, wenn auch in anderem Sinne.

Vorsichtshalber ließ Fuchur sich zwischen den Orchideen zu Boden gleiten, denn sein perlmutterweißes Schuppenkleid funkelte und warf das Licht zurück. Und vorerst durften sie noch nicht gesehen werden.

Im Schutz der Pflanzen näherten sie sich dem Schloß. Vor dem großen Eingangstor hielten zehn der Panzerriesen Wache. Und an jedem der hell erleuchteten Fenster stand einer von ihnen, schwarz und reglos wie ein drohender Schatten.

Schloß Hórok stand auf einer kleinen Anhöhe, die frei von Orchideendickicht war. Die Form des Gebäudes war tatsächlich die einer Riesenhand, die aus der Erde ragte. Jeder der Finger war ein Turm und der Daumen ein Erker, auf dem abermals ein Turm saß. Das Ganze war viele Stockwerke hoch, jedes Fingerglied bildete eines, und die Fenster hatten die Form von leuchtenden Augen, die nach allen Seiten ins Land spähten. Es hieß zurecht die Sehende Hand.

»Wir müssen herausfinden«, wisperte Bastian Atréju ins Ohr, »wo die Gefangenen stecken.«

Atréju nickte und bedeutete Bastian, still zu sein und bei Fuchur zu bleiben. Dann kroch er, ohne das geringste Geräusch zu machen, auf dem Bauch fort. Es dauerte lange, ehe er zurückkam.

»Ich bin um das ganze Schloß herum gepirscht«, raunte er, »es gibt nur diesen einen Eingang. Aber der ist zu gut bewacht. Nur ganz oben auf der Spitze des Mittelfingers habe ich eine Dachluke entdecken können, an der keiner von den Panzerriesen zu stehen scheint. Aber wenn wir mit Fuchur hinauffliegen, werden sie uns unbedingt sehen. Die Gefangenen sind wahrscheinlich im Keller, jedenfalls habe ich einmal wie aus großer Tiefe einen langen Schmerzensschrei gehört.«

Bastian dachte angestrengt nach. Dann flüsterte er:

»Ich werde versuchen, diese Dachluke zu erreichen. Du und Fuchur, ihr müßt inzwischen die Wächter ablenken. Tut irgend etwas, das sie glauben macht, wir würden das Eingangstor angreifen. Ihr müßt sie alle hierher locken. Aber nur locken, verstehst du? Laß dich auf keinen Kampf ein! Inzwischen werde ich versuchen, von hinten an der Hand hinaufzuklettern. Halte die Kerle auf, solang es geht. Aber geh kein Risiko ein! Laß mir ein paar Minuten Zeit, ehe du anfängst.«

Atréju nickte und drückte ihm die Hand. Dann legte Bastian den Silbermantel ab, und schlüpfte durch die Dunkelheit davon. Er schlich in einem großen Halbkreis um das Gebäude herum. Kaum hatte er die Rückseite erreicht, da hörte er auch schon Atréju laut rufen:

»Heda! Kennt ihr Bastian Balthasar Bux, den Retter Phantásiens? Er ist gekommen, aber nicht um die Gnade Xayídes zu erbitten, sondern um ihr noch eine Chance zu geben, die Gefangenen gutwillig freizulassen. Unter dieser Bedingung soll sie ihr schmähliches Leben behalten!«

Bastian konnte gerade noch aus dem Dickicht um eine Ecke des Schlosses spähen. Atréju hatte sich den Silbermantel übergezogen und seine blauschwarzen Haare wie zu einem Turban aufgedreht. Für jemanden, der sie beide nicht gut kannte, mochte tatsächlich eine gewisse Ähnlichkeit zwischen ihnen bestehen.

Die schwarzen Panzerriesen schienen einen Augenblick lang unschlüssig. Aber nur einen Augenblick lang. Dann stürzten sie auf Atréju zu, man hörte ihre Schritte metallen stampfen. Auch die Schatten an den Fenstern kamen nun in Bewegung, sie verließen ihre Posten, um zu sehen, was es gab. Andere drängten in großer Menge aus der Eingangspforte. Als die ersten Atréju fast erreicht hatten, entwischte er ihnen wie ein Wiesel, und im nächsten Augenblick tauchte er, auf Fuchur sitzend, über ihren Köpfen auf. Die Panzerriesen fuchtelten mit ihren Schwertern in der Luft herum und sprangen hoch, doch konnten sie ihn nicht erreichen.

Bastian huschte blitzgeschwind zum Schloß und begann an der Fassade hinaufzuklettern. Stellenweise halfen ihm die Fenstersimse und Mauervorsprünge, aber häufiger noch konnte er sich nur mit den Fingerspitzen festhalten. Er kletterte höher und immer höher, einmal bröckelte ein Stückchen Mauer ab, auf dem sein Fuß Halt gefunden hatte, und sekundenlang hing er nur noch an einer Hand, doch er zog sich hinauf, konnte einen Griff für die andere Hand finden und klomm weiter. Als er schließlich die Türme erreichte, kam er schneller voran, denn der Abstand zwischen ihnen war so gering, daß er sich zwischen sie stemmen und so in die Höhe schieben konnte.

Schließlich hatte er die Dachluke erreicht und schlüpfte hinein. Tatsächlich war in diesem Turmzimmer keiner der Wächter, wer weiß warum? Er öffnete die Tür und sah eine eng gewundene Wendeltreppe vor sich. Geräuschlos machte er sich an den Abstieg. Als er ein Stockwerk tiefer kam, sah er zwei schwarze Wächter an einem Fenster stehen und schweigend beobachten, was dort unten geschah. Es gelang ihm, hinter ihnen vorbeizuhuschen, ohne daß sie etwas merkten.

Über andere Treppen, durch Gänge und Korridore, schlich er weiter. Eines war sicher, diese Panzerriesen mochten im Kampf unüberwindlich sein, als Wächter taugten sie nicht viel.

Endlich erreichte er das Kellergeschoß. Er spürte es sofort an dem dumpfen modrigen Geruch und der Kälte, die ihm entgegenschlug. Glücklicherweise waren hier die Wächter offenbar alle nach oben gelaufen, um den vermeintlichen Bastian Balthasar Bux zu fangen. Jedenfalls war keiner von ihnen zu sehen. Fackeln steckten in den Wänden und erleuchteten ihm den Weg. Tiefer und tiefer ging es hinunter. Es schien Bastian, als ob es ebenso viele Stockwerke unter der Erde gäbe wie über ihr. Schließlich hatte er das tiefste erreicht, und nun sah er auch schon den Kerker, in dem Hýkrion, Hýsbald und Hýdorn schmachteten. Und der Anblick war jammervoll.

Sie hingen, an ihren Handgelenken aufgehängt, an langen, eisernen Ketten in der Luft über einer Grube, die ein schwarzes, bodenloses Loch zu sein schien. Die Ketten liefen über Rollen an der Kerkerdecke zu einer Winde, doch diese war durch ein großes stählernes Vorhängeschloß abgesperrt und ließ sich nicht bewegen. Bastian stand ratlos.

Die drei Gefangenen hatten die Augen geschlossen, als wären sie ohnmächtig, aber nun öffnete Hýdorn, der Zähe, sein linkes, dann murmelte er mit trockenen Lippen:

»He, Freunde, seht mal, wer da gekommen ist!«

Die anderen beiden schlugen nun ebenfalls mühsam die Lider auf, und als sie Bastian sahen, huschte ein Lächeln um ihre Lippen.

»Wir wußten, daß Ihr uns nicht im Stich laßt, Herr«, krächzte Hýkrion.

»Wie kann ich Euch da runterholen?« fragte Bastian, »die Winde ist abgeschlossen.«

»Nehmt doch Euer Schwert«, brachte Hýsbald heraus, »und haut einfach die Ketten durch.«

»Damit wir in den Abgrund stürzen?« fragte Hýkrion, »das ist kein besonders guter Plan.«

»Ich kann es auch nicht ziehen«, sagte Bastian, »Sikánda muß mir von selbst in die Hand springen.«

»Hm«, knurrte Hýdorn, »das ist das dumme an Zauberschwertern. Wenn man sie braucht, sind sie eigensinnig.«

»He!« raunte Hýsbald plötzlich, »es gab doch einen Schlüssel für die Winde. Wo haben sie ihn bloß hingesteckt?«

»Da war irgendwo eine lose Steinplatte«, meinte Hýkrion. »Ich konnte es nicht so gut sehen, als sie mich hier hochgezogen haben.«

Bastian strengte seine Augen an. Das Licht war düster und flackernd, aber nach einigem Hin- und Hergehen entdeckte er eine Steinplatte auf dem Boden, die etwas vorstand. Er hob sie vorsichtig hoch, und da lag tatsächlich der Schlüssel.

Nun konnte er das große Schloß an der Winde öffnen und abnehmen. Langsam begann er sie zu drehen, sie knarrte und ächzte so laut, daß es bestimmt noch in den darüberliegenden Kellerstockwerken zu hören sein mußte. Wenn die Panzerriesen nicht ganz und gar taub waren, dann mußten sie jetzt alarmiert sein. Aber nun half es auch nichts mehr, innezuhalten. Bastian drehte weiter, bis die drei Herren auf der Höhe des Randes über dem Loch schwebten. Sie begannen hin und her zu schwingen und erreichten schließlich mit den Füßen festen Boden. Als das geschehen war, ließ Bastian sie ganz herab. Sie sanken erschöpft nieder und blieben liegen, wo sie waren. Und die dicken Ketten hingen noch immer an ihren Handgelenken.

Bastian blieb nicht mehr viel Zeit zum Überlegen, denn nun hörte man metallisch stampfende Schritte die steinernen Kellerstufen herunterkommen, erst einzelne, dann mehr und immer mehr. Die Wächter kamen. Ihre Rüstungen glänzten wie die Panzer riesiger Insekten im Fackellicht. Sie rissen ihre Schwerter heraus, alle mit der gleichen Bewegung, und gingen auf Bastian los, der hinter dem schmalen Eingang zum Kerker stehengeblieben war.

Und nun endlich sprang Sikánda aus seiner rostigen Scheide und legte sich ihm in die Hand. Wie ein Blitz fuhr das lichte Schwertblatt auf den ersten der Panzerriesen los, und ehe Bastian selbst noch recht begriffen hatte, was geschah, hatte es ihn in Stücke gehauen. Und nun zeigte sich, was es mit diesen Burschen auf sich hatte: Sie waren hohl, sie bestanden nur aus Panzern, die sich von selbst bewegten, in ihrem Inneren war nichts, nur Leere.

Bastians Position war gut, denn durch die enge Pforte des Kerkers konnte sich ihm immer nur einer nach dem anderen nähern, und einen nach dem anderen hackte Sikánda in Fetzen. Bald lagen sie zu Haufen auf dem Boden wie schwarze Eierschalen irgendeines gigantischen Vogels. Nachdem etwa zwanzig von ihnen zerstückelt worden waren, schienen die übrigen einen anderen Plan zu fassen. Sie zogen sich zurück, offensichtlich, um Bastian an einer für sie günstigeren Stelle zu erwarten.

Bastian benützte diese Gelegenheit, um rasch die Ketten um die Handgelenke der drei Herren mit Sikándas Schneide durchzutrennen. Hýkrion und Hýdorn erhoben sich schwerfällig und versuchten ihre eigenen Schwerter, die man ihnen seltsamerweise nicht abgenommen hatte, zu ziehen, um Bastian beizustehen, aber ihre Hände waren durch das lange Hängen gefühllos geworden und gehorchten ihnen nicht. Hýsbald, der zarteste der drei, war noch nicht einmal in der Lage, aus eigenen Kräften aufzustehen. Die beiden Gefährten mußten ihn stützen.

»Macht euch keine Sorgen«, sagte Bastian, »Sikánda braucht keine Unterstützung. Haltet euch hinter mir und macht mir keine zusätzlichen Schwierigkeiten, indem ihr mir beizustehen versucht.«

Sie verließen den Kerker, stiegen langsam die Treppe hinauf, gelangten in einen großen, saalartigen Raum - und hier erloschen plötzlich alle Fackeln. Aber Sikánda leuchtete hell.

Wieder hörten sie den metallisch stampfenden Schritt vieler Panzerriesen näherkommen.

»Rasch!« sagte Bastian, »zurück auf die Treppe. Ich verteidige mich hier!«

Er konnte nicht sehen, ob die drei seinem Befehl folgten, und es blieb ihm auch keine Zeit, sich davon zu überzeugen, denn schon begann das Schwert Sikánda in seiner Hand zu tanzen. Und das scharfe, weiße Licht, das von ihm ausging, erleuchtete die Halle taghell. Obgleich die Angreifer ihn von dem Eingang zur Treppe abdrängten, so daß sie von allen Seiten auf ihn eindringen konnten, wurde Bastian von keinem einzigen ihrer gewaltigen Hiebe gestreift. Sikánda wirbelte so schnell um ihn her, daß es aussah wie Hunderte von Schwertern, die man nicht mehr voneinander unterscheiden kann. Und schließlich stand er in einem Trümmerfeld aus zerschlagenen schwarzen Panzern. Nichts mehr rührte sich.

»Kommt!« rief Bastian den Gefährten zu.

Die drei Herren kamen aus dem Eingang zur Treppe und machten große Augen.

»So was«, sagte Hýkrion, und sein Schnurrbart bebte, »hab' ich noch nicht gesehen, meiner Treu!«

»Ich werde noch meinen Enkeln davon erzählen«, stammelte Hýsbald.

»Und die werden es uns leider nicht glauben«, fügte Hýdorn bedauernd hinzu.

Bastian stand unschlüssig mit dem Schwert in der Hand da, aber plötzlich fuhr es in seine Scheide zurück.

»Die Gefahr scheint vorüber«, sagte er.

»Jedenfalls die, die man mit dem Schwert überwinden kann«, meinte Hýdorn. »Was machen wir jetzt?«

»Jetzt«, antwortete Bastian, »möchte ich Xayíde persönlich kennenlernen. Ich habe ein Wörtchen mit ihr zu reden.«

Zur viert stiegen sie nun die Treppen der Kellerstockwerke hinauf, bis sie jenes erreichten, das zu ebener Erde lag. Hier, in einer Art Eingangshalle, erwartete sie Atréju mit Fuchur.

»Gut gemacht, ihr beiden!« sagte Bastian und klopfe Atréju auf die Schulter.

»Was war mit den Panzerriesen?« wollte Atréju wissen.

»Hohle Nüsse!« antwortete Bastian leichthin. »Wo ist Xayíde?«

»Oben in ihrem Zaubersaal«, gab Atréju zurück.

»Kommt mit!« sagte Bastian. Er nahm den Silbermantel wieder um, den Atréju ihm hinhielt. Dann stiegen sie alle zusammen die breite Steintreppe in die oberen Stockwerke hinauf. Selbst Fuchur ging mit.

Als Bastian, gefolgt von seinen Leuten, in den großen Zaubersaal trat, erhob sich Xayíde von einem Thron, der aus roten Korallen bestand. Sie war viel größer als Bastian und sehr schön. Sie trug ein langes Gewand aus violetter Seide, ihre Haare waren rot wie Feuer und zu einer höchst wunderlichen Frisur aus Flechten und Zöpfen aufgetürmt. Ihr Gesicht war marmorblaß, ebenso ihre langen schmalen Hände. Ihr Blick war merkwürdig und verwirrend, und Bastian brauchte eine Weile, ehe er herausfand, woher das kam: Sie hatte zwei verschiedene Augen, eines war grün und eines rot. Sie schien sich vor Bastian zu fürchten, denn sie zitterte. Bastian trotzte ihrem Blick, und sie schlug ihre langen Wimpern nieder.

Der Raum war angefüllt mit allerlei seltsamen Gegenständen, deren Zweck nicht zu erraten war, große Globen mit Bildern darauf, Sternenuhren und Pendel, die von der Decke hingen. Dazwischen standen kostbare Räucherbecken, denen schwere Wolken in verschiedenen Farben entquollen, die wie Nebel auf dem Boden dahinkrochen.

Bastian hatte bis jetzt noch kein Wort gesagt. Und das schien Xayíde aus der Fassung zu bringen, denn plötzlich lief sie auf ihn zu und warf sich vor ihm auf den Boden. Dann nahm sie einen seiner Füße und setzte ihn sich selbst ins Genick.

»Mein Herr und mein Meister«, sagte sie mit einer Stimme, die tief und samten und auf unbestimmbare Art verschleiert klang, »dir kann niemand in Phantásien widerstehen. Du bist mächtiger als alle Mächtigen und gefährlicher als alle Dämonen. Wenn es dich danach gelüstet, dich an mir zu rächen, weil ich töricht genug war, deine Größe nicht zu kennen, dann magst du mich mit deinem Fuß zertreten. Ich habe deinen Zorn verdient. Wenn du aber jene Großmütigkeit, für die du berühmt bist, auch mir Unwürdiger gegenüber beweisen willst, so dulde es, daß ich mich dir als gehorsame Sklavin unterwerfe und dir mit allem, was ich bin, was ich habe und was ich kann, zu dienen schwöre. Lehre mich, zu tun, was du für wünschenswert hältst, und ich will deine demütige Schülerin sein und jedem Wink deiner Augen Folge leisten. Ich bereue, was ich dir tun wollte, und erflehe deine Gnade.«

»Steh auf, Xayíde!« sagte Bastian. Er war zornig auf sie gewesen, aber die Rede der Magierin hatte ihm gefallen. Wenn sie wirklich nur aus Unkenntnis über ihn gehandelt hatte, und wenn sie es tatsächlich so bitter bereute, dann wäre es unter seiner Würde gewesen, sie jetzt noch zu bestrafen. Und da sie ja sogar willens war, von ihm zu lernen, was er für wünschenswert hielt, gab es eigentlich überhaupt keinen Grund, ihre Bitte zurückzuweisen.

Xayíde hatte sich erhoben und stand gesenkten Hauptes vor ihm. »Willst du mir bedingungslos gehorchen«, fragte er, »auch wenn es dir noch so schwer fällt, was ich dir befehle - ohne Widerrede und ohne zu murren?«

»Ich will es, Herr und Meister«, antwortete Xayíde, »und du sollst sehen, daß wir alles bewirken können, wenn wir meine Künste mit deiner Macht vereinigen.«

»Gut«, erwiderte Bastian, »dann nehme ich dich in meinen Dienst. Du wirst dieses Schloß verlassen und mit mir zum Elfenbeinturm ziehen, wo ich mit Mondenkind zusammenzutreffen gedenke.«

Xayídes Augen glommen für den Bruchteil einer Sekunde rot und grün auf, doch sogleich senkte sie wieder ihre langen Wimpern darüber und sagte:

»Ich gehorche, Herr und Meister.«

Alle gingen hinunter und traten vor das Schloß hinaus.

»Wir müssen zuerst unsere anderen Weggenossen wiederfinden«, entschied Bastian, »wer weiß, wo sie jetzt sind.«

»Nicht sehr weit von hier«, sagte Xayíde, »ich habe sie ein wenig in die Irre geführt.«

»Zum letzten Mal«, erwiderte Bastian.

»Zum letzten Mal, Herr«, wiederholte sie, »aber wie wollen wir hinkommen? Soll ich zu Fuß gehen? Nachts und durch diesen Wald?«

»Fuchur wird uns tragen«, befahl Bastian, »er ist stark genug, mit uns allen zu fliegen.«

Fuchur hob das Haupt und sah Bastian an. Seine rubinroten Augenbälle funkelten.

»Stark genug bin ich, Bastian Balthasar Bux«, dröhnte seine Bronzestimme, »aber ich will dieses Weib nicht tragen.«

»Du wirst es dennoch tun«, sagte Bastian, »weil ich es dir befehle!«

Der Glücksdrache schaute Atréju an, und der nickte ihm unmerklich zu. Bastian hatte es dennoch gesehen.

Alle setzten sich auf Fuchurs Rücken, der sogleich in die Lüfte emporstieg.

»Wohin?« fragte er.

»Einfach geradeaus!« sagte Xayíde.

»Wohin?« fragte Fuchur noch einmal, als habe er es nicht gehört.

»Geradeaus!« rief ihm Bastian zu, »du hast es gut verstanden!«

»Tu's nur!« sagte Atréju leise, und Fuchur tat es.

Eine halbe Stunde später - der Morgen graute bereits - sahen sie unter sich viele Lagerfeuer, und der Glücksdrache landete. In der Zwischenzeit waren neue Phantasier dazugestoßen, und viele von ihnen hatten Zelte mitgebracht. Das Lager glich einer regelrechten Stadt aus Zelten, die sich da am Rande des Orchideenwaldes auf einer weiten, blumenbedeckten Wiese ausbreitete.

»Wie viele sind es denn jetzt schon?« wollte Bastian wissen, und Illuán, der blaue Dschinn, der inzwischen den Zug angeführt hatte, und nun zur Begrüßung erschienen war, erklärte ihm, genau habe man die Teilnehmer noch nicht zählen können, aber es seien gewiß schon an die tausend. Und übrigens gäbe es da noch etwas anderes, ziemlich Sonderbares: Kurz nachdem man das Lager aufgeschlagen habe, also noch vor Mitternacht, seien fünf von diesen Panzerriesen erschienen. Sie hätten sich jedoch friedlich verhalten und seien abseits geblieben. Niemand habe natürlich gewagt, sich ihnen zu nähern. Und sie hätten eine große Sänfte aus roten Korallen mit sich getragen, die jedoch leer sei.

»Es sind meine Träger«, sagte Xayíde in bittendem Ton zu Bastian, »ich habe sie gestern abend vorausgeschickt. Es ist die angenehmste Art, zu reisen. Wenn du es mir erlaubst, Herr.«

»Das gefällt mir nicht«, fiel ihr jetzt Atréju ins Wort.

»Warum nicht?« fragte Bastian, »was hast du dagegen?«

»Sie kann reisen, wie sie will«, antwortete Atréju scharf, »aber daß sie die Sänfte bereits gestern abend losschickte, bedeutet, daß sie von vornherein wußte, daß sie hier herkommen würde. Das alles war ihr Plan, Bastian. Dein Sieg ist in Wahrheit eine Niederlage. Sie hat dich absichtlich siegen lassen, um dich auf ihre Art für sich zu gewinnen.«

»Hör auf!« schrie Bastian zornrot, »ich habe dich nicht um deine Meinung gefragt! Deine ewigen Belehrungen machen mich noch krank! Jetzt willst du mir auch noch meinen Sieg abstreiten und meine Großmut lächerlich machen!«

Atréju wollte etwas erwidern, aber Bastian schrie ihn an:

»Halt den Mund und laß mich in Ruhe! Wenn es euch beiden nicht paßt, was ich tue und wie ich bin, dann geht doch eurer Wege! Ich halte euch nicht! Geht, wohin ihr wollt! Ich bin euch leid!«

Bastian verschränkte die Arme über der Brust und drehte Atréju den Rücken zu. Die Menge, die umherstand, hielt den Atem an. Atréju stand eine Weile hoch aufgerichtet und schweigend da. Bis zu diesem Augenblick hatte Bastian ihn noch nie vor anderen zurechtgewiesen. Die Kehle war ihm so eng, daß er nur mit Mühe Luft holen konnte. Er wartete eine Weile, doch da Bastian sich ihm nicht wieder zuwandte, drehte er sich langsam um und ging fort. Fuchur folgte ihm.

Xayíde lächelte. Es war kein gutes Lächeln.

In Bastian aber war in diesem Augenblick die Erinnerung erloschen, daß er in seiner Welt ein Kind gewesen war.

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