10. Der Flug zum Elfenbeinturm

Jener Augenblick, in dem Atréju durch das düstere Stadttor von Spukstadt getreten war und seine Wanderung durch die krummen Gassen begonnen hatte, die dann so verhängnisvoll in jenem schmutzigen Hinterhof enden sollte, hatte dem weißen Glücksdrachen Fuchur eine höchst erstaunliche Entdeckung beschert.

Immer noch auf der unermüdlichen Suche nach seinem kleinen Herren und Freund war er sehr hoch in die Wolken und Nebelfetzen des Himmels hinaufgestiegen und hielt Umschau. Nach allen Seiten hin dehnte sich das Meer, das sich nur langsam beruhigte nach dem gewaltigen Sturm, der es aufgewühlt hatte bis zum Grund. Und plötzlich sah Fuchur in weiter Ferne etwas, das er sich nicht erklären konnte. Es war wie ein goldener Lichtstrahl, der in gleichmäßigen Abständen aufblinkte und wieder erlosch, aufblinkte und wieder erlosch. Und dieser Lichtstrahl schien genau auf ihn, Fuchur, gerichtet zu sein. So schnell er konnte näherte er sich der Stelle, und als er schließlich über ihr schwebte, mußte er feststellen, daß dieses Blinkzeichen aus den Tiefen des Wassers, vielleicht gar vom Meeresgrund ausging.

Glücksdrachen - das wurde ja schon früher gesagt - sind Geschöpfe aus Luft und Feuer. Das nasse Element ist ihnen nicht nur fremd, sondern auch durchaus gefährlich. Sie können im Wasser regelrecht erlöschen wie eine Flamme - falls sie nicht vorher schon ersticken, denn sie atmen ununterbrochen Luft mit ihrem ganzen Körper durch ihre hunderttausend perlmutterfarbenen Schuppen. Sie ernähren sich auch gleichzeitig von Luft und Wärme, und andere Nahrung ist ihnen nicht vonnöten, aber ohne Luft und Wärme können sie nur sehr kurze Zeit leben.

Fuchur wußte nicht, was er tun sollte. Er wußte ja nicht einmal, was dieses seltsame Blinken dort unten in den Meerestiefen war und ob es überhaupt etwas mit Atréju zu tun hatte.

Doch er überlegte nicht lang. Er schoß hoch in die Luft hinauf, dann drehte er sich mit dem Kopf nach unten, legte die Pranken dicht an den Leib, den er steif und gerade hielt wie eine Stange und ließ sich in die Tiefe stürzen. Mit einem gewaltigen Platsch, der das Wasser zu einer riesigen Fontäne aufspritzen ließ, tauchte er ins Meer. Zunächst verlor er rast das Bewußtsein von dem Aufprall, aber dann zwang er sich, seine rubinroten Augen zu öffnen. Jetzt sah er das Blinken ganz nahe vor sich, nur ein paar seiner eigenen Körperlängen in der Tiefe. Das Wasser spülte um seinen Leib und begann Luftperlen zu bilden wie in einem Tiegel, ehe es zu kochen beginnt. Gleichzeitig fühlte er, wie er abkühlte und immer schwächer wurde. Mit den letzten Kräften, die ihm verblieben, zwang er sich, noch tiefer zu tauchen - und nun sah er die Lichtquelle zum Greifen nahe. Es war AURYN, der Glanz! Das Amulett war glücklicherweise mit der Kette an einem Korallenast hängen geblieben, der aus der Wand einer Felsenschlucht herausragte - sonst wäre das Kleinod in eine bodenlose Tiefe hinabgesunken.

Fuchur griff danach, machte es los und legte sich die Kette um den Hals, um es nicht zu verlieren - denn er fühlte, daß er gleich bewußtlos werden würde.

Als er wieder zu sich kam, konnte er sich zunächst kaum zurechtfinden, denn zu seiner höchsten Verwunderung flog er jetzt wieder über dem Meer durch die Lüfte dahin. Er flog mit großer Geschwindigkeit in eine ganz bestimmte Richtung, viel schneller, als seine erschöpften Kräfte es zuließen. Er versuchte, etwas langsamer zu fliegen, mußte aber feststellen, daß sein Körper ihm nicht mehr gehorchte. Ein anderer, sehr viel mächtigerer Wille hatte von seinem Leib Besitz ergriffen und lenkte ihn nun. Und dieser Wille ging von AURYN aus, das er an der Kette um den Hals trug.

Der Tag neigte sich schon, und es wurde Abend, als Fuchur endlich in der Ferne einen Meeresstrand erblickte. Vom Land dahinter war nicht viel zu sehen, es schien im Nebel zu liegen. Als er noch näher kam, entdeckte er, daß der größte Teil des Landes schon von jenem Nichts verschlungen war, das den Augen so wehtat, weil es einem das Gefühl gab, blind zu sein.

Hier wäre Fuchur, hätte er aus eigenem Willen entscheiden können, wahrscheinlich umgekehrt. Aber die geheimnisvolle Kraft des Kleinods zwang ihn, geradeaus weiterzufliegen. Und bald wußte er auch warum, denn er entdeckte mitten in diesem endlosen Nichts plötzlich eine kleine Insel, die sich noch hielt, eine Insel aus spitzgiebeligen Häusern und schiefen Türmen. Fuchur ahnte, wen er dort finden würde, und nun war es nicht mehr nur der mächtige Wille, der aus dem Amulett auf ihn wirkte, sondern auch sein eigener, der ihn auf dieses Ziel zufliegen ließ.

In dem lichtlosen Hinterhof, in welchem Atréju neben dem toten Werwolf lag, war es schon fast dunkel. Das graue Dämmerlicht, das in den engen Häuserschacht hinuntertropfte, reichte kaum noch aus, um den hellen Leib des Jungen von dem schwarzen Fell des Ungeheuers zu unterscheiden. Und je finsterer es wurde, desto mehr sahen sie beide wie eins aus.

Atréju hatte längst schon alle Versuche aufgegeben, sich aus dem stählernen Schraubstock des Wolfsgebisses zu befreien. Er war in einem halb bewußtlosen Zustand, in dem er wieder den Purpurbüffel im Gräsernen Meer vor sich sah, den er nicht erlegt hatte. Manchmal rief er nach den anderen Kindern, seinen Jagdgefährten, die nun wohl alle schon richtige Jäger waren. Aber niemand antwortete ihm. Nur der reglose riesige Büffel stand da und sah ihn an. Atréju rief nach Artax, seinem Pferdchen. Aber es kam nicht, und auch sein helles Wiehern war nirgends zu hören. Er rief nach der Kindlichen Kaiserin, aber vergebens. Er konnte ihr nichts mehr erklären. Er war kein Jäger geworden, er war kein Bote mehr, er war niemand.

Atréju hatte sich ergeben.

Aber dann fühlte er noch etwas anderes: Das Nichts! Es mußte nun schon sehr nahe sein. Atréju fühlte wieder diesen schrecklichen Sog, der wie ein Schwindelgefühl war. Er richtete sich auf und zerrte stöhnend an seinem Bein. Aber die Zähne ließen ihn nicht los.

Und in diesem Fall war es sein Glück. Denn hätten Gmorks Zähne ihn nicht festgehalten, wäre Fuchur trotz allem zu spät gekommen.

So aber hörte Atréju plötzlich des Glücksdrachen bronzene Stimme über sich am Himmel:

»Atréju! Bist du hier? Atréju!«

»Fuchur!« rief Atréju. Und dann legte er beide Hände als Trichter vor den Mund und schrie nach oben:

»Hier bin ich. Fuchur! Fuchur! Hilf mir! Ich bin hier!«

Und er schrie es immer wieder.

Dann sah er Fuchurs weißen züngelnden Leib wie einen lebenden Blitz durch das kleine verlöschende Stückchen Himmel fahren, zuerst sehr fern, sehr hoch droben, dann ein zweites Mal schon viel näher. Atréju schrie und schrie, und der Glücksdrache antwortete mit seiner Glockenstimme. Und schließlich hatte der da oben den dort unten erspäht, klein wie ein armseliges Käferchen in einem dunklen Loch.

Fuchur setzte zur Landung an, aber der Hinterhof war eng, es war schon fast Nacht, und der Drache riß beim Herunterfahren einen der spitzigen Hausgiebel ein. Mit Donnergetöse krachte das Balkenwerk des Dachstuhls zusammen. Fuchur fühlte einen schneidenden Schmerz, er hatte sich an dem scharfen Dachfirst eine schwere Wunde in den Leib gerissen. Es wurde keine seiner üblichen eleganten Landungen, er fiel in den Hof hinunter und schlug hart neben Atréju und dem toten Gmork auf dem nassen, schmutzigen Boden auf.

Er schüttelte sich, nieste wie ein Hund, der aus dem Wasser kommt, und sagte:»Endlich! Hier steckst du also! Da bin ich wohl gerade noch rechtzeitig gekommen.«

Atréju sagte nichts. Er hatte seine Arme um Fuchurs Hals geschlungen und vergrub sein Gesicht in dessen silberweißer Mähne.

»Komm!« forderte ihn Fuchur auf,»setz dich auf meinen Rücken! Wir haben keine Zeit zu verlieren.«

Atréju schüttelte nur den Kopf. Nun erst sah Fuchur, daß Atréjus Bein im Rachen des Werwolfs steckte.

»Das werden wir gleich haben«, meinte er und rollte seine rubinroten Augenbälle,»mach dir keine Sorgen!«

Er griff mit beiden Pranken zu und versuchte, das Gebiß Gmorks aufzubrechen. Doch die Zähne wichen um keinen Millimeter auseinander.

Fuchur keuchte und fauchte vor Anstrengung, aber es half nichts. Und sicher wäre ihm die Befreiung seines kleinen Freundes nicht gelungen, wenn ihm nicht das Glück zu Hilfe gekommen wäre. Aber Glücksdrachen haben eben Glück und mit ihnen auch die, denen sie gut sind.

Als Fuchur nämlich erschöpft innehielt und sich über Gmorks Kopf beugte, um in der Dunkelheit besser zu sehen, was man tun könne, geschah es, daß das Amulett der Kindlichen Kaiserin, das an der Kette um Fuchurs Hals hing, sich auf die Stirn des toten Werwolfs legte. Und im gleichen Augenblick öffnete sich das Gebiß und gab Atréjus Bein frei.

»He!« rief Fuchur,»hast du das gesehen?«

Atréju antwortete nicht.

»Was ist los?« fragte Fuchur,»wo bist du, Atréju?«

Er tastete in der Finsternis nach seinem Freund, aber der war nicht mehr da. Und während er versuchte, mit seinen rotglühenden Augen das nächtliche Dunkel zu durchdringen, begann er selbst zu fühlen, was Atréju von ihm fortgerissen hatte, kaum daß er frei war: Das immer näher kommende Nichts. Aber AURYN schützte ihn vor dem Sog.

Atréju wehrte sich vergeblich. Es war stärker als sein eigener kleiner Wille. Er schlug um sich, er kämpfte und strampelte, aber seine Glieder gehorchten nicht ihm, sondern jenem unwiderstehlichen Sog. Nur noch wenige Schritte trennten ihn von der endgültigen Vernichtung.

In diesem Augenblick fuhr Fuchur wie ein züngelnder, weißer Blitz über ihn hin und packte ihn an seinem langen, blauschwarzen Haarschopf, riß ihn in die Höhe und brauste mit ihm in den nachtschwarzen Himmel empor.

Die Turmuhr schlug neun.

Keiner der beiden, Fuchur nicht und nicht Atréju, konnte später sagen, wie lang dieser Flug durch die völlige Finsternis dauerte, ob es wirklich nur eine Nacht war. Vielleicht hatte auch alle Zeit für sie aufgehört, und sie hingen reglos in einer grenzenlosen Dunkelheit. Nicht nur für Atréju war es die längste Nacht, die er je erlebt hatte, sondern auch für Fuchur, der doch viel, viel älter war.

Aber auch die längste und dunkelste Nacht geht einmal vorüber. Und als der fahle Morgen dämmerte, erblickten die beiden fern am Horizont den Elfenbeinturm.

Hier ist es wohl unerläßlich, einen Augenblick innezuhalten, um eine Besonderheit der phantásischen Geographie zu erklären. Länder und Meere, Gebirge und Flußläufe liegen dort nicht in derselben Art fest wie in der Menschenwelt. Es wäre deshalb zum Beispiel ganz unmöglich, eine Landkarte von Phantásien zu zeichnen. Es ist dort niemals mit Sicherheit vorauszusehen, welches Land an welches andere angrenzt. Sogar die Himmelsrichtungen wechseln je nach der Gegend, in der man sich gerade befindet. Sommer und Winter, Tag und Nacht folgen in jeder Landschaft anderen Gesetzen. Man kann aus einer sonnendurchglühten Wüste kommen und gleich daneben in arktische Schneefelder geraten. In dieser Welt gibt es keine meßbare äußere Entfernung, und so haben die Worte»nah« oder»weit« eine andere Bedeutung. Alle diese Dinge hängen ab vom Seelenzustand und vom Willen dessen, der einen bestimmten Weg zurücklegt. Da Phantásien grenzenlos ist, kann sein Mittelpunkt überall sein - oder besser gesagt, er ist von überall her gleich nah oder fern. Es hängt ganz von demjenigen ab, der zum Mittelpunkt kommen will. Und dieses innerste Zentrum Phantásiens ist eben der Elfenbeinturm.

Atréju fand sich zu seiner Verwunderung auf dem Rücken des Glücksdrachen sitzend, ohne sich erinnern zu können, wie er dort hinaufgelangt war. Er wußte nur noch, daß Fuchur ihn am Haarschopf in die Höhe gerissen hatte. Als er seinen Mantel, der hinter ihm dreinflatterte, fröstelnd um sich zog, bemerkte er, daß dieser alle Farbe verloren hatte und grau geworden war. Ebenso war es mit seiner Haut und seinem Haar. Und nun sah er im zunehmenden Licht des Morgens, daß es sich auch mit Fuchur nicht anders verhielt. Der Drache glich nur noch einem grauen Nebelstreifen und war schon fast ebenso unwirklich. Sie beide waren dem Nichts zu nahe gekommen.

»Atréju, mein kleiner Herr«, hörte er den Drachen leise sagen,»schmerzt deine Wunde sehr?«

»Nein«, antwortete Atréju,»ich fühle nichts mehr.«

»Hast du Fieber?«

»Nein, Fuchur, ich glaube nicht. Warum fragst du?«

»Ich habe gespürt, daß du zitterst«, erwiderte der Drache,»was auf der Welt kann Atréju jetzt noch zittern machen?«

Atréju schwieg eine Weile, ehe er antwortete:

»Wir werden bald angelangt sein. Dann muß ich der Kindlichen Kaiserin sagen, daß es keine Rettung mehr gibt. Von allem, was ich tun mußte, ist dies das Schwerste.«

»Ja«, sagte Fuchur noch leiser,»das ist wahr.«

Schweigend flogen sie weiter, immer auf den Elfenbeinturm zu.

Nach einer Weile begann der Drache von neuem:

»Hast du sie je gesehen, Atréju?«

»Wen?«

»Die Kindliche Kaiserin - oder vielmehr die Goldäugige Gebieterin der Wünsche. Denn so mußt du sie anreden, wenn du vor ihr stehst.«

»Nein, ich habe sie nie gesehen.«

»Ich schon. Es ist sehr lange her. Dein Urgroßvater muß damals ein kleines Kind gewesen sein. Auch ich war noch ein junger Spring-in-die-Wolken, der nichts als Unsinn im Kopf hatte. Eines Nachts hatte ich versucht, mir den Mond vom Himmel zu holen, der groß und rund dort oben leuchtete. Wie gesagt, ich hatte noch von nichts eine Ahnung. Als ich mich schließlich enttäuscht zur Erde zurückfallen ließ, kam ich dem Elfenbeinturm ganz nahe. Der Magnolienpavillon hatte in dieser Nacht seine Blütenblätter weit geöffnet, und in deren Mitte sah ich die Kindliche Kaiserin sitzen. Sie warf mir einen Blick zu, nur einen einzigen kurzen Blick, aber - ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll - von dieser Nacht an bin ich ein anderer geworden.«

»Wie sieht sie aus?«

»Wie ein kleines Mädchen. Aber sie ist viel älter als die ältesten Wesen Phantásiens. Besser sollte ich sagen: Sie ist ohne Alter.«

»Aber sie ist sterbenskrank«, meinte Atréju,»soll ich sie behutsam auf das Ende aller Hoffnung vorbereiten?«

Fuchur schüttelte den Kopf.

»Nein, sie würde jeden Versuch der Beschwichtigung sofort durehr schauen. Du mußt ihr die Wahrheit sagen.«

»Auch wenn sie daran stirbt?« fragte Atréju.

»Ich glaube nicht, daß es so kommt«, sagte Fuchur.

»Ich weiß«, antwortete Atréju,»du bist ein Glücksdrache.«

Und dann flogen sie wieder lange Zeit schweigend weiter.

Schließlich redeten sie noch ein drittes Mal miteinander. Diesmal War es Atréju, der die Stille unterbrach:

»Noch etwas möchte ich dich fragen, Fuchur.«

»Frage!«

»Wer ist sie?«

»Wie meinst du das?«

»AURYN hat Macht über alle Wesen Phantásiens, gleich ob sie Geschöpfe des Lichts oder der Finsternis sind. Es hat auch Macht über dich und mich. Und doch übt die Kindliche Kaiserin niemals Macht aus. Es ist, als wäre sie nicht da, und doch ist sie in allem. Ist sie wie wir?«

»Nein«, sagte Fuchur,»sie ist nicht, was wir sind. Sie ist kein Geschöpf Phantásiens. Wir alle sind da durch ihr Dasein. Aber sie ist von anderer Art.«

»Ist sie dann -«, Atréju zögerte, seine Frage auszusprechen,»ist sie so etwas wie ein Menschenkind?«

»Nein«, sagte Fuchur,»sie ist nicht, was die Menschenkinder sind.«

»Also«, wiederholte Atréju,»wer ist sie?«

Erst nach einer langen Stille antwortete Fuchur:

»Niemand in Phantásien weiß es, niemand kann es wissen. Es ist das tiefste Geheimnis unserer Welt. Ich habe einmal einen Weisen sagen hören, wer es ganz verstehen könne, der würde damit sein eigenes Dasein auslöschen. Ich weiß nicht, was er gemeint haben mag. Mehr kann ich dir nicht sagen.«

»Und nun«, sagte Atréju,»wird ihr und unser aller Dasein auslöschen, ohne daß wir ihr Geheimnis verstanden haben.«

Diesmal schwieg Fuchur, aber um sein löwenartiges Maul spielte ein Lächeln, als wollte er sagen: Das wird nicht geschehen.

Von da an sprachen sie nicht mehr.

Kurze Zeit später überflogen sie den äußeren Rand des»Labyrinths«, jener Ebene aus Blumenbeeten, Hecken und verschlungenen Wegen, die den Elfenbeinturm in einem weiten Kreis umgab. Zu ihrem Schrecken mußten sie feststellen, daß auch hier das Nichts schon am Werk war. Zwar waren es vorerst nur kleinere Stellen, die das»Labyrinth« durchsetzten, aber sie waren allenthalben. Die farbenprächtigen Blumenbeete und blühenden Gebüsche, die zwischen diesen Stellen lagen, waren grau und dürr geworden. Die kleinen zierlichen Bäume streckten kahle, verkrümmte Äste zu dem Drachen und seinem Reiter empor, als wollten sie sie um Hilfe anflehen. Die ehemals grünen und bunten Wiesen waren jetzt fahl, und ein leiser Geruch von Moder und Fäulnis schlug zu den Ankömmlingen empor. Die einzigen Farben, die es noch gab, waren die von aufgequollenen Riesenpilzen und von giftig aussehenden, entarteten und grellbunten Blumengebilden, die eher wie die Ausgeburten des Wahnsinns und der Verderbtheit wirkten. Das letzte innerste Leben Phantásiens wehrte sich noch, zuckend und kraftlos, gegen die endgültige Vernichtung, die es von allen Seiten belagerte und zerfraß.

Aber noch schimmerte in feenhaftem Weiß, makellos und unberührt, in der Mitte der Elfenbeinturm.

Fuchur landete mit Atréju nicht auf jener unteren Terrasse, die für ankommende Flug-Boten vorgesehen war. Er fühlte, daß weder er noch Atréju die Kraft aufbringen würden, von dort aus die lange, spiralförmige Hauptstraße, die zur Spitze des Turms emporführte, hinaufzusteigen. Auch schien ihm, daß die ganze Situation es durchaus erlaubte, sich über alle Vorschriften und Etikettefragen hinwegzusetzen. Er entschloß sich zu einer Notlandung. Er brauste über die elfenbeinernen Erker, Brücken und Balustraden, fand im letzten Augenblick noch das am höchsten gelegene Stück der Hauptstraße, dort wo sie vor dem eigentlichen Palastbezirk endete, ließ sich fallen, rutschte die Straße aufwärts, wobei er sich einige Male um sich selbst drehte, und kam schließlich, mit dem Schweif voraus, zum Stehen.

Atréju, der sich mit beiden Armen an Fuchurs Hals festgehalten hatte, richtete sich auf und blickte sich nach allen Seiten um. Er hatte irgendeine Art von Empfang erwartet, oder wenigstens eine Schar von Palastwächtern, die ihn fragen würden, wer er sei und was er hier wolle - aber weit und breit war niemand zu sehen. Die strahlend weißen Gebäude ringsum schienen wie ausgestorben.

»Sie sind alle geflohen!« schoß es ihm durch den Kopf.»Sie haben die Kindliche Kaiserin allein gelassen. Oder ist sie schon…«

»Atréju«, flüsterte Fuchur,»du mußt ihr das Kleinod zurückgeben.«

Er streifte sich die goldene Kette vom Hals. Sie glitt zu Boden.

Atréju sprang von Fuchurs Rücken - und stürzte hin. Er hatte nicht mehr an seine Wunde gedacht. Liegend griff er nach dem Pantakel und legte es sich um. Dann richtete er sich mit Mühe auf, wobei er sich auf den Drachen stützte.

»Fuchur«, sagte er,»wohin muß ich gehen?«

Aber der Glücksdrache antwortete nicht mehr. Er lag da wie tot.

Die Hauptstraße endete an einer hohen, weißen Ringmauer vor einem wunderbar geschnitzten großen Tor, dessen Flügel offenstanden.

Atréju humpelte darauf zu, stützte sich am Portal und fand hinter dem Tor eine breite, weißglänzende Freitreppe, die ihm bis in den Himmel zu reichen schien. Er begann die Stufen hinaufzusteigen. Manchmal hielt er inne, um neue Kräfte zu sammeln. Auf der weißen Treppe blieb eine Spur von Blutstropfen zurück.

Endlich war er oben angelangt und sah vor sich eine lange Galerie. Er taumelte weiter und hielt sich an den Säulen fest. Dann kam er durch einen Hof voller Springbrunnen und anderen Wasserspielen, aber er konnte kaum noch unterscheiden, was er sah. Wie im Traum kämpfte er sich voran. Er fand ein zweites, kleineres Tor, danach mußte er eine sehr hohe, diesmal aber schmale Treppe erklimmen, gelangte in einen Garten, in dem alles, Bäume, Blumen und Tiere, aus Elfenbein geschnitzt war, kroch auf allen vieren über mehrere bogenförmige Brücken ohne Geländer, die zu einem dritten Tor führten, dem kleinsten von allen. Auf dem Bauch liegend zog er sich weiter, dann hob er langsam den Blick und sah einen spiegelblanken, elfenbeinernen Bergkegel und auf dessen Spitze den blendend weißen Magnolienpavillon. Kein Weg führte hinauf, keine Treppe.

Atréju ließ den Kopf auf die Arme sinken.

Niemand, der je dort hinaufgelangt ist und noch hinauf gelangen wird, kann sagen, wie er dies letzte Stück Wegs zurückgelegt hat. Es muß einem geschenkt werden.

Atréju stand plötzlich vor der Pforte, die in den Pavillon führte. Er trat ein - und nun sah er sich von Angesicht zu Angesicht der Goldäugigen Gebieterin der Wünsche gegenüber.

Sie saß, von vielen Kissen gestützt, auf einem weichen, runden Polster in der Mitte der Blütenkuppel und blickte ihm entgegen. Sie wirkte unendlich zart und kostbar. Wie krank sie war, konnte Atréju an der Blässe ihres Gesichts sehen, das fast durchsichtig schien. Ihre mandelförmigen Augen hatten die Farbe von dunklem Gold. Sie verrieten keinerlei Besorgnis oder Unruhe. Sie lächelte. Ihre schmale, kleine Gestalt war in ein weites, seidenes Gewand gehüllt, das so weiß leuchtete, daß selbst die Magnolien-Blätter dagegen dunkel erschienen. Sie sah aus wie ein unbeschreiblich schönes kleines Mädchen von höchstens zehn Jahren, aber ihr langes Haar, das glatt gekämmt über ihre Schultern und ihren Rücken auf das Sitz-Polster herabfiel - war weiß wie Schnee.

Bastian erschrak.

In diesem Augenblick war ihm etwas geschehen, das er noch nie erlebt hatte.

Bis jetzt hatte er sich alles, was da in der Unendlichen Geschichte erzählte wurde, ganz deutlich vorstellen können. Einige seltsame Dinge waren ja allerdings beim Lesen dieses Buches vorgekommen, das war nicht zu leugnen, aber sicherlich konnte man sie irgendwie erklären. Er hatte sich Atréju, wie er auf dem Glücksdrachen ritt, und das Labyrinth und den Elfenbeinturm so deutlich wie möglich ausgemalt. Aber bis zu diesem Augenblick waren es eben doch bloß seine eigenen Vorstellungen gewesen.

Als er jedoch zu der Stelle kam, wo von der Kindlichen Kaiserin die Rede war, da hatte er für den Bruchteil einer Sekunde - nur so lang, wie das Zucken eines Blitzes dauert - ihr Gesicht vor sich gesehen. Und zwar nicht nur in seinen Gedanken, sondern mit seinen Augen! Es war keine Einbildung gewesen, dessen war Bastian ganz sicher. Er hatte sogar Einzelheiten wahrgenommen, die in der Beschreibung überhaupt nicht vorkamen, zum Beispiel ihre Augenbrauen, die sich als zwei feine, wie mit Tusche gemalte Bögen über ihren goldfarbenen Augen wölbten - oder daß sie seltsam langgezogene Ohrläppchen hatte - oder die besondere Neigung ihres Kopfes auf dem zarten Hals. Bastian wußte mit Sicherheit, daß er nie in seinem Leben etwas Schöneres gesehen hatte als dieses Gesicht. Und im gleichen Augenblick hatte er auch gewußt, wie sie hieß: Mondenkind. Es gab überhaupt nicht den geringsten Zweifel, daß dies ihr Name war.

Und Mondenkind hatte ihn angeblickt - ihn, Bastian Balthasar Bux!

Sie hatte ihn angeblickt mit einem Ausdruck, den er sich nicht zu deuten wußte. War auch sie überrascht gewesen? Hatte ihr Blick eine Bitte enthalten? Oder Sehnsucht? Oder - ja, was nur?

Er versuchte, sich Mondenkinds Augen in Erinnerung zu rufen, aber es gelang ihm nicht mehr.

Nur eines wußte er sicher: Dieser Blick hatte ihn durch seine eigenen Augen hindurch, den Hals hinunter mitten ins Herz getroffen. Er fühlte noch jetzt die glühende Spur, die er auf diesem Weg zurückgelassen hatte. Und er fühlte, daß dieser Blick nun in seinem Herzen lag und leuchtete wie ein geheimnisvoller Schatz. Und das tat auf eine seltsame und zugleich wunderbare Art weh.

Selbst wenn Bastian gewollt hätte, so hätte er sich nicht mehr gegen das wehren können, was da mit ihm geschehen war. Aber er wollte es nicht, o nein! Im Gegenteil, um nichts in der Welt hätte er diesen Schatz wieder hergegeben. Er wollte nur noch eines: weiterlesen, um wieder bei Mondenkind zu sein, um sie wiederzusehen.

Er ahnte nicht, daß er sich damit nun unwiderruflich auf das ungewöhnlichste und wohl auch gefährlichste Abenteuer einließ. Aber auch wenn er es geahnt hätte - es wäre ganz gewiß kein Grund für ihn gewesen, das Buch zuzuklappen und wegzulegen und nie wieder anzurühren.

Mit zitterndem Finger suchte er die Stelle, wo er aufgehört hatte, und fuhr fort zu lesen.

Die Turmuhr schlug zehn.

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