6. Kapitel

Emerson hatte sich doch stundenlang mit der Mumie beschäftigt, doch daß er das Zeug verstreut haben könnte, erschien mir unwahrscheinlich, aber soweit ich schauen konnte, lagen auf dem Sims Teile davon. Und vor allem war er nie während der Nacht in unmittelbarer Nähe unserer Tür gewesen. Dort lag aber der größte Teil dieser Bandagen.

Ich weiß nicht, was mich zum Handeln bewegte - Sorge um Evelyn oder der Aberglaube der Arbeiter -, jedenfalls holte ich schnell einen Lappen und fegte damit das schreckliche Zeug vom Sims. Von unten wehte köstlicher Kaffeeduft herauf.

Ich trank eben meinen Tee am Lagerfeuer, als Emerson den Pfad entlangkam. Er nickte mir mürrisch zu und verschwand sofort in der Höhle, in der er seine kostbare Mumie aufbewahrt hatte.

Ein paar Sekunden später wurde die süße Morgenstille von einem gräßlichen Schrei gestört. Ich ließ vor Schreck meine Tasse mit dem heißen Tee auf meinen Fuß fallen. Emerson stürmte mir entgegen und schwang beide Fäuste.

»Meine Mumie! Sie haben meine Mumie gestohlen! Bei Gott, Peabody, jetzt sind Sie zu weit gegangen! Mein Pflaster, meine Expedition, mein treuer Bruder, sogar mein armer, leidender Leib, alles ist Ihrer Einmischung zum Opfer gefallen. Aber dies ist jetzt zuviel! Sie zwingen mich, im Bett zu bleiben, damit Sie mir meine Mumie stehlen können. Wo ist sie? Bringen Sie mir sofort meine Mumie, sonst, bei Gott, Peabody ...«

Sein Geschrei weckte das ganze Lager auf. Evelyn spähte neugierig herab, Walter kam gerannt und stopfte im Laufen sein Hemd in den Hosenbund.

»Radcliffe, was ist denn los? Kannst du dich denn gar nicht benehmen?«

»Er beschuldigt mich, seine Mumie gestohlen zu haben«, erklärte ich. »Und ein solcher Vorwurf kann nur einem kranken Gehirn entspringen.«

»Krankes Gehirn! Oh, wenn Weiber sich einmischen . « Der Streit hatte die Arbeiter magisch angezogen, und mit offenen Mündern und großen Augen schauten und hörten sie zu. Mohammed, der uns am Tag vorher zum Grab geführt hatte, schien schlau zu grinsen. Das interessierte mich so sehr, daß ich mich vom wütenden Emerson ab- und ihm zuwandte. Sofort schaute Mohammed drein wie der unschuldigste und frömmste aller Engel.

Walter verschwand in die Grabhöhle, wo die Mumie gewesen war, kam aber sofort wieder heraus. »Sie ist weg«, stellte er verblüfft fest und schüttelte den Kopf. »Nur ein paar Bindenstücke sind noch da. Wie kann jemand nur so ein armseliges Ding stehlen?«

»Die hier würden sogar ihre eigene Großmutter stehlen und sie verkaufen, wenn es einen Markt für verhutzelte alte Weiber gäbe«, knurrte Emerson. Sein Ausbruch vorhin schien ihn erfrischt zu haben, und er war jetzt so friedlich, als hätte er mich nie mit seinen Anschuldigungen überfallen. »Wie wär's mit einem Frühstück, Peabody?« fragte er ganz freundlich.

Ehe ich ihn mit einer passenden Antwort zerschmettern konnte, sagte Walter: »Ich verstehe das einfach nicht. Die Männer hätten doch mit der Mumie verschwinden kön-nen, bevor sie uns davon erzählten. Und was ist mit den Bandagen, die du abgenommen hast?«

»Das ist ganz einfach«, erklärte Emerson. »Die konnte ich nicht abwickeln, weil sie zu einer soliden Masse zusammengebacken waren. Ich mußte sie also über der Brust aufschneiden. Und du weißt ja selbst, daß die Körperhöhlungen oft Amulette und Schmuckstücke . Pea-body, was ist denn los?«

Seine Stimme wurde zum Insektensummen, und die Sonne verdunkelte sich. Hätte der Mond höher gestanden, hätte ich meinen nächtlichen Besucher genauer gesehen, wäre dann auch die klaffende Öffnung zu erkennen gewesen?

Ich freue mich, sagen zu können, daß dies das erste-und letztemal war, daß ich einem Aberglauben nachgab. Als ich die Augen wieder öffnete, wurde mir klar, daß Emerson mich trug, und sein besorgtes Gesicht lag nahe an dem meinen, aber ich schob seine stützenden Arme weg.

»Eine momentane Schwäche«, tat ich sehr gleichmütig, ließ mich aber von Walter zu einem Sitz führen.

»Sie überanstrengen sich, Miß Peabody«, warnte er mich ehrlich besorgt. »Heute müssen Sie ruhen, darauf bestehe ich.« Sein Bruder musterte mich nur.

Die ganze Atmosphäre war irgendwie gespannt oder unruhig; erst arbeitete ich ein bißchen am Pflaster, doch dann ging ich dorthin, wo Walter und Abdullah die Arbeiter beaufsichtigten. Etwa fünfzig Männer gruben die Fundamente eines Tempels und verschiedener Häuser aus dem Sand; Kinder schleppten ihn körbeweise weg und schüttelten ihn wahllos dorthin, wo man vermutlich wenig später graben würde. Meistens sangen und lachten sie bei der Arbeit, denn die Ägypter sind von Natur aus fröhliche Menschen, doch diesmal war von ihren etwas jam-mernden heiteren Gesängen nichts zu hören. Ich fragte Abdullah nach dem Grund.

»Es sind unwissende Menschen, die sich vor Dämonen und unbekannten Dingen fürchten«, erwiderte er ein wenig zögernd. »Und vor den Geistern der Toten. Sie fragen, wohin die Mumie verschwunden ist.«

Mehr wollte oder konnte er nicht sagen, und ich kehrte ziemlich beunruhigt zu meiner Arbeit am Pflaster zurück. Wie sollte ausgerechnet ich mich über die Eingeborenen erhaben fühlen, da ich selbst doch auch mit solchen Gedanken gespielt hatte?

Der freundliche Leser wird fragen, weshalb ich nicht über mein Abenteuer gesprochen habe. Nun, das ist ganz einfach: Ich wollte nicht ausgelacht werden. Emersons Lachen hätte sicherlich durch das ganze Tal gedröhnt, hätte ich ihm erzählt, daß ich seine kostbare Mumie auf einem nächtlichen Spaziergang ertappt hatte. Und doch meinte ich, darüber sprechen zu sollen, und so plagte ich mich den ganzen Tag über mit Eitelkeit und Vernunft herum.

Als wir uns abends auf dem Sims trafen, sah ich sofort, daß die anderen auch keinen guten Tag hinter sich hatten. Walter beklagte sich, nichts sei vorangegangen, der Tag sei eine glatte Verschwendung gewesen.

Wir gingen alle sehr früh zu Bett; Emerson brauchte seinen Schlaf, wenn er am folgenden Tag die Ausgrabungen wiederaufnehmen wollte, und für mich war die vergangene Nacht auch sehr kurz gewesen.

Aber ich schlief schlecht, und als ich gegen Morgen einmal aus einem schweren Traum aufwachte, sah ich eine weiße Gestalt unter der Tür stehen, und ich tat einen leisen Schrei.

Aber es war Evelyn, und sie huschte schnell zu meinem Bett. »Amelia, ich hörte einen langen, gräßlichen Seufzer, es war unheimlich. Ich wollte dich nicht aufwecken. Aber ich mußte wissen, wer solche Seufzer ausstieß, weil sie nicht aufhörten. Und als ich zur Tür ging und den Vorhang aufhob . Amelia, du wirst mich auslachen und mir nicht glauben, was ich sah.«

»Was war es, Evelyn? Sag es mir doch.«

»Eine blasse Gestalt ohne Gesicht, Amelia! Sie hatte nur ein flaches, blasses Oval ohne Augen, und die Gliedmaßen standen starr weg .«

»Genug davon!« rief ich ungeduldig. »Du scheinst ... , du hast ... , das muß eine Mumie gewesen sein.«

Evelyn starrte mich ungläubig an. »Dann mußt du ... das Ding selbst gesehen haben. Wann? Und wie?«

»Ich sah das Ding vergangene Nacht, und am Morgen fand ich vor unserer Grabkammer Bandagenstücke. Und in der Nacht war auf geheimnisvolle Art unsere Mumie verschwunden. Ich sagte davon nichts, weil es mir selbst zu lächerlich erschien.«

»Lächerlich, Amelia? Was sollen wir jetzt tun?«

»Natürlich müssen wir darüber sprechen, aber erst am Morgen. Da ist es noch früh genug für meine Demütigung.«

Aber der Morgen brachte schon wieder eine neue Sensation.

Ich stand früh auf, und Emerson, ebenfalls ein Frühaufsteher, lief schon ungeduldig neben dem Kochzelt auf und ab. Ich versagte mir jeden Kommentar zu seiner offensichtlichen Entschlossenheit, die Arbeit wiederaufzunehmen, und wenig später saßen wir beim Frühstück. Da explodierte Emerson.

»Wo sind denn die Männer? Seit einer Stunde sollten sie dasein!«

Walter sah auf seine Uhr. »Seit einer halben. Sie scheinen sich verspätet zu haben.«

»Siehst du etwas in Richtung Dorf?« knurrte Emerson. »Walter, da stimmt was nicht. Hol mir mal Abdullah her.«

In seinem Zelt war er nicht, doch wenig später kam er durch den Sand herangestapft, nachdem er offensichtlich vergebens seinen Trupp im Dorf gesucht hatte. Er breitete seine Hände aus und sagte: »Sie wollen nicht kommen.«

»Ist denn heute ein Feiertag der Mohammedaner?« fragte Evelyn.

»Nein, nein, so etwas würde Abdullah nicht übersehen«, antwortete Emerson. »Ich dachte eher, sie wollten mehr Geld. Setz dich, Abdullah, und erzähl mir, was du weißt.«

Abdullah hockte sich auf den Boden und berichtete. Als er ins Dorf gekommen sei, habe er alle Hütten verlassen vorgefunden. Er sei zum Bürgermeister, dem Vater von Mohammed, gegangen, und der habe ihm erklärt, die Männer würden nicht kommen, überhaupt nicht mehr. Von Mohammed, der später dazukam, erfuhr er dann, der Grund dafür sei die Mumie, die früher ein prinzlicher Priester-Zauberer gewesen sei, ein Diener des großen Gottes Anion, den Pharao Khuenaten von seinem geistigen Thron gestürzt hatte. Amon habe die häretische Stadt verflucht. Da die Mumie ans Tageslicht gebracht worden sei, habe sie in ihrem Zorn das Dorf besucht, alle Schläfer durch ihr Seufzen aufgeweckt und verängstigt. Die Dorfbewohner hätten die Warnung angenommen und seien gegangen, um die unheilige Stätte dem trostlosen Sand zu überlassen, denn jeder, der noch in der verfluchten Stadt arbeite, werde von Amons Zorn geschlagen.

Emerson hatte aufmerksam zugehört. Als Abdullah geendet hatte, fragte er: »Glaubst du selbst daran, Abdullah?«

»Nein.« Es klang nicht sehr überzeugend.

»Ich auch nicht. Amon-Ra ist ein toter Gott und hat seine Macht vor vielen hundert Jahren verloren. Die Moscheen deines Gottes stehen zwischen den Tempeln und rufen die Gläubigen zum Gebet. Ich nehme an, du glaubst an deinen Gott und daran, daß er dich vor bösen Geistern und Dämonen beschützt.«

Ich mußte Emerson sehr bewundern, denn er hatte den richtigen Ton getroffen. Abdullah sah ihn respektvoll an. »Aber der Herr sagt nicht, was aus der Mumie wurde?« fragte er vorsichtig.

»Die wurde gestohlen von einem, der hier Unruhe stiften will. Seinen Namen will ich nicht nennen, aber du weißt doch selbst, daß Mohammed ärgerlich war, weil ich dich zum Vormann machte und nicht ihn. Sein Vater hat ihn schlecht erzogen, und die Männer des Dorfes verachten ihn.«

»Aber sie fürchten ihn auch«, bemerkte Abdullah und stand auf. »Wir sind einer Meinung, Herr. Aber was sollen wir tun?«

»Ich werde mit dem Bürgermeister sprechen. Abdullah, geh und iß. Du hast deine Sache gut gemacht. Ich bin zufrieden und dankbar.«

Sehr behaglich fühlte sich der Vormann nicht. Evelyn schaute mich an, und ich nickte. Jetzt mußte ich meine Geschichte erzählen, und ich räusperte mich ausführlich.

»Er hat sich das nicht eingebildet, und die Dorfbewohner haben die Mumie ganz sicher gesehen. Evelyn und ich sahen solch eine Gestalt hier im Lager.«

»Ich dachte mir doch, daß Sie was verschweigen. Na, gut, Peabody, packen Sie aus. Wir hören.«

Ich erzählte also. Zu meinem Staunen kam mir ausgerechnet von Emerson Hilfe. Walter war sprachlos.

»Das beweist doch nur, daß unser Schurke, den wir ja zu kennen glauben, sich die Mühe machte, in einem

Lumpengewand herumzugehen und die Leute zu erschrecken. Überrascht bin ich nicht, wenn ich auch nicht geglaubt hätte, daß Mohammed so viel Fantasie und Energie aufbrächte.«

Zusammen mit Walter machte er sich dann auf den Weg ins Dorf. Natürlich kam ich - unaufgefordert - mit, und Evelyn blieb zurück unter Michaels und Abdullahs Schutz.

Im Dorf herrschten eine brütende Hitze und ein unheilvolles Schweigen. Emerson mußte eine ganze Weile kräftig an die Tür der Hütte des Bürgermeisters trommeln, ehe durch einen schmälen Spalt eine lange, gebogene Nase geschoben wurde. Emerson drückte so gegen die Tür, daß der alte Mann ein wenig zurücktaumelte; er fing ihn auf und setzte ihn behutsam auf den Boden.

Es stank fürchterlich in der Hütte, denn Hühner, Ziegen und Menschen drängten sich in einem kleinen, halbdunklen Raum zusammen. Wir wurden nicht zum Sitzen eingeladen, hätten auch keinen Platz gehabt, denn die Hühner belegten einen langen, verdächtig aussehenden Diwan mit Beschlag.

Emerson unterhielt sich arabisch mit den Leuten; verstehen konnte ich kaum etwas, doch aus den Mienen und Gesten ließ sich einiges entnehmen. Der Bürgermeister, ein verhutzelter, knochiger Bursche, benahm sich nicht frech, eher verängstigt.

Allmählich verzogen sich die Menschen, während die Hühner und Ziegen blieben. Nach einer Weile schlüpfte jemand durch einen Hintereingang herein, und ich erkannte Mohammed, der sofort das freundlich geführte Gespräch übernahm und frech wurde. Schließlich schaute er mich an und sagte in englischer Sprache: »Mumie mag nicht Fremde, sollen gehen. Aber nicht Frauen gehen. Mumie mag englische Frauen.«

Der arme alte Vater kreischte verängstigt, als Emerson seinem unverschämten Sohn an die Kehle ging. Walter beruhigte ihn dann wieder. »Komm, komm«, redete er seinem Bruder zu. »Hier können wir doch nichts tun.«

Wir verließen schnellstens die Hütte und waren froh, als wir die zwar heiße, aber immerhin saubere Wüstenluft atmen konnten. Trotz des Mißerfolges richtete Emerson aber sofort seine Schritte in das nächste Dorf. »Wenn die Männer von Haggi Qandil nicht arbeiten wollen, so tun es sicher die von el Till und al Amarnah«, meinte er entschlossen.

Walter versuchte ihm das auszureden. »Radcliffe, du kannst nicht heute den ganzen Tag durch die Wüste laufen. Außerdem hat Mohammed garantiert seine Geschichte schon in den Nachbardörfern verbreiten lassen. Du wirst dort ebensowenig Erfolg haben wie in Haggi Qan-dil.«

Emerson ging schon sehr langsam, aber das Kinn hatte er aggressiv vorgestreckt. Ich beschloß also, der Sache ein Ende zu machen, ehe es ihn in den Sand streckte.

»Walter, lassen Sie ihn«, sagte ich. »Er ist zu stur, als daß er auf vernünftige Argumente hören würde. Wir müssen mit Abdullah und Michael Kriegsrat halten und haben auch sonst noch einiges zu tun. Eigentlich könnten wir damit ja warten, bis Ihr Bruder vor Schwäche ohnmächtig wird, denn dann kann er uns nicht im Weg stehen. Es ist einfacher, ihn zum Lager zu schleppen, als mit ihm zu streiten.«

Emerson hielt sich aber noch immer auf den Beinen, als wir ins Lager kamen, doch Walter zog sich mit ihm sofort zu einer restaurativen Behandlung in die Grabkammer zurück. Danach versammelten wir uns zum Kriegsrat.

Michael, der Christ und Fremde, war im Dorf nicht willkommen und verbrachte daher die Nächte auf dem Boot. Nun hörte er zum erstenmal von den Vorgängen hier und lauschte aufmerksam unseren Erzählungen. Danach fragte ich ihn, welche Vorschläge er dazu habe.

»Verlassen Sie diesen Ort sofort«, riet er uns. »Ich bin vor Dämonen geschützt.« Er berührte dazu sein Kreuz, das er um den Hals trug. »Hier gibt es viele schlechte Menschen. Das Boot wartet. Wir gehen alle, auch die Gentlemen. Das hier ist kein guter Ort.«

Abdullah nickte nachdrücklich. Er war zwar islamischen Glaubens, aber die Mohammedaner sind ebenso abergläubisch wie die Christen.

»Diesen Vorschlag wollte ich auch machen«, sagte ich, und Michael war auf meine Zustimmung sehr stolz. »Gentlemen, Sie müssen einsehen, daß Sie hier jetzt nichts mehr tun können. Ich hielte es für besser, wenn wir uns Arbeiter aus anderen Landesteilen besorgten, die nicht Mohammeds Einfluß unterliegen, und wenn die Dorfbewohner feststellen, daß die Arbeit ohne Zwischenfall weitergeht, dann werden sie selbst einsehen, daß ihre Fluchlegenden reiner Unsinn sind.«

Walter schien sehr beeindruckt zu sein und schaute seinen Bruder an. Ich tat es auch, aber er hatte sein Kinn wieder so angriffslustig vorgeschoben, daß ich ihm am liebsten meine Faust daraufgesetzt hätte.

»Wir könnten doch auch an einer anderen Stelle arbeiten«, schlug Evelyn vor. »Es gibt genug Grabungsmöglichkeiten. Warum warten wir nicht, bis sich hier die Aufsässigkeit gelegt hat?«

»Oh, das ist sehr gut, sehr gut. Wir gehen. Arbeiten in Sackarah, Luxor. Ich kenne Gräber im Tal der Könige«, antwortete Abdullah begeistert. »Königsgräber, die noch nicht geöffnet sind. Wir gehen nach Theben, dort ist mein Haus. Ich habe viele Freunde, die gern arbeiten.«

»Hm. Das wäre ja sehr schön, Abdullah«, meinte Emerson nachdenklich. »Aber du weißt doch, daß ich eine Regierungserlaubnis zum Graben brauche. Maspero wird sie mir sicher nicht geben, weil er hofft, dort selbst etwas zu finden. Und auch das Geld ... Walter, was meinst du dazu?«

Walter hatte unterdessen Evelyn bewundert und erschrak, als sein Bruder ihn ansprach. »Oh, natürlich. Ich werde alles tun, was du vorschlägst, Radcliffe. Aber eines würde ich dringend empfehlen. Egal, ob wir gehen oder bleiben - die Damen müssen hier weg, am besten noch heute. Ich halte es hier zwar nicht für gefährlich, aber es ist unerfreulich, und sie haben uns schon zuviel von ihrer kostbaren Zeit geopfert.«

Das fand ich unendlich rührend von dem jungen Mann. Ja, er war ein echter Brite, der das geliebte Mädchen außer Gefahr wissen wollte, und trotzdem erwies er sich seinem Bruder gegenüber loyal. Evelyn sah mich beschwörend an. Das hieß, daß sie sich meiner Entscheidung fügen würde, aber . Nun, ich hatte nicht die Absicht, mich wegschicken zulassen.

»Der Vorschlag ist zwar gut gemeint, doch ich kann ihn nicht annehmen«, erklärte ich bestimmt. »Entweder wir gehen alle, oder wir bleiben alle.«

Emerson holte so tief Atem, daß es ihm fast die Hemdknöpfe absprengte; sie hingen sowieso recht locker. Bei Gelegenheit mußte ich sie annähen.

»Ah, Miß Peabody, meine liebe Miß Peabody, wie kommen Sie eigentlich dazu, sich in meine Angelegenheiten zu mischen?« murrte er. »Ich bin ein geduldiger Mann und beklage mich kaum einmal. Ehe Sie kamen, war mein Leben friedlich und ruhig, und jetzt benehmen Sie sich, als seien Sie der Expeditionsleiter. Walter hat recht. Die Frauen müssen weg. Peabody, keine Widerre-de! Ich hätte Sie längst verschnüren und auf Ihr Boot bringen lassen sollen. Michael und Abdullah werden das gerne besorgen.«

»Nein, nein. Michael würde Ihnen auf gar keinen Fall gehorchen«, erwiderte ich. »Natürlich wäre ihm lieber, ich wäre von hier weg, aber er hält sich treu an meine Wünsche. Emerson, wir wollen nicht streiten. Mir paßt es nicht, die Arbeit hier aufzugeben, und es wäre lächerlich, wenn der britische Löwe mit dem Schwanz zwischen den Beinen .«

»Du lieber Gott!« ächzte Emerson.

»Also, hier können Sie keine Arbeiter bekommen«, fuhr ich fort, »außer meine Leute . Nein, das geht. Ich schlage vor, wir machen heute alle gemeinsam das Pflaster fertig, Evelyn ihre Skizzen, und abends unterhalten wir uns dann weiter. Wir müssen diese falsche Mumie unbedingt fangen.«

»Ach, Miß Amelia, Sie sind wunderbar!« rief Walter und klatschte in die Hände. »Wir vier ...«

»Sechs«, berichtigte ich. »Wir sechs genügen; wir brauchen die Bootsmannschaft nicht. Ich schlage vor, einer von uns bewacht das Dorf. Mohammed muß ja einmal in seiner Verkleidung herausschlüpfen, und da er uns unter allen Umständen vertreiben will, wird er wohl heute nacht kommen. Wir anderen liegen auf der Lauer. Hat jemand eine Schußwaffe?«

»Nein, die sind gefährlich, und wir haben sie nie gebraucht«, brummte Emerson.

»Dann müssen wir Keulen verwenden.«

»Ich ertrage das nicht mehr«, murmelte Emerson, stand auf und ging weg. Ich sah, wie seine Schultern zuckten. Er mußte also noch sehr schwach sein.

»Schlafen Sie gut!« rief ich ihm nach. »Wir müssen heute abend frisch sein.« Er gab ein eigenartiges Geräusch von sich, und ich wandte mich Walter zu, der noch immer seinem Bruder nachstarrte. »Er muß schrecklich erschöpft sein, Walter. Wenn Sie vielleicht .«

»Nein, nicht nötig«, antwortete er.

»Aber was ist dann ...«

Walter schüttelte den Kopf. »Das ist doch unmöglich ... Wenn ich es nicht besser wüßte, würde ich sagen, er habe schallend gelacht.«

Der Rest des Tages verlief nach meinem Plan. Evelyn bekam die Skizze des Pflasters fertig, und sie war sehr hübsch. Besonders die Pastellfarben kamen gut zur Geltung. Ich legte den Rest der Schutzschicht auf. Als wir ins Lager zurückkehrten, war das Abendessen schon fast fertig. Wir waren eine kleine, friedliche und einige Gesellschaft.

Walter und Abdullah sollten das Dorf, besonders die Hütte des Bürgermeisters bewachen. Vor Mitternacht erwarteten wir nichts, aber man konnte ja nie wissen. Sobald Mohammed das Haus verließ, sollten die beiden ihm folgen. Emerson war der Meinung, daß der Bürgermeister selbst mit der Sache nichts zu tun hatte. Die beiden Bewacher sollten aber erst dazwischentreten, wenn Mohammed in seiner Verkleidung zu uns unterwegs war. Einer sollte ihn dann festhalten, der andere uns verständigen, so daß wir alle gemeinsam den Missetäter in sein Dorf schleppen und ihn entlarven konnten.

Evelyn sollte, bewacht von Michael, in ihre Grabkammer gehen, während Emerson und ich in der seinen Wache halten wollten. So war Evelyn doppelt bewacht, denn an uns konnte niemand vorbeikommen.

Als es dunkel wurde, schlüpften Walter und Abdullah weg, und Michael nahm mit einer Keule seine Wache auf. Ich zog ein passendes Kleid an und ging den Sims entlang zu Emersons Grab. Er saß auf einer Kiste und schrieb beim Schein einer Öllampe. Er schaute auf und meinte, als Zigeunerin hätte ich mich ja nicht gerade zu kostümieren brauchen. Ich erklärte ihm, dunkle Kleidung sei vorteilhafter, und ein Schal um den Kopf schütze mein Haar; der Schmutz verdecke dagegen die helle Haut meines Gesichtes und meiner Hände. Er seufzte ein wenig resigniert und meinte dazu, nun brauche er wahrlich nicht zu fürchten, daß jemand auf den Gedanken käme, er habe mich aus amourösen Gründen in seine Gemächer eingeladen. Ich maß ihn nur mit einem hoheitsvollen Blick und ließ mich in einer Ecke nieder.

Die folgenden Stunden zogen sich endlos in die Länge. Emerson schrieb weiter, als sei ich gar nicht vorhanden. Ich hatte Muße, ihn zu beobachten. Sein dichtes, schwarzes Haar bedurfte eines Schnittes, denn die Nackenlocken wuchsen ihm über den Hemdkragen. Seine Rückenmuskeln unter dem dünnen Hemd bewegten sich geschmeidig. Nach einer Weile wurde es mir langweilig, und ich holte mir ein Buch über die Pyramiden von Gizeh, das von einem gewissen Mr. Petrie geschrieben war. Emerson hatte diesen jungen Gelehrten schon wiederholt erwähnt, wenn auch nicht gerade lobend, denn das tat er nie. Mich fesselte allerdings dieses Buch ungeheuer.

Endlich legte Emerson die Feder weg und erhob sich, gähnte und streckte sich. Dann blies er die Lampe aus. Als mein Auge sich etwas an die Dunkelheit gewöhnt hatte, kroch ich zum Eingang. Emerson wisperte mir etwas zu, so daß ich wußte, wo er war. Ich nahm meinen Platz an der anderen Türseite ein. Ich hätte mich ja gerne ein wenig im Flüsterton unterhalten, doch Emerson gab mir gar keine Antwort.

Die Schönheit der Nacht war unbeschreiblich. Noch nie hatte ich so große und klare Sterne gesehen; sie schimmerten wie die Juwelen eines Pharaos. Die kühle

Luft war außerdem sehr erfrischend, und die Stille wurde nur ab und zu vom Heulen eines Schakals unterbrochen.

Ich gebe zu, daß ich ein wenig döste, als mich ein Geräusch plötzlich hellwach machte. Emerson konnte von seiner Türseite aus zum Simsende und zum Kochzelt schauen, während ich auf Evelyns Grab sehen konnte. Nichts war zu sehen, aber Emerson streckte die Hand aus, und ich trat neben ihn.

Dann stand das Ding plötzlich da, bewegungslos und blaß, aber nicht am Sims, sondern am unteren Hang. Der Mond schien hell, und wir konnten uns nicht irren. Ich sah sogar das Muster der gewickelten Bandagen auf der Brust. Der Kopf war ganz mit Stoff umwickelt. Da drehte das Ding den Kopf. Emersons Hand legte sich auf meinen Mund; er hatte richtig erraten, daß ich beinahe gestöhnt hätte. Und die Mumie schien - nein, die konnte gar nichts gehört haben, wenn sich auch ihr Kopf in unsere Richtung drehte.

In einer drohenden Gebärde hob sie den rechten Arm. Emerson ließ mich abrupt los und tat einen Satz auf den Sims hinaus. Ich folgte ihm auf den Fersen. Ich rutschte mit den losgetretenen Kieseln, und Emerson stolperte und flog der Länge nach hin.

Die Mumie war in voller Flucht. Ich wußte, daß ich sie nicht erreichen konnte und - ganz ehrlich - ich hatte auch keine Lust, es zu tun. Ich lief zu Emerson und half ihm auf. Michael rief mir vom Sims aus etwas zu, und ich befahl ihm, bei Evelyn zu bleiben, die Mumie sei schon davongelaufen und nicht mehr einzuholen.

Warum, fragte Emerson, als wir wenig später wieder im Grab saßen und das Ereignis durchsprachen, warum glaubte ich, dieses Ding wolle mehr als uns nur ein bißchen ängstigen?

Nun, ich wußte ja auch nicht mehr als er. Fest stand nur, daß es Mohammed gelungen sein mußte, Walter und Abdullah an der Nase herumzuführen, wenn die Mumie ungehindert bis zu uns gelangen konnte.

»Sollten wir nicht nach ihnen suchen?« fragte Evelyn. »Es könnte ihnen doch etwas zugestoßen sein.«

»Nein, nicht zwei Männern. Nein, Miß Evelyn, Walter ist absolut sicher. Vielleicht warten die beiden noch immer beim Dorf auf Mohammed und sehen ihn, wenn er zurückkommt. Wir würden nur sinn- und zwecklos in der Dunkelheit herumwandern, wollten wir die beiden jetzt suchen.«

Es war merkwürdig - Emerson hatte Evelyn mit dem Vornamen angesprochen. Nun ja, die Merkwürdigkeit der Situation hatte das Eis der Formalität gebrochen. Ich hatte Walter ja auch schon öfter mit seinem Taufnamen angesprochen. Ich mochte den jungen Mann, und mir war, als hätte ich ihn schon lange gekannt.

Bei Emerson war es ein bißchen anders. Er war manchmal so frech und ungeduldig zu mir, daß ich keine Lust zu freundschaftlicheren Beziehungen hatte.

Es war schon Morgen, als die beiden Wächter aus dem Dorf zurückkehrten, und beide schworen, niemand habe während der Nacht das Dorf verlassen. Walter hatte persönlich von einem unbequemen Sitz in der Astgabel eines Baumes aus die Hütte des Bürgermeisters beobachtet. Mohammed konnte also nicht Mumie gespielt haben.

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