5. Kapitel

Emerson hatte unverdientes Glück; er erlitt keinen Rückfall, doch er sah selbst ein, daß er noch zu schwach war, um seine alten Aufgaben zu übernehmen. Es mußte etwas getan werden, und wer anders als ich sollte das tun?

Ich brachte ihn also wieder zu Bewußtsein, gab ihm eine Dosis Chinin ein und befahl Abdullah, sich auf seine Beine zu setzen, damit er nicht aufstehen konnte. Seine Flüche folgten mir weit ins Tal, nachdem ich ihn verlassen hatte.

Draußen war die märchenhafte ägyptische Nacht hereingebrochen. Am indigoblauen Himmel glitzerten unzählige Sterne, und das Nachglühen des Sonnenuntergangs verwandelte die Klippen zu Geistergestalten. Evelyn und Walter saßen nebeneinander und schauten über das Tal hinaus.

Als ich ihre Gesichter sah, nahm ich davon Abstand, mit ihnen meine Pläne durchzusprechen. Ich war nämlich der Meinung, daß es keinen Sinn hatte, Emerson nach Kairo zu bringen; bis er dort war, hatte er sich wahrscheinlich erholt. Ich erklärte Michael, wir würden etwa eine Woche hier verbringen, und bis dahin müßte Emerson außer Gefahr sein. Michael versicherte mir, die Bootsmannschaft werde diese Ruhepause begeistert begrüßen, da sie ja bezahlt werde. Er hätte es jedoch lieber gesehen, wenn wir auf dem Boot übernachtet hätten, doch ich hielt den Weg hin und zurück für Zeitverschwendung.

Die nächsten beiden Tage verliefen glatt. Das heißt, ich war davon überzeugt, doch später entdeckte ich, daß ich einige verräterische Zeichen hätte bemerken müssen, wäre ich nicht so sehr mit Emersons Pflaster beschäftigt gewesen.

Seine Mischung aus Tapioka und Wasser war gut, doch ich verbesserte sie mit einem Teelöffel Stärke und zwei Löffeln Wismut auf ein Quart Wasser. Er hatte recht gehabt, daß man die Mischung nicht mit einem Pinsel auftragen konnte, und so benützte ich einen Finger nach dem anderen, um sie vorsichtig auf das Pflaster zu tupfen.

Evelyn kopierte inzwischen die Malerei, und ich bewunderte ihre Geschicklichkeit, weil sie nicht nur die Figuren und Farben genau darzustellen verstand, sondern auch den Sinn erfaßte, den der Künstler seiner Arbeit unterlegt hatte. Selbst Emerson knurrte anerkennend, als ich ihm die ersten Skizzen zeigte.

Am zweiten Morgen zeichnete sie weiter und legte dann eine Ruhepause ein, doch ich blieb bei der Arbeit. Ich hatte bereits die Ränder konserviert und ließ Stege darüber bauen, indem ich Säulenreste als Stützpfeiler benützte, aber ich mußte natürlich genau auf die Arbeiter aufpassen. Sie hielten meine Vorsicht für lächerlich und hätten einfach Planken über die Malerei gezerrt, wäre ich nicht ständig dagewesen.

Ich arbeitete gerade an einem neuen Abschnitt, als Evelyn nach mir rief. Ich schaute auf und sah zu meinem Staunen, daß die Sonne schon unterging. Meine sämtlichen Finger bluteten von der Arbeit, und ich beschloß aufzuhören.

Evelyn schüttelte mich erbittert an den Schultern. »Schau dir doch deine Hände an! Dieser Unsinn muß aufhören. Und dein Kleid, deine Haare, und ...«

»Für die Kleider ist das wirklich nicht gut«, gab ich zu.

»Aber was soll sonst mit mir nicht in Ordnung sein?«

Evelyn reichte mir wortlos einen Spiegel. Tatsächlich, ich sah wie eine indianische Hexe aus. Meine Haut war infolge der indirekten Sonnenbestrahlung grellrot, und meine Haare hingen mir wirr ins Gesicht.

Ich ließ mir von Evelyn helfen, mich zu erfrischen. Walter wartete schon auf uns, und Michael erschien mit kalten Getränken. Zum erstenmal sollte auch Emerson kommen, denn er hatte sich ausgezeichnet erholt. Walters Hilfe hatte er zurückgewiesen, und so war ich doppelt erstaunt, als er erschien. Sein Bart war weg. Emersons Wutschreie während der Rasur hatte ich bis zur Arbeitsstelle gehört, aber auch Walters Erklärungen für die Notwendigkeit dieser Prozedur. »So viel Haar zieht alle Kraft aus dir heraus«, hatte er ihm lachend vorgehalten. »Michael, halt ihm die Arme fest, damit ich ihm nicht versehentlich den Hals abschneide. Miß Peabody wird sich freuen, dich ohne Bart zu sehen, Radcliffe. Sie sagt nämlich, Bärte dienten nur dazu, allzu weiche Gesichtszüge, fliehende Kinne und Hautunreinheiten zu verdecken.«

»Was? Sie behauptet, mein Kinn sei weich?«

»Nein, das tut sie nicht. Sie hat es ja noch nie gesehen.«

»Hmpf.« Das war seine ganze Antwort. Walter hatte gewonnen.

Als ich ihn bartlos sah, wußte ich, weshalb er sich einen Backenbart hatte wachsen lassen. Der untere Teil des Gesichtes war äußerst blaß, wenn auch die Züge als solche nicht unangenehm waren. Der Mund war jedoch so zusammengekniffen, daß ich nur eine Linie feststellen konnte. Das Kinn erschien mir sogar ein wenig zu eckig und energisch, doch es hatte ein Grübchen, und ein Mann mit einem Grübchen im Kinn sieht nicht furchterregend aus. Daher hatte sich Emerson einen so dichten Bart wachsen lassen. Aber er schaute mich so herausfordernd an, daß ich mir jede Bemerkung darüber versagte.

Die beiden Brüder bemerkten fast gleichzeitig meine geschundenen Hände und verboten mir die Weiterarbeit am Pflaster. Die könne er auch übernehmen, erbot sich Walter, nur gebe es einige Unruhe unter den Leuten, die hinter jeder Krankheit Dämonen vermuteten. »Und sie scheinen etwas zu wissen, von dem wir keine Ahnung haben. Aber sie haben Angst davor.«

»Das schaue ich mir morgen selbst an«, versprach Emerson.

»Das werden Sie nicht tun, mein Freund, sonst sind Sie morgen wieder krank im Bett«, protestierte ich. »Einen Tag kann ich das Pflaster schon warten lassen. Ich rede schon mit den Leuten.«

»Sie lassen das Pflaster überhaupt in Ruhe, sonst infizieren Sie sich noch die Finger. Peabody, ich will nicht, daß Sie einen Finger oder zwei verlieren, hören Sie?«

»Vielleicht haben Sie recht«, gab ich ungewohnt kleinlaut zu, so daß Evelyn sich vor unterdrücktem Lachen verschluckte. »Ich überwache also morgen die Arbeiter.« Dazu ließ ich mir von Walter genau erklären, wonach gegraben wurde.

»Es ist wunderbar, daß wir wenigstens Skizzen von allen Funden bekommen«, erklärte er begeistert. »Alles ist ja nicht zu retten.«

»Ich muß aber noch einige Hieroglyphen lernen, damit ich sie richtig kopieren kann«, warf Evelyn ein. »Diese vielen Vögel haben doch alle eine andere Bedeutung. Und manches ist nicht mehr klar zu erkennen. Wenn man die Sprache ein wenig .«

Emerson war ungeheuer beeindruckt von so viel Wissensdurst und zeichnete ihr sofort die verschiedenen Vö-gel auf eine Serviette. Walter sah den beiden voll Bewunderung zu. Ja, sie liebten einander, das ließ sich nicht leugnen. Doch mir tat das Herz weh, wenn ich daran dachte, daß Walters erstes Wort von seiner Liebe alles zerstören konnte.

Ich weiß nicht, ob jemand eine Ahnung hatte, daß dies der letzte friedliche Abend war, den wir für längere Zeit genießen konnten.

Als ich am nächsten Morgen mein Haar bürstete, hörte ich Walter nach mir rufen. Er war sehr aufgeregt. »Die Männer haben oben in den Felsen ein Grab entdeckt!« schrie er schon von weitem.

»Ist das alles? Du lieber Himmel, hier gibt's doch jede Menge Gräber!«

»Aber dieses Grab ist nicht ganz ausgeplündert! Es ist eine Mumie drinnen, eine richtige, echte Mumie! Und, Miß Peabody, die Leute vom Dorf kamen mit der Nachricht zu mir, statt das Grab auszuräubern. Sie müssen uns also vertrauen, sonst würden sie nicht zu uns kommen.«

»Sie vertrauen Mr. Emerson, weil er ihnen den vollen Wert aller gefundenen Gegenstände bezahlt«, antwortete ich. »Warum sollten sie da zu Antiquitätenhändlern gehen, die sie übers Ohr hauen?« Er wandte sich ungeduldig wieder zum Gehen und meinte noch, der Weg dorthin sei außerordentlich mühsam.

»Evelyn, denkst du nicht auch, daß wir vielleicht aus einem Rock oder aus zweien Hosen schneidern könnten, die praktischer wären als diese Röcke?« fragte ich, denn der Weg war wirklich denkbar schlecht.

Nach ein paar Meilen kamen wir am Grab an. Walter war plötzlich ein ganz anderer Mensch; er gab klare Anweisungen und band mir schließlich, als ich darauf bestand, trotz der zu erwartenden Fledermäuse mitkommen zu wollen, ein Seil um. Aber der Einstieg war nicht so schlimm wie erwartet. Natürlich lagen lockere Steine herum, und einmal wippte nur eine schwankende Planke über einer von Schatzsuchern gegrabenen Mulde, aber sonst sah es viel ordentlicher aus als in den uns bisher bekannten Gräbern. Deshalb fürchtete Walter, wir würden schließlich doch gar nichts mehr finden.

Aber dann erreichten wir am Ende des Korridors eine kleine Kammer, die aus dem Fels gehauen war. In der Mitte stand ein hölzerner Sarg. Walter hob seine Fackel und schaute hinein.

Natürlich hatte ich in Museen schon Mumien gesehen, und die hier sah auf den ersten Blick aus wie alle anderen Mumien auch - ein gesichtsloser Kopf, die Arme über der Brust gekreuzt, gerade ausgerichtete Beine und alles mit braunen, halbzerfallenen Binden umwickelt -, und trotzdem war es etwas anderes, einen Menschen, der seit Jahrtausenden tot war, in seiner Grabkammer zu finden. War es ein Prinz, eine Priesterin oder die junge Mutter einer königlichen Familie gewesen? Und lebte die Seele weiter in den goldenen Gefilden von Amenti, wie die Priester es versprochen hatten?

Mit frommen Überlegungen hielt sich Walter nicht auf. Er untersuchte im Licht der Fackel die mit Inschriften bedeckten Wände der Kammer. Einige flache Reliefs zeigten die majestätische Gestalt des Pharaos, ein paarmal allein, meistens mit seiner Königin und sechs kleinen Töchtern. Darüber ließ sich das Sinnbild des Gottes Aton, die runde Sonnenscheibe erkennen, die den König mit goldenen Strahlen umarmte. Jeder Strahl endete in einer winzigen menschlichen Hand.

»Nun, wollen Sie hier graben, oder soll der arme Kerl aus seinem Sarg herausgenommen und in eine behaglichere Umgebung gebracht werden?« fragte ich.

»Wenn wir ihn hierlassen, kommen sicher noch Räuber und suchen die Mumie nach Wertsachen ab. Mir scheint, dieses Grab stammt aus einer späteren Periode als jener, die wir hauptsächlich erforschen, und da waren auch die Edlen ziemlich arm. Viel würden die Plünderer hier nicht finden.«

Aber da sagte einer der Dorfbewohner etwas zu Walter, und er berichtete es mir. »Er ist ein Prinz und Zauberer gewesen, sagt Mohammed. Aber ich denke, er behauptet das, um ein höheres Bakschisch zu bekommen. Der Sarg hat nämlich keine Inschrift, die den Namen der Mumie erwähnt.« Mohammed hatte nämlich das Grab entdeckt und Walter davon berichtet. Er war etwa dreißig Jahre alt, sah aber wie ein Greis aus.

»Ja, wir müssen unseren unbekannten Freund mitnehmen«, fuhr Walter fort. »Radcliffe kann ihn auswickeln. Dann hat er etwas zu tun.«

Emerson freute sich wie ein Kind über diesen Fund, und er ging sofort an die Arbeit. Allerdings war er dann enttäuscht, weil die Mumie nach der Art der Wickelung aus der griechisch-ägyptischen Zeit stammte. Walter erklärte ihm lachend, nach Mohammed sei es aber ein Prinz und Zauberer, ein Priester des Amon, der einen Fluch auf die ketzerische Stadt gelegt habe. »Und da wäre eine neue Aufgabe für dich«, meinte er abschließend. »Man könnte die Traditionen und Sagen dieser Leute erforschen. Es würde unserer Arbeit nützen.«

»Was habt ihr denn nun mit unserem Freund getan?« fragte ich, um den wissenschaftlichen Streit der beiden etwas abzukürzen. »Ich hoffe, ihr steckt ihn uns nicht in unseren Schlafraum. Das hielte ich für ungesund.«

Da lachte Emerson schallend. »Keine Angst, die Mumie ist am Ende des Pfades in einer Höhle versteckt.«

»Morgen früh könnte ich mir eigentlich das Grab an-schauen, dann bleibt mir der Nachmittag für die Arbeit am Pflaster«, bemerkte ich.

»Du lieber Gott, Madam, Sie halten sich doch hoffentlich nicht für eine Archäologin?« protestierte Emerson. »Was hoffen Sie dort zu finden?«

Walter und Evelyn versuchten fieberhaft, das Thema zu wechseln. Es gelang ihnen auch einigermaßen, aber Emerson blieb den ganzen Abend über brummig.

»Nehmen Sie's ihm nicht übel, Miß Peabody«, bat Walter. »Er ist noch nicht ganz so wie früher.«

»Das stimmt, denn wenn er gesund ist, redet er noch viel lauter und streitsüchtiger«, antwortete ich. »Aber ich fürchte, wir sind alle ein bißchen nervös und gereizt. Besser wäre, wir gingen zu Bett.« Und das taten wir auch alle.

Ich war schon früher auf die Tatsache gestoßen, daß ein gesunder Schläfer sich von normalen Geräuschen nicht stören läßt, von unbekannten und außergewöhnlichen jedoch sofort aufwacht. Amarna war sicher eines der stillsten Fleckchen der Erde. Ab und zu heulte in der Ferne ein liebeskranker Schakal, aber sonst rührte sich nichts. Es war also nicht besonders erstaunlich, daß ich in jener Nacht plötzlich hellwach im Bett saß. Ich hörte ein Geräusch, und es klang ungefähr so, als kratze etwas Knochiges auf einem Stein herum.

Instinktiv griff ich nach meinem Sonnenschirm, der als Waffe durchaus geeignet war, weil er einen sehr kräftigen stählernen Stock hatte. Dann erst rief ich leise: »Wer ist da?«

Antwort erhielt ich keine, doch das Kratzen hörte auf. Ein paar Augenblicke später vernahm ich leise, tappende Geräusche, als habe jemand einen sehr hastigen Rückzug angetreten.

Ich sprang aus dem Bett, rannte zum Eingang und riß den Vorhang weg. Nur flüchtig schoß mir der Gedanke an wilde Tiere, in erster Linie Löwen, durch den Kopf, denn die waren am Wüstenrand zwar nicht mehr sehr häufig, aber sie suchten manchmal auch bewohnte Gegenden auf. Ich stand eine Weile da und lauschte, bis ich schon ziemlich weit weg Steine unter einem eiligen Fuß davonrollen hörte. Vom Sims aus hielt ich Ausschau nach der Ursache dieses Geräusches.

Der Mond schien sehr hell, doch der Sims lag im Schatten der Klippen. Vor dem dunklen Hintergrund hob sich dort, wo der Sims um eine Bergflanke bog, ein blasser Gegenstand ab. Dieses Objekt hatte etwa die Größe und Breite eines Mannes, doch es glich eher einer weißen Steinsäule als einer menschlichen Gestalt. Die untere Hälfte schien zu Beinen geteilt zu sein, und in Schulterhöhe standen steife, nicht sehr lange Stummel ab. Sicher waren es aber keine Arme, denn die wären niemals so starr gewesen.

Plötzlich verschwand das Ding, wahrscheinlich hinter der Bergflanke. Mich erreichte nur noch ein jammerndes Seufzen, doch das konnte auch ein Windhauch gewesen sein, wenn ich auch keinen gespürt hatte.

Ich kehrte in mein Bett zurück, schlief aber gar nicht gut und war froh, als der Morgen heraufdämmerte. Ich redete mir ein, es könne ein großes Tier gewesen sein, das sich auf die Hinterbeine gestellt hatte, doch daran glaubte ich selbst nicht. Als ich auf den Sims hinaustrat, knackte etwas unter meinen Füßen.

Der Sonnenaufgang in Ägypten ist ein großartiges Schauspiel, doch diesmal interessierte er mich nicht. Ich bückte mich und hob das Zeug auf, das geknackt hatte. Es war braunes, trockenes Zeug, das wie Papier knisterte, als ich es zwischen den Fingerspitzen rieb, ein Stück Bandage, das einmal um eine Mumie gewickelt war.

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