11. Kapitel

Später machte ich mir doch Sorgen um ihn. Walter und Evelyn waren in ihr Glück versunken, so daß Emerson und ich die ganze Unterhaltung allein bestreiten mußten.

»Peabody«, sagte Emerson schließlich, »ich glaube, von dem Lord haben wir zum letztenmal etwas gesehen. Hoffentlich. Allerdings meine ich, auch die Mumie war zum letztenmal da. Nein, Gefahr besteht keine mehr.«

»Unsinn«, erwiderte ich gereizt. »Lucas kann die Mumie gar nicht gewesen sein. Ich habe die beiden wiederholt zusammen gesehen.«

»Nun, vielleicht irre ich mich« - sein Ton bestritt diese Möglichkeit ganz entschieden -, »und es gibt wirklich ein Grab in den Hügeln, das die Dorfbewohner plündern wollen. Aber, Peabody, dieser Plan stammt nicht von einem Ägypter. Nur ein Europäer oder ein Engländer, höchstens noch ein Amerikaner könnte sich so etwas ausgedacht haben, denn die haben ihre skrupellosen Sammler. Und es gibt genug gewissenlose Kollegen, die alles tun würden, um ein solches Grab zu finden. Ich habe die Konzession in Amarna, die mir nicht einmal Maspero wegnehmen könnte. Nicht, daß Maspero .«

»Das ist eine absurde Idee!«

»Und die Alternative? Ich habe keine Feinde.«

»Ha!«

»Nun, ein paar Individuen mögen mich kritisieren. Ja, ein paar. Vielleicht sogar mehrere. Aber es sind pro-fessionelle, keine persönlichen Feinde. Walter hat überhaupt keine Feinde. Sein Charakter ist viel zu gut dafür. Sind Sie sicher, daß Sie nicht von sitzengelassenen Liebhabern verfolgt werden?«

Diese Frage konnte ich keiner Antwort würdigen.

»Dann muß es wohl Miß Evelyn sein, die zu solchen Aktivitäten herausfordert. Dann dürften die Ereignisse des heutigen Abends die Frage geklärt haben. Der Lord ist verschwunden ...«

Ich erkannte den Schritt von Lucas, der sich uns näherte.

»Lucas, ich bin sehr erleichtert, Sie zu sehen, denn ich machte mir Sorgen«, erklärte ich ihm voll ungewohnter Herzlichkeit.

»Ach, wie freundlich von Ihnen«, antwortete er und spähte in den Schatten, wo Evelyn und Walter saßen, die ihn nicht zu sehen schienen. »Ich hatte das Bedürfnis, allein zu sein und zu laufen, und das habe ich getan. Sie glaubten doch hoffentlich nicht, daß ich Sie verlassen würde?«

»Nein, ganz gewiß nicht«, versicherte ich ihm.

»Morgen werde ich meinen Kummer in Arbeit ertränken, und für heute habe ich eine Flasche Wein mitgebracht, wie Emerson es vorschlug, um einen Toast auf meine Kusine auszubringen.«

Ich weiß nicht, weshalb es für mich eine Genugtuung war, daß Lucas sich wie ein Gentleman benahm, denn ich hatte ihn noch nie gemocht. Er brachte Gläser und öffnete die Flasche. »Ich kann es nicht wagen, Evelyn zu bitten. Wollen Sie das tun? Ich schäme mich nämlich meines Benehmens. Nun, ich war schon immer sehr leidenschaftlich.«

Ich rief also Evelyn, und sie kam und zog Walter mit sich. Ich muß zugeben, Lucas benahm sich großartig, als er den Toast ausbrachte. Auch Emerson nippte an seinem Glas, doch er zog eine Grimasse dabei, auch als noch ein Toast auf Walter folgte.

»Ich werde es nie vergessen, daß ich Ihnen mein Glück verdanke«, sagte da Walter zu mir. »Ich hoffe, daß ich mich dessen würdig erweise und Ihren Erwartungen entspreche. Und ich hoffe auch, daß Sie oft bei uns sind, um sich davon zu überzeugen, daß ich Evelyn glücklich mache.«

»Vielleicht nütze ich diese Einladung aus«, erwiderte ich lachend, und Emerson schaute dazu ergeben drein, obwohl er dann wieder vor sich hin brütete.

Lucas machte dann den Vorschlag, daß die drei Männer Wache halten sollten, um den Spuk endgültig zu vertreiben, und Emerson pflichtete ihm bei.

Man vereinbarte, daß Lucas die ersten drei Stunden übernehmen sollte, Emerson die folgenden drei, Walter den Rest der Nacht. Ich schleppte Evelyn in unsere Schlafkammer, und sie schlief auch fast sofort ein. Ich war ungeheuer müde, konnte jedoch nicht schlafen, fand aber auch den Grund für meine Unrast nicht. Ganz gewiß ging es jedoch nicht um die Mumienerscheinung, denn die machte mir keine großen Sorgen mehr. Es war eine andere Unruhe, und dabei hätte ich mich doch freuen sollen, weil ich der lieben Evelyn zu ihrem Glück verholfen hatte.

Da kam Lucas an meine Tür. »Miß Amelia!« rief er leise. »Ich höre, daß Sie wach sind. Darf ich Sie zu einem Glas Wein einladen? Ich finde heute einfach keine Ruhe.«

»Es ist aber unklug, Lucas, wenn Sie noch einmal Wein trinken«, wandte ich ein. Die Nacht war kühl, und ich zog meinen Schlafrock enger um mich.

»Nun, ich bin nicht aus Eisen, und ich wollte mich nur für das stählen, was getan werden muß. Kommen Sie, leisten Sie mir Gesellschaft.«

»Und ich werde wohl nicht eingeladen?« meldete sich Emerson. »Oder störe ich etwa eine persönliche Unterhaltung?«

»Seien Sie nicht so dumm«, erwiderte ich, doch meine Worte gingen in einem großen Gähnen unter. »Ach, bin ich müde. Ich möchte nur wissen, weshalb ich trotzdem nicht schlafen kann«, sagte er.

»Ich kann es auch nicht«, meinte Emerson. »Übrigens, ich übernehme jetzt die Wache. Mir macht es nichts aus. Manchmal schlafe ich ganze Nächte überhaupt nicht. Komisch, jetzt habe ich das Gefühl, als sollte ich niemals wieder schlafen.«

Da wußte ich, daß etwas ganz und gar nicht stimmte, und Emerson wußte es auch. Was er sagte, war eine Lüge. Sein schwarzes Haar war nämlich naß, denn er hatte Wasser über den Kopf geschüttet. Um sich wach zu halten?

»Schon gut«, meinte Lucas ziemlich verdrossen. »Wenn ich schon zu nichts nütze bin, kann ich die Flasche auch allein austrinken. Gute Nacht also. Ich schlafe unten im Zelt, und Sie, mein ritterlicher Freund Emerson, können mich ja mit einem Schrei wecken, falls etwas Unerwartetes geschieht.«

Dann wurde ich plötzlich an der Schulter gerüttelt. »He, Peabody, aufwachen! Verdammt noch mal, haben Sie denn nicht begriffen, daß wir unter Drogen gesetzt wurden?«

»Drogen?« wiederholte ich verständnislos.

»Ja, Drogen. Seit über einer Stunde kämpfe ich gegen den Schlaf. Haben Sie ein Mittel, das die Wirkung von Laudanum aufhebt?«

Ich dachte nach. »Riechsalz. Es ist ziemlich stark.«

»Hm. Immer noch besser als gar nichts. Holen Sie's, aber schnell!«

Evelyn schlief viel zu fest, und ich konnte sie nicht aufwecken. Ich hielt mir das Riechsalz unter die Nase und spürte, wie es mich belebte. Dann eilte ich zu Emerson zurück, der mich anschielte und am Felsen lehnte. Ich drückte ihm das Fläschchen in die Hand.

»Und jetzt sagen Sie mir, was Sie fürchten«, drängte ich.

»Ich habe allerhand Unfug gedacht«, knurrte er. »Mir fehlt ein Schlüssel zu der ganzen Geschichte, und ich vermute, den haben Sie, Peabody.«

Er schaute mich an, erst verständnislos, dann entgeistert. Mir stellten sich die Nackenhaare auf. Ich konnte nämlich bis zum Ende des Pfades schauen, und dort bewegte sich etwas. Ich hörte ein leises Stöhnen.

Ich wußte aber, daß dieses Stöhnen nicht von der Mumie kam, denn es klang viel menschlicher und drückte Schmerz aus. Ich sprang auf, aber Emerson war noch schneller als ich, und wir rannten den Pfad entlang. Ich hielt den Atem an, als Emerson ein Stück weiter in die Dunkelheit ging, um dem Stöhnen zu folgen. Als ich um die nächste Felsecke bog, sah ich ihn am Boden knien neben einem liegenden Mann, den ich kannte und - Gott möge mir verzeihen - fast vergessen hatte. Es war unser verschwundener Diener Michael.

»Guter Gott!« rief ich. »Ist er tot?«

»Nein, aber ich fürchte .«

Michael trug das verblichene, blau-weiß gestreifte Gewand vom Tag seines Verschwindens, doch jetzt war es zerrissen und schmutzig. Ich tastete nach dem Puls und fand ein verschwollenes und blutiges Gelenk.

»Jemand hat ihn gefangengehalten, das sind Spuren von Stricken«, sagte Emerson. »Wir müssen ihn sofort versorgen. Er ist sehr schwach.« Emerson nahm ihn auf die Arme und trug ihn hinauf zum Grab.

Ehe wir um die Felsecke bogen, ertönte der gräßliche, schrille Angstschrei einer Frau. Und da stand auch die Mumie. Der blinde, bandagierte Kopf war uns zugewandt, und in den Stummelarmen hatte sie Evelyn. Kein Wunder, daß sie in eine tiefe Ohnmacht gefallen war.

Emerson war mit dem ohnmächtigen Michael vor mir und versperrte mir den Weg. Mir sollte dieses Monster nicht entkommen! Aber ich fühlte mich wie in Treibsand gefangen, denn jede Bewegung kostete mich eine unbeschreibliche Anstrengung. Doch dann passierte praktisch alles auf einmal.

Lucas kam aus dem Zelt und behauptete, Evelyns Schrei habe ihn geweckt. Er bewegte sich eigentlich erstaunlich flink, und deshalb stieß er mit uns zusammen. Emerson fand am Felsen Halt, doch ich wurde umgerissen. Die Mumie erkannte ihren Vorteil, beugte die Knie und sprang vom Sims. Fast hätte ich erwartet, daß das Ding Flügel bekäme und davonflöge. Aber es rannte, für eine Mumie sogar erstaunlich schnell.

»Laßt sie nicht entkommen!« schrie ich. Das heißt, ich glaubte es geschrien zu haben, doch Emerson versicherte mir, ich hätte nur Unverständliches gegurgelt. Mir wickelten sich die Röcke um die Beine, und so mußte ich mich auf Lucas verlassen.

»Ich werde Evelyn retten!« rief er und rannte davon.

Walter war eben aus seiner Schlafkammer gekommen. Auch er schien schwer geschlafen zu haben, doch in einer Mischung aus Wut und Entsetzen rannte er hinter Lucas drein. Ich versuchte ihm zu folgen, doch Emerson versetzte mir einen Tritt gegen das Schienbein, weil er keine Hand frei hatte.

»Peabody, behalten wenigstens Sie klaren Kopf«, stöhnte er. »Kommen Sie mit, Sie müssen bei Michael bleiben.«

Der Rat war ausgezeichnet, wenn auch nicht leicht auszuführen. Jedenfalls war es so, daß ich die Mumie bestimmt nicht fangen konnte, wenn es den jungen Männern nicht gelang. Ich rannte also hinter Emerson drein, der schließlich den armen Michael erstaunlich behutsam auf sein Bett legte. Er verlor keine Zeit und wandte sich sofort wieder der Tür zu. Ich griff nach der Lampe, um sie anzuzünden. Da hörte ich von draußen, unmittelbar neben der Tür, einen Schuß, dann ein Stöhnen, und gleichzeitig sah ich, wie Emersons hohe Gestalt in sich zusammensackte.

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