9. Kapitel

Emerson war schon vor mir bei Walter. Er riß seinem Bruder das blutige Hemd auf und schaute zu Lucas, der inzwischen ebenfalls herangekommen war.

»In den Rücken geschossen«, stellte Emerson mit einer Stimme fest, wie ich sie an ihm noch nie gehört hatte. »Lord Ellesmere, Ihre Jagdkollegen in England würden das schärfstens mißbilligen.«

»Mein Gott«, stotterte Lucas. »Das ... wollte ich nicht. Ich warnte ihn doch. Um Himmels willen, Mr. Emerson, sagen Sie doch, er ist . nicht .«

»Nein, er ist nicht tot. Glauben Sie, ich würde mit Ihnen diskutieren, wenn Sie ihn erschossen hätten?«

Nun gaben meine Knie nach, und ich ließ mich in den warmen Sand fallen. »Gott sei Dank«, stöhnte ich.

Emerson warf mir einen mißbilligenden Blick zu. »Peabody, reißen Sie sich zusammen. Sie sollten sich besser um das andere Opfer kümmern. Ich nehme an, sie ist nur ohnmächtig. Walter ist nicht schwer verletzt. Die Wunde liegt hoch und ist sauber. Zum Glück hat seine Lordschaft nur eine Waffe kleinen Kalibers benützt.«

Lucas atmete auf. »Ich weiß, daß Sie mich nicht mögen, Mr. Emerson«, sagte er demütig, und das stand ihm recht gut. »Aber es ist wirklich eine Erleichterung, das zu hören.«

»Hm. Nun, ich will Ihnen glauben. Gehen Sie, und helfen Sie Amelia bei Evelyn.«

Evelyn war sehr schwach, aber sie machte sich nur Sorgen um Walter. Als sein Bruder ihn zum Bett trug, bestand sie darauf, mir dabei zu helfen, seine Wunde zu reinigen und zu verbinden. Ich war sehr froh, daß Emerson recht gehabt hatte. Die Kugel hatte nur eine fleischige Stelle der rechten Schulter durchschlagen und keinen Knochen getroffen. Selbstverständlich war Evelyn mehr Hindernis als Hilfe, aber ich konnte sie einfach nicht wegschicken. Walter kam bald wieder zu sich und bedankte sich dann bei mir mit einem mühsamen Lächeln. Sein erster Blick hatte jedoch Evelyn gegolten.

Emerson hatte seit einiger Zeit die Gewohnheit angenommen, eine gräßliche Pfeife zu rauchen. Er war still in einer Ecke gesessen und hatte zugesehen, als wir Walter versorgten. Nun stand er auf und streckte sich. »Die Abendunterhaltung ist vorüber, und ich schlage vor, wir verschlafen den Rest der Nacht«, sagte er.

»Wie können Sie schlafen?« hielt ich ihm vor. »Ich habe so viele Fragen ...«

»Peabody, ich glaube, Walter ist noch nicht in der Verfassung, Ihre Unterhaltung zu genießen. Da gehört schon ein sehr starker Mann her, der .«

»Radcliffe, das genügt jetzt«, unterbrach ihn Walter, und dazu lächelte er mich bezaubernd an. »Miß Amelia hat recht. Wir haben sehr viel zu diskutieren.«

»Das glaube ich auch«, meldete sich Lucas. »Darf ich eine Erfrischungsrunde vorschlagen? Ein wenig Whisky könnte Walters Schmerzen .«

»Nein, kein Alkohol«, wehrte ich ab. »Bei einer solchen Wunde!«

»Aber vielleicht für die Damen«, schlug Walter vor. »Sie haben einen großen Schock erlitten.«

Also bekamen wir Brandy. »Und wie lautet Ihre erste

Frage?« begann Emerson, nachdem er einmal an seinem Glas genippt hatte.

»Erstens, was ist mit Abdullah geschehen?«

»Du lieber Gott, den habe ich völlig vergessen!« rief Lucas. »Wo ist er denn überhaupt?«

»Abdullah wird der Mumie folgen«, erklärte Emerson. »Ich habe ihm das aufgetragen, aber ich denke, er wird bald zurückkommen. Ah, da ist er schon!«

Abdullah hatte einen Posten in Lagernähe bezogen und die Schüsse gehört. So hatte er die Mumie gesehen, als sie uns verließ. Daß sie es so eilig hatte, erstaunte ihn. »Die rannte wie ein leichtfüßiger junger Mann«, erzählte er. Er mußte sich zwar gefürchtet haben, sich mit der Mumie anzulegen, aber so viel Mut brachte er auf, ihr in sicherer Entfernung zu folgen.

»Sie ist in den Wald gegangen, zum Grab. Ich bin nicht mitgekommen. Ich dachte, ich komme besser hierher, weil ich sicher gebraucht werde.«

»Nun, das kann man Abdullah nicht verdenken«, bemerkte ich. »Sicher hat dieser Schurke, wer immer es auch war, dort sein scheußliches Kostüm versteckt und ging später zum Dorf.«

»Ich glaube, wir sollten die Diskussion beenden, Walter braucht Ruhe«, warf Evelyn leise ein, und da mußte ich ihr recht geben. Ich scheuchte also alle auf, vor allem Lucas, der sehr zerknirscht war und Walter versicherte, es sei nicht seine Absicht gewesen, ihn zu verletzen. »Und wenn Sie sagen, Mr. Emerson, daß ich mich unglaublich ungeschickt benommen habe, so muß ich das zugeben. Als ich das entsetzliche Ding kommen sah . « Er nahm die Pistole aus der Tasche. »Die werde ich niemals mehr benützen. Eine Kugel ist noch übrig . « Er sprang auf, streckte die Hand aus und hatte den Finger am Abzug.

»Sie Narr«, knurrte Emerson um seinen Pfeifenstiel herum, als er Lucas' Handgelenk mit eisernem Griff packte. »Hier in diesem Gewölbe würde uns ein Schuß ertauben lassen, und dann ein Querschläger dazu ... Nein, Lord Ellesmere, die Waffe nehme ich in Verwahrung, und Sie gehen jetzt sofort zu Bett.«

Er fügte sich ohne Widerspruch, so daß er mir fast leid tat, weil er wie ein armer Sünder davonschlich. Evelyn und ich zogen uns in unsere Kammer zurück. Als sie eingeschlafen war, kehrte ich zum Sims zurück und entdeckte zu meinem Staunen, daß Emerson wieder eine Pfeife rauchte und seine Füße über den Felsrand baumeln ließ.

»Setzen Sie sich, Peabody«, forderte er mich auf. »Ich denke, wir kommen weiter, wenn wir beide uns in aller Ruhe unterhalten.«

Ich setzte mich. »Heute haben Sie mich schon einmal Amelia genannt«, hielt ich ihm vor.

»Nein, wirklich? Da war ich aber sicher geistig verwirrt.«

»Kein Wunder bei dem, was Ihrem Bruder zustieß. Aber es war nicht nur Lucas' Schuld. Walter ist direkt in die Schußlinie hineingelaufen.«

»Seine Lordschaft hatte schon zweimal ergebnislos geschossen und hätte vernünftiger sein können. Und holen Sie sich einen Schal. Sie frieren.«

»Ich friere nicht, ich habe Angst. Emerson, ist denn niemand bereit, auszusprechen, was wir alle sahen? Ich beobachtete, wie die Kugeln diese Mumie trafen! Haben Sie denn nichts gesehen?«

»Ich sah, daß das Ungetüm die Hände oder Tatzen oder was immer auf die Brust legte«, gab Emerson zu. »Aber, Peabody, seit wann glauben Sie an Gespenster? Ich könnte mir schon denken, weshalb die Kugeln nicht trafen. Solche Waffen sind nämlich außerordentlich ungenau, selbst in der Hand eines Experten, und der Lord ist gewiß keiner. Vielleicht hat die Mumie es nur gespielt, getroffen worden zu sein, um die Sache geheimnisvoller zu machen.«

»Das wäre möglich«, gab ich zu. »Stünde ich in den Sandalen der Mumie, würde ich mich aber nicht auf Lucas' Geschicklichkeit verlassen. Und Ihre andere Erklärung?«

»Eine Art Rüstung. Sie haben doch sicher schon in Büchern gelesen, daß fromme Männer, die ihre Bibel in der Brusttasche bei sich tragen, durch sie vor mancher verirrten Kugel - oder auch vor einer gezielten - gerettet wurden. Genügen würde da auch schon ein altes Lederwams, wie es früher die englischen Infanteristen trugen. Eine Kugel so kleinen Kalibers ist relativ leicht aufzuhalten.«

»Ja, zugegeben. Diese Bandagen könnten schon eine solche Wirkung haben. Aber würde Mohammed sich so etwas ausdenken können?«

»Sollen wir nicht besser die Idee aufgeben, daß Mohammed dahintersteckt? Er war es nämlich bestimmt nicht.«

»Woher wissen Sie das so genau?«

»Einen Augenblick lang stand Walter nahe genug neben der Mumie, so daß ich einen guten Größenvergleich anstellen konnte. Diese Mumie war gleich groß oder etwas größer als Walter, und Mohammed und die anderen Dorfbewohner sind kleine Leute. Das kommt von der schlechten Ernährung.«

»Wie können Sie so ruhig über die schlechte Ernährung der Leute reden, wenn Ihr Bruder verletzt ist?«

»Ach, wissen Sie, allmählich macht mir die Sache fast irgendwie Spaß. Vielleicht hat mich Lord Ellesmere mit seinen sportlichen Instinkten angesteckt. Ein guter Engländer muß ja immer kühl bis ans Herz hinan bleiben, sogar dann, wenn er schon im Kochkessel der Kannibalen schmort. Aber Sie dürfen überzeugt sein, daß ich den fin-den will und werde, der Walter verletzt hat oder dafür verantwortlich ist.«

Ich hatte den Eindruck, daß ich froh sein dürfe, diese Person nicht zu sein, doch ich ging lieber auf ein anderes Thema über. »Sie haben also Ihre Bandage abgelegt«, stellte ich fest.

»Peabody, Sie sind heute wirklich brillant. Ich kann es mir nicht leisten, wehleidig zu sein. Die Dinge treiben einem Höhepunkt entgegen.«

»Was sollen wir dann tun?«

»Das fragen Sie, Peabody? Sie müssen wohl Fieber haben.«

»Ihre Manieren lassen sehr zu wünschen übrig!«

Er hob abwehrend die Hand. »Machen wir doch lieber einen Spaziergang«, schlug er vor. »Sie wollen Miß Evelyn doch sicher nicht aufwecken. Wissen Sie, es scheint Ihnen unmöglich zu sein, eine vernünftige Unterhaltung zu führen, ohne Ihre Stimme zu erheben.«

Er half mir nicht sehr zart auf die Beine und stellte mich auf die Füße. Eine Weile gingen wir schweigend nebeneinander her. Selbst Emerson ließ sich von der Schönheit der Nacht anrühren.

Das weiche Mondlicht lag auf der trostlosen Öde, die einstmals die glänzende Hauptstadt eines Pharaos gewesen war. Ich stellte mir die Paläste in ihren Gärten vor, die weißen Mauern der Tempel, die herrlichen, bunt bemalten Reliefs, die im Wind flatternden Fahnen, die breiten, baumgesäumten Straßen, in denen fröhliche Menschen ihren Geschäften oder ihrem Vergnügen nachgingen. Und das war alles verschwunden, zu Staub zerfallen oder im Sand begraben.

»Nun?« fragte ich, als ich mich mit Gewalt aus meiner melancholischen Stimmung riß. »Ich warte atemlos vor Spannung auf Ihren Vorschlag.«

»Was würden Sie dazu sagen, daß wir morgen das Lager abbrechen?«

»Wir? Aufgeben? Niemals!«

»Das habe ich erwartet. Sie wollen also Miß Evelyn riskieren?«

»Sie meinen, die Mumie habe es auf sie abgesehen?«

»Nun, die Absichten dieses ehrenwerten Ungetüms kenne ich selbstverständlich nicht«, meinte er pedantisch. »Aber mir scheint, interessiert ist die Mumie an ihr und nicht an Ihrem Charme, Peabody. Das Ding muß gewußt haben, daß Sie in diesem Zelt waren. Was hatten Sie dort zu suchen?«

»Ich wollte herausfinden, was mit Michael geschehen ist. Und da habe ich das hier gefunden.« Ich zeigte ihm das Kreuz mit der abgerissenen Kette.

»Dumm von dem Angreifer, einen solchen Beweis zurückzulassen.«

»Glauben Sie, er wurde entführt?«

»Ich halte es für möglich.«

»Und Sie tun nichts? Ein treuer Helfer und verläßlicher Freund .«

»Was soll ich denn tun? Hatten wir denn bisher überhaupt Zeit, darüber nachzudenken? Und außerdem meine ich, Michael passiert nichts.«

»Ich wollte, ich hätte Ihre Zuversicht. Nun, wir können natürlich nicht ins Dorf gehen und seine Herausgabe fordern. Wie schade, daß wir die Mumie nicht festhalten konnten, etwa als Geisel oder so.«

»Wir könnten noch viel mehr erreichen, wenn wir die Mumie hätten, aber mir scheint, die Sterne sind gegen uns. Doch wir wollen unsere Zeit nicht mit unnützem Selbstmitleid vergeuden. Ich sorge mich um Miß Evelyn.«

»Ich etwa nicht? Ich muß sie wegbringen, am besten zur Dahabije. Dort kann sie von der ganzen Mannschaft bewacht werden.«

»Unser mumifizierter Freund würde sie sicher auch dort finden.«

Das traf mich wie ein Guß kalten Wassers. »Er wird es nicht wagen! Wenn es sein Ziel ist, daß Sie das Lager verlassen .«

»Wie soll ich wissen, was sich eine lebendig gewordene Mumie als Ziel gesetzt hat? Aber glauben Sie, Walter würde Miß Evelyn hierlassen, wenn er glaubt, daß ihr hier Gefahr droht?«

»Aha, dann haben Sie das also auch bemerkt.«

»Bin ich denn blind oder aus Stein? Die beiden sind einander doch nicht gleichgültig.«

»Und das mißbilligen Sie, nicht wahr?«

»Warum denn, Peabody? Wissen Sie, ich brauche Geld für meine Grabungen. Für einen edlen Zweck, wohlgemerkt, für die Erhaltung wertvollster Kulturschätze, die der ganzen Menschheit dienen sollen. Und Walter könnte sich gut verheiraten. Er ist ein gutaussehender junger Mann. Glauben Sie, ich würde es gutheißen, daß er sich an ein armes Mädchen hängt? Und Miß Evelyn ist doch arm, nicht wahr?«

Er hatte seine Pfeife ausgeklopft und in die Tasche gesteckt, und während er das in einem sehr sarkastischen Ton vorbrachte, glaubte ich einen Geruch nach versengtem Stoff wahrzunehmen. »Sie ist arm«, erwiderte ich nur.

»Sehen Sie. Wie schade! Aber, selbst wenn sie für Walter zu arm ist, so ist sie doch für die Mumie zu schade. Ich schlage vor, wir testen unsere Theorie und lassen sie morgen auf dem Boot schlafen, dann sehen wir schon, was geschieht. Peabody, Sie müssen sich was ausdenken, damit sie auch dort bleibt. Freiwillig verläßt sie Walter nicht. Ich würde eine Expedition zum Boot vorschlagen, um ein paar nötige Sachen zu holen. Abdullah kann bei Walter bleiben.«

»Warum kann er nicht mitkommen? Das Boot wäre viel besser für ihn.«

»Wir sollten ihn, glaube ich, nicht transportieren. Walter wird übrigens nur für ein paar Tagesstunden allein sein, denn ich kehre sofort wieder zurück, nachdem ich Sie beim Boot abgeliefert habe. Sie müssen krank spielen oder sich sonst etwas ausdenken, damit Evelyn über Nacht dort bleibt. Natürlich müssen Sie aufpassen. Ich kann mich auch irren, und dann kommt die Mumie nicht. Wenn sie kommt, sind aber Sie für Miß Evelyns Sicherheit verantwortlich. Wollen Sie diese Verantwortung übernehmen?«

»Selbstverständlich.«

»Dann nehmen Sie das hier.« Zu meiner Verblüffung gab er mir Lucas' Pistole. Ich wehrte mich, sie zu nehmen, weil ich mit Feuerwaffen nicht umgehen könne. »Ah, dann haben Sie also doch eine Schwäche!« sagte er.

Nun stieg eindeutig ein kleines Rauchwölkchen aus der Tasche auf, in der er seine Pfeife verstaut hatte. Aber davon erwähnte ich noch immer nichts. »Ich komme auch ohne Waffe zurecht«, erwiderte ich. »Und ich bin mit Ihrem Plan einverstanden. Sie brauchen keine Angst zu haben, daß ich meine Rolle nicht richtig spiele. Gute Nacht, Emerson.«

Ich beobachtete ihn eine Weile und genoß die Lage, weil er ein so merkwürdiges Gesicht machte. »Übrigens«, fügte ich hinzu, »Ihre Tasche brennt. Ich dachte mir zwar, daß Sie Ihre Pfeife nicht ordentlich ausgeklopft haben, doch ich weiß ja, daß Sie nicht gerne einen Rat annehmen. Noch einmal: Gute Nacht, Emerson.«

Ich sah noch, daß er wie ein Derwisch herumtanzte und mit beiden Händen auf seine Tasche schlug.

Zu meiner unbeschreiblichen Erleichterung ging es Walter am nächsten Morgen besser. Trotzdem kamen wir überein, Walter nicht zur Dahabije mitzunehmen. Es war nicht leicht, Evelyn zum Mitkommen zu überreden, doch schließlich gab sie nach, weil sie glaubte, wir würden sofort wieder zurückkehren. Wir machten uns also auf den Weg. Als ich mich umschaute, hockte Abdullah mit hochgezogenen Knien am Sims, und auf den Knien lag der Kopf mit dem Turban.

Der Weg war anstrengend, und ich atmete erleichtert auf, als ich endlich die schlaffen Segel der Philae erblickte. Sie schaukelte sanft auf dem Wasser. Daneben lag die Cleopatra, Lucas' Boot. Es war kleiner als das unsere und lange nicht so schmuck. Seine Leute waren ebenso schmutzig und ungepflegt wie ihr Schiff, vor allem aber mürrisch und gleichgültig. Unsere Mannschaft dagegen begrüßte uns voll ehrlicher Begeisterung.

Ich verstand zwar die Worte nicht, aber Emerson fragte unseren Reis auf arabisch nach Michael, doch der Reis wußte nichts von ihm. Er behauptete es wenigstens, denn ich hatte das Gefühl, er sei vielleicht nicht ganz aufrichtig. Vielleicht hielt er sogar einen beschämten, geflüchteten Michael versteckt, weil er die Spukgeschichten der Dorfbewohner gehört und geglaubt hatte. Offensichtlich wurde Emerson von ähnlichen Zweifeln geplagt. Er erfuhr aber nur, daß man Michael nicht gesehen habe.

Nun, auch Emersons zornige Ungeduld nützte nichts, denn wenn ein Ägypter nicht reden will, kann ihn nicht einmal ein Großinquisitor dazu bringen. Evelyn war inzwischen nach unten gegangen, um die aufgeschriebenen Sachen zu packen, und Lucas war auf seinem eigenen Boot. Ich stand mit Emerson auf dem Oberdeck.

»Ich muß jetzt wieder zurück«, murmelte er. »Peabo-dy, es stimmt absolut gar nichts. Die Bootsbesatzung hat mit den Dorfbewohnern geredet. Ein Mann ist schon davongelaufen, und Hassan fürchtet, die anderen nicht mehr ganz unter Kontrolle zu haben. Zugeben darf er das natürlich nicht.«

»Ich hatte gleich das Gefühl, daß etwas nicht stimmte. Sie sollten aber wirklich zu Walter zurückkehren. Gehen Sie. Ich werde schon tun, was zu tun ist. Sie können sich darauf verlassen.«

»Die Situation ist unerträglich«, stellte er erbost fest, und der Schweiß rann ihm in dicken Tropfen über das Gesicht. »Amelia, schwören Sie mir, daß Sie genau das tun, was ich gesagt habe, daß Sie kein Risiko eingehen und sich nicht verraten.«

»Ich sagte Ihnen doch schon, daß Sie sich darauf verlassen können. Oder verstehen Sie kein Englisch?«

»Guter Gott! Sie begreifen nichts. Da sind Sie weit und breit die einzige Frau, der ich ...«

Vom anderen Deckende näherte sich Lucas, die Hände in den Taschen, die Lippen zum Pfeifen gespitzt.

Emerson warf mir noch einen durchbohrenden Blick zu, drehte sich wortlos um und kletterte die Leiter zum Unterdeck hinab. Ich folgte ihm, weil ich Lucas jetzt nicht ertragen konnte, doch er war schon verschwunden. Dafür stieß ich dann im Gang, an dem die Kabinen lagen, mit Evelyn zusammen, denn ich hatte nicht aufgepaßt, weil mir auch zum Pfeifen zumute war.

»Amelia, ich habe Emerson gerade gesehen, er hat sich ohne uns auf den Rückweg gemacht!« rief Evelyn bestürzt. »Bitte, halt ihn auf, ich muß doch zurück zum Lager!« Evelyn versuchte an mir vorbeizukommen, doch ich hielt sie auf und lehnte mich schwer gegen sie.

»Ach, mir ist so schrecklich elend«, klagte ich. »Vielleicht sollte ich mich hinlegen.«

Evelyn half mir fürsorglich, wie erwartet, in meine Ka-bine und öffnete mir das Kleid; ich tat sehr schwach, ob Evelyn mir nun glaubte oder nicht. Sie hielt mir das Riechsalz so nahe unter die Nase, daß ich einen Niesanfall bekam. »Halt, halt!« stöhnte ich. »Mir fliegt sonst der Kopf weg!«

»Aber jetzt geht es dir schon wieder besser«, stellte Evelyn fest. »Das war deine alte Stimme. Kann ich dich einen Moment allein lassen? Ich will nur Mr. Emerson nachlaufen und ihm sagen, er solle doch warten.«

Ich ließ mich stöhnend auf das Kissen zurückfallen. »Evelyn, ich kann nicht gehen ... Ich muß hierbleiben ... Wenn du meinst ..., du mußt gehen, dann geh nur ... Ich will dich nicht ... aufhalten.«

Ich kam mir wie ein Judas vor, als ich Evelyn durch halbgeschlossene Lider beobachtete. Fast wurde ich schwach, aber ich konnte Emerson nicht so grausam enttäuschen, nachdem er, dieser arrogante Weiberfeind, mir gesagt hatte, ich sei weit und breit die einzige Frau, der er . Ich mußte mich jetzt zwischen Evelyn und Emerson oder zwischen Evelyn und meinen eigenen Grundsätzen entscheiden; ich mußte also Evelyn betrügen - zu ihrem eigenen Besten.

Es war eine schwere Prüfung für mich, ihren Kampf zu beobachten. Sie rang die Hände, bis die Knöchel weiß hervortraten, und ihre Stimme war voll Resignation. »Natürlich bleibe ich bei dir, Amelia. Eine ruhige Nacht wird dir guttun.«

»Ganz gewiß«, murmelte ich, und dabei hatte das arme Mädchen keine Ahnung, welche Nacht ich erwartete.

Ich hätte im Bett bleiben und alle Nahrung verweigern sollen, doch allmählich wurde ich von einem wütenden Hunger geplagt. Als die Dämmerung anbrach, fühlte ich mich sicher, denn nicht einmal Evelyn würde den Rückweg bei Nacht zurücklegen wollen. Ich sagte, mir gehe es besser, und ein wenig Nahrung würde mir sicher nicht schaden. Ich mußte mich beherrschen, daß ich nicht die herrlichen Sachen, mit denen der Koch sich selbst übertroffen hatte, gierig in mich hineinschaufelte.

Lucas hatte ein paar Flaschen Champagner mitgebracht. Er war im Abendanzug, der ihm ausgezeichnet stand, zumal er sehr tief gebräunt war. Wir speisten auf dem Oberdeck, und der Sternenhimmel über uns war schöner als jedes Palastdach. Mich überkam ein Gefühl der Unwirklichkeit. Die vergangene Woche schien es gar nicht gegeben zu haben. Das Boot schwankte leicht, die Wellchen klatschten an die Bootswand, die Männer unten sangen leise ihre wehmütigen Melodien oder unterhielten sich gedämpften Tones; es roch nach Fluß, nach Nachtwind, Kohlenofen und Wüste. Der Zauber des Abends nahm mich ganz und gar gefangen.

Lucas trank wieder einmal zuviel, wenn er, und das muß ich zugeben, auch ganz deutlich sprach und keine fahrigen Bewegungen machte. Nur seine Augen glänzten immer greller, je mehr er trank, und seine Reden wurden immer fantastischer. Einmal kündigte er an, er werde sofort zum Lager zurückkehren, um die Mumie nicht zu versäumen, und im nächsten Augenblick lachte er schallend über diese Geschichte, über die Brüder Emerson und ihr schäbiges Leben, über die Widersinnigkeit, nur nach zerbrochenen Scherben im Sand graben zu wollen, und dann kündigte er an, daß er selbst nach Luxor und dem glorreichen Theben weiterreisen wollte.

Evelyn saß da wie eine blasse Statue. Sie hatte keine Abendrobe angezogen, sondern trug ihren Morgenrock, dessen blaßrosa Seide mit winzigen Rosenknospen bestickt war.

»Ich will ja deine Kleider nicht kritisieren, Base«, sagte Lucas plötzlich. »Aber du solltest das tragen, was deiner

Schönheit und Stellung entspricht. Seit Kairo habe ich nicht ein Kleid an dir gesehen, das richtig zu dir gepaßt hätte. Schade, daß ich deine Kisten nicht mitbringen konnte.«

»Es wäre auch unnötig gewesen, Lucas«, antwortete Evelyn. »Es wird mir keinen Spaß machen, sie auszupacken. Die eleganten Kleider will ich nie wieder tragen. Sie würden mich schmerzlich an die Güte meines Großvaters erinnern.«

»Dann verbrennen wir sie ungeöffnet, sobald wir wieder in Kairo sind«, schlug Lucas großzügig vor. »Ich werde dir Kleider kaufen, die deiner würdig und mit denen keine schmerzlichen Erinnerungen verbunden sind.«

»Ich habe die Kleider, die meiner Stellung entsprechen«, erklärte sie nachdrücklich. »Und die Vergangenheit läßt sich nicht auslöschen, Lucas. Von einigen Dingen kann ich mich nicht trennen, und ich will sie aufbewahren, damit sie mich an glückliche Zeiten erinnern. Ich habe für so vieles dankbar zu sein, daß ich mich nicht an meine Fehler und Irrtümer verlieren darf.«

»Das war gut gesagt, Evelyn«, lobte ich sie. »Aber was geht unten vor? Die Männer machen solchen Lärm.«

Ich hatte recht, wenn ich auch das Thema nur wechselte, um Evelyn von trüben Gedanken abzubringen. Die Männer lachten und sangen laut.

»Oh, ich habe ihnen Whisky gestiftet«, verriet Lucas. »Sie vergaßen ganz gern, daß ihr Prophet den Alkohol verboten hat. Und ein Gläschen kann ja gar nicht schaden.«

»Aber Sie haben jetzt genug«, stellte ich fest und nahm ihm die Flasche weg. »Vergessen Sie bitte nicht, daß unsere Freunde im Lager in Gefahr sind. Wenn wir nachts ein Signal bekommen .«

»Ihr Freund Emerson würde auch dann nicht um Hilfe rufen, wenn man ihn bei lebendigem Leib braten würde«, stellte er fest. »Warum ängstigen Sie Evelyn?«

»Ich habe keine Angst«, erklärte sie, »aber Amelia hat recht. Bitte, Lucas, hör zu trinken auf.«

»Dein Wunsch sei mir Befehl.« Aber Lucas hatte leider schon viel mehr getrunken, als er eigentlich vertragen konnte.

Evelyn sagte, sie sei müde, schlug aber vor, ich solle auch zu Bett gehen, um meine Stärke wieder zurückzugewinnen. Ich hatte ganz vergessen, daß ich leidend war, aber ich ließ sofort den Reis kommen, weil ich fürchtete, Evelyn könne nicht schlafen, wenn die Leute so laut seien. Er verstand nur wenig Englisch, doch schließlich hatte ich ihn soweit, daß er begriff. Wenig später war Ruhe.

Als ich mich zum Gehen anschickte, sagte Lucas zu mir: »Entschuldigen Sie meine schlechten Manieren, Miß Amelia. Ich bin nicht so betrunken, wie es den Anschein hatte. Ich schlafe in einer der Kabinen unten, damit ich zur Hand bin, falls ich gebraucht werde.«

»Ich glaube nicht, daß wir Sie brauchen«, antwortete ich ihm. Er ahnte ja nichts von meiner Unterhaltung mit Emerson in der Nacht vorher, und ich hatte auch kein besonderes Vertrauen zu ihm, doch er schien zu den gleichen Schlüssen gekommen zu sein wie wir.

Wir gingen die enge Treppe zu den Kabinen hinab; da bat mich Lucas, einen Moment zu warten, er müsse mir etwas zeigen. Er betrat eine Kabine und kam mit einem langen Gegenstand zurück. Ich schaute genau hin und erschrak.

»Nein, keine Angst, Miß Amelia, diese Flinte hier ist nicht geladen, doch das wissen nur Sie und ich. Vielleicht hatte die Mumie allen Grund, eine Pistole mit kleinem Kaliber nicht zu fürchten, aber das Ding hier schaut so gefährlich aus, als könne es einen ausgewachsenen Elefan-ten umlegen. Jedenfalls gibt es aber eine ausgezeichnete Keule ab.«

»Ich halte es für eine verrückte Idee«, fuhr ich ihn an. »Wenn Sie aber unbedingt damit ... Gute Nacht, Lucas.« Ich ließ ihn waffenschwingend und mit einem blöden Grinsen im Gesicht stehen.

Sonst bewohnten Evelyn und ich getrennte Kabinen, aber nun wollte ich sie unter keinen Umständen allein lassen und gab vor, wieder einen Schwächeanfall erlitten zu haben. Sie half mir ins Bett und blieb auch, da sie ehrlich um mich besorgt war, in meiner Kabine. Sie schlief bald ein.

Ich lag wach. Ich hatte nur ein Glas Wein getrunken, das sonst überhaupt keine Wirkung auf mich hat, aber jetzt mußte ich gewaltsam gegen den Schlaf ankämpfen. Ich klatschte mir im Badezimmer nebenan Wasser ins Gesicht, kniff mich am ganzen Körper und tat alles, um mich wach zu halten.

Endlich fühlte ich mich ein bißchen wacher und ging zum Fenster. Das war kein kleines Bullauge wie auf normalen Schiffen, sondern eine richtige breite Öffnung mit einem Vorhang, der das Licht ausschloß, aber die Luft ungehindert durchließ. Es öffnete sich auf das untere Deck und konnte vom Boden aus leicht erreicht werden. Wenn also Gefahr drohte, mußte sie aus dieser Richtung kommen. Unsere Tür war sicher versperrt und verriegelt. Selbstverständlich wäre auch das Fenster zu schließen gewesen, doch dann hätten wir bald unter Hitze und Luftmangel gelitten, und außerdem hätte ich Lärm gemacht und Evelyn aufgeweckt.

Von meinem Platz aus konnte ich das Deck überschauen. Der Mond schien so hell, daß ich sogar die Nägel im Holz erkennen konnte. Nichts bewegte sich, nur das Mondlicht tanzte in den silbrigen Wellchen. Ich weiß nicht, wie lange ich dastand. Ich mußte wohl ein wenig gedöst haben, doch plötzlich bemerkte ich eine Bewegung, die von rechts kam. Schlagartig war ich hellwach. In dieser Richtung lag Lucas' Kabine.

Ich hielt mich im Schatten und sah bald einen blassen, nun schon recht vertrauten Umriß. Ich weiß nicht, warum, aber diesmal fühlte ich nicht die abergläubische, lähmende Angst wie bei den früheren Besuchen; vielleicht deshalb, weil ich in vertrauter Umgebung war; oder der Eindruck schwächt sich durch die Wiederholung ab. Wirklich, die Mumie wurde allmählich lächerlich. Ihr Repertoire war doch sehr begrenzt! Warum fiel ihr gar nichts Neues ein, warum lief sie immer nur mit wedelnden Armen herum?

Ich war entschlossen, die Mumie im Alleingang zu fangen und vergaß völlig Emersons Warnungen. Um Hilfe rufen wollte ich nicht, weil ich sonst die Mannschaft aufgeweckt hätte; genützt hätten mir die Männer trotzdem nichts, weil sie vom ungewohnten Alkohol sicher schwer schliefen, was ich auch von Lucas annahm. Nein, ich wollte erst warten, was die Mumie vorhatte. Wenn sie versuchte, unsere Kabine durch das Fenster zu betreten, dann hatte ich sie ja. Neben mir stand ein großer, mit Wasser gefüllter irdener Krug, der sicher eine schmerzhafte Beule hinterließ, wo er traf.

Die Mumie trat ins volle Mondlicht und kam immer näher. Sie war sehr groß, viel größer, als ich sie in Erinnerung hatte. Ob da der irdene Krug genügte? Ich hatte ganz vergessen, daß ja der Kopf dick umwickelt war. Ich war zwar ziemlich stark; wenn aber die Kreatur ein kräftiger Mann war, so konnte der mich in einem Handgemenge sehr wohl besiegen und brauchte dazu kein mit übernatürlichen Kräften begabtes Monster zu sein. Sollte ich .

»Lucas! Lucas!« schrie ich. »Zu Hilfe! Lucas! Zu Hilfe!«

Es war sehr dramatisch.

Die Mumie blieb stehen, als sei sie überrascht, meine Stimme zu hören. Evelyn murmelte im Schlaf. Dann tat es einen lauten Krach und einen dumpfen Schlag, und Lucas sprang vom Fenster der nächsten Kabine auf das Deck.

Er war angezogen, hatte die Hemdärmel aufgerollt und den Kragen offen, so daß kräftige Arme und eine behaarte Brust sichtbar waren. In grimmiger Entschlossenheit umklammerte seine rechte Hand die Flinte. Das wäre der richtige Anblick für ein romantisches Mädchen gewesen.

»Halt!« rief er, »keinen Schritt weiter, oder ich schieße! Verdammt noch mal, ob dieses Monster wohl Englisch versteht? Wie absurd!«

»Das ist doch ganz egal, packen Sie's lieber!« schrie ich ihm zu.

Der Kopf schwang in meine Richtung. Ich schwöre, ich sah Augen blitzen unter der Dunkelheit einer verhüllten Stirn. Das Ding hob die Arme und gab wieder den jammernden, knurrigen Schrei von sich, den ich schon kannte.

»Evelyn, bleib, wo du bist, Lucas und ich haben die Situation unter Kontrolle«, rief ich Evelyn zu. »Lucas, schlagen Sie das Ding auf den Kopf! So schlagen Sie doch zu, sonst tu ich's selbst!«

Ich begann durch das Fenster zu klettern, aber da hielt mich Evelyn von rückwärts her fest. Lucas grinste breit; nicht lange, denn das Monster holte mit einem Arm aus und schien etwas zu werfen, doch nichts verließ die bandagierte Hand. Aber Lucas taumelte, die Flinte entfiel seiner Hand, und Lucas stürzte, das Gesicht voran, darauf.

Da begann die Mumie so gräßlich zu lachen, daß mir das Blut in den Adern zu gerinnen drohte. Und sie näherte sich langsam unserem Fenster.

Endlich hörte ich von links her Stimmen, denn die Männer waren erwacht. Das hörte die Mumie, hob einen Armstummel und schüttelte ihn drohend den sich nähernden Männern entgegen. Die sahen nun zwar das Monster, aber die Mumie tat ein paar akrobatische Sprünge und war verschwunden.

Ich befahl Evelyn, sie solle sich niederlegen, denn ich müsse zu Lucas gehen. Sie selbst sei jetzt in Sicherheit. Meine umfangreichen Nachtgewänder hinderten mich sehr, als ich durch das Fenster kletterte, aber meine Würde war mir im Moment völlig gleichgültig. Lucas lag noch immer bewegungslos da. Mühsam drehte ich ihn um, denn er war ein schwerer Mann, der bald fett sein würde. Verletzt schien er nicht zu sein, und sein Puls fühlte sich kräftig an, nur sein Atem pfiff, und sein Körper zuckte krampfhaft.

Langsam kamen ein paar Männer herbei, dann endlich erschien der Reis persönlich. Sie trugen Lucas in seine Kabine, legten ihn auf das Bett und rannten davon. Nur Hassan blieb. Wie sehr bedauerte ich jetzt, statt Latein, Griechisch und Hebräisch nicht Arabisch gelernt zu haben! Der Reis schien sich zu schämen, weil er und seine ganze Mannschaft zu fest geschlafen hatten, doch der Schlaf sei wie ein Zauber gewesen, völlig unnatürlich. Ich entließ Hassan, nachdem ich angeordnet hatte, daß ein Mann Wache stehen müsse. Um Lucas mußte ich mich eben selbst kümmern. Für mich war es deprimierend, daß ich mich nicht mehr auf meine Mannschaft, nicht einmal auf den Kapitän verlassen konnte. Was die Erzählungen von der Mumie noch nicht geschadet hatten, das hatte dieser nächtliche Vorfall besorgt.

Lucas war noch immer bewußtlos, und nichts half, was ich auch tat. Ich rieb ihm Gesicht, Hände und Brust mit nassen Tüchern ab, legte seine Füße hoch - nichts holte ihn ins Bewußtsein zurück.

Inzwischen war Evelyn in die Kabine gekommen und schien sich große Sorgen zu machen. »Nein, nein«, redete ich ihr zu, »tot ist er nicht, und ganz sicher besteht auch keine Gefahr, daß er sterben könnte, aber ich weiß nicht, weshalb er nicht aufwacht.«

»Oh, ich ertrage es nicht«, flüsterte Evelyn. »Er ist mein Freund und Vetter, und ich mag ihn sehr gern, und seine Tapferkeit nötigt mir Bewunderung ab. Warum bringe ich Unglück über alle, die mich lieben? Erst Walter, dann Lucas. Muß ich dich auch verlassen, Amelia?«

»Unsinn«, fuhr ich sie an. »Bring mir lieber Riechsalz, das müßte Lucas wieder zu sich bringen.« Und richtig, kaum hatte Evelyn es gebracht und ich es ihm unter die Nase gehalten, als er Evelyns Namen flüsterte.

Sie kniete sofort neben seinem Bett. »Lucas, sprich zu mir, ich höre.«

»Evelyn . so weit weg . Wo bist du . Laß mich nicht im Dunkeln allein. Ohne dich . bin ich verloren . Nimm meine Hand, Evelyn, und halte mich fest.«

»Ja, ja, Lucas. Ich bin ja da.«

So und ähnlich ging es eine ganze Weile weiter, und mir wurde es schon langweilig. Also schob ich die vor Mitleid fast zerfließende Evelyn ein wenig weg und sagte: »So, jetzt kommt er wieder zu sich. Was ist dir lieber -willst du ihm versprechen, ihn zu heiraten, oder soll ich es weiter mit Riechsalz probieren?«

Evelyn wurde rot, Lucas schlug die Augen auf und flüsterte verzückt: »Evelyn!«

»Wie geht es dir, Lucas? Wir hatten solche Angst um dich!«

»Bißchen schwach noch. Aber es war deine Stimme,

Liebling, die mich zurückbrachte. Du hast mir das Leben gerettet. Fortan gehört es dir.«

Evelyn schüttelte den Kopf und entzog ihm ihre Hand.

»Das genügt jetzt«, sagte ich barsch. »An Ihren Träumen bin ich nicht sehr interessiert, Lucas, ich will nur wissen, was geschehen ist. Ich sah, daß Sie taumelten und stürzten, aber ich konnte nicht feststellen, daß die Kreatur tatsächlich etwas geworfen hat.«

»Mich hat auch nichts getroffen«, antwortete Lucas. »Wenigstens nicht körperlich. Oder haben Sie eine Wunde oder Beule gefunden?«

»Nein«, antwortete ich. Evelyn sah seine nackte Brust, errötete und zog sich zurück. »Was fühlten Sie eigentlich?«

»Das kann ich nicht beschreiben ... Es war wie ein Blitzstrahl von großer Kraft, dann kam die Schwäche, schließlich die Ohnmacht. Ich wußte, daß ich fiel, doch den Aufschlag spürte ich nicht mehr.«

»Ah, wunderbar«, bemerkte ich sarkastisch. »Jetzt haben wir also eine Mumie, die Blitze schmeißt. Emerson wird sich riesig darüber freuen.«

»Emersons Meinung ist mir .egal«, fauchte Lucas.

Das war kein Ausdruck für einen Lord.

Der Rest der Nacht verlief ruhig. Ich schlief gut, Evelyn vermutlich gar nicht. Als ich aufwachte, stand sie am Fenster und schaute in das erste Morgenrot hinaus. Sie hatte einen dunkelblauen Sergerock und dazu eine Bluse angezogen.

»Ich gehe zum Lager«, erklärte sie. »Du brauchst nicht mitzukommen, Amelia, denn ich bin bald wieder hier. Ich will Mr. Emerson überreden, seinen Bruder herzubringen, und wir segeln dann sofort nach Luxor ab. Wenn sie nicht kommen wollen - ich denke, wir sollten dann trotzdem weiterreisen. Ich weiß zwar, daß dich . die Archäologie sehr interessiert, und du wirst lieber bleiben wollen. Lucas wird aber mitkommen, wenn ich ihn darum bitte. Ich werde dann allein reisen, wenn du noch bleiben willst.«

Sie tat mir furchtbar leid, weil sie sich jetzt vor die Wahl gestellt fühlte - Lucas oder Walter. Ich mußte also sehr vorsichtig mit ihr sein.

»Aber ohne Frühstück wirst du doch nicht gehen wollen«, erwiderte ich und schwang die Beine aus dem Bett. »Mitten in der Wüste vor Hunger ohnmächtig werden -nein, nein, das wäre unangenehm.«

Evelyn erklärte sich also bereit, am Frühstück teilzunehmen. Der junge Habib, unser Diener, lächelte jetzt nicht mehr, und das sonst so fröhliche Geplapper vom unteren Deck war auch nicht zu vernehmen. Unsere ganze Mannschaft schien völlig verstört zu sein.

Lucas kam, als wir unseren Tee tranken. Ihm gehe es ausgezeichnet, erklärte er, als ich ihn fragte. Evelyn erzählte ihm sofort, was sie vorhatte, und er zog mißbilligend die Brauen hoch, aber ich versetzte ihm unter dem Tisch einen warnenden Tritt ans Schienbein, den er verstand.

»Ich sagte dir ja, Evelyn, dein Wunsch sei mir Befehl, und wenn du abreisen willst, sollst du das auch tun. Eine kleine Einschränkung habe ich jedoch zu machen, Du kannst mich um mein Leben bitten, nicht aber um meine Ehre als Mann und Engländer. Du kannst nicht verlangen, daß ich meine Freunde im Stich lasse. Nein, sag jetzt nichts. Ich befehle eurer Mannschaft, euch sofort sicher nach Luxor zu bringen, aber ich bleibe. Ich würde mich selbst verachten, würde ich jetzt fliehen.«

»Und ich reise nur ab, wenn die Emersons mitkommen«, erklärte ich. »Übrigens, Lucas, mit meiner Mannschaft verhandle ich selbst. Der Ihren können Sie befehlen, was Sie wollen.«

»Hm«, brummte er und ging, dies zu tun.

Evelyn ließ den Kopf hängen, und ich rief nach Reis Hassan, um einen neuen Versuch zu machen, die Sprachbarriere zu durchbrechen. Er sagte immer nur »gehen« und deutete flußaufwärts.

»Emerson?« fragte ich und deutete zum Lager.

Er nickte heftig. »Heute«, sagte er, und das wiederholte er mehrmals. Die Araber benützen viel häufiger das Wort >morgen<, es liegt ihnen viel besser. Deshalb sagte ich es auch.

Hassans Gesicht zog sich in die Länge, dann zuckte er resigniert die Achseln. »Morgen«, wiederholte er.

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