KAPITEL ZEHN Die Mutter des Schreckens

Als Sallah den massiven Stein mühevoll zur Seite wuchtete, strömte ein heißer Luftschwall aus dem Gang hervor, der die Sphinx und die Sterne über ihr wie eine Luftspiegelung flimmern ließ.

»Nimm einen tiefen Atemzug, Indy«, sagte Sallah. »Wir atmen die Luft der Pharaonen!«

»Und der Sklaven«, versetzte Indy und nahm eine Fackel aus dem Segeltuchsack, der über seiner Schulter hing. Er riss ein Streichholz an dem Kalksteinklotz an, den Sallah auf den Sand geschoben hatte, und hielt es an die fest umwickelten, pechgetränkten Schilfrohrbüschel. Die Fackel sprühte und knisterte, bevor sie sich zu einer gleichmäßig brennenden, orangenen Flamme entzündete. Indy machte ein paar Schritte in den Gang hinein und hielt die Fackel vor sich. Die Stufen waren mit einem feinen roten Staub überzogen und führten hinunter in die Dunkelheit. Die Wände des Ganges waren schmucklos, auf dem Sturz dagegen waren Hieroglyphen zu erkennen.

»Die Hieroglyphen«, fragte Mystery. »Was besagen sie?«

»Sie drängen den Weisen zum Weitergehen und den Narren zur Umkehr.«

»Du hast nie einen Rat befolgt«, erinnerte ihn Sallah.

»Sehr komisch«, gab Indy zurück. »Du wirst mich ebenfalls begleiten.«

»Aber Indy«, stammelte Sallah. »Wer soll denn dann die Frauen beschützen?«

»Du willst hier oben bleiben, bei Faye und diesem Stock?«

Sallah wirkte unschlüssig, doch dann schloss er sich Indy rasch an.

»Hoffentlich habe ich die richtige Entscheidung getroffen«, meinte er.

»Das werden wir bald wissen«, sagte Indy und reichte ihm eine Fackel. »Bleib hinter mir. Und fass nichts an, es sei denn, ich bitte dich ausdrücklich darum.«

Die Treppe führte steil hinunter in die Erde, verlief dann eben und führte in eine enge, mit farbenfrohen und kunstvoll gearbeiteten Malereien ausgeschmückte Nebenkammer. Die Göttin Nut, mitsamt den Sternenreihen, die ihre Flanken zierten, überspannte die gesamte Decke. An den Wänden befanden sich Reliefs, auf denen Priester dargestellt waren, die einen Pharao für seine Reise in die Unterwelt präparierten. Das Ankh, das ägyptische Symbol des ewigen Lebens, wiederholte sich ein ums andere Mal. Zwei mit Papyrusrollen gefüllte Tonvasen standen rechts und links des Kammereingangs.

»Dies ist die zweite Galerie«, stellte Indy fest. »Bislang folgt die Grabkammer einer recht gebräuchlichen Anordnung, wie sie bei den meisten Königsgräbern üblich ist.«

Indy nahm eine Papyrusrolle zur Hand und rollte sie vorsichtig einige Zentimeter auseinander. Sie war mit einer kursiven Form von Hieroglyphen beschriftet, die als hieratischer Stil bekannt war.

»Hast du eine Vorstellung, wie alt dieses Labyrinth sein könnte?«, fragte Sallah.

»Nein«, antwortete Indy. Die Papyrusrolle in seinen Händen begann, an den Kanten zu Staub zu zerbröckeln. Er steckte sie in die Vase zurück und zog eine andere heraus, die, als er sie auseinander rollte, ebenfalls zu zerfallen begann. »Dies sind die Gutachten der Priester, die diese Kammer offenbar in Abständen von jeweils mehreren hundert Jahren restauriert haben. Dieses hier reicht zurück bis zur Zeit Ramses II., dreizehnhundert Jahre vor Christi Geburt. Dort heißt es, dieser Ort existiere seit Anbeginn der Zeit und sei Schauplatz des glorreichen Ersten Mals gewesen.«

»Des Ersten Mals«, wiederholte Sallah. »Als die Götter auf die Erde kamen. Ich dachte, das sei nichts weiter als eine Legende.

Hier, an diesem Ort, erscheint es mir wirklicher als das Leben selbst. Was glaubst du, mein Freund?«

»Ich glaube, jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt für theologische Diskussionen. Die alten Ägypter hatten eine völlig andere Vorstellung von der Wirklichkeit als wir. Sie sahen es als Tatsache an, dass ihre Pharaonen unmittelbar von den Göttern abstammten.«

Indy stellte die Papyrusrolle an ihren Platz zurück und wischte sich den Staub von den Händen.

»Ich werde darauf verzichten, mir die anderen anzusehen, denn ich befürchte, dadurch unwiderbringliche Texte zu zerstören«, sagte er. Das Gewicht der Jahrhunderte schien schwer auf ihm zu lasten.

»Wenn wir nur mehr Zeit hätten«, meinte Sallah.

»Haben wir aber nicht«, versetzte Indy. »Welch eine Ironie,was?«

»Ich kann Ironie nicht ausstehen«, sagte Sallah. »Gewöhnlich bringt sie einem nichts als Ärger ein.«

»Komm weiter«, sagte Indy. »Ich glaube, in dieser Kammer sind wir ziemlich sicher. Erst hier in der nächsten wird es anfangen, ein wenig haarig zu werden.«

»Haarig kann ich auch nicht ausstehen«, meinte Sallah.

Indy blieb am oberen Ende einer weiteren Flucht von Stufen stehen. Er hielt die Fackel in die Dunkelheit. Zu beiden Seiten der Treppe, in Nischen, die man in die Kalksteinwände gehauen hatte, leuchteten goldene Statuen von der halben Größe eines Menschen auf.

»Die dritte Galerie«, sagte Indy. »Und die Sanktuarien, in denen die Götter des Ostens und des Westens ruhen. Lass mich vorangehen.«

»Wenn du darauf bestehst«, sagte Sallah.

Indy machte einen vorsichtigen Schritt nach unten, dann noch einen.

»So weit, so gut«, sagte er über seine Schulter. »Wenn du mir folgst, tritt genau in die Fußstapfen, die meine Stiefel im Staub zurückgelassen haben.«

Indy machte noch einen Schritt.

Zur Linken funkelten die Götter des Ostens in ihren Nischen, den Götter des Westens auf der rechten Seite ebenbürtig. Sie alle waren grimmig dreinblickende Ungeheuer, viele von ihnen halb Mensch, halb Tier, und jeder hatte seine Rolle im Götterhimmel der alten Ägypter: Horus, der Rächer, mit einem Falkenkopf, Anubis, der Gott der Unterwelt, mit dem Kopf eines Schakals, Amun, der Herr der Pharaonen, mit dem Kopf eines Steinbocks, Hathor, die Göttin der Geburt, mit dem einer Kuh.

Indy spürte, wie der Tritt, auf dem er stand, den Bruchteil eines Zolls unter ihm nachgab.

»Nur das nicht«, sagte er.

Die goldene Kinnlade der schakalköpfigen Figur des Anubis klappte herunter und ließ Reihen blinkender Elfenbeinzähne erkennen. Indy warf sich nach vorne, als ein mit einer Kupferspitze versehener Wurfpfeil aus seinem Hals hervorschoss und sich in die Kalksteinwand bohrte.

Während Indy die restlichen Stufen hinunterrollte, folgte ein wahrer Pfeilhagel, jeweils den Bruchteil einer Sekunde zu spät, um ihr Ziel zu treffen. Indy hatte mit der Grube am Fuß der Treppe gerechnet, und als er dort anlangte, war die Peitsche bereit und wickelte sich mit ihrem Ende um die Kranzleiste einer steinernen Säule in der nächsten Kammer. Indy ließ die Fackel fallen und hing mit beiden Händen am Peitschengriff. Er verfolgte, wie die Fackel sechs Meter unter ihm in den Sand fiel und Dutzende von Skorpionen aufscheuchte, die vor ihr die Flucht ergriffen.

Dann kippte die steinerne Säule, von Indys Gewicht aus der Verankerung gerissen. Sie überspannte die Grube, ließ Indy aber so tief nach unten stürzen, dass er mit den Stiefelspitzen den Sand berührte. Sein Hut fiel in die Grube.

»Indy, mein Freund!«, rief Sallah. »Bist du wohlauf?« Indy angelte sich seinen Hut, dann hangelte er sich hastig Zug um Zug an der Peitsche nach oben bis zur Säule.

»Ja«, rief er zurück, während er eine weitere Fackel aus dem Segeltuchsack zog und sie mit einem an der Säule angerissenen Streichholz anzündete. »Komm weiter, aber sieh dich beim Hinübersteigen vor.«

Sallah balancierte behutsam über die Steinsäule und gesellte sich zu Indy auf der anderen Seite der Skorpiongrube, dann pflückte er einen Skorpion vom Kopfteil seines Hutes und warf ihn zurück ins Loch. »Danke«, sagte Indy.

»Sie töten einen nicht«, meinte Sallah, »aber ein, zwei Tage lang wirst du dir wünschen, sie hätten es getan. Wo befinden wir uns jetzt?«

»In der Kammer der beiden Wächter«, antwortete Indy, die Fackel in die Höhe haltend.

In einer Nische der Ostwand war die vertrocknete Leiche eines Kriegers untergebracht. Seine Haut war eingefallen und spannte um die Knochen, seine Rüstung war matt geworden, sein Speer jedoch war noch immer fest von einer skelettierten Hand umschlossen. Ihm gegenüber befand sich ein Priester. Sein weißes Gewand war vermodert, und sein Kopf war nach hinten von den Schultern gefallen, sein Kinn indes war nach vorn gesunken und ruhte auf seinem Brustbein. Der klaffende Mund war voller vergilbter Zähne.

»Wie sollen wir weiter vorgehen?«, fragte Sallah.

»Mit äußerster Vorsicht«, antwortete Indy.

Indy machte einen Schritt nach vorn, hielt inne, machte einen weiteren Schritt.

»Und?«, fragte er.

»Nichts«, kam Sallahs Antwort.

»Gut«, sagte Indy und machte noch zwei Schritte. »Und jetzt?«

»Alles erscheint mir ... viel zu einfach«, meinte Sallah.

»Da hast du Recht«, sagte Indy.

Die Fackel' flackerte, nachdem der Hauch einer Brise sie ganz leicht gestreift hatte.

»Runter!«, rief Indy.

Indy schmiegte sich flach auf den Boden, als eine Kupferscheibe mit rasiermesserscharfer Schneide sich aus der Decke löste. Die Scheibe schlug so weit aus, dass sie den Rücken von Indys Lederjacke aufschlitzte, über Sallahs gekrümmten Rücken hinweg wieder nach oben pendelte, zurück zur Decke.

»Alles in Ordnung?«, fragte Indy, als er die Fackel aufhob.

»Ich denke schon«, versicherte Sallah.

»Gut«, meinte Indy. »Die nächste Kammer, Nummer fünf, müsste ein Brunnenraum sein.«

Dicht gefolgt von Sallah ging Indy vorsichtig durch den Gang bis zum Eingang der nächsten Kammer. Wie vorhergesagt, befand sich in deren Mitte eine von vier mächtigen, quadratischen Säulen gesäumte Grube. Die Säulen waren mit stilisierten Abbildungen von Krokodilen und Pavianen verziert.

Indy setzte sich einen Augenblick auf die Fersen und nahm die Kammer in Augenschein. Dann hob er einen Kieselstein vom Boden auf und warf ihn in die Grube.

Ein paar Fuß weiter unten traf er mit einem scharfen Klicken auf Stein.

»Wir gehen mitten durch«, entschied er.

»Bist du sicher?«

»Berühre weder die Säulen noch den Fußboden«, sagte Indy, kletterte in die Grube hinein und ging über die Steinplatten auf die andere Seite.

»Und was geschieht, wenn doch?«, fragte Sallah.

»Keine Ahnung«, sagte Indy, »aber sicher nichts Gutes.«

Indy kletterte auf der anderen Seite der Grube nach oben und wartete, bis Sallah ihn eingeholt hatte.

»In einem typischen Grabmal«, erklärte Indy, »müsste der nächste Raum die eigentliche Grabkammer sein - es sei denn, man hat das Grab um einen zweiten Zugang zum Zentrum erweitert. In diesem Fall dürfte die Kammer der »Saal des Triumphwagens« sein, eine Art Kriegerdenkmal.«

Sie betraten den nächsten Raum, der aus einer geräumigen, mit kriegerischen Szenen geschmückten Kammer bestand: Soldaten in geschlossenen Schlachtreihen, vorbeidonnernde Streitwagen, Reihen enthaupteter Feinde. In der Mitte des Raumes, genau ins Zentrum zwischen die Säulen gerückt, befand sich ein steinernes Grabmal mit flachem Deckel und Reihen von Ankhs auf allen Seiten. Im Gegensatz zu den vorangegangenen Kammern gab es keinen erkennbaren Ausgang.

»Es muss eine zweite Ebene geben«, stellte Sallah fest.

»Wir brauchen nichts weiter zu tun, als deren Zugang zu finden, ohne uns dabei selber umzubringen«, meinte Indy.

»Eine lohnende Aufgabe«, bestätigte Sallah.

Indy suchte Fußboden und Wände im Schein der Fackel ab. Es gab eine verwirrende Menge von Gemälden und Reliefs und, entlang der nördlichen Wand, eine Reihe von ovalen Hieroglyphenrahmen, in denen die Namen der Pharaonen aufgelistet waren.

»Sieh dir das an«, sagte Indy.

»Die Namen jedes einzelnen Königs, der seit Menes in der ersten Dynastie über Ägypten geherrscht hat«, sagte Sallah, als er seine Fackel ganz dicht davor hielt. »Und sieh hier, die Namen reichen zurück bis zur dritten Dynastie des Alten Reiches.«

»Das ist völlig unmöglich«, sagte Indy ungläubig. »Dieses Labyrinth kann unmöglich vor der Zeit des Mittleren Reiches errichtet worden sein.«

»Und trotzdem«, sagte Sallah, »stehen hier die Namen. Sogar ich/kann sie entziffern.«

»Sie müssen hier während der Restaurationsarbeiten eingeritzt worden sein.«

»Wollen wir es hoffen«, entgegnete Sallah. »Die Alternative ist zu beängstigend, um sie ernsthaft in Erwägung zu ziehen.«

Indy kehrte der Wand den Rücken zu, um das steinerne Monument in der Mitte des Raumes zu untersuchen.

»Vielleicht ist es doch eine Grabkammer«, schlug Sallah vor.

»Es ist zu klein, um eine Mumie zu enthalten«, sagte Indy.

»Und wenn es die Leiche eines Kindes enthält?«, fragte Sallah.

»Oder die eines Tempeltieres, eines Pavians zum Beispiel?«

»Das glaube ich nicht«, sagte Indy, während er mit den Knöcheln dagegen klopfte. »Klingt massiv. Sag mal, wie weit sind wir deiner Meinung nach vorgedrungen?«

»In die Erde hinein?«, fragte Sallah.

»Nein«, meinte Indy. »Horizontal.«

»Schwer zu sagen«, erwiderte Sallah. »Ich habe die Schritte nicht gezählt, aber ich würde sagen, es waren einige hundert Meter, mindestens.«

»Und in welche Richtung?«, fragte Indy.

»Nach Südwesten«, sagte Sallah.

»Genau das dachte ich auch«, sagte Indy und sprang mit einem Satz auf die ebene Oberfläche des steinernen Monuments.

»Wir befinden uns genau unterhalb der großen Pyramide. Wir steigen überhaupt nicht weiter nach unten - sondern gehen bergauf!«

Indy hielt die Fackel dicht unter die Decke und befühlte sie mit den Fingern seiner anderen Hand. Dann stemmte er die Hand dagegen, und die Decke schien nach oben nachzugeben.

»Hilf mir mal«, sagte Indy. »Ich glaube, sie ist nur an einer Seite eingehängt.«

Sallah kletterte, die Fackel zwischen den Zähnen festhaltend, an der anderen Seite des steinernen Monuments hinauf, stemmte seine beiden fleischigen Handflächen gegen die Decke und drückte. Mit einem knarrenden Stöhnen klappte die Decke nach oben weg, während eine Schicht feinen, roten Staubes herabrieselte. Eine schmale Treppenflucht führte nach oben.

»Ein zusätzlicher erster Gang«, sagte Indy, während er sich in den mansardenähnlichen Raum hinaufzog. Dann langte er mit einer Hand nach unten und half Sallah, sich mühsam hochzuziehen.

»So etwas habe ich noch nicht gesehen«, meinte Sallah, dem die Aufregung zum ersten Mal ins Gesicht geschrieben stand. »Wie nannten die Vorväter so etwas?«

»Keine Ahnung«, gestand Indy. »Das ist neu für mich. Aber wir sind unterirdisch sehr weit vorgedrungen, und jetzt beginnen wir unseren Aufstieg - das muss eine religiöse Bedeutung haben. Nennen wir es den Schacht der Erlösung.«

»Was werden wir deiner Meinung nach an seinem Ende vorfinden?«, fragte Sallah. »Denk doch an Carters Entdeckung des Grabes von Tut-Ench-Amun - und der war ein minder bedeutender König! Stell dir vor, auf was wir hier stoßen könnten!«

»Genau das macht mir Angst«, sagte Indy. »Sei vorsichtig - die Treppe ist steil, und durch den Staub ist sie obendrein noch rutschig.«

Dreißig Stufen später und noch immer ohne einen Absatz in Sicht, stützte Sallah sich an der Wand ab und wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß aus dem Gesicht.

»Tut mir Leid, mein Freund«, meinte er. »Mir geht die Puste aus.«

»Macht nichts«, sagte Indy und blieb ebenfalls stehen. »Ich kann auch eine Pause gebrauchen. Sag mir Bescheid, wenn du so weit bist, dass du weitergehen kannst.«

Sallah legte einen Finger an die Lippen.

»Hast du das gehört?«, fragte er. »Ein Scharren, fast so, als würde uns jemand folgen.«

»Diese Grabmale seufzen und stöhnen, als wären sie lebendig, wenn sie erst einmal geöffnet worden sind«, meinte Indy. »Das hat mit der Veränderung des atmosphärischen Drucks zu tun und mit dem Kalkgestein, das der Luft die Feuchtigkeit entzieht.«

»Das war etwas anderes«, widersprach Sallah. »Schritte, glaube ich.«

»Du hast ein feineres Gehör als ich«, sagte Indy.

»Das ist der Beduine in mir«, erwiderte Sallah und lächelte. »Geh du voran. Ich werde ein paar Minuten hier zurückbleiben und mich vergewissern, dass uns niemand folgt.«

»Mir wäre wohler zumute, wenn -«

»Indy?«

Am Fuß der Treppe erschien ein Licht, und Mystery kam geschmeidig in den Gang hineingeklettert. In der Hand

hielt sie eine batteriebetriebene Lampe, und über ihrer Schulter hing noch immer die Seilrolle. »Hier herauf«, rief Indy. »Und sei vorsichtig.« Als sie bei ihnen angelangt war, meinte Indy zu ihr: »Wenn du das nächste Mal in Gräbern herumkriechst, nimm eine Fackel mit. Die Flamme verrät dir, ob du auf einen Einschluss mit verbrauchter Luft gestoßen bist.« »Ich rechne nicht damit, dass es ein nächstes Mal gibt«, erwiderte Mystery.

»Ist deine Mutter wohlauf?«, fragte Indy. »Sie hat mich geschickt, damit ich nach Ihnen sehe«, antwortete Mystery. »Sie schienen schon schrecklich lange fort zu sein. Aber jetzt, wo ich die Pfeile und die Grube gesehen habe, wird mir klar, warum.«

»Du hättest nicht alleine versuchen sollen, an ihnen vor-beizugelangen«, erwiderte Indy in seiner besten Erwachsenenstimme.

»Ich bin schließlich hier, oder etwa nicht?«, versetzte sie trotzig. »Tja, dann wirst du wohl oder übel mitkommen müssen«, sagte Indy. »Alleine lasse ich dich jedenfalls nicht umkehren.« »Nun geh schon«, drängte Sallah. »Ich brauche meinen Schlaf, und du musst so schnell wie möglich arbeiten. Die Morgendämmerung lässt nicht mehr lange auf sich warten. Wenn es Ärger gibt, rufe ich.«

Indy legte seinem alten Freund die Hand auf die Schulter. Dann wandte er sich zu Mystery. »Bleib hinter mir«, sagte er, »aber sieh dich dabei vor.« Damit setzte er seinen Aufstieg die Treppe hinauf fort.

Faye erblickte Jadoos Schatten, den der tief am Himmel stehende Vollmond auf den Sand zu ihren Füßen warf. Sie entblößte ihre Arme, indem sie die Ärmel ihres Gewandes hochschob, strich sich das dunkle Haar aus dem Gesicht, dann drehte sie sich um und sah dem überraschten Magier ins Gesicht.

»Ich wusste, dass Sie kommen würden«, sagte sie. »Aber ich muss gestehen, ich hatte Sie für etwas geschickter gehalten, als sich einfach von hinten an mich heranzuschleichen.«

»Mag sein, aber es erfüllt seinen Zweck«, erwiderte Jadoo, der seine Fassung zurückgewann. »Zumal ich in bewaffneter Gesellschaft komme, die entschlossen ist, notfalls Gewalt anzuwenden.«

Sokai und Leutnant Musashi ließen sich in die Umfriedung fallen, gefolgt von Stabsoffizier Miyamoto sowie einem halben Dutzend mit Maschinenpistolen bewaffneter japanischer Soldaten.

Miyamoto blaffte einige Befehle, woraufhin die Soldaten ihre Waffen auf Faye richteten.

Jadoo ging zu Faye hinüber und riss ihr den Stab aus der Hand.

»Ich hätte mir nie träumen lassen, dass er in so gutem Zustand ist«, stieß er hervor. »Er weist noch immer diese Schwere auf, und das Holz ist von so wunderbarer Beschaffenheit, fast so, als wäre es Teil eines lebendigen Baumes.« Er hielt sich den Stab wenige Zoll vor seine Nase. »Dieser Geruch von frischen Mandeln!«

Faye verschränkte die Arme und betrachtete Jadoo voller Geringschätzung. Von Osten her blies ein sachter Wind, der alte Zeitungen und anderen Müll über den Sand wehte, und sanft über Fayes Haar strich. Jadoo konnte sich nicht erinnern, dass ihr Haar so stark von Grau durchschossen war.

»Sagen Sie, haben Sie damit zu zaubern versucht?«

Faye schwieg.

Jadoo hielt den Stab vor seinen Körper, unschlüssig, was er als Nächstes tun sollte. Dann richtete er ihn gen Himmel und befahl ihm, Hagel zu erzeugen.

Faye lachte.

»Spielt keine Rolle«, sagte Jadoo. »Ich werde die richtigen Worte schon noch finden.«

»Wie ich sehe, hat ihr kleines Grüppchen Ausgestoßener uns bereits einen Großteil der Arbeit abgenommen«, sagte Sokai und kam näher. »Besonders dankbar bin ich, dass Dr. Jones sich freiwillig bereit erklärt hat, den Eingang auf Gefahren zu prüfen.

Sagen Sie, sind sein übergewichtiger Freund und Ihre Range von einer Tochter bei ihm?«

Faye zuckte die Achseln.

»So mutig«, bemerkte Sokai mit gespieltem Bedauern, »und doch so unvernünftig.«

»Ich habe stets auf mein Herz und nicht auf meinen Verstand gehört«, versetzte sie.

Sokai öffnete seinen Wettermantel und zog sein Samuraischwert darunter hervor. Er richtete das Schwert auf Faye, setzte die Klinge unmittelbar unterhalb ihres Kinns an und stieß gerade hart genug zu, um ihr einen Tropfen Blut zu entlocken.

»Wenn Sie auch nur rufen«, sagte er, »werden diese Soldaten Sie töten. Und wenn Sie hier oben Ärger machen, während ich dort unten bin, werde ich Ihre Göre ohne das geringste Zögern töten. Haben Sie verstanden?«

»Ja«, antwortete Faye.

»Gut«, meinte Sokai und schob sein Schwert in die Scheide zurück. »Stabsoffizier Miyamoto, halten Sie ein aufmerksames Auge auf dieses amerikanische Frauenzimmer. Leutnant Musashi, folgen Sie mir.«

Die Stufen endeten in einer kleinen, schmucklosen Kammer. Ein kleine, quadratische Deckenöffnung führte in einen langen Schacht.

»Hilf mir mal hoch«, sagte Indy.

Mystery verschränkte die Finger, um eine Räuberleiter für Indys rechten Stiefel zu machen, dann half sie, ihn zur Decke hochzuhieven. Er stemmte seine Hände gegen die Seiten des kaminähnlichen Schachtes, doch die Schmerzen in seiner verletzten Schulter ließen ihn zusammenzucken und einen leisen

Schrei ausstoßen.

»Lassen Sie mich mal«, sagte Mystery.

»Nein, es geht schon«, meinte Indy und ließ sich wieder herunterfallen. »Ich muss mich nur einen Augenblick ausruhen.«

»So viel Zeit haben wir aber nicht«, versetzte Mystery und rückte die Seilrolle auf ihrer Schulter zurecht. »Überlassen Sie das mir, dann kann ich Ihnen das Seil hinunterlassen. Ich bin an so etwas gewöhnt, Dr. Jones.«

»Zu gefährlich«, sagte er.

»Was glauben Sie, wie gefährlich es wäre, wenn Sie sechs Meter tief abstürzten und auf diesem Felsenboden landeten?«, fragte sie, sprang ab und bekam den Rand des Schachtes, der nur den Bruchteil eines Zolls überstand, mit den Fingerspitzen zu fassen.

Dort hing sie einen Augenblick, dann zog sie sich, den Rücken gegen eine Wand und die Füße gegen die andere gestemmt, hinauf in den Schacht. Sie schleuderte ihre Schuhe von den Füßen.

»Na gut«, gab Indy sich geschlagen. »Aber sei vorsichtig. Mach langsam, und fass nichts an, das Misstrauen erweckend aussieht.

Wenn du das Gefühl hast, dass sich etwas bewegt, komm schnell wieder aus dem Schacht heraus.«

»Glauben Sie eigentlich, ich hätte von gar nichts eine Ahnung?«, fragte Mystery.

»Natürlich nicht«, erwiderte Indy. »Nur habe ich mich eben daran gewöhnt, dich um mich zu haben.«

»Ich sehe einen Balken über mir«, rief Mystery, als sie sich weiter nach oben begab. Sie ließ sich durch nichts anmerken, dass sie Indys Ausdruck väterlicher Gefühle mitbekommen hatte.

»Ist er aus Holz oder Stein?«, fragte Indy.

»Aus Metall«, rief sie.

»Welche Sorte?«, fragte Indy. »Aus Kupfer?«

»Nö«, rief Mystery. »Er ist aus Eisen.«

»Eisen kann es nicht sein«, sagte Indy. »Die Bauwerke in Gizeh wurden vor der Eisenzeit errichtet.«

»Sicher«, gab sie zurück. Während Indy noch mit sich zu Rate ging, ob sie ihn anfassen durfte, packte sie den Balken und schwang sich in die nächste Kammer hinauf. Sie klemmte sich die Lampe unter den Arm, während sie das Seil am Balken festmachte. »Es sieht aus wie Eisen, es fühlt sich an wie Eisen, und es ist so stabil wie Eisen, aber es ist kein Eisen.«

»Fass es auf keinen Fall an«, rief Indy.

»Zu spät«, gab Mystery zurück und warf die Seilrolle in den Schacht hinunter.

Indy klemmte sich die Fackel zwischen die Zähne, packte das Seil und kämpfte sich durch den Schacht hinauf zum Balken, um sich Mystery wieder anzuschließen. Er fand sich in einer halbwegs geräumigen Kammer aus behauenem Kalkstein wieder, die außer dem Balken - der, wie Indy zugeben musste, tatsächlich aus Eisen war - und einer nach Norden gehenden Tür keinerlei Besonderheiten auf wies.

»Gute Arbeit«, meinte Indy.

»Danke.«

»Die nächste Kammer«, sagte Indy und deutete mit einem Nicken auf den Durchgang. »Die Halle der Wahrheit. Wenn das Buch tatsächlich existiert, wird es sich dort drinnen befinden. Bist du bereit?«

»Ich bin bereit, seit ich zwölf war«, kam Mysterys prompte Antwort.

Der Eingang der Kammer wurde von zwei wuchtigen Marmorsäulen flankiert, die auf der Linken war schwarz, die andere hingegen strahlend weiß.

Indy hielt die Fackel in die Höhe und trat durch die Türöffnung, gefolgt von Mystery und ihrer elektrischen Lampe. Man hörte einen auf- und abschwellenden musikalischen Akkord, einen DurAkkord.

Mystery schaltete ihre Lampe aus. Sie wurde nicht gebraucht.

Eine unsichtbare Lichtquelle hatte den Raum in ein diffuses Licht getaucht. Fußboden, Wände und Decke der Kammer waren aus poliertem, rosafarbenem Granit. In der Mitte der Kammer befand sich ein schwarzer Granitpfeiler, und auf diesem Pfeiler standen, plastisch hervorgehoben, eine Reihe von Schriftzeichen aus verschiedenen Sprachen des Altertums - Sumerisch, Ägyptisch, Sanskrit, Koptisch, Griechisch, Chinesisch sowie aus einigen anderen, die Indy nicht geläufig waren. Das einzige Schriftzeichen, das Mystery wiedererkannte, war das griechische. Oben auf dem Pfeiler lag ein Buch, beziehungsweise ein Gegenstand, der zwar einem Buch ähnelte, dennoch keinem glich, das einer der beiden je gesehen hatte: Die Seiten des Buches bestanden aus einem hochpolierten, silbrigen Material und kräuselten sich im Rhythmus zur auf und abschwellenden Musik, die von der Luftbewegung ausgelöst wurde, die Indy und Mystery allein durch das Betreten der Kammer hervorgerufen hatten. Die Seiten drehten sich um einen goldenen Rücken, setzten sich jedoch in das Pfeilerinnere fort, sodass das Buch kein Ende zu haben schien.

»Das Omega-Buch«, sagte Mystery ehrfürchtig. »Jetzt weiß ich, dass ich träume«, meinte Indy. »Fühlt sich das etwa an wie ein Traum?«, fragte Mystery und kniff ihn in den Unterarm.

»Nein«, erwiderte Indy, sich die betreffende Stelle reibend. »Dann hören Sie auf, Unfug zu reden«, sagte sie. »Mein Vater hat gesagt, dass das Buch existiert, und er hatte Recht.

Allerdings sieht das hier eher nach einer Art Maschine aus und nicht wie ein Buch.«

»Eine Offenbarung des Hochbetagten, vielleicht?«, fragte Indy, während er die Fackel auf den nackten Felsboden der Kammer hinter ihnen warf.

»Des was?«, fragte Mystery.

»Des göttlichen ... Etwas, das den Juden jeden Morgen Brot und Gnade zuteil werden ließ«, sagte Indy. »Einige Leute haben behauptet, seine Beschreibung in der Bibel klinge ein wenig, als versuchte ein Steinzeitvolk ein Automobil zu beschreiben - Augen anstelle von Scheinwerfern, ein Mund anstelle des Kühlergrills, und so weiter.«

»Und was denken Sie?«

»Dies könnte es sein, und ich würde es nicht einmal merken.«

»Ich frage mich, woher das Licht stammt«, sagte sie.

»Von in die Wände oder die Decke eingelassenen Spiegeln, polierten Steinplatten oder Kristallen«, erwiderte Indy. »Ich habe in England einige Hügelgräber gesehen, in denen man mit Hilfe des Lichts der Wintersonne nahezu den gleichen Effekt erzielt hat.«

»Dr. Jones«, sagte Mystery. »Draußen ist es Nacht, haben Sie das vergessen?«

»An diesem Punkt ist meine Theorie lückenhaft«, räumte Indy ein. »Wie auch immer, sei vorsichtig. Auf der zweiten Ebene sind bis jetzt noch keine nennenswerten Fallen oder Gefahren aufgetreten, aber irgendetwas Tödliches gibt es hier bestimmt.«

»Vielleicht das Buch selbst«, meinte Mystery.

Indy nickte und ging hinüber zum Pfeiler. Als er sich vorbeugte, um das Buch zu untersuchen, wurden die matt glänzenden Buchseiten vom Hauch seines Atems umgeblättert. Rechter Hand erschienen neue Seiten und traten an die Stelle derer, die im Sockel des Pfeilers verschwunden waren.

»Stehen wir auf der falschen Seite?«, fragte Mystery. »Liegt das Buch verkehrt herum?«

»Nein«, meinte Indy. »Diese Sprachen des Altertums werden im Allgemeinen von rechts nach links gelesen.«

Behutsam nahm er eine Seite zwischen Daumen und Zeigefinger seiner rechten Hand. Das Blatt war so dünn und leicht, dass er es an seinen Fingern überhaupt nicht spürte. Die Buchstaben, die ungefähr die Größe der Drucktypen einer Zeitung aufwiesen, waren irgendwie in die Seiten hineingeschnitten worden. Auf dem Pfeiler lagen Blätter in sämtlichen Farben des Regenbogens aus demselben Material.

»Können Sie es entziffern?«, fragte Mystery.

»Nein«, sagte Indy. »Es ergibt für mich nicht den geringsten Sinn.

Ich frage mich, welchem Zweck die anderen Blätter hier dienen?«

Mystery nahm das rote Blatt in die Hand, das zuoberst lag.

»Ein erstaunliches Zeug«, sagte sie. »Wenn man es biegt, springt es sofort wieder in seine ursprüngliche Form zurück.«

Sie experimentierte einen Augenblick damit, dann zerknüllte sie es zwischen ihren Händen zu einem festen Ball. Als sie es losließ, faltete sich das Blatt zu einer vollkommen glatten, unzerknitterten Seite auseinander.

»Als ich klein war, hatte ich ein Spiel«, erzählte sie. »Es war ein in Geheimschrift geschriebenes Buch, und wenn man es lesen wollte, musste man ein eingefärbtes Blatt darüber legen. Ich frage mich, ob das hier genauso funktioniert. «

Indy nahm das rote Blatt und schob es unter die Seite.

»Ich will verdammt sein«, entfuhr es ihm. »Sieh doch,

Chinesisch, Sanskrit sowie eine andere Sprache, die ich nicht kenne.«

Indy nahm das nächste Blatt, ein blaues, und schob es unter dieselbe Seite. Drei Textspalten wurden sichtbar, eine in Ägyptisch, eine in koptischer Sprache und die letzte in Griechisch.

»Das ist unglaublich«, sagte Indy. »Ich habe noch nie etwas Vergleichbares gesehen - die Welt hat noch nie etwas Vergleichbares gesehen, jedenfalls nicht die uns bekannte Welt.

Wir werden die Geschichte umschreiben müssen. Dies ist die archäologische Entdeckung des Jahrhunderts.«

»Um was geht es auf dieser Seite?«, fragte Mystery.

»Sie handelt von dem Leben eines französischen Bauern namens Francois Malevil«, sagte Indy. »Wie bei dem Rosetta-Stein sind die drei Übersetzungen identisch. Die Zeitdaten sind sogar in verschiedenen Zahlensystemen angegeben. Mal sehen, es wird eine Weile dauern, bis ich das griechische mit unserem derzeitigen System in Übereinstimmung gebracht habe.«

Indy hielt einen Augenblick lang inne.

»Vierzehntes Jahrhundert«, stellte er fest. »Nach Christi Geburt.

Nein, das kann unmöglich stimmen. Mein Gott, doch. Sieh doch, in diesem Eintrag ist von einem römischen Soldaten die Rede, der bei Actium ums Leben kam.«

Indy gab seiner ersten Eingebung nach: Er begann, die Seiten zollweise umzublättern, die Namen zu überfliegen und sich begierig auf die Suche nach dem Namen >Jones< zu machen.

»Das Buch ist nicht alphabetisch geordnet«, beschwerte er sich.

»Was tun Sie da?«, wollte Mystery wissen.

»Natürlich«, entfuhr es Indy nach einem flüchtigen Blick auf die Zeitangaben. »Es ist chronologisch geordnet.«

»Was suchen Sie?«

»Meinen Namen.«

»Nicht«, sagte Mystery. »Das dürfen Sie nicht tun. Dieses Wissen ist uns verboten.«

»Das Buch -«, stammelte er.

»Begreifen Sie nicht?«, sagte sie. »Dies ist die letzte Falle. Sie dürfen jeden Namen nachschlagen, nur nicht Ihren eigenen. Mit diesem Buch haben Sie das letztgültige archäologische Nachschlagewerk in der Hand. Schlagen Sie von mir aus Jesus nach oder Jeanne d'Arc, aber auf keinen Fall Indiana Jones.«

Indy hörte auf zu blättern.

»Ich habe Recht«, sagte Mystery. »Und das wissen Sie.«

»Siebzehnjährige sind immer so von sich selber überzeugt.«

»Auf mich trifft das jedenfalls zu«, erwiderte sie. »Die Welt ist nicht bereit dafür.«

»Was tun wir dann hier?«, fragte Indy.

»Ich bin nur aus einem einzigen Grund hier, und zwar, weil ich herausfinden will, was aus meinem Vater geworden ist«, sagte Mystery. »Und Sie sind hier, weil ich keine der Sprachen entziffern kann, in denen das Buch geschrieben ist.«

Indy zögerte.

»Was ist?«, wollte sie wissen.

»Daran hatte ich noch gar nicht gedacht«, sagte er. »Ich habe Menschen aus den Augen verloren, deren Namen ich gerne nachschlagen würde, aber ich glaube, ich sollte es besser sein lassen.«

Er blätterte im Buch, suchte nach den 30er Jahren.

»Das Buch wird immer umfangreicher, je weiter man in der Zeit fortschreitet«, stellte er fest. »Immer mehr Menschen, über die Buch geführt werden muss, vermutlich. Also gut, gleich hab ich es. Ich bin schon in den Zwanzigern.«

Mystery nickte.

»Mal sehen«, sagte Indy. »Maskelyne ... ob du es glaubst oder nicht, es gibt mehrere davon. Wann ist dein Vater geboren?«

»Achtzehnhundertdreiundneunzig.« »Hier ist es, Kaspar Maskelyne. Geboren am 16. Juli 1893 in Leeds.« »Das ist er.«

Indy fuhr mit dem Finger über den Text und las leise bei sich. »Und?«, fragte Mystery.

»Das Zeug lässt sich nicht so einfach lesen wie die Baseballergebnisse in der Morgenzeitung«, sagte Indy, als er ein grünes Blatt zur Hand nahm und es hinter die Seite schob. »So übermäßig fließend bin ich in Sanskrit nicht. Lass mich es eben vergleichen mit -«

Die auf- und abschwellende Musik erklang erneut. »Dr. Jones«, sagte Sokai, während er Indys schwelende Fackel in der Vorkammer mit dem Absatz eines teuren, aber reichlich zerkratzten schwarzen Schuhs austrat. »Wissen Sie nicht, dass man mit Feuer nicht so achtlos umgehen sollte?« Leutnant Musashi, die hinter ihm stand, lachte niederträchtig. Sokai zog sein Schwert aus der Scheide, als er den Raum betrat.

»Wie ich sehe, haben Sie gefunden, wonach wir alle suchen. Ist die Beute so aufregend, wie wir uns erhofft haben?« »Wo ist Sallah?«, fragte Indy. »Wir sind ihm im Gang begegnet«, antwortete Sokai. »Jetzt befindet er sich draußen bei der Frau, wo er von Stabsoffizier Miyamoto und seinen Männern bewacht wird. Treten Sie von dem Buch zurück.« Indy tat es. »Welch ein Pech für Sie, dass wir uns erneut über den Weg laufen. Ich werde mir von Ihnen als Entschädigung mehr als nur ein Auge nehmen. Ich dachte an ein Organ, das näher an Ihrem ...Herzen liegt, in Ermangelung eines treffenderen Ausdrucks. Das wäre durchaus passend, als Ausgangspunkt, gewissermaßen. Wir wollen doch nicht allzu schnell sterben, oder?«

»Machen Sie sich keine allzu großen Hoffnungen«, sagte Indy.

»Wer ist denn dieser Fiesling?«, fragte Mystery.

»Das ist Sokai«, stellte Indy ihn vor. »Mit ihm hat der ganze Ärger für mich überhaupt erst angefangen, «

»Mund halten«, herrschte Sokai ihn an, während er Musashi das Schwert reichte. »Spießen Sie sie auf, wenn sie sich rühren.«

Sokai näherte sich dem Buch, sein eines gesundes Auge funkelte im gedämpften Licht. Er beugte sich vor, um die Seite in Augenschein zu nehmen, dann runzelte er die Stirn.

»Was ist?«, spottete Indy. »Können Sie etwa kein Sanskrit?«

»Herkommen«, befahl Sokai, der nicht erkannte, dass ein anderes der bunten Blätter den Text auf Mandarin hätte sichtbar werden lassen, eine Sprache, die er lesen konnte.

Indy ging langsam zu ihm hin.

»Wie funktioniert das?«, fragte Sokai.

»Ich habe nicht die geringste Ahnung«, antwortete Indy.

»Nein, ich meinte die Eintragungen«, setzte Sokai ungeduldig hinzu. »Sie geben die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft wieder? Suchen Sie den mich betreffenden Eintrag und lesen Sie ihn mir vor. Wenn ich weiß, was vor mir liegt, kann ich die Dinge meinem Willen unterwerfen.«

»Ganz wie Sie wollen«, sagte Indy und trat an das Buch heran.

Er blätterte die Seiten langsam um.

»Beeilen Sie sich!«, fuhr Sokai ihn an.

»Das kann man nicht einfach so herunterlesen«, erwiderte Indy.

Musashi packte Mystery dicht über der Kopfhaut bei den Haaren und drehte. Mystery verbiss den Schmerz.

»Ich mache so schnell ich kann«, sagte Indy mit hasserfüllten Augen. »Sokai, geboren auf Hawaii. Ausgebildet in-«

»Das weiß ich alles«, unterbrach ihn Sokai. »Gehen Sie weiter, in die Zukunft.«

»Neunzehnhundertvierunddreißig«, las Indy. »Geblendet in der Mandschurei von einem Amerikaner, den er im Begriff war zu foltern. Er folgte ebendiesem Amerikaner, Indiana Jones, von der Mandschurei bis nach Indien und schließlich nach Ägypten.«

Indy hielt inne.

»Lesen Sie weiter!«

»Wenn Sie darauf bestehen«, meinte er. »Verbrannt unter der großen Pyramide in der Halle der Aufzeichnungen in der Totenstadt von Gizeh.«

»Nein!«

»So steht es hier geschrieben.«

Sokai schlug Indy mit dem Handrücken ins Gesicht.

»Sie lügen«, sagte Sokai.

Indy wischte sich mit dem Ärmel seiner Jacke das Blut von der geplatzten Unterlippe und bedachte Sokai mit einem unnachgiebigen Blick, der den Meisterspion vom Gegenteil überzeugte.

»Ändern Sie es«, befahl Sokai.

»Das kann ich nicht«, protestierte Indy. »Ich weiß ja nicht einmal, wie es überhaupt niedergeschrieben wurde.«

»Benutzen Sie einen Bleistift«, kreischte Sokai. »Sie haben doch einen Bleistift bei sich, oder etwa nicht?«

Indy zog einen Bleistift aus seiner Hemdtasche und versuchte auf der Seite zu schreiben.

»Er hinterlässt keinen Abdruck«, sagte Indy.

»Geben Sie sich etwas mehr Mühe«, tobte Sokai, »sonst wird Musashi das Mädchen töten.«

Musashi wechselte das Schwert in ihre linke Hand, zog ihre Pistole, spannte den Hahn und hielt sie an Mysterys Kopf. Bei dem Versuch, einen Abdruck zu hinterlassen, drückte Indy den Bleistift so fest auf, dass er abbrach.

Sokai packte die Seite und versuchte, sie aus dem Buch herauszureißen, sie ließ sich jedoch nicht entfernen. Er schaffte es lediglich, sich an der Kante die Hand aufzuschneiden.

»Sehen Sie«, rief Musashi.

Sokais Hosenbein begann oberhalb des Absatzes, mit dem er die Fackel ausgetreten hatte, zu qualmen.

»Mein Gott, es stimmt.«

»Nein«, schrie Sokai, als sein Hosenaufschlag in Flammen aufging. Wie von Sinnen versuchte er das Feuer zu ersticken, und als das nicht funktionierte, löste er seine Gürtelschnalle und versuchte, sich mit hektischen Bewegungen aus seiner Hose herauszuwinden. Mittlerweile hatten die Flammen auf Hemd und Wettermantel übergegriffen.

Sokai schrie. Der Gestank von verbranntem Fleisch und Haar füllte den Raum. Sokai warf sich auf den Fußboden und begann, sich zu wälzen.

»Schneiden Sie mir die Kleider herunter«, flehte er Musashi an.

Sie ließ die Pistole fallen und versuchte, ihm die Kleidungsstücke vom Körper zu schneiden, mit dem einzigen Erfolg, dass sie ihn an einem halben Dutzend Stellen mit dem Schwert verletzte. Sein Körper selbst schien zu brennen, und die Flammen schlugen immer höher, ganz gleich, wie viele Kleidungsstücke entfernt wurden.

»Mein Schwert«, krächzte Sokai und umklammerte den Griff mit einer brennenden Hand.

Sokai kämpfte sich bis zu den Knien hoch und machte einen Ausfall gegen Indy, doch der war viel zu kurz bemessen. Brocken brennenden Fleisches lösten sich von seinem Gesicht und seinen Händen. Sokai fiel auf den Rücken, das Schwert jedoch reckte er in die Höhe, bis sich das Feuer durch sein Handgelenk fraß und das Samuraischwert scheppernd auf den Granitfußboden fiel.

»Oh Gott«, sagte Mystery und lief zu Indy, wo sie ihr Gesicht in seiner Lederjacke vergrub.

Sokai war nur noch ein rauchendes Häuflein Asche.

»Möchten Sie, dass ich Ihren Namen auch vorlese?«, drohte er Musashi.

Sie zögerte, dann kniete sie neben der Asche nieder. Sie zog ihren

Schal aus und benutzte ihn, um das Samuraischwert aufzuheben.

»Wollen Sie seine Asche nicht mitnehmen?«, fragte Indy. »Oder ist es Ihnen egal, ob er sich zu seinen Vorfahren gesellt?«

»Zur Hölle mit Sokai«, rief Musashi und drohte ihnen mit dem Schwert. »Dies ist die wahre Macht!«

Dann stürzte sie aus dem Raum, und bei ihrem Verschwinden erklang ein weiteres Mal die auf- und abschwellende Musik - nur dass es diesmal ein Unheil verkündender, verminderter Dreiklang war. Die Beleuchtung wechselte von Weiß zu Rot.

»Der Klang gefällt mir überhaupt nicht«, sagte Indy.

»Meine Mutter«, rief Mystery erschrocken.

»Machen wir, dass wir hier rauskommen«, schlug Indy vor.

»Aber mein Vater -«

»Komm schon«, sagte er und zerrte Mystery aus der Halle der Wahrheit.

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