KAPITEL ZWÖLF Der Kristallschädel

Das Taxi hielt vor dem Wohngebäude und hupte. Heraus stieg Indy, er hatte einen neuen Anzug an, auf seinem Kopf jedoch trug er noch immer seinen geliebten Filzhut. Sallah und seine Kinderschar folgten ihm. Indy und Sallah gaben sich die Hand, dann zog Sallah ihn an seine Brust und umschlang ihn fest mit beiden Armen.

»Ich muss dich um einen Gefallen bitten«, sagte Indy, als er wieder Luft bekam.

»Was immer du verlangst.«

»Wenn wir uns das nächste Mal treffen«, sagte Indy, »möchte ich, dass wir kein Wort darüber verlieren, was sich unter dem Hochplateau von Gizeh zugetragen hat, und erwähne auch Marcus Brody gegenüber nichts davon. Wir sollten uns nicht dazu verleiten lassen, das Geheimnis zu enthüllen, solange die Welt noch nicht reif dafür ist, sonst könnte das Gefüge der Zeit durcheinander geraten. Ich kann es nicht erklären. Vertrau mir einfach.«

»Ganz wie du wünschst, mein Freund«, erwiderte Sallah.

»Wo sind Faye und Mystery?«, fragte Indy. »Ich dachte, sie würden hier sein.«

»Sie sind heute früh abgereist«, sagte Sallah. »Sie befinden sich auf dem Weg zurück in die Vereinigten Staaten. Aber sie haben dies für dich zurückgelassen.«

Sallah händigte ihm einen Brief aus.

»Danke«, sagte Indy.

»Leb wohl, mein Freund«, verabschiedete sich Sallah. »Es war ein prächtiges Abenteuer. Aber lass uns beim nächsten Mal etwas weniger Gefährliches aussuchen.«

Indy schmunzelte, erwiderte jedoch nichts.

Er stieg ins Taxi, und als es losfuhr, tippte er mit dem Finger an die Krempe seines Hutes.

»Wohin?«

»Zum Flughafen«, sagte Indy.

Während das Taxi dahinholperte, öffnete er den Brief und las.

Lieber Indy,

tut mir Leid, dass Mutter und ich nicht da sein können, um Sie zu verabschieden, aber was Abschiede anbelangt, sind wir abergläubisch. Danke, dass Sie uns so sehr geholfen haben, herauszufinden, was aus Vater geworden ist. Als ich hörte, er sei tot, war ich am Boden zerstört, aber jetzt bin ich froh, endlich die Wahrheit zu wissen.

Mutter sagt, dass Magie zwar funktioniert, dabei aber ihren ganz eigenen, verschrobenen Regeln folgt und nie ein Ersatz für die Wirklichkeit sein kann. Zum Beispiel kann sie uns nie die Menschen zurückgeben, die wir lieben. Trotzdem glaube ich, dass alles wirklich Magische von Gott stammt, dessen Gesetze uns zwingen, für all das, was wir uns wünschen, zu arbeiten, damit wir nicht verwöhnt werden.

Wir fahren nach Hause, nach Oklahoma. Mutter erwartet, dass ich dort die Schule beende. Igitt! Wie soll ich jemals wieder zur Schule gehen, nachdem ich auf der Sphinx gestanden und zwei Schiffbrüche überlebt habe, fast mumifiziert worden wäre und Zeuge eines echten Wundeis war! Das Schlimmste ist, dass kein Mensch mir jemals die Geschichte mit dem Omega-Buch und den Fröschen und allem anderen glauben wird. Was soll's. Wenigstens wissen wir, dass es so war, stimmt's!

Passen Sie auf sich auf. Ich weiß noch nicht, wie unsere Adresse lauten wird, aber wenn ich sie Ihnen an die Universität Princeton schicke, werden Sie mir dann auch ganz bestimmt schreibend

Ihre Freundin Mysti

P.S.: Ich hatte mich ein wenig in Sie verliebt, aber inzwischen bin ich darüber weg.

Eine Woche später traf Indy in Princeton ein. Es war ein verschlafener Samstagnachmittag, und die Universität wirkte menschenleer. Im vierten Stock der McCormick Hall, in der Abteilung für Kunst und Archäologie, blieb er kurz vor der Tür seines Büros stehen, einen Augenblick lang erschrocken über sein Spiegelbild in der Fensterscheibe. Fast während der gesamten Dauer der spontanen Omega-Buch-Expedition hatte er auf die Begegnung mit seinem Konterfei verzichten müssen, denn nur wenige Orte, an denen er sich in den letzten Wochen aufgehalten hatte, waren mit Spiegeln ausgestattet gewesen. Jetzt, als er Gelegenheit hatte, sich endlich wieder einmal ausgiebig zu betrachten, schien es, als blicke ihm ein Fremder entgegen: hagerer als in seiner Erinnerung, dringend eine Rasur und einen Haarschnitt benötigend, und im Gesicht mit Falten, die nicht ausschließlich auf Wind und Sonne zurückzuführen waren. Indy schüttelte den Kopf und probierte den Türknauf. Es war natürlich abgeschlossen. Gedankenverloren klopfte er suchend die Taschen seines Anzugs ab, während er sich zu erinnern versuchte, wo er seine Schlüssel aufbewahrt hatte. Zu Hause? Oder bei Marcus Brody? Er war schon im Begriff, die Fensterscheibe mit dem Ellbogen einzudrücken - teils aus Enttäuschung und teils aus Unbehagen über sein Ebenbild, dessen er soeben ansichtig geworden war - als er einen Hausmeister am Ende des Korridors bemerkte.

»Entschuldigen Sie«, sagte Indy, »aber ich bin Prof -«

»Dr. Jones«, erwiderte der Mann. »Ich weiß, wer Sie sind.«

»Und Sie heißen -«

»Arthur.«

»Richtig«, sagte Indy und lächelte. »Das Problem ist, ich habe mich aus meinem Büro ausgeschlossen. Ich frage mich, ob es Ihnen etwas ausmachen würde, mir die Tür aufzuschließen?«

»Dr. Jones«, sagte Arthur, »Sie lassen Ihre Schlüssel doch nie zu Hause. Ich bin überrascht.«

»Tja«, erwiderte Indy lächelnd. »Ich bin heute einfach nicht ganz ich selbst.«

»Sie sehen etwas müde aus«, pflichtete Arthur ihm bei.

Der Hausmeister schloss die Tür mit einem Schlüssel von dem Ring an seinem Gürtel auf, und Indy trat ein. »Danke«, sagte er und schloss die Tür.

Auf seinem Schreibtisch lag - neben einem Stoß zu benotender Hausarbeiten - der übliche Haufen Post, und oben auf dem Stapel lag ein Erster-Klasse-Brief mit Stempel aus Claremore, Oklahoma. Er ließ den Brief in seine Jackentasche gleiten.

Unter dem Brief von Mystery lag ein offiziell aussehendes Schreiben des Barnett College, bei dem es sich, wie er wusste, um ein Stellenangebot handeln musste. Er spielte mit dem Gedanken es zu öffnen, legte es dann aber zurück auf den Stapel. Dann wandte er sich den Regalen zu, wo er,

hinter einigen Büchern verborgen, einen Drei-Gallonen-Glasbehälter für Präparate, gefüllt mir vergälltem Alkohol, vorfand.

Er nahm den Behälter herunter, stellte ihn auf den Schreibtisch und nahm den Deckel ab. Dann zog er sein Jackett aus und krempelte einen Ärmel seines Hemdes hoch. Bis auf den Alkohol schien der Behälter leer zu sein.

Er griff in den Behälter hinein, tastete umher, hakte zwei Finger in die Augenhöhlen des Kristallschädels und zog ihn heraus. Der Unterkiefer klappte auf, was den Eindruck erweckte, als ob der Schädel schrie. Regenbogen aus buntem Licht tanzten in den Orbitalhöhlen. Er war noch immer genauso Angst einflößend wie an jenem Tag vor Jahren, als er ihn im Tempel der Schlange, unter der zerstörten Stadt Cozan in British Honduras gefunden hatte. Der Schädel war die geheimnisvolle Trophäe in einem tödlichen, sich über Jahre hinziehenden Katz-und-Maus-Spiel gewesen, das Indy mehrere Male abwechselnd gewonnen und wieder verloren hatte. Der Schädel war quer durch ganz Europa gereist, auf den Grund des Meeres gesunken und in der Arktis wiedergefunden worden. Und wie bei den meisten großen Schätzen ging mit ihm ein Fluch einher: Wer immer ihn vom Altar im Schlangentempel entfernte, würde das töten, was er am meisten liebte. Obschon Indy nicht an Flüche glaubte, hatte er Alecia Dunstin sterben sehen, unter Umständen, für die er sich verantwortlich fühlte. Ihre Beziehung war von dem Tag an, als sie sich in der Bibliothek des British Museum begegneten, zum Scheitern verurteilt gewesen. Hätten sich ihre Wege nicht gekreuzt, davon war Indy fest überzeugt, dann würde die wunderschöne und hellsichtige Engländerin noch leben. Manchmal, wenn Indy die Augen schloss, um einzuschlafen, erschien ihm ihr Bild.

Indy betrachtete den typischen Bankkalender, der an der Wand hing und dessen große, rote Buchstaben eine Reihe von Sonntagen markierten. Alle Tage sollten rot markiert sein, sann Indy, um uns daran zu erinnern, dass jeder Tag kostbar ist, und uns davor zu warnen, auch nur einen von ihnen ungenutzt verstreichen zu lassen.

Indy nahm den Schädel in beide Hände, hob ihn in Augenhöhe und drehte seine leeren Augenhöhlen zu sich.

»Ich habe wegen dir bereits genug verloren«, sagte er an den Schädel gewandt.

Ein bläulicher Schimmer tanzte über das Gebiss, und plötzlich ging ein Frösteln durch Indys Handflächen. Hoffnungsvoll schrieb er die beiden Effekte dem rasch verdunstenden Alkohol zu.

Gewöhnlich vermied Indy es, den Schädel mit bloßen Händen anzufassen, aus irgendeinem Grund jedoch hatte er das Bedürfnis nach unmittelbarem Kontakt mit dem kalten Stück Quarz; vielleicht, so sagte er sich, wollte er ihm einfach zu verstehen geben, dass er endlich bereit war, sich mit ihm zu befassen -komme, was da wolle.

Er würde den Schädel zum Tempel in jener untergegangenen Stadt zurückbringen, wo man ihn gefunden hatte. Und obwohl dies seit seiner Wiederentdeckung in der Arktis seine Absicht gewesen war, schien immer etwas dazwischenzukommen, sodass Indy den Schädel in einem Glasbehälter mit Alkohol in seinem Büroregal versteckt hatte. Das spezifische Gewicht des Alkohols war mit dem des Quarzes nahezu identisch, was den Schädel unsichtbar machte. Obwohl sein Büro mehrmals gefilzt worden war, hatte man den Schädel nie gefunden.

Er legte den Schädel auf seinen Schreibtisch.

Das Telefon läutete.

Indy starrte es einen Augenblick lang an und rang mit sich, ob er drangehen sollte. Schließlich hob er, einem Gefühl nachgebend, das er nicht zu erklären vermochte, den Hörer ab.

»Hallo, Indy?«, erkundigte sich eine altbekannte Stimme. »Bist du es?«

»Marcus?«, fragte Indy.

»Ja, sicher. Ich bin froh, dass ich dich erwischt habe. Ich habe vorhin bereits versucht, dich zu Hause zu erreichen.«

»Dort war ich noch gar nicht«, sagte Indy und setzte sich hin.

»Kaum zurück, und schon musst du nach deiner Arbeit sehen, was?«, fragte Brody.

»Ich bringe nur ein paar Dinge in Ordnung, die liegen geblieben sind.«

»Sag mal, während du fort warst, ist etwas überaus Seltsames geschehen. Irgendein Bursche, der sich für dich ausgab, hat sich per Telegraf aus Indien beim Museum gemeldet und eintausend amerikanische Dollar angefordert. Ich wusste, dass du in China warst, das Geld habe ich trotzdem geschickt, auf die unwahrscheinliche Chance hin, dass du es am Ende doch bist und es wirklich dringend brauchst. Wie auch immer, der Kerl hat sich offenbar mit dem Geld aus dem Staub gemacht.«

»Der Kerl war ich«, sagte Indy.

»Tatsächlich?«, meinte Brody erstaunt. »Was hast du in Kalkutta getan?«

»Das Übliche«, erwiderte Indy. »Ich war auf der Durchreise. Gelandet bin ich schließlich in Gizeh, wo ich -«

»Nein, erzähl es mir erst gar nicht«, unterbrach ihn Brody. »Ich bin sicher, dein Vorgehen war vollkommen professionell und in Übereinstimmung mit den Gesetzen und Richtlinien des Service des Antiquites.«

»Man könnte sagen, meine Vollmacht kam von allerhöchster Stelle.«

»Ausgezeichnet. Übrigens, heute traf ein Päckchen aus Kairo im Museum ein. Es ist an dich adressiert, und die Adresse des Absenders scheint - wenn ich das Gekrakel richtig deute - die deines Freundes Sallah zu sein. Könnte es sich möglicherweise um die Ausbeute deines Abenteuers handeln? Darf ich es öffnen?« Bevor Indy etwas erwidern konnte, hörte er am anderen Ende das Geräusch zerreißenden Papiers.

»Es ist eine Schachtel Mandeln«, sagte Brody mehr als nur ein wenig enttäuscht. »Ein Zettel hängt daran. Darauf steht: Ichmöchte mein gegebenes Wort nicht brechen, dachte mir aber, du würdest gerne wissen, dass dort, wo der Stock gelandet ist, jetzt ein Mandelbäumchen blüht. Bis zu unserem Wiedersehen, mein Freund.« Indy musste lachen.

»Ich vermute, dazu gibt es eine passende Geschichte«, meinte Brody.

»Die gibt es allerdings«, sagte Indy. »Und ich bin sicher, eines Tages wirst du sie mir erzählen«, sagte Brody. »Ach, und noch etwas, das war übrigens der eigentliche Grund meines Anrufs. Hast du je von etwas gehört, das >die Asche des Nurhachi< genannt wird?«

»Hab ich«, sagte Indy, »aber ich würde mich gern etwas ausruhen, bevor ich nach Schanghai reise, um mich darum zu kümmern.

Außerdem habe ich ein Stellenangebot vorliegen, das ich überdenken muss. Möglicherweise wechsele ich schon bald die

Universität.«

»Großartig«, sagte Brody. »Wenn man doch noch einmal jung sein könnte. Du ruhst dich aus und rufst mich kurz an, sobald du dich entschieden hast.« »Mach ich«, sagte Indy. »Marcus?« »Was gibt's?«

Einen Augenblick lang war Indys Kehle so trocken, dass er kein Wort hervorbrachte. Schließlich sagte er:

»Es tut gut, deine Stimme wieder zu hören, Marcus.« »Geht es dir gut?«, erkundigte sich Brody besorgt. »Es ist doch alles in Ordnung, oder?«

»Aber ja«, sagte Indy. »Ich fühle mich ausgezeichnet. Oder jedenfalls bald.«

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