KAPITEL ELF Wundertaten und Verstümmelungen

Gewitterwolken hingen dicht über dem Horizont, als Indy und Mystery zwischen den Pranken der Sphinx aus dem Schacht hervorkamen. Faye und Sallah knieten auf der Erde, in ihrem Rücken zwei Soldaten, deren Gewehre zwischen ihre Schulterblätter zielten. Jadoo hatte sich vor Faye aufgebaut und drohte ihr mit der Faust.

»Das ist nicht der Stab Aarons«, fluchte der Magier. »Er funktioniert nicht.«

»Er funktioniert«, entgegnete Faye ruhig.

»Tut mir Leid, Indy«, sagte Sallah. »Ich habe dich zu warnen versucht -«

»Schon gut«, beruhigte ihn Indy, während ein japanischer Soldat ihm Peitsche und Revolver aus dem Gürtel zog.

»Erschießt sie!«, kommandierte Musashi.

»Nein«, sagte Jadoo. »Möglicherweise brauchen wir sie noch.«

»Wer sind Sie, dass Sie es wagen, Befehle zu erteilen?«, herrschte Musashi ihn an.

»Sokai ist tot«, erklärte Jadoo. »Damit fällt die Befehlsgewalt an mich.«

»Sokai Sensei ist tot?«, fragte Miyamoto ungläubig.

»Allerdings«, bestätigte Indy. »Er ist verbrannt. Leutnant Musashi hat sein Schwert.«

Miyamoto wandte sich zu Musashi. Sie zeigte ihm das Schwert, woraufhin er die Hände faltete und eine knappe Verbeugung machte.

»Hai!«, rief er. »Das Kommando führt Musashi Sensei.«

»Schuld daran war der Amerikaner«, beeilte sich Musashi hinzuzufügen.

»Das ist nicht wahr«, verteidigte ihn Mystery.

»Es ist wahr! Er hat ihn getäuscht, indem er die Worte im Buch verdrehte!«, erwiderte Musashi.

»Sie haben das Omega-Buch gefunden?«, fragte Faye.

»Ja, sie haben es gefunden«, bestätigte Musashi. »Aber sie haben es dazu benutzt, Sokai Sensei zu töten. Dafür müssen sie sterben.«

Die Soldaten richteten ihre Gewehre auf Indy.

»Nein«, rief Miyamoto, seine Uniformjacke aufknöpfend.

»Erschießt ihn nicht. Ich will die Genugtuung, ihn mit meinen bloßen Händen umzubringen.«

»Tötet das Mädchen nicht, bevor mir seine Mutter nicht gezeigt hat, wie man den Stab benutzt«, sagte Jadoo.

»Wenn Sie sie sowieso töten«, fragte Faye, »warum sollte ich es Ihnen dann zeigen?«

»Um ihr ein paar Minuten des Lebens zu erkaufen«, erwiderte Jadoo. »Sowie die Chance, dass der kleine, blutgierige weibliche Leutnant vielleicht noch seine Meinung ändert. Sie helfen mir, und ich versuche Musashi zu überreden, Sie beide laufen zu lassen.«

»Die Frauen kümmern mich nicht«, sagte Miyamoto und schleuderte sein Hemd zu Boden. Selbst im Mondschein konnte Indy sehen, wie die Muskeln an Armen und Brust hervortraten.

»Aber der Mann gehört mir.« Faye nickte.

Jadoo reichte ihr den Stab, und sie rappelte sich mühsam hoch.

»Glauben Sie ihm kein Wort, Faye«, rief Indy.

Miyamoto feuerte eine linke Gerade ab, die Indy blockte, doch um die rammbockartige Rechte abzuwehren, die sich in seinen Magen bohrte, ihm die Luft aus dem Leib presste und ihn auf die Knie schickte, war er nicht schnell genug.

»Steh auf und kämpfe, amerikanischer Feigling.«

Indy hob einen Finger.

Miyamoto trat ihm gegen die Brust.

Indy wurde nach hinten geworfen und landete vor einer Wandtafel.

Miyamoto attackierte. Indy rappelte sich auf und boxte ihn so fest er konnte in den Solarplexus, doch Miyamoto lächelte bloß und rammte Indy die Knöchel seiner rechten Hand ans Kinn.

Indy ging abermals zu Boden, und diesmal war sein Mund gefüllt mit Blut und dem widerwärtigen Gefühl eines abgebrochenen, losen Zahns. Er kam wieder auf die Beine und spuckte ein Stück eines blutigen Backenzahns in den Sand.

Den Zahn vor Augen, wanderten seine Gedanken spontan zurück zu der alttestamentarischen Warnung >Auge um Auge, Zahn um Zahn<, und das wiederum brachte ihn auf die Geschichte des Auszugs der Juden aus Ägypten und die Schlachten, die sie dabei geschlagen hatten ...

»Faye«, murmelte Indy. »Der Stab -«

Miyamoto schlug ihn abermals in den Magen, und als Indy sich daraufhin krümmte, ließ er seine hammerähnliche Faust auf seinem Hinterkopf niedergehen. Indy zuckte zusammen und sackte auf ein Knie. Er schlug Miyamoto gegen den Oberschenkel, woraufhin der Sergeant vor Schmerzen stöhnend nach hinten taumelte.

Indy versuchte, den Spielraum zu nutzen, doch als er die Entfernung überbrückt hatte, war Miyamoto abermals bereit und bearbeitete sein Gesicht mit einer Kombination aus Geraden.

»Indy!«, rief Faye. »Was soll ich tun?«

Plötzlich dämmerte es ihm.

»Halten sie ihn in die Höhe«, murmelte Indy.

»Was?«

Indy steckte zwei weitere Körpertreffer ein.

»Halten Sie den Stab hoch«, flehte Indy. »Solange Moses den Stab hochhielt, waren die Juden auf dem Schlachtfeld unbesiegbar.«

Faye hob den Stab zögernd in die Höhe. Indy fing Miyamotos nächsten Schlag mit der rechten Hand ab, dann bog er ihm das Handgelenk nach hinten, bis er auf die Knie fiel und vor Schmerzen schrie. Miyamoto zog seine verletzte Hand zurück und versetzte ihm zwei weitere Schläge mit der anderen Hand, die Indy blockte. »Geben Sie's ihm«, feuerte Mystery ihn an. Indy machte einen Schritt nach vorn und feuerte zwei Gerade auf Miyamotos Kinn, dann versetzte er ihm eine krachende Rechte auf die Stelle zwischen Nase und Oberlippe. Miyamoto kippte in den Sand und spie seine Schneidezähne aus.

»Nimm das«, rief Sallah.

»Haben Sie endlich genug?«, fragte Indy.

Miyamoto hob abwehrend eine geöffnete Hand.

Musashi trat vor.

»Sie Idiot«, beschimpfte sie Jadoo. »Nehmen Sie der Frau den Stab weg.« Jadoo packte den Stab, und er und Faye rangelten um die Kontrolle über ihn.

»Gehen Sie dazwischen und machen Sie ihn fertig«, brüllte Musashi Miyamoto an. Der Stabsoffizier schüttelte den Kopf.

»Sie sind jämmerlich«, sagte sie, zog Sokais Schwert und schlug Miyamoto mit derselben Bewegung den Kopf ab. Mystery schrie auf.

Dann wandte Musashi sich herum, das Gesicht bespritzt mit dem Blut ihres Kameraden, und ging auf Indy los.

Sie war so flink, dass Indy kaum Zeit zu reagieren hatte, als er die Spitze der rasiermesserscharfen Klinge auf seinen Solarplexus zuschießen sah. Es gelang ihm, die größte Wucht des Stoßes abzulenken, indem er den Lederärmel seiner Jacke gegen die flache Seite der Klinge stieß, trotzdem musste er mit ansehen, wie die Klinge sich in die rechte Seite seiner Jacke bohrte.

Indy war wie gelähmt.

»Ich fühle nichts«, sagte er.

»Das kommt noch«, sagte Musashi und drehte die Klinge.

Ein Schmerz schoss durch Indys Flanke, während seine Jacke sich blutrot färbte.

Faye schlug Jadoo das Stabende auf den Mund, als dieser auf das sich in Indys Hüfte bohrende Schwert starrte. Dann reckte sie den Stab abermals in die Höhe. Als Jadoo erneut danach greifen wollte, trat sie ihm in den Unterleib.

Indy befreite sich von der jetzt blutverschmierten Klinge, und diese fiel in den Sand, als wäre sie so schwer, dass Musashi sie nicht mehr halten konnte. Er machte mit seinem rechten Fuß einen Schritt nach vorn und trat auf das Schwert.

Es brach entzwei.

Musashi warf das Heft fort und zog ihre Pistole. Indy erwartete, eine Kugel zwischen die Augen zu bekommen und zuckte zurück.

Doch als der Schuss sich löste, hörte Indy die Kugel von der steinernen Tafel in seinem Rücken abprallen.

»Wie konnte ich daneben schießen?«, fragte Musashi verwundert.

Ein Blutstropfen rann an ihrem Nasenflügel herab.

Die Kugel war von der Steintafel abgeprallt und hatte sie zwischen die Augen getroffen. Sie berührte die blutende Stelle mit den Fingern ihrer linken Hand, betrachtete sie, dann verdrehte sie die Augen und brach vor Indys Füßen zusammen.

»Nein«, entfuhr es Indy. Mystery kniete nieder und suchte einen Puls. »Ist sie -«

»Mausetot«, sagte Mystery, als sie sich zu Indy umdrehte. »Sie hat gekriegt, was sie verdient. Wissen Sie, wie oft sie uns umzubringen versucht hat?« »Trotzdem«, meinte Indy. Sie zog den Reißverschluss seiner Jacke auf und warf vorsichtig einen Blick darunter.

»Man hat mich erstochen«, sagte Indy ungläubig. »Sie bluten ziemlich stark«, antwortete sie. »Ich kann Schwerter nicht ausstehen«, klagte Indy. »Aber es hat die fleischige Partie Ihrer Hüfte durchbohrt«, erklärte Mystery, während sie einen Stoffstreifen vom Ärmel ihrer Bluse abriss und ihn unter seine Jacke stopfte. »Gut, dass Sie an der Stelle ein ordentliches Fettpolster haben, ich glaube nämlich nicht, dass etwas Lebenswichtiges getroffen wurde.« »Vielen Dank«, sagte er. »Ihr Idioten«, wandte sich Jadoo an die Soldaten. »Schnappt euch den Stock!«

Die Soldaten sahen ihn mit einem unschlüssigen Blick an, der zu fragen schien: »Damit wir wie Miyamoto enden?« »Faye«, flehte Jadoo. »Überlassen Sie mir Aarons Stab und zeigen Sie mir, wie man ihn benutzt. Dann lasse ich Sie alle laufen.«

»Glauben Sie ihm kein Wort«, warnte Indy. »Wieso nicht?«, fragte Faye. »Dort stehen immer noch Soldaten, die ihre Waffen auf uns richten.« »Er hat Kaspar umgebracht«, sprudelte Indy hervor. »Was?«, fragte Mystery fassungslos. Gewitterwolken schoben sich vor den Mond.

»Tut mir Leid«, meinte Indy. »Ich wollte es dir nicht erzählen, aber so stand es im Buch geschrieben. Jadoo hat ihn vergiftet, als er ihn 1930 besuchte, den Leichnam enthauptet und den Schädel als Trinkgefäß verwendet. Tut mir Leid, Faye, aber es war Kaspars Schädel, den wir in seinem Regal in Kalkutta gesehen haben.«

»Ich hatte es befürchtet«, meinte Faye traurig.

Der Wind peitschte ihr das Haar ins Gesicht. Als eine einzelne Träne über ihre Wange kullerte, setzte ein feiner Nieselregen ein.

Ein Frosch landete zu Jadoos Füßen und hoppelte davon.

»Haben Sie das gesehen?«, fragte Mystery.

Kurz darauf fing es ernsthaft an zu regnen. Ein weiterer Frosch landete auf Indys Hutkrempe, dann folgte eine wahre Sturzflut von Amphibien, die mit dumpfem Plumps im Sand landeten und hastig die Flucht ergriffen.

»Was hat das zu bedeuten?«, fragte Jadoo.

»Das wissen Sie nicht?«, antwortete Indy voller Vergnügen. »Das ist eine der zehn Plagen.«

Die Soldaten ließen ihre Gewehre sinken.

Jadoo brüllte sie an, woraufhin sie erneut Haltung annahmen.

»Das ist nichts Ungewöhnliches«, stammelte Jadoo. »Es hat schon einmal Frösche geregnet, wie jeder weiß, der Charles Forts Buch der Verdammten gelesen hat. Dies ist keine biblische Plage, sondern nichts als eine Laune der Natur.«

»Ach ja?«, fragte Faye.

Sie breitete, den Stab in ihrer rechten Hand, die Arme aus und hob ihr Gesicht gen Himmel.

»Es möge hageln«, gebot sie.

Im Kopf der Sphinx schlug ein Blitz ein, der sie alle mit einem Funkenregen überschüttete und ihnen in den Ohren klang. Auf den Blitzeinschlag folgten große Brocken lichterloh brennender, baseballgroßer Hagelkörner, die überall im Sand liegen blieben.

Die Soldaten warfen ihre Gewehre fort und hielten sich die Hände schützend über die Köpfe. Jadoo brüllte sie an, doch sie weigerten sich, die Waffen wieder aufzunehmen. Indy zog Mystery an sich, während Jadoo zusammengekauert in die Hocke ging und Sallah sich verwundert umsah.

»Faye«, rief Indy, als ihn ein brennendes Hagelkorn in den Rücken traf. »Was haben Sie bloß angerichtet?« Faye nickte. Sie erhob ihr Gesicht gen Himmel und verkündete: »Blut!« Der Regen färbte sich dunkel. »Oh, mein Gott«, schrie Mystery, als sie mit den Fingern ihren Mund befühlte. »Es ist echt!«

»Machen Sie dem ein Ende, Faye!«, flehte Indy. Faye funkelte Jadoo wütend an. »Ein Fluch«, sagte sie. »Nein«, flehte Jadoo sie an und ließ sich, die Hände aneinander gelegt, auf die Knie fallen. »Ich flehe Sie an, haben Sie Erbarmen.«

»Hatten Sie vielleicht Erbarmen mit meinem Mann?« »Ich habe ihn nicht umgebracht«, log Jadoo. »Sie kennen die Begleitumstände nicht. Es war nicht meine Schuld.« »Tod«, verkündete Faye, »dem Siebtgeborenen des Siebtgeborenen -«

»Nein!«, rief Indy. »Das schließt auch Sallah ein!« »- des Siebtgeborenen.«

»Na gut«, gab sich Indy achselzuckend geschlagen. Jadoos Blick bekam etwas Gehetztes. Er kam auf die Beine, wich vor Faye zurück, dann fing er an zu rennen. Schließlich stürzte er hin und hielt sich keuchend die Brust. Er verendete, die Augen aufgerissen und die Fersen in den Sand gestemmt, an einem schweren Herzinfarkt.

Faye betrachtete das Blutbad ringsum.

Sie nahm den Stab wie einen Speer in die Hand und schleuderte ihn fort. Er segelte in hohem Bogen zweihundert Meter weit und bohrte sich unweit des Nils in den Sand.

»Es ist vorbei«, stellte Sallah fest.

»Fast«, erwiderte Indy.

»Die Aasfresser werden die Überreste dieser Schurken vernichtet haben, noch bevor der Tag heiß wird«, sagte Sallah. »Sie haben nichts Besseres verdient.«

»Nein«, meinte Indy, sich die Seite haltend. »Wir müssen sie begraben. Aber es gibt noch etwas anderes, das wir tun müssen -wir müssen diesen Eingang wieder fest verschließen. Kommt und helft mir, den Stein an seinen Platz zu rücken. Anschließend werden wir das Loch mit Sand auffüllen, dann ist es auf viele Jahre sicher.«

»Aber das Buch«, wandte Sallah ein. »Du hast es doch gefunden, oder?«

»Wir haben es gefunden, das ist richtig«, antwortete Indy.

»Die Welt ist noch nicht so weit«, fügte Mystery hinzu.

»Sie hat Recht«, sagte Indy. »Sie hatte die ganze Zeit schon Recht. Und die Prophezeiungen über die Halle der Aufzeichnungen treffen ebenfalls zu: Die Welt wird erst Jahre nach ihrer Entdeckung von ihnen erfahren.«

»Aber Indy«, sagte Sallah, »wenn nicht jetzt, wann dann?«

»Sobald die Zeit gekommen ist, mein Freud«, sagte Indy. »Sobalddie Zeit gekommen ist.«

Загрузка...