KAPITEL FÜNF Die Lazarus-Insel


Das Holzkreuz stand auf dem felsigen Ausläufer eines Hügels, der eine Lagune überblickte. Darunter, aus einer Höhle im Vulkangestein gebaut, befand sich eine festungsähnliche Kirche mit einer mächtigen, kupferbeschlagenen Doppeltür. Indy packte den Ring an einem der Türflügel und zog daran.

»Sie ist abgeschlossen«, sagte er.

Der Wind frischte auf, und es hatte wieder zu regnen angefangen.

»Ist dort jemand drin?«, fragte Faye.

»Jemand hat sie von innen verriegelt«, stellte Indy fest.

Den Strand selbst umgab ein Kreis aus ein paar Hütten, und mehrere verlassene Auslegerboote waren weit auf den Sand hinaufgezogen worden. Einige stark verwitterte Hinweisschilder in französischer Sprache erklärten die Insel zur eingeschränkten Handelszone. Indy hämmerte mit der Faust gegen das blind gewordene Kupfer, dann hob er einen Brocken Vulkangestein vom Boden auf und hämmerte weiter. Der Regen wurde heftiger. Ein Blitz schlug in eine fünfzig Meter weiter unten am Strand stehende Palme ein, und die Erschütterung der Explosion warf sie fast zu Boden.

»He!«, schrie Mystery mit frisch gewonnenem Elan. »Da drinnen in der Kirche! Wir brauchen Schutz!«

Plötzlich wurde die Tür entriegelt und von einer in ein Gewand gehüllten, entstellten Gestalt mit einer Kerosinlampe in der Hand aufgerissen.

Die vier stürzten in die Höhle hinein.

»Danke«, sagte Indy und schüttelte sich das Wasser von seinem Hut. »Der Sturm hätte uns fast erwischt - zum z weiten Mal.«

»No entiez«, erwiderte der Mann.

»Mister, da draußen tobt ein Wirbelsturm«, sagte Mystery. »Oder haben Sie das etwa nicht bemerkt?«

»Bemerkt schon«, erwiderte der Mann mit schwerem französischen Akzent. Seine Stimme klang heiser, so als hätte er seit langer Zeit nicht mehr gesprochen. »Die Insel ist Sperrgebiet. Sie können nicht hier bleiben.«

»Tut mir Leid«, sagte Indy. »Aber wir haben wirklich keine andere Wahl. Der Sturm hat unser Schiff versenkt.«

»Wieso denn Sperrgebiet?«, fragte Faye.

»Verbotenes Gebiet«, krächzte der Mann.

Er stellte die Lampe auf den Boden. Sein Gesicht war unter einer weiten Kapuze verborgen, und er trat brüsk zurück, als Indy versuchte, ihm die Hand freundlich auf die Schulter zu legen.

»Verzeihung«, sagte Indy. »Hören Sie, wir werden keine Umstände machen. Vier halb ertrunkene Schiffbrüchige, die Zuflucht vor einem Sturm suchen. Wir werden so schnell wie möglich wieder von hier verschwinden. Haben Sie ein Funkgerät, damit wir Hilfe herbeirufen können?«

»Warten Sie hier«, sagte der Mann.

Er ließ die Lampe stehen und verschwand wieder.

»Was hatte das denn zu bedeuten?«, fragte Faye.

»Keine Ahnung«, erwiderte Indy, »aber offenbar kann er im Dunkeln ausgezeichnet sehen.«

Draußen wütete der Sturm, und Wasser sickerte unter der Doppeltür hindurch und sammelte sich in Pfützen auf den Steinplatten. Indy hob die Lampe vom Boden auf, hielt sie in die Höhe und schwenkte sie im Kreis. Im flackernden Licht wurden ein paar verstaubte, aufs Geratewohl übereinander gestapelte Kirchenbänke sichtbar.

»Sieht aus, als wäre es schon eine Weile her, dass man hier einen Gottesdienst abgehalten hat«, stellte Indy fest. »Mehrere Jahre«, gab Faye ihm Recht. »Das gefällt mir nicht«, sagte Musashi. Sie hatte die Arme um den Körper geschlungen, in der Hoffnung, dadurch ihr Zittern unterbinden zu können. »Das erinnert mich an die Gespenstergeschichten, die meine Großmutter immer erzählte, in denen Reisende in ein Unwetter geraten und in einem fremden Schloss Zuflucht suchen. Sie nehmen nie ein gutes Ende.« Endlich erschien eine weitere Laterne am fernen Ende der Kirche und hielt auf sie zu. Der Mann, der sie trug, war beträchtlich größer als der Erste und ebenfalls in ein Gewand gehüllt. »Ich möchte mich für Henri entschuldigen«, erklärte der Mann mit französischem Akzent. »Wir bekommen hier nicht oft Besuch. Genau genommen bekommen wir überhaupt niemals Besuch. Wenn ich recht verstanden habe, ist Ihr Schiff gesunken. Gibt es noch weitere Überlebende?« »Nein«, sagte Faye. »Wir sind alle.« »Das tut mir Leid«, meinte der Mann. »War es ein Handelsschiff? Von welcher Linie?«

»Von gar keiner«, sagte Indy. »Es war eine Dschunke. Ich weiß nicht einmal sicher, was ihr Heimathafen war.« »In diesem Fall besteht keine Notwendigkeit, einen Funkspruch abzusenden oder andere abzuhören«, sagte er. »Kommen Sie, bitte. Wir müssen dafür sorgen, dass Sie sich aufwärmen und abtrocknen können.«

Der Mann führte sie über eine Treppenflucht hinunter in einen kasemattenähnlichen Bereich, der mit einem langen Holztisch; einigen Feldbetten und einem Bücherregal ausgestattet war. Er hielt eine Kerze an den Abzug der Kerosinlampe bis sie brannte, dann zündete er mit ihr drei weitere auf der langen, hölzernen Tafel an.

»Hier sind Sie sicherer«, erklärte er.

»Ich kann den Sturm kaum hören«, sagte Indy.

»Ja, der Orden hat sich zweifellos eine Festung gebaut«, erwiderte der Mann gut gelaunt, während er den bauchigen Ofen in der Mitte des Raumes mit Anmachholz fütterte. »Dieser Raum wurde seit dem Abzug der letzten Ordensbrüder nicht mehr benutzt. Es ist seltsam, aber die alten Absonderungsbestimmungen haben noch immer eine gewisse Wirkung.«

»Verzeihen Sie«, sagte Indy, »ich möchte nicht unhöflich sein, aber könnten Sie uns verraten, wo wir uns befinden?«

Der Mann unterbrach seine Arbeit am Ofen, ohne zu bemerken, dass ein mit Pusteln übersäter Finger in den lodernden Flammen zurückblieb.

»Geben Sie Acht«, sagte Indy und zog den Arm des Mannes zurück.

»Verflucht«, sagte der Mann und schlug das Feuer an seinem

Umhang aus. »Sie haben wirklich keine Ahnung? Haben Sie die Schilder nicht gesehen?«

»Da stand irgendwas von einer Handelszone«, meinte Faye.

»Tja«, erwiderte der Mann gedehnt, während er die Ofentür schloss und sich auf dem nächsten Stuhl niederließ. »Dies ist die Lazarus-Insel. Sie wurde vom Orden des heiligen Lazarus gegründet. Es ist eine Leprakolonie.«

»Leprakranke«, zischte Musashi.

»Man hat mir gesagt, so hässlich sehe ich gar nicht aus«, fuhr der Mann fort und zog die Kapuze zurück, unter der ein bleiches Gesicht mittleren Alters zum Vorschein kam, das bis auf ein paar rosig-graue Flecken längs der Nase völlig normal aussah. »Meine Hände hat es allerdings schlimm erwischt. Ich habe kein Gefühl mehr in den Fingern, wissen Sie. Der Gestank verbrennenden Fleisches tut mir Leid.«

»Darauf bezieht sich die Sperre«, meinte Indy. »Zwischengeld?«

»Richtig, man zwingt uns, Zwischengeld zu verwenden«, fuhr der Mann fort. »Aus Angst vor Ansteckung. Zuerst waren es die Franzosen, und als der Orden sich dann vor einigen Jahrzehnten auflöste, gaben die Amerikaner das Zwischengeld aus und setzten die Handelsbeschränkungen durch. Die Kirche wird seit der Zeit vor dem Großen Krieg nicht mehr benutzt.«

»Dann ist dies Eigentum der Vereinigten Staaten?«, fragte Indy.

»Kein Mensch würde Anspruch auf die Lazarus-Insel erheben«,gab der Mann lachend zurück. »Aber man zwingt uns trotzdem, das Sondergeld zu benutzen, um uns die Dinge zu kaufen, die wir nicht selbst herstellen können.

»Ist die Krankheit ansteckend?«, fragte Mystery.

»Tut mir Leid«, sagte Faye und packte ihre Tochter bei den Schultern. »Entschuldigen Sie unsere Manieren. Verzeihen Sie, aber ich weiß Ihren Namen nicht.«

»Pascal.«

»Monsieur Pascal.«

»Das ist schon in Ordnung«, sagte er. »Sie ist ansteckend, Mademoiselle, aber durch einen so flüchtigen Kontakt wie den Austausch von Geld wird sie nicht übertragen. Wer unter Leprakranken lebt, weiß, dass die meisten gesunden Menschen von Natur aus dagegen immun sind. Tatsächlich stecken sich viele, die mit Leprakranken verheiratet sind, niemals mit der Krankheit an. Ich fürchte, Unwissenheit hat weit mehr Schaden angerichtet als die Krankheit selbst.«

»Ist die Krankheit heilbar?«, wollte Mystery wissen.

»Nein«, antwortete Pascal. »Heilbar ist sie nicht.«

»Noch nicht«, wandte Indy ein. »Aber das wird kommen.«

»Ich wünschte, ich könnte daran glauben«, meinte Pascal. »Aber wir behelfen uns so gut wir eben können. Deswegen war Henri Ihnen gegenüber so kurz angebunden. Die Strafen für die Verletzung der Handelsbeschränkungen können ziemlich hart sein. Ich fürchte, die Gesellschaft hat uns nicht nur zu Aussätzigen gemacht, sondern auch zu Kriminellen.«

»Da befinden Sie sich in guter Gesellschaft«, meinte Indy.

»Wie viele sind Sie?«, fragte Faye.

»Fast einhundert«, sagte Pascal. »Größtenteils Männer, aber auch ein paar Frauen.«

»Und Sie sind ihr Vertreter?«, fragte Indy.

»Ihr Sprecher, ihr Arzt, Rechtsanwalt und Priester«, erwiderte Pascal. »Bitte nehmen Sie unsere Gastfreundschaft an. Sobald der Sturm sich legt, werde ich Ihnen etwas zu essen schicken. Bis dahin, schlage ich vor, trocknen Sie Ihre Kleider und ruhen sich ein wenig aus. Sie sind, mit einer Ausnahme, Amerikaner?«

»Ja«, sagte Indy.

»Morgen früh werde ich versuchen, Kontakt mit der USS Augusta aufzunehmen. Sie ist das Flaggschiff der Asienflotte. Sie kreuzt schon seit Wochen zwischen hier und Schanghai und versucht, amerikanische Stärke zu zeigen. Wenn sie nicht zu weit draußen auf See ist, kann sie Sie vielleicht an Bord nehmen.«

»Dann haben Sie also Funk«, sagte Indy.

»Selbstverständlich«, antwortete Pascal.

»Unsinn«, wandte Musashi ein.

»Soll ich versuchen, auch die kaiserliche -«

»Nein«, unterbrach ihn Indy. »Und bitte lassen Sie diese Frau auf keinen Fall in die Nähe des Funkgeräts. Mystery, würde es dir etwas ausmachen, die Rolle der Gastgeberin zu übernehmen?«

»Es wäre mir ein Vergnügen«, sagte Mystery. »Haben Sie einen Strick?«

Pascal wirkte schockiert.

»Ist das wirklich nötig?«

»Auf jeden Fall«, sagte Indy.

»Darf ich wenigstens diese Sachen ausziehen«, fragte Musashi unter Zähneklappern. »Mir ist kalt.«

»Es gibt noch einen anderen Raum«, schlug Pascal vor. »Einen kleineren. Er verfügt über eine Tür, die von außen verriegelt werden kann. Er liegt wie dieser unter der Erde und hat keine weiteren Ausgänge. Einen Ofen gibt es dort auch.«

»Das wird gehen«, sagte Indy.

»Ich helfe ihr«, erbot sich Faye und schnappte sich eine der Decken. »Komm, Mysti. Lassen wir Dr. Jones ein wenig alleine.«

»Ich würde lieber hier bleiben«, sagte Mystery.

»Das wird leider nicht gehen«, sagte Faye.

»Was ist mit Ihrer Schulter?«, wandte sich Pascal an Indy. »Wie ich gesehen habe, sind Sie offenbar verletzt. Ist sie gebrochen? Benötigen Sie medizinische Hilfe?«

»Nein«, sagte Indy. »Danke. Sie wird mit der Zeit schon wieder verheilen.«

»Wie Sie wollen«, sagte Pascal. »Bis morgen früh.«

Endlich alleine, zog Indy seine triefnassen Kleider aus und verteilte sie zum Trocknen über die Stühle. Dann hüllte er sich in eine Decke und legte sich aufs Feldbett. Er war müde, aber noch nicht bereit einzuschlafen. Seine Augen wanderten über die verstaubten Bände in dem alten Bücherschrank. Die meisten Titel waren auf Französisch, Katechismen und das Leben der Heiligen. Es gab ein deutsches Wörterbuch mit einem stark abgenutzten Einband. Die beiden Bücher auf Englisch waren die Lebenserinnerungen von U. S. Grant und eine Ausgabe der König-James-Version der Bibel. Indy griff nach der Bibel.

Er blies den Staub von ihrem Einband und schlug das Buch Exodus auf.

In seinen Träumen war Indy auf der Suche. Vielleicht lag es daran, dass er vor dem Einschlafen noch einmal im Alten Testament geblättert hatte, oder an den einhundert bangen Augenblicken der vergangenen paar Tage, oder an dem Bewusstsein, sich tief unterhalb der Erde zu befinden. Aus welchem Grund auch immer, Indy fand sich in einer biblischen Landschaft aus Pyramiden und Götzenbildern, Sand und Sonne wieder, wo er endlose Korridore und unglaublich verschlungene Gänge durchstreifte, auf der Suche nach einem flüchtigen Schatten, der stets hinter der nächsten Ecke verborgen blieb. Oft war er nahe genug, um den Klang ihrer Stimme zu hören, manchmal gelang es ihm, einen flüchtigen Eindruck ihres Gesichts zu erhaschen, doch nie kam er nahe genug heran, um sie auch wirklich zu berühren. Seine Enttäuschung wurde dadurch wettgemacht, dass ein Teil von ihm wusste, dass es nur ein Traum war und er sie niemals würde einholen können. »Wer ist Alecia?«, wollte Faye wissen, als Indy aufwachte. »Wie bitte?«

»Sie haben im Schlaf gesprochen«, sagte Faye. Sie saß am Tisch und aß zum Frühstück von einem Teller mit Obst, den Pascal gebracht hatte. »Ich möchte nicht aufdringlich sein, aber sie schien furchtbar wichtig zu sein. Ist sie Ihre Frau?«

»Ich war nie verheiratet.«

»Dann Ihre Freundin?«

»Nein«, erwiderte Indy.

Er setzte sich auf und rieb sich die Augen.

»Wie spät ist es?«, fragte er.

»Kurz nach Tagesanbruch«, sagte sie. »Ich war vor einer Weile draußen. Es ist herrlich, jetzt, wo der Sturm vorüber ist.«

»Wo ist Leutnant Musashi?«, fragte er.

»Sie schläft noch«, sagte Faye. »Mystery auch.«

»Und warum Sie nicht?«, fragte Indy.

»In geschlossenen Räumen konnte ich noch nie schlafen«, antwortete sie. »Werden Sie es mir erzählen?«

»Erzählen? Was denn?«

»Von Alecia.«

»Warum sollte ich?«, fragte Indy.

»Weil wir Freunde sind«, meinte Faye. »Weil wir zusammen eine Zerreißprobe auf Leben und Tod durchgemacht haben. Weil wir froh sein können, überlebt zu haben. Und weil ich es wissen will, und Sie es mir erzählen wollen.«

»Das ist nicht wahr.«

»Lieben Sie sie?«

»Ich habe sie geliebt«, sagte Indy.

»Aber jetzt nicht mehr.«

»Hören Sie«, sagte Indy. »Ich werde Ihnen die Kurzfassung erzählen, einverstanden? Ich kannte einmal eine Frau mit Namen Alecia. Wir haben uns gegenseitig nichts als Unglück gebracht. Dann ist sie gestorben.«

Faye schwieg.

»Zufrieden?«, fragte Indy.

»Nein«, sagte Faye. »Können Sie nicht darüber sprechen, ohne wütend zu werden?«

»Sie machen mich wütend.«

»Das glaube ich nicht«, meinte Faye. »Sie sind wütend auf diese Frau, und das schon seit geraumer Zeit. Nur wusste ich bis zu diesem Augenblick nicht, worüber Sie wütend sind.«

»Hören Sie, das hat längst nichts mehr mit mir zu tun -«

»Und ob es etwas mit Ihnen zu tun hat«, widersprach Faye.

»Denken Sie doch mal nach. Die Menschen lassen nicht einfach alles stehen und liegen und gehen in ein fremdes Land, es sei denn, sie sind nicht glücklich oder unerfüllt. Das weiß ich - ich spreche aus Erfahrung.«

»Kaspar war nicht glücklich?«, fragte Indy.

»Er hat mich nicht gebeten, nachzukommen«, sagte sie.

»Warum suchen Sie ihn dann?«

»Weil ich ihn liebe«, antwortete sie. »Weil Mystery ihren Vater braucht oder zumindest wissen muss, was aus ihrem Vater geworden ist. Und weil ich klug und stark genug bin, ihn zu finden, und ich es mir nie verzeihen könnte, wenn ich es nicht versucht hätte.«

Indy hüstelte.

»Das Thema ist Ihnen unangenehm«, stellte Faye fest.

»Es gehört nicht zu den Dingen, über die man sieh mit seinen Freunden unterhält«, gab Indy zu.

»Dann hören wir auf damit«, schlug Faye vor.

»Gut«, sagte Indy.

Faye langte nach unten und hob die Bibel auf.

»Waren Sie gerade dabei, Ihre Gebete zu sprechen?«, fragte sie.

»Ich habe über den Stab des Aaron gelesen«, erklärte Indy. »Jetzt verstehe ich, warum Kaspar fasziniert war - es war der ursprüngliche Zauberstab. Mit seiner Hilfe konnte man Wasser finden, Plagen heraufbeschwören, seine Feinde vernichten. Solange Moses ihn in die Höhe hielt, waren die Juden im Kampf unbesiegbar.«

Faye lächelte.

»Als ich noch ein Kind war«, erzählte Faye, »schloss ich oft die Augen, schlug die Bibel auf und las aufs Geratewohl einen Vers.

Jetzt kommt mir das ziemlich albern vor. Aber die Verse schienen stets einen Sinn zu ergeben.«

»Und jetzt nicht mehr?«

»Nein«, erwiderte sie.

»Was hat sich Ihrer Meinung nach geändert?«

»Ich selbst«, sagte Faye. »Ich bin erwachsen geworden.«

»Kinder besitzen die Gabe magischen Denkens.«

»Sie glauben nicht an Magie, Dr. Jones?«

»Kommt ganz darauf an, wie man sie definiert«, meinte Indy.

»Wenn Sie damit die Art von Unterhaltung meinen, die von einem Publikum, das es eigentlich besser wissen sollte, ein freiwilliges Außerkraftsetzen seiner Kritikfähigkeit erfordert, dann lautet meine Antwort >ja<, daran habe ich meine Freude.«

»Nein«, sagte sie. »Ich spreche von wahrer Magie.«

»Falls die Wissenschaft uns überhaupt etwas gelehrt hat«, entgegnete Indy, »dann, dass es dergleichen nicht gibt. Magie, Aberglaube - diese Dinge gehören der Vergangenheit an.«

»Wissenschaft ist auch nichts weiter als ein Glaubenssystem«, meinte Faye. »Es ist ein gutes System, aber nicht das einzige.

Außerdem erklärt sie längst nicht alles. Glauben Sie an Gott, Dr. Jones?«

»Ja«, sagte Indy.

»Gut«, meinte Faye. »Wenigstens etwas. Sie setzen Ihren Glauben an die Wissenschaft vorübergehend außer Kraft, um Platz für den Glauben an etwas zu schaffen, dessen Existenz Sie nicht beweisen können, dessen Vorhandensein Sie aber aufgrund einer Überzeugung als gegeben voraussetzen, die über das rein Rationale hinausgeht. Wäre es so schwer, einzugestehen, dass Magie ebenfalls funktioniert?«

»Wenn es Beweise dafür gäbe«, sagte Indy.

Faye lächelte.

»Genau danach hat Kaspar gesucht«, sagte sie. »Andere suchen den Stab vielleicht wegen der Reichtümer und der Macht, die er einem verschaffen kann, aber Kaspar war auf etwas anderes aus. Er wollte eine Bestätigung dafür, dass Magie funktioniert, dassnoch immer Wunder geschehen können.«

»Der ursprüngliche Zauberstab.«

»Genau«, sagte Faye.

»Aber der ist in der Antike unrettbar verloren gegangen«, sagte Indy. »Möglicherweise ist er sogar nichts als eine Legende.«

»Wenn«, sagte Faye, »dann handelt es sich um eine besonders gut dokumentierte Legende. Im Alten Testament ist mehrfach von ihm die Rede. Im Buch Exodus verwandelt er sich in eine Schlange und verschlingt das von den Magiern des Pharao herbeigezauberte Gewürm. Er verwandelt den Nil in Blut und wird dazu benutzt, die zehn Plagen über Ägypten herbeizuflehen.«

»Frösche, Mücken und Schwärme von Fliegen«, sagte Indy.

»Eiternde Geschwüre, glühender Hagel und Heuschrecken. Den Tod des Viehs. Finsternis, die sich über das Land senkt. Den Tod der Erstgeborenen Ägyptens. Aber selbst wenn Sie ihn fänden«, fragte Indy, »woher wollen Sie wissen, dass es sich um den echten Stab handelt? Wenn er tatsächlich erhalten geblieben ist, wäre er mittlerweile nichts weiter als ein altes, vertrocknetes Stück Holz.«

»Sie meinen, wie man ihn von einer Fälschung unterscheiden könnte?«, fragte Faye. »In der Bibel wird er als Zepter beschrieben, gefertigt aus Mandelholz, mit Aarons Namen darauf. Und dann bleibt natürlich die Frage, wie viele alte, vertrockneteHolzstücke Wunder bewirken können.«

»Das kann unmöglich Ihr Ernst sein«, sagte Indy.

Faye erwiderte seinen standhaften Blick.

»Tja«, meinte Indy, »wenn er funktioniert, würde das die Frage der Magie ein für alle Mal klären, schätze ich.«

Faye lächelte und wollte gerade noch etwas hinzufügen, als Mystery ins Zimmer stürzte.

»Dr. Jones!«, rief sie. »Mutter! Kommt schnell. Draußen in der Lagune schwimmt ein Flugzeug.«

Indy und Faye folgten Mystery nach draußen. Die Helligkeit des Sonnenlichts am Strand ließ Indy blinzeln. Mitten in der Lagune schwamm, einer einsamen Ente auf einem Farmteich gleich, ein klobiges Flugboot. Es besaß vier Motoren, die an seiner einen, oben liegenden Tragfläche angebracht waren. Der Rumpf hatte eher die Form eines Schiffes als die eines Flugzeugs, ein Effekt, der durch eine Reihe von Bullaugen noch unterstrichen wurde. Auf dem Bug, unterhalb der Cockpitfenster, standen in schwarzen Lettern die Worte Pan American. Unter der Tragfläche der Maschine ließ die Besatzung soeben ein kleines Boot zu Wasser. Pascal erschien an Indys Seite.

»Ich hatte nicht erwartet, dass Sie so früh auf den Beinen sein würden, in Anbetracht dessen, was Sie gestern alles durchgemacht haben«, meinte er.

»Wann ist das Flugboot angekommen?«, fragte Indy. »Vor wenigen Minuten«, antwortete Pascal. »Ich habe heute Morgen Verbindung mit der Augusta aufgenommen«, erklärte er, »und die wiederum haben sich mit dem Flugboot in Verbindung gesetzt.«

»Ich wusste gar nicht, dass die Pan Am in diesem Teil der Welt einen Passagier dienst unterhält«, sagte Indy. »Tut sie auch nicht«, meinte Pascal. »Ihre schnellen Passagiermaschinen sind, glaube ich, auf Südamerika beschränkt. Aber der Funker an Bord der Augusta meinte, sie seien gerade dabei, ein neues Flugzeug zu erproben.«

Als sich das Beiboot dem Strand näherte, wurde Pascal unbehaglich zumute.

»Wenn es Ihnen nichts ausmacht«, meinte er, »ich muss noch meine morgendlichen Pflichten erledigen.«

»Danke«, sagte Indy.

»Sie brauchen sich nicht zu bedanken.«

»Oh, ich denke doch«, erwiderte Indy und reichte ihm die Hand. Pascal zögerte, schließlich ergriff er sie.

»Wir werden Ihre Freundlichkeit nicht vergessen«, sagte Indy.

Pascal nickte, dann verschwand er in der Höhle der Kirche.

Das Boot langte am Strand an, und der Matrose, der ruderte, zog die Riemen ein. Ein hoch gewachsener Mann in einer blauen Uniformjacke trat vom Bug in die Brandung.

»Wie ich höre, haben Sie eine ziemlich anstrengende Reise hinter sich«, sagte der Mann. »Mein Name ist Ed Musick. Ich fliege für die Pan American, wie Sie sehen. Wir waren gerade dabei, Flugtests mit der Sikorsky S-42 durchzuführen. Prachtvolle Maschine, finden Sie nicht?«

»Allerdings. Ich habe schon seit Jahren kein Exemplar mehr zu Gesicht bekommen.«

»Wie bitte?«, fragte Musick. »Die S-42 ist gerade erst in Produktion gegangen.«

»Ich meinte das Flugboot«, erklärte Indy. Musick lächelte.

»Im Übrigen waren wir gerade dabei, einige Flugstrecken und Landeplätze für eine mögliche Chinaroute im nächsten Jahr zu erkunden«, erklärte er. »Dann erhielten wir einen Funkspruch, in dem man uns bat, einige Personen zu bergen, die vor einem Unwetter Schutz gesucht haben.« .

»Das dürften wir sein«, sagte Indy. »Captain Musick, das sind Faye Maskelyne und ihre Tochter Mystery.«

»Meine Damen«, sagte Musick und tippte an seinen Hut. »Ich fürchte, wir können Sie nicht in die Staaten zurückbringen, da wir noch nicht für die Beförderung von Passagieren eingerichtet sind. Aber unser nächster Halt ist Kalkutta, und von dort aus sollten Sie keine Schwierigkeiten haben, eine Fahrkarte zurück nach Hause zu bekommen.«

»Das wäre eine große Hilfe«, sagte Indy.

»Sind Ihre Leute so weit?«, fragte Musick. »Der Funker meinte, Sie seien zu viert.«

»Wir sind so gut wie fertig«, erwiderte Indy.

»Was machen wir mit Leutnant Musashi?«, wollte Faye wissen.

»Wir können sie unmöglich hier lassen«, antwortete Indy. »Wir nehmen sie mit nach Kalkutta und setzen sie an der japanischen Botschaft ab.«

»Eine japanische Staatsangehörige?«, fragte Musick.

»Die einzige weitere Überlebende von unserem Schiff«, bestätigte Indy.

»Ich gehe und nehme ihr die Fesseln ab«, erbot sich Faye.

»Sie ist gefesselt?«, fragte Musick.

»Warten Sie's ab«, meinte Indy. »Wenn Sie sie erst kennen gelernt haben, werden Sie verstehen.«

Als das Flugboot in den blauen Himmel über der Lazarus-Insel stieg, ließ Indy sich in den gut gepolsterten Sitz sinken und zog sich die Krempe seines Filzhuts über die Augen.

Faye und Mystery drängten sich am Fenster und blickten hinunter auf die tiefblaue Lagune, Indy dagegen hatte schon in so vielen Flugzeugen gesessen, dass solche Anblicke zur Routine geworden waren. Stattdessen dachte er darüber nach, wie er nach ihrer Ankunft in Kalkutta das Telegramm an Marcus Brody formulieren sollte und wo sie unterkommen sollten, bis das Geld eintraf.

Auf der anderen Seite des Mittelganges, die Hände gefesselt, die Augen aber hell und klar, saß Musashi. Sie war ebenfalls mit Pläneschmieden beschäftigt.

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