KAPITEL NEUN Schakale

Kurz vor Sonnenaufgang fuhren sie in einem klapprigen alten Ford, der Sallahs Schwager gehörte, zur Hochebene von Gizeh, parkten das Auto, um keine Aufmerksamkeit zu erregen, in der Nähe des Nils unterhalb einer Sandbank und warteten, dass der Mond aufging. Als es so weit war und er zwei Stunden später wie ein gespenstischer Bote über Kairo am Himmel erschien, heulte in der Ferne ein Schakal. Das Geheul scheuchte die letzten Touristen über die Brücke zurück in die Sicherheit der Stadt und überließ die Grabmale der Wüste und den dort lebenden Kreaturen. Sallah nahm den Leinensack der mit Kiefernteer getränkten Fackeln und das schwere eiserne Stemmeisen auf, und Indy holte die Schaufeln und Äxte. Faye trug den Stab und zwei Lampen, während Mystery die Seile und den Flaschenzug schleppte. Sie kletterten das felsige Nilufer hinauf und begaben sich quer durch die gepeinigte Landschaft zur Sphinx. Als sie näher kamen, tauchte der Kopf der Sphinx über dem Horizont auf, zusammen mit den Spitzen zweier der drei dahinter liegenden Pyramiden. Schließlich bahnten sie sich ihren Weg zwischen den umgestürzten Säulen und Steinquadern des Tempels hindurch und erreichten den Eingang des eingefriedeten eigentlichen Grabmalbezirks.

Vor ihnen lag das rätselhafte Antlitz der Sphinx, den Blick für alle Zeiten nach Osten gerichtet. Die verwitterten Pranken ragten ihnen entgegen, während der Kopf mit seinen abstehenden Ohren und seiner geriffelten Haube aussah, als könnte er jeden Augenblick auf sie herabstürzen, so schlimm war er beschädigt. Weil die Sphinx aus einem einzigen, aus der Erde tretenden Kalksteinfels geschlagen war, ragte allein der Kopf über den Horizont; der übrige Körper war in eine grabenähnliche Einfriedung eingelassen. Zwischen den Pranken befand sich eine senkrechte granitene Säule, etwa mannshoch, die mit Hieroglyphen übersät war. Wie die Sphinx selbst war auch die Säule beschädigt und unvollständig.

»Der Ort hat etwas«, meinte Faye. »Man spürt geradezu, wie die Jahrhunderte auf einem lasten. Nein, nicht nur die Jahrhunderte, sondern die gesamte Ewigkeit.«

»Sie sind nicht die Erste, die diese Beobachtung macht«, sagte Indy. »Mir ist es ebenso ergangen, als ich zum ersten Mal hier war, als kleiner Junge. Mittlerweile liegt ein sehr viel größerer Teil der Sphinx frei als damals. Sie ist im Verlauf ihrer Geschichte immer wieder abwechselnd von der Wüste verschüttet und von nachfolgenden Generationen ausgebuddelt worden.«

»Wird niemandem auffallen, dass wir hier herumschnüffeln?«

»Das ist nicht wahrscheinlich«, meinte Indy. »Wir sind hinter der Einfriedung so gut verborgen, dass man praktisch genau über uns stehen müsste, um uns zu entdecken.«

»Was steht hier?«, fragte Mystery, vor der Granitstele stehend.

Der Mond schien so hell, dass Indy es ohne die Hilfe einer Lampe entziffern konnte.

»Was meist an Grabmalen von Regierungen steht«, erklärte er.

»Es erinnert an ein öffentliches Bauvorhaben und an den politischen Führer, der es ins Leben gerufen hat. Vor etwa fünfundzwanzig Jahrhunderten ließ Thutmosis IV. den Sand rings um die Sphinx forträumen und Reparaturarbeiten an ihr vornehmen. Weil wir einen Teil des Namens hier auf dem beschädigten Abschnitt der Tafel erkennen können, die Silbe >Chef <, sind die meisten Ägyptologen der Ansicht, dass die Sphinx eintausend Jahre vorher von Chefren errichtet wurde.«

»Und welcher Ansicht sind Sie?«, fragte Mystery.

»Ich bin der Ansicht, dass wir noch längst nicht alle Antworten kennen«, erwiderte er.

»Ich habe gelesen, Napoleon habe die Sphinx für Schießübungen benutzt«, erzählte Mystery, »und dabei die Nase heruntergeschossen.«

»Nein, sie wurde im vierzehnten Jahrhundert von einem islamischen Fanatiker verunstaltet«, erklärte Indy.

»Also gut«, meinte Sallah, der sein Bündel ablegte und zu einer Schaufel griff. »Ich bin bereit. Wo fangen wir an?«

»Gute Frage«, sagte Indy. »Faye, es ist so weit.«

Faye nickte.

Sie ging zur Sphinx, dann drehte sie sich um und ließ sich, den Stab im Schoß, zwischen ihren Pranken nieder. Sie senkte den Kopf, konzentrierte sich und verharrte eine Viertelstunde lang in dieser Stellung, während die anderen schweigend warteten. Schließlich hob sie den Kopf.

Faye schlug die Augen auf, machte dabei aber ein Gesicht, als lausche sie einer fernen Musik. Sie stellte erst einen, dann den anderen Fuß unter ihren Körper, und schließlich hielt sie den Stab mit ausgestreckten Armen vor sich. Sie machte mehrere Schritte nach vorn, zögerte, trat einen Schritt nach links. Sie hielt den Stab mit einer Hand über ihrem Kopf, dann drehte sie ihn herum und schleuderte ihn zu Boden. Das Ende des Stabes bohrte sich in den flachen Sand und stieß darunter auf etwas Hartes. »Graben Sie hier«, sagte sie.

»Sind Sie sicher?«, fragte Indy. »Man hat weder einen Blitz noch sonst etwas gesehen. Ich hatte eigentlich mehr erwartet.«

»Als die Juden in der Wüste nach Wasser suchten«, erklärte Faye, »haben sie mit dem Stab einfach gegen einen Fels geschlagen, und eine Quelle sprudelte hervor. Warum sollte es jetzt anders sein?«

»Naja, tausende - nein, wahrscheinlich Millionen - von Menschen sind in den letzten fünftausend Jahren über diese spezielle Stelle hinweggegangen, und niemand hat hier je etwas gefunden. Es klang, als sei der Stab auf den natürlichen Kalkstein unter dem Sand gestoßen.«

»Hören sie auf mit dem Gemecker und fangen Sie an zu graben«, sagte Faye.

Sallah markierte die Stelle mit dem Fuß, dann ging er daran, den Sand mit einer Schaufel fortzuräumen. Indy und Mystery halfen ihm dabei, während Faye zuschaute, den Stab senkrecht in der Hand. Nach wenigen Minuten hatten sie so viel Sand entfernt, dass sie eine glatte, ebene Fläche vor sich hatten.

»Sie ist von Menschen gemacht«, stellte Indy fest. »Es könnte allerdings auch einfach eine der Steinplatten des alten Innenhofes sein, der sich an dieser Stelle befand.«

»Graben Sie weiter«, sagte Faye.

Sallah klopfte mit dem stumpfen Ende des Stemmeisens auf die Steinplatte. Es gab ein hohles Geräusch.

»Ich will verdammt sein«, entfuhr es Indy.

Sallah sah missbilligend auf.

»Ich habe eine Kante gefunden«, rief Mystery.

Eine halbe Stunde später hatten sie allen Staub von dem Stein entfernt, der eben war und ungefähr einen Meter im Quadrat maß. Schließlich rammte Sallah das Stemmeisen unter eine der Kanten.

»Augenblick noch«, sagte Indy. »Mystery, sieh nach, ob die Luft rein ist.«

Mystery nickte.

»Und sei vorsichtig«, setzte Indy hinzu.

Sie krabbelte auf die rechte Pranke, kletterte auf die Schulter der Sphinx und stützte sich am Kopf ab. Der Mond stand mittlerweile hoch am Himmel. Mystery schaute hinter sich. Der Körper der Sphinx, fast so lang wie ein Fußballplatz, wirkte unproportioniert, der Kopf schien viel zu klein für einen derart riesenhaften Körper. Im Nordosten ragte, vom Mondschein hell erleuchtet, die große Pyramide von Cheops in den Himmel, das letzte noch erhaltene Weltwunder der Antike. Beinahe unmittelbar hinter der Sphinx stand die etwas weniger bedeutende Pyramide von Chefren, während sich im Südwesten die kleinste der drei großen Pyramiden auf der Hochebene von Gizeh erhob, die von Mykerinos.

Im Süden, parallel zum Nil, glaubte sie eine Bewegung zu gewahren. Sie schloss die Augen, schaute abermals hin, doch da war nichts.

»Die Luft ist rein«, rief Mystery.

Beim Hinunterklettern löste sich unter ihren Füßen ein Stück der Sphinx aus einer eintausend Jahre alten ausgebesserten Stelle. Sie fing sich, bevor sie mehr als ein paar Fuß weit abrutschen konnte.

»Ich hab dir doch gesagt, du sollst vorsichtig sein«, rief Indy.

»Tut mir Leid.«

»Leid tun nützt nichts«, meinte Indy. »Pass lieber besser auf.«

Sallah holte tief Luft, biss die Zähne aufeinander und stemmte sich gegen das Endstück des Eisens. Nichts geschah. Er schloss die Hände fester um das Stemmeisen und legte sich mit aller Kraft ins Zeug. Die Muskeln an seinen Armen und Schultern traten hervor wie Schlangen, doch wiederum rührte sich nichts.

»Er kann unmöglich so schwer sein«, sagte Indy.

»Möchtest du es mal versuchen?«, fragte Sallah. Sein Gesicht war sehr gerötet, und von seiner Nase troff der Schweiß.

»Du hattest bestimmt einen ungünstigen Hebel«, meinte Indy.

»Was glaubst du, wie lange ich das schon mache?«

»Lass mich es versuchen«, sagte Indy. »Der Stein kann unmöglich mehr als ein paar hundert Pfund wiegen.«

Er spuckte in die Hände, setzte das Stemmeisen erneut an und zerrte.

»Du hast Recht«, staunte er.

»Versuchen wir es gemeinsam«, schlug Sallah vor.

Sallah übernahm das obere Ende des Stemmeisens, Indy die Mitte, und Mystery drückte von der anderen Seite. Nach dreißig Sekunden konzentrierter Anstrengung vernahm man das scharrende Geräusch von Fels auf Fels.

»Er bewegt sich«, stieß Indy zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

»Nur nicht schlapp machen«, drängte Faye.

Widerstrebend gab der Stein nach. Mystery löste ihren Griff vom Stemmeisen und trat zurück. Mit dem Handrücken wischte sie sich den Schweiß aus der Stirn, dann schaute sie hinauf zu den Sternen.

»Komisch«, meinte sie, schwer atmend. »Ich dachte, ich würde in diesem Augenblick aufgeregt sein, aber das bin ich nicht. Ich fühle mich seltsam - als wäre ich einer jener Schakale dort draußen in der Wüste.«

„Wir sind Schakale«, gab Sallah ihr mit einem Glänzen in den Augen Recht. »Und daran ist nichts Verwerfliches, es ist der Lauf der Natur. Meine Familie plündert diese Gräber bereits seit vielen Generationen. Wir sind nichts anderes als menschliche Schakale. Jäger und Räuber.«

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