KAPITEL DREI Der Seiltrick


Indy stürzte auf die schlammige Straße vor dem Gefängnis und versuchte nach vorne abzurollen, doch da ihm seine Schulter den Dienst versagte, blieb er auf dem Rücken liegen. Seine Schulter pochte und war gleichzeitig gefühllos, so wie ein Daumen, auf den man sich beim Versuch, einen Nagel in die Wand zu treiben, mit dem Hammer schlägt. Er nahm nicht an, dass die Kugel einen Knochen getroffen hatte, allerdings war es schwer, das mit Sicherheit zu sagen. Er verzog das Gesicht und verbarg seinen Arm, den linken Ärmel leer lassend, sicherheitshalber unter seiner Jacke.

Dann war er auf den Beinen und rannte los. Es wurde bereits dunkel, daher hielt er auf die Schatten zu, die unter den Giebeln der verlassenen Lagerhäuser am Ende der Straße miteinander verschmolzen. Abgesehen von einem Hühnerpaar, das Indy ob seiner Rücksichtslosigkeit missbilligend ansah, war die Straße verlassen.

An den verwitterten Zaun geheftete Handzettel verkündeten in chinesischer und französischer Sprache, die Lagerhäuser seien von der kaiserlichen Armee beschlagnahmt worden, und Unbefugte würden erschossen. Indy hatte einige Mühe, den Zaun zu erklimmen, und als er sich auf der anderen Seite zu Boden fallen ließ, hörte er bereits das

rhythmische Getrappel von Stiefeln, die die Straße hinunterkamen.

Das Innere des Lagerhauses glich einer dunklen Höhle, und im Gebälk hörte Indy Tauben gurren. Er lief rasch durch das Dunkel, entdeckte eine Tür an der Rückseite des Gebäudes, zwängte sich Schulter voran hindurch und hatte das Ende einer verwinkelten, engen Gasse vor sich.

Die Gasse diente Dutzenden von Familien, die von den Japanern vertrieben worden waren, als behelfsmäßige Unterkunft, und Indy war gezwungen, über Kochfeuer hinwegzusetzen, sich zwischen Transportkisten hindurchzuzwängen und unter Wäscheleinen durchzutauchen. Als ein Trupp Soldaten die Kreuzung einer nahen Querstraße passierte, musste er sich in einen Hauseingang drücken und legte einen Finger an die Lippen, um eine in einer Transportkiste hausende Familie, die ihn, kalten Reis aus Schalen essend, teilnahmslos anstarrte, zur Stille zu ermahnen. Offensichtlich war er im Begriff, immer tiefer in den älteren Teil der Stadt vorzudringen, nur wusste er nicht, welcher Stadt. Auf seine Frage, wo er sich befinde, antworteten diejenigen, die mutig genug waren, ihm überhaupt etwas zu erwidern oder sich zu erkundigen, ob er schwer verletzt sei, in einem Dialekt, den er nicht verstand. Also eilte er entschlossen weiter, in der Hoffnung, auf irgendein Wahrzeichen oder einen anderen Hinweis zu stoßen, der ihm einen Anhaltspunkt lieferte - sowie eine Vorstellung, in welche Richtung er laufen musste, um sich in Sicherheit zu bringen. Doch sämtliche Häuserzeilen sahen aus wie die davor und unterschieden sich bestenfalls dadurch, dass das Gedränge zwischen ihnen noch dichter und ein Vorankommen noch beschwerlicher war.

Erschöpft wurde er schließlich langsamer und ging im Schritttempo weiter. Ein japanischer Soldat auf einem Motorrad hielt auf der letzten Kreuzung, die Indy überquert hatte. Er ließ das Motorrad leer laufen, schwenkte den Lenker nach links und rechts und suchte die Kreuzung mit dem Strahl seines Scheinwerfers ab. Der Lichtkegel ließ die Blutspur sichtbar werden, die Indy hinterlassen hatte. Wild hupend rief der Soldat etwas auf Japanisch, um die Aufmerksamkeit der anderen Soldaten auf sich zu lenken, dann ließ er die Maschine aufheulen und raste in die Gasse hinein, wo die Flüchtlinge zur Seite sprangen, um Platz zu machen. Der Motorradsoldat setzte seinen Weg durch die Gasse in halsbrecherischem Tempo fort, durchtrennte Wäscheleinen und zersprengte Kochfeuer. Schließlich prallte er gegen eine Wäscheleine, die sich weigerte, nachzugeben, was ihn augenblicklich aus dem Sattel seines Motorrads riss. Aus der Gasse gelangte Indy auf einen öffentlichen Platz inmitten des alten Zentrums. Tausend oder noch mehr Menschen standen dicht gedrängt und verfolgten eine Darbietung auf einer fahrbaren, aus einem alten, flachen, offenen Güterwagen gebauten Bühne, die in der Platzmitte stattfand. Die Bühne wurde von aufgehängten Lampions und mit Kerzen bestückten Rampenlichtern beleuchtet. Eine blonde Frau in einem dunklen, mit dem üblichen Sammelsurium aus Hexensymbolen übersäten Gewand trug in marktschreierischer Manier auf Englisch den Text einer Zaubernummer vor, wobei ihr ein vielleicht sechzehnjähriges, dunkelhaariges Mädchen assistierte. Die jugendliche Assistentin trug ein gelbes, locker sitzendes Seidenkostüm sowie eine mit Quasten und Schellen versehene Kappe. Alle paar Sätze legte die Magierin eine Pause ein, um ihrer chinesischen Dolmetscherin Gelegenheit zu geben, eine mehr oder weniger genaue Zusammenfassung ihrer Worte im örtlichen Dialekt nachzureichen. Indy bahnte sich einen Weg durch die Menge. Die Magierin deutete nach rechts. Man hörte ein Krachen, dann sah man einen roten Schal aus einer kleinen Rauchwolke schweben. Bei dem Knall zog Indy unwillkürlich den Kopf ein. Die Magierin zeigte nach links. Wieder ein Krachen, und ein grüner Schal segelte zu Boden.

»Hat Ihnen die Vorstellung bis jetzt gefallen? «, erkundigte sich die Magierin.

Man hörte vereinzelten Applaus und das Stampfen von Stöcken auf dem Boden.

»Nun, das Beste steht Ihnen noch bevor!«, versprach sie.

»Bitte zeigen Sie Ihre werte Annerkennung, wie immer Sie können - mit ein wenig Kleingeld, etwas zu essen, oder, wenn nötig, mit einem frommen Wunsch. Erlauben Sie, dass ich Ihnen, während meine Assistentin Mystery den Korb für Ihre Spenden rumgehen lässt, etwas über meine Familie erzähle.«

Sie hielt inne, um der Dolmetscherin Gelegenheit zu geben,nachzukommen.

Indy bemerkte, dass rings um den Platz immer mehr Soldaten eintrafen. Er zwängte sich tiefer in die Menschenmenge, Richtung Bühne.

»Mein Name ist Faye Maskelyne, und wir gehören der berühmtesten Magierfamilie der Welt an. Diejenigen unter Ihnen, die bereits Gelegenheit hatten, die schöne Stadt London zu besuchen, werden gewiss von unserer Berühmtheit gehört haben, und diejenigen unter Ihnen, denen dieses Vergnügen noch nicht vergönnt war, werden heute Abend einige unserer hervorragendsten illusionistischen Darbietungen zu sehen bekommen. Warum aber, werden Sie sich vielleicht fragen, bereisen eine Meisterin der Magie und ihre tüchtige Gehilfin für wenig Geld weit entlegene Orte, wenn sie in ihrer angestammten Heimat Reichtum und unsterblichen Ruhm erlangen könnten?«

Mit den letzten Ausführungen hatte die Dolmetscherin ein wenig Mühe.

»Ich werde es Ihnen erklären«, fuhr Faye fort. »Die Antwort liegt in der Fotografie begründet, die Mystery in ihrem Korb umherträgt. Sehen Sie sie sich gut an, meine Freunde, und sagen Sie ihr, ob Sie diesen Mann gesehen haben. Er ist das Ziel unserer Suche. Sein Name ist Kaspar Maskelyne, er ist Mysterys Vater. Und natürlich auch mein Ehemann.« Mittlerweile hatten die Japaner den Platz umstellt. Leutnant Musashi kletterte umständlich auf die Motorhaube eines Lastwagens, um einen besseren Überblick zu haben. Sie trug ihr Haar noch immer offen und dirigierte die Suche mit Sokais blankgezogenem Schwert.

»Vor vier Jahren traf Kaspar Maskelyne im geheimnisvollen Osten ein, um nach einem Buch mit Geheimwissen zu suchen, von dem ein arabischer Gelehrter aus alter Zeit, Ibn Battuta, berichtet.« Faye schnippte mit den Fingern, und ein Buch tanzte hoch über den Köpfen der Menge. »Dieses Buch - das sagenumwobene Omega-Buch - enthält einen vollständigen Bericht über das Leben jeder einzelnen Seele, die je auf Erden leben wird, sowie sämtliche Geheimnisse der Natur. Alle Religionen beziehen sich darauf. Es gibt noch andere Namen dafür, dennoch handelt es sich stets um dasselbe Buch. Und gefunden werden kann es nur mit Hilfe von Aarons Stab.« Faye schnippte abermals mit den Fingern, und das Buch verschwand. Gleichzeitig erschien, inmitten einer Wolke aus Rauch, ein Stab auf der Bühne. Um den Stab wand sich eine Schlange.

»Eben jener Stab, den Moses vor den Magiern des Pharao in eine Schlange verwandelte, der die Pest über Ägypten brachte und das Rote Meer teilte. Der ureigene Stab der Magier!« Faye klatschte in die Hände. Die Schlange verschwand, und ein blühender Mandelbaum trat an ihre Stelle. Die Übersetzerin hatte Mühe, Schritt zu halten, und die Menge wirkte verloren.

»Sie haben doch alle schon von Moses gehört, oder?«, fragte Faye. »Von dem Stock, der sich in der Wüste in einen Mandelbaum verwandelt? Na schön, weiter im Programm. Aber den Seiltrick kennen Sie doch alle, oder? Kündige den Seiltrick an, Herrgott nochmal.«

Die Dolmetscherin tat es, woraufhin die Menge anerkennende Laute von sich gab.

Mystery stellte den Korb für die Opfergaben und die Fotografie zu Füßen der Dolmetscherin ab und kehrte auf die Bühne zurück.

»Unser alter Freund Ibn Battuta nannte sich selbst „der Reisende“«, erzählte Faye. »Und das mit gutem Grund, denn 1355 scheute er keine Mühe, den Hof des Großen Khan zu besuchen, und dort geschah es, dass Battuta zum ersten Mal einen Bericht dessen niederschrieb, was zu einem der berühmtesten Kunststücke der Magie wurde - dem Seiltrick.«

Mystery schleppte einen übergroßen Koffer auf die Bühne. Sie öffnete ihn, entnahm ihm einen kleinen Speer und langte erneut hinein, um ein zusammengerolltes Seil herauszuholen. Sie befestigte das Seil am Speerschaft und nahm anschließend damit Aufstellung.

»Manch einer hat im Laufe der Jahrhunderte versucht, das Wunder, das an jenem Abend am Hof des Khan seinen Lauf nahm, zu wiederholen, doch geschafft hat es niemand - bis auf den heutigen Tag. Auf unseren ausgedehnten Reisen haben wir die dafür notwendige Schwarze Magie erlernt und freuen uns, es Ihnen jetzt präsentieren zu können.«

Mystery reichte ihr den Speer.

Faye drehte sich um und schleuderte den Speer in die Luft. Er verschwand in der Dunkelheit. Das Seil folgte, sich aus der Kiste abspulend, bis es schließlich deutlich sichtbar in der Luft hängen blieb.

Ein Aufstöhnen ging durch die Menge.

Die Soldaten bahnten sich unsanft einen Weg durch das Gedränge, nach einem bedächtigen und wohl überlegten Muster, das Indy über kurz oder lang vor der Bühne festnageln würde. Faye bemerkte die sich durch die Menge schiebenden Uniformen, ließ sich jedoch in ihrem Auftritt nicht beirren.

»Dort oben in den Wolken lebt ein Ungeheuer«, verkündete Faye.

»Es bewacht einen unermesslichen Schatz. Es hat geschworen, jeden in Stücke zu reißen, der ihn zu stehlen versucht. Aber du, meine geschmeidige Gehilfin, bist dieser Aufgabe gewachsen.«

Mystery schüttelte energisch den Kopf.

»Hinauf!«, kommandierte sie und deutete theatralisch am Seil entlang nach oben. Mystery wollte nichts davon wissen. Faye schüttelte den Kopf und schaute ins Publikum. Sie zeigte abermals am Seil hinauf und befahl Mystery, hinaufzuklettern.

Die Gehilfin wich zurück.

Faye holte einen Zauberstab aus ihrem Gewand hervor und richtete ihn auf Mystery. Sie murmelte ein paar Worte, die nach Küchenlatein klangen, woraufhin die Gehilfin tat, als werde sie unwiderstehlich zum Seil hingezogen. Sie kletterte in die Kiste, dann packte sie das Seil mit beiden Händen. Langsam begann sie, sich Hand über Hand am Seil hinaufzuhangeln, wobei der Anblick, wie sie sich nach oben zog, noch zusätzlich an Dramatik gewann, weil sie beim Hochziehen ihre Beine nicht benutzte.

»Eine athletische Gehilfin«, murmelte Indy, als er den Kragen hochschlug und sich lässig gegen eines der Waggonräder lehnte. Mittlerweile waren zwei der Soldaten so nahe, dass sie ihn fast berühren konnten.

Faye zielte abermals mit ihrem Zauberstab.

Die Gehilfin verschwand inmitten eines kleinen Rauchwölkchens in der Dunkelheit. Im selben Augenblick tauchte Indy unter den Waggon, zog den Kopf ein und hielt rennend auf die andere Seite zu. Als er dort zum Vorschein kam, wartete bereits ein anderer Soldat auf ihn. Oben rief Faye nach allen Regeln der Kunst nach ihrer Gehilfin, woraufhin Mystery mit entrückter Stimme antwortete. Dann vernahm man die Geräusche eines fürchterlichen Kampfes, man hörte Geschrei und das Zerreißen von Kleidung, und ein paar Fetzen zerlumpter gelber Seide trudelten herab. Viele der Stoff stücke wiesen verdächtig große Blutflecken auf, und Faye hob eines davon auf und betrachtete es traurig. Dann zückte sie ihren Zauberstab und begann, einen Schwall von Hokuspokus aufzusagen, der an Eindringlichkeit zunahm, während sie Kreise mit dem Zauberstab beschrieb.

Unter dem Waggon war es stockfinster. Indy wartete kauernd ab, was die Soldaten unternehmen würden, als jemand gegen ihn stieß. Beide fuhren erschrocken zurück.

»Wer sind Sie denn?«, fragte eine Mädchenstimme.

»Und wer bist du?«, fragte Indy.

»Ich bin die Assistentin«, antwortete Mystery und krabbelte an ihm vorbei. »Hier unten haben Sie nichts verloren. Verschwinden Sie.«

»Ich verstecke mich vor den Schlägern«, sagte Indy.

»Hab ich gesehen«, sagte Mystery, während sie sich zu einer Falltür begab, die aufgeklappt nach unten hing. Sie befand sich genau unterhalb der übergroßen Kiste, aus der auch das Seil stammte. »Tut mir Leid, Mister, aber ich muss die Show zu Ende bringen.«

Der Hokuspokus über ihnen endete.

»Das ist mein Stichwort«, sagte sie, während sie an ihre Position kletterte. »Viel Glück.«

Es gab eine Explosion, den üblichen Rauch, und Mystery sprang völlig wiederhergestellt aus der Kiste.

»Viel Glück«, schnaubte Indy, als die Soldaten begannen, unter den Waggon zu kriechen. Die Maskelynes waren in der Mandschurei ein voller Erfolg. Die Menge johlte, klatschte und stampfte kollektiv mit den Füßen. Faye fasste Mystery bei der Hand, und gemeinsam machten sie eine tiefe Verbeugung. Dann verfiel die Menge abermals in erstaunte Ohs und Ahs, als Indy aus der magischen Kiste kletterte, gefolgt von den Köpfen zweier verstört dreinblickender Soldaten.

»Verzeihung«, meinte Indy mit einem Blick über seine Schulter, als er den Deckel krachend zuschlug und sich auf die Kiste setzte.

»Nicht der Rede wert«, erwiderte Faye über das Gelächter der Menge hinweg. »Die Leute hier haben offensichtlich Sinn für derben Humor. Im Übrigen scheinen Sie zu bluten. Sind Sie schwer verletzt?«

»Ich werde es überleben«, erwiderte Indy, der kämpfen musste, um den Deckel unten zu halten. Dann fügte er hinzu: »Hoffe ich jedenfalls.«

»Ruhe!«, schrie Leutnant Musashi von der Haube des Lastwagens. »Haltet den Amerikaner. Er ist ein Verbrecher. Sie da, auf der Bühne!«

»Meinen Sie uns?«, fragte Faye.

»Halten Sie ihn fest!«

»Was wollen Sie, dass wir tun?«

»Packen Sie ihn, halten Sie ihn fest.«

»Das können wir nicht«, erwiderte Faye. »Er gehört nicht zu unserer Nummer.«

»Dann werden Sie mit ihm zusammen im Gefängnis sitzen«, rief Musashi, während sie vom Lastwagen herunterkletterte. Die Menge teilte sich für sie und ihr erhobenes Schwert. Indy kämpfte einen aussichtslosen Kampf mit dem Kistendeckel, denn mittlerweile drückten fünf Soldaten von unten dagegen.

»Das Seil«, sagte Mystery im Flüsterton. »Es hängt an einem Draht, der an den Dächern der Gebäude zu beiden Seiten befestigt ist.«

»Ich glaube nicht, dass ich im Stande bin zu klettern.«

»Sie täten aber gut daran, es zu versuchen«, erwiderte Faye lächelnd, während sie sich abermals verbeugte. »Mystery, warum hilfst du ihm nicht hinauf?«

In die Menge lächelnd ging Mystery gemächlich zu Indy hinüber, stellte sich neben ihn auf den Kistendeckel, dann langte sie nach unten und legte das Schloss vor. »Es ist ein Trick dabei«, erklärte sie. »Am anderen Ende befindet sich ein Gegengewicht. Wenn ich das Kabel auslöse, werden Sie sich wie ein Vogel in die Luft erheben.« Sie ergriff das Ende des Seils und befestigte es unter Indys Achseln.

»Und was wird aus Ihnen beiden?«

»Machen Sie sich um uns keine Sorgen«, sagte Mystery.

»Ich werde hier bleiben und kämpfen«, erbot sich Indy. »Lassen Sie mich nur -«

»Wie viel wiegen Sie?«

»Hundertsiebzig Pfund«, antwortete er.

»Das ist Pech«, meinte sie.

»Wieso«, fragte Indy, »ist das Pech?«

»Weil das Seil nur für hundertfünfzig ausgelegt ist«, erwiderte Mystery und trat auf den Hebel hinter der Kiste, um das Kabel auszulösen. Indy erhob sich elegant und unerreichbar für den Schein der Lampions in die Lüfte.

»Schießt auf ihn!«, kreischte Leutnant Musashi.

Die verwirrten Soldaten richteten ihre Gewehre in die Dunkelheit, schössen aber nicht. Es war kein Ziel zu sehen, und sie brachten es nicht über sich, wahllos in ein Wohngebiet zu feuern.

»Worauf warten Sie?«, fragte Musashi, als sie auf die Bühne sprang. »Durchsieben Sie die Luft mit Kugeln.« »Aber Leutnant«, stammelte ein Sergeant. »Wir haben kein Licht. Der Platz ist voller Menschen. Die umliegenden Gebäude sind ebenfalls bewohnt.«

»Sie haben zu lange gezögert«, sagte Musashi mit zusammengebissenen Zähnen. »Der Amerikaner hatte genügend Zeit zu entkommen. Rufen Sie Ihre Männer zusammen und suchen Sie die Dächer ab. Und, Sergeant - danach erstatten Sie mir Bericht, damit ich disziplinarische Maßnahmen ergreifen kann.« »Jawohl, Leutnant.«

»Sie dort, und Sie«, rief Musashi zweien der am nächsten stehenden Soldaten zu. »Verhaften Sie diese Frau und ihr abgerichtetes Äffchen. Schneiden Sie ein Stück von diesem Strick ab und fesseln Sie ihnen die Handgelenke. Sie wer- l den ins Provinzgefängnis verbracht und der Beihilfe zur Flucht eines Feindes des Kaiserreiches angeklagt.« Mystery streckte ihre Hände vor den Körper, doch die Soldaten bogen sie ihr auf den Rücken und banden sie mit einem drei Fuß langen Seilstück zusammen. Mystery kicherte.

»Das ist viel zu locker«, sagte sie. »Der Strick wird von alleine abfallen. Besser, Sie ziehen die Knoten fester an.« Die Dolmetscherin, die noch immer in Habt-Acht-Stellung auf einer Bühnenseite stand, übersetzte. Die Soldaten machten kein Hehl aus ihrem Unglauben, banden die Knoten jedoch neu. Beide setzten eine grimmige Miene auf, als sie sie fester zurrten, und während sie sich zu ihrer Kraft beglückwünschten, schob Faye die Hände in ihre geräumigen Taschen und ließ zwei Rauchbomben in jeder Hand verschwinden.

Die Soldaten gingen hinüber zu Faye, doch Mystery stieß einen Pfiff aus, bevor sie sie erreicht hatten.

»He, Jungs«, rief sie, das schlaffe Seil in ihrer rechten Hand.

»Wollt ihr es vielleicht noch mal versuchen? Ihr schafft es einfach nicht. Ich sagte doch, es würde sich wieder lösen.«

Die Soldaten murrten etwas und wandten sich wütend um zu Mystery. Für den spöttischen Unterton in ihrer Bemerkung brauchten sie die Dolmetscherin nicht. Faye warf die Rauchbomben. Die Bühne wurde in Rauch gehüllt. Als er sich lichtete, waren Faye und Mystery verschwunden. Das Gleiche galt für den Korb mit Geld, die Fotografie sowie die meisten ihrer Requisiten. Der einzige Gegenstand, den sie zurückgelassen hatten, war der übergroße Zaubererkoffer - sowie die zwei japanischen Soldaten, die an den Händen gefesselt waren. Musashi wedelte sich den Rauch aus dem Gesicht. Dann starrte sie den Koffer an, legte einen Finger an die Lippen und schlich auf Zehenspitzen zu ihm hin. Sokais Schwert mit beiden Händen haltend, stieß sie die Klinge durch den Deckel. Als sie sie herauszog, war die Klinge rot verschmiert.

»Aha!«, machte sie.

Sie fuhr mit dem Daumen an der Klinge entlang, dann probierte sie die rote Flüssigkeit. Sie schmeckte süß, mit einem würzigen Beigeschmack.

Sie riss den Koffer auf. Er war leer. Das Schwert hatte eine mit Ketchup gefüllte Gummiblase durchbohrt, die in einer Tasche im Kofferdeckel versteckt gewesen war, und die die Maskelynes bei ihrer Nummer mit dem menschlichen Nadelkissen verwendeten. Musashi fluchte in drei Sprachen.

Musashi und ihre Soldaten waren noch mit der Durchsuchung des Platzes und der umliegenden Dächer beschäftigt, als die Maskelynes bereits eine halbe Meile entfernt an Bord eines Frachters gingen. Indy hing kraftlos zwischen ihnen, als sie sich die Laufplanke hinauf schleppten.

»In welcher Stadt sind wir überhaupt?«

»In Luchow«, antwortete Faye.

»Hafenstadt«, sagte Indy. »Ehemals eine französische Kolonie.«

»Wenigstens in Geografie kennt er sich aus«, meinte Mystery.

»Nehmen Sie Abschied von Luchow, Mister«, sagte Faye, als sie auf dem Deck des Frachters anlangten.

»Wo fahren wir denn hin?«, wollte Indy wissen.

»Wollen Sie das wirklich wissen?«, fragte Faye.

»Allerdings«, murmelte Indy. »Jeder Ort ist besser als dieser hier.«

»Er hat eine Menge Blut verloren«, sagte Faye an Mystery gewandt. »Wir müssen jemanden finden, der ihm hilft.«

Der Kapitän der Divine Wind stand, die Ellbogen aufgestützt, an der Reling und rauchte eine Zigarette. Er hatte zugesehen, wie die drei sich die Laufplanke hinaufschleppten.

»Gibt es Ärger?«, erkundigte er sich seelenruhig.

»Wonach sieht das Ihrer Ansicht nach wohl aus, Snark?«, versetzte Faye.

»Ich hoffe, er folgt Ihnen nicht hierher«, gab Snark zurück.

»Sie haben gesagt, wenn wir jemals jemanden brauchen, der uns einen Gefallen tut, könnten wir auf Sie zählen«, sagte Faye. »Also schön, heute Abend brauchen wir jemanden. Wo steckt dieser alte Säufer, den Sie einen Schiffsarzt nennen?«

»Unter Deck«, antwortete Snark.

»Flößen Sie ihm Kaffee ein«, sagte Faye. »Wir brauchen ihn.«

»Ganz wie Sie wollen«, meinte Snark. Er schnippte die Zigarette ins Wasser. Dann lächelte er. »Ach, übrigens. Während der Fahrt ist Rauchen an Bord nicht gestattet.«

»Das hatte ich auch nicht vor«, versetzte Faye.

»Sie kennen diesen Kerl? «, fragte Indy mit schwerer Zunge.

»Leider«, sagte Faye. »Es ist eine lange Geschichte, aber Snark hat mich bei einem Kartenspiel in Taipeh gewonnen. Mystery war mit Geben an der Reihe, und sie sollte mir das Siegerblatt zuschieben. Aber an dem Abend hatte sie Schwierigkeiten mit dem Mithalten.«

»Mutter«, flehte Mystery.

»Snark ist ein Verbrecher, aber die Geschichte nahm ein gutes Ende«, erklärte Faye. »Wir haben zwei Wochen damit verbracht, ihm sämtliche bekannten Kartentricks beizubringen, und er hat zwei Wochen damit zugebracht, uns zu erklären, welche Beamten in welchen Städten geschmiert werden müssen, wenn wir nach Kaspar suchen wollen.«

»Ärger mit der Armee?«, fragte Snark.

»Der Mann ist aus dem Gefängnis geflohen.«

»Dann ist er jetzt Matrose«, erklärte Snark. »Ein Australier mit Namen Smith. Wurde bei einer Kneipenschlägerei im Orchid verletzt.«

»Wann legen Sie ab?«, erkundigte sich Faye.

»Mit der Flut«, sagte er und sah auf seine Uhr. »In gut zwei Stunden. «

»Können wir nicht sofort auslaufen?«

»Nein«, sagte er. »Wir haben unsere Papiere bereits beim Hafenmeister abgegeben. Das würde zu viel Aufmerksamkeit erregen. Außerdem brauchen wir die Flut, um über die Felsen dort draußen wegzukommen. Wir liegen zu tief im Wasser. «

»Na schön«, meinte Faye.

»Willkommen an Bord«, sagte Snark. »Schaffen Sie den Amerikaner ins Lazarett, ich werde inzwischen dafür sorgen, dass unser Knochenklempner Sie dort in Empfang nimmt. Außerdem werde ich die Mannschaft veranlassen, Ihnen Ihre alte Kabine herzurichten.« »In Ordnung«, sagte Faye.

Indy erwachte und gewahrte den Geruch von Antiseptikum und Gin. Der Arzt, ein Besorgnis erregend hagerer Neuseeländer mit einer Halbliterflasche Gordon's Dry Gin in der Tasche seines schmuddeligen weißen Kittels, war soeben mit dem Vernähen der Wunde fertig.

»Ah, Sie sind wach«, sagte der Arzt, als er Indys Lidflattern bemerkte. »Tut mir Leid, aber wir hatten kein richtiges Narkotikum. Ich musste unbedingt die Blutung stillen. Die Kugel ist glatt durchgeschlagen, aber sie hat vorne, wo sie unterhalb Ihres Schlüsselbeins ausgetreten ist, ein hässliches Loch gerissen.

Sie können von Glück reden, dass Sie überlebt haben, mein Freund.«

Indy stöhnte.

»Oh, ich wette, es tut weh.«

»Die Frau«, murmelte Indy. »Das Mädchen.«

»Sie befinden sich sicher an Bord«, erwiderte der Arzt. Er band den Knoten ab, dann bewunderte er sein Werk und nahm einen ordentlichen Schluck Gin. »Das heißt, so sicher, wie dies unter dem Kommando von Kapitän Snark möglich ist.«

»Sind wir auf See?«

»Wir liegen noch im Hafen«, sagte der Arzt.

»Wie lautet unser Bestimmungsort?«

»Das wissen Sie nicht?«, fragte der Arzt und lächelte, was den Blick auf einen Mund voller vernachlässigter Zähne freigab.

»Japan.«

»Nein -«

Der Arzt half Indy auf und ging daran, ihm Brust und Schulter mit einer Bandage zu umwickeln.

»Wir müssen von diesem Schiff runter«, sagte Indy.

»Mein Freund«, erwiderte der Arzt, »wem sagen Sie das?«

Indy verzog das Gesicht.

»Ich muss gehen«, meinte Indy. »Die Magierin und ihre Tochter sind in Sicherheit. Ich habe noch andere Dinge zu erledigen. Aber ich bin so ... müde.«

»Das ist der Blutverlust, mein Freund.«

»Vielleicht ruhe ich mich hier einfach ein paar Minuten aus«, sagte Indy. »Sie wissen schon, um meine Kräfte zu sammeln. Wecken Sie mich rechtzeitig, damit ich von Bord gehen kann.«

An der Tür des Lazaretts klopfte es.

»Herein«, rief der Arzt. Dann, an Indy gewandt: »Ganz ruhig.«

Faye und Mystery kamen herein. Faye war mit einem schwarzen, von einer roten Schärpe zusammengehaltenen Morgenmantel bekleidet, Mystery dagegen trug die dunkelblaue Uniform mitsamt Kappe der japanischen Handelsmarine.

»Wie geht es ihm?«, erkundigte sich Mystery.

»Gar nicht mal so schlecht«, erwiderte der Arzt, »für einen Vierundsechzigjährigen.«

»Ich werde dieses Jahr fünfunddreißig«, sagte Indy.

»Das ist etwas anderes«, meinte der Arzt. »Er wird es überleben, aber Sie müssen bedenken, mit welchem Material ich arbeiten musste. Der Knabe hat mehr Löcher als ein Fliegengitter.«

»Vielen Dank, Albert Schweitzer.«

»Wer?«

»Schon gut«, sagte Indy.

Der Arzt zuckte die Achseln und packte seine Instrumente zusammen.

»Dieses Schiff nimmt Kurs auf Japan«, sagte Indy. »Ich gehe von Bord, sobald ich ein wenig verschnauft habe. Sie müssen ebenfalls von Bord.«

»Das werden wir auch«, sagte Faye. »Bei der erstbesten Gelegenheit. Aber fürs Erste müssen wir bleiben, wo wir sind. In einer Stunde ist Hochwasser, laut Fahrplan ist das der Zeitpunkt, an dem wir auslaufen müssen.«

»Das ist mein Stichwort mich zu verabschieden«, sagte Indy und rappelte sich hoch. Dann hielt er inne. »Wie sind Sie denn angezogen, für eine Halloween-Party?«

»Sie meinen die Kleider?«, fragte Faye. »Wir hielten es für besser, uns umzuziehen. Die einzigen Frauen, die man normalerweise an Bord eines Frachters wie diesem antrifft, sind entführt worden und werden zur Prostitution gezwungen. Man hat sie zu tausenden in ganz Asien geraubt, aus allen Nationalitäten.«

»Und deine Geschichte?«, fragte Indy an Mystery gewandt.

»Ich verkleide mich immer als Junge«, sagte sie.

»Das ist sicherer«, erläuterte Faye. »Wenigstens solange sie die Figur hat, um damit durchzukommen.«

Indy nickte.

»Kommen Sie«, sagte Faye und half Indy vom Tisch herunter. »In Luchow wollen Sie ganz sicher nicht wieder an Land. Verfrachten wir Sie in eine Koje, damit Sie sich ausruhen können. Ich wecke Sie, falls etwas passiert.«

Indy hatte gerade die Augen zugemacht, als die Kabinentür aufflog und dahinter ein Bajonett und schließlich ein Gewehr mit einem japanischen Soldaten am anderen Ende folgte. Der Soldat sagte laut und schnell etwas auf Japanisch und machte schnelle, stoßende Bewegungen mit seinem Bajonett. Indy hatte keine Ahnung, was er sagte, es war jedoch klar, dass Indy sich von der Koje erheben sollte.

Indy schwang die Beine über den Kojenrand, dabei wurde ihm jedoch so schwindelig, dass er ihnen augenblicklich auf den Fußboden folgte. In der Tür erschien der Arzt, schob sich an dem Soldaten vorbei und half Indy zurück auf die Koje.

»Gluck, gluck«, machte der Arzt und mimte das Ansetzen einer Flasche. Der Soldat lachte.

Hinter dem Soldaten erschien ein Sergeant, und der war alles andere als amüsiert. Er fragte den Arzt, was mit dem Amerikaner nicht stimme, woraufhin ihm der Arzt in einem von einem neuseeländischen Akzent verunstalteten Japanisch erklärte, dass es sich bei dem Seemann um einen Australier handele, der sich am Abend besinnungslos betrunken habe, törichterweise in eine Messerstecherei mit einem dreihundert Pfund schweren Malaien geraten sei und dabei den Kürzeren gezogen habe.

Der Sergeant spie aus.

»Für mich sehen alle gaijin gleich aus«, sagte er, sich die Hosen hochziehend. »Ihre Füße sind zu groß und ihre Stimmen zu laut, außerdem stinken sie alle nach verfaultem Hamburger. Wir haben Befehl, sämtliche Schiffe, die heute Abend den Hafen verlassen, nach einem großen, hässlichen Amerikaner mit einer Schusswunde sowie einer Magierin und ihrer äffischen Gehilfin abzusuchen.«

»Das ist eine Messer-, keine Schusswunde«, stellte der Arzt richtig. »Und sein Name lautet Smith. Im Übrigen war ich dabei, als der Streit im Orchid anfing. Wäre ich nicht dort gewesen, hätte er mich heute Morgen nicht mehr zum Teufel wünschen können.«

Der Sergeant langte unter Indys aufgeknöpftes Hemd und wollte gerade den Verband anheben, als ein anderer Soldat Faye durch den Gang ins Zimmer schleppte. Kapitän Snark folgte ihnen dichtauf.

»Bringen Sie sie hierher zurück«, kommandierte Snark. »Nein«, kreischte Faye. »Dieser Pirat hat mich entführt und will mich als Prostituierte verk -«

Der Sergeant verpasste Faye einen Schlag mit dem Handrücken, so fest, dass ihre Unterlippe aufplatzte. Einen Augenblick lang wankte sie, der seidene Morgenrock begann, von ihren Schultern zu gleiten, und Indy dachte, sie würde ohnmächtig werden. Dann fing sie sich, wischte sich das Blut vom Mund und bedachte den Sergeant mit einem kalten Lächeln. »Ich hatte gehofft, Sie wären gekommen, um mich zu retten«, sagte sie.

»Bitte den Mund halten«, sagte er in schwerfälligem Englisch. »Du gibst eine gute Hure ab. Ich nehme dich nicht mit.« »Domo arrigato«, bedankte sich Snark und bedachte den Sergeant mit einer leichten, kaum merklichen Verbeugung. Der Sergeant packte Indys Unterkiefer mit seiner muskulösen Hand und drehte sein Kinn erst nach links, dann nach rechts und nahm dabei die Platzwunden und blauen Flecken in Augenschein. Indy vermied es, ihm in seine Schweinsaugen zu sehen, der stinkende Atem des Sergeants blieb ihm jedoch nicht erspart. »Dies ist nicht der gaijin, den wir suchen«, stellte der Sergeant auf Japanisch fest. »Der hier stinkt nach Gin und ist offensichtlich zu blöde, um aus dem Provinzgefängnis geflohen zu sein.« Dann stieß er Indy zurück auf die Koje, wandte sich zur Tür und befahl den Soldaten mit einem Wink, ihm zu folgen. Plötzlich blieb er stehen, packte Faye um die Hüfte und zog sie grob an seinen Körper. Er gab ihr einen übertriebenen KUSS auf den Mund, dann ließ er sie los und versetzte ihr einen Klaps auf den Hintern. Indy war aus der Koje und halb durch die Kabine, als der

Arzt ihn zu fassen bekam. »Der Streit ist es nicht wert, dafür zu sterben, mein Freund«, raunte ihm der Arzt zu, während sich ihre Schritte durch den Korridor entfernten. »Lassen Sie sie ziehen. Während der Junge in irgendeinem Schützengraben durch die Hand eines blutrünstigen chinesischen Warlords krepiert oder an einer Syphilis erblindet, weil er sich zu oft an einem von seinen Kameraden längst vergifteten Brunnen gelabt hat, werden wir auf sein lausiges Andenken im International Hotel in Tokio einen heben. Kennen Sie das Hotel?« »Allerdings«, antwortete Indy.

»Gegenüber liegt das von einer weißen Mauer umgebene Schloss des Kaisers«, meinte der Arzt. »Enten und Gänse, die friedlich im Wassergraben schwimmen. Selten, ganz selten, kann man einen Blick auf Hirohito persönlich erhaschen, einen kleinen Mann in Frack und Zylinder, der meiner Meinung nach lieber Gärtner wäre. Für einen lebenden Gott nicht gerade übertrieben ehrgeizig, was?«

Indy blickte den Arzt bewundernd an für seine Fähigkeit, mit seiner Stimme zu beschwichtigen und selbst inmitten des Chaos noch für das Schöne empfänglich zu sein. »Überrascht? Ich war nicht immer ein Wrack mit schlechten Zähnen und blausüchtiger Haut«, fuhr er fort, während er sich Faye zuwandte und ihre blutende Lippe untersuchte. »Ich habe eine ganze Reihe von Karrieren hinter mir - als Journalist, Anwalt, Arzt: Naja, eigentlich war ich nie wirklich Arzt, aber in diesen Breiten gehe ich als einer durch. Gewöhnlich habe ich an der Bar des International Hotel gehockt, Sake aus diesen kleinen Porzellantassen getrunken, mich zu meiner Kultiviertheit beglückwünscht und zugesehen, wie die Welt vorüberglitt. Ein wenig wie der Kaiser.« »Wie das?«

»Japan ist ein so verdammt kultiviertes Land, und sehen Sie sich an, in welch armseligen Händen es sich derzeit befindet. Aber das haben wir uns selber eingebrockt, oder nicht?

Wissen Sie, die Japaner haben bereits einmal auf Schusswaffen verzichtet, nachdem die Portugiesen sie vor vierhundert Jahren mitgebracht hatten. Trotzdem ist es Nippon gelungen, ebenso modern und blutrünstig zu werden wie wir anderen. Die Welt befindet sich wieder einmal im Kriegszustand, nur wissen die meisten Menschen noch nichts davon - hier hat es vor zwei Jahren angefangen, und kein Mensch schert sich darum. Nun, das wird sich ändern, mein Freund.«

Er nahm ein paar Tupfer und ein Antiseptikum aus seiner Ärztetasche.

»Das wird ein bisschen wehtun, an Ihrer Stelle würde ich es aber nicht darauf ankommen lassen, wo dieser Rohling seine Finger heute schon gehabt hat«, sagte er, während er Fayes Lippe abtupfte.

»Was ist mit Ihnen passiert?«, fragte Indy.

»Ich bin aus meinem Traum aufgewacht«, erwiderte er. »Und habe es nicht ausgehalten. Ich wusste, was auf mich zukommt, schließlich habe ich das Geschäft, wie man Menschen wieder zusammenflickt, während des Weltkrieges als Sanitäter gelernt. Also fing ich an zu trinken, und jetzt verbringe ich meine Zeit damit, so zu tun, als praktizierte ich Medizin auf einem rostigen Eimer mit einem japanischen Schmuggler als Kapitän. Und kümmere mich um Kriegswaisen in der Mandschurei, während Snark unterwegs ist und alles an illegaler Fracht an Land zieht, was er nur auf treiben kann.«

»Sie tun nur so?«, fragte Indy, seine Wunde befühlend. »Das sagen Sie mir jetzt.«

»Naja, das meiste ist mir wieder eingefallen«, gestand er, während er mit dem Verarzten von Fayes Unterlippe zum Ende kam, die inzwischen fleckig war von Jod.

»Wie heißen Sie?«, wollte Indy wissen.

»Bryce.« Er schien ein wenig zu wachsen, als er den Namen aussprach. »Montgomery Bryce, Oxford, Jahrgang 1923.«

»Jones«, erwiderte Indy und reichte ihm die Hand.

Sie schüttelten einander die Hände.

»Ja, ich weiß«, sagte Bryce. »Ich habe Ihr Foto in der Zeitung gesehen. Bis er offiziell vorgestellt worden ist, enthält sich ein

Gentleman jedoch jeglichen Kommentars.«

Dann gab es einen Ruck, und Bryce lächelte, während er sich am Schott abstützte. »Aha, wie haben die Leinen losgemacht. Die Schlepper ziehen uns aus dem Hafen. Bald werden wir dieses stinkende Stück Land hinter uns gelassen haben.«

»Was hat Snark auf dieser Fahrt geladen?«

»So etwas vertraut er mir nicht an«, meinte Bryce.

Er kniete auf dem Fußboden, schloss seine Tasche, dann sah er Indy mit einem Blick an, aus dem eine unaussprechliche Mischung aus Entsetzen und Schuldgefühl sprach.

»Wissen Sie, Jones, was ich eben sagte, entspricht durchaus der Wahrheit«, meinte er. »Trotzdem ist es nicht die ganze Geschichte. Während ich vorgab, nicht zu sehen, wie die Mandschurei vergewaltigt wurde, verliebte ich mich in die Konkubine eines armseligen Warlords, der mit der kaiserlich japanischen Armee kollaborierte. Der Name des Mädchens war Si Huang, sie war siebzehn und das zarteste Geschöpf, das mir je begegnet ist. Das Ehrgefühl verbot ihr jedoch, ihren angestammten Platz im Leben aufzugeben; sie weigerte sich, mit mir an einen sicheren Ort zu fliehen. Der Warlord kam natürlichdahinter. Wissen Sie, was er getan hat?«

Indy schloss die Augen.

»Er hat sie umgebracht. Er hat ihr das Herz herausgeschnitten, es gekocht und unter das Schweinefleischcurry mischen lassen, das ich an jenem Abend gegessen habe.«

Der Arzt lächelte ein Lächeln, das nicht die geringste Freude ausstrahlte.

»Seitdem habe ich keinen Bissen Fleisch mehr gegessen«, sagte er und ließ seine Tasche zuschnappen. »Und abends, kurz bevor ich einnicke - das heißt, wenn ich nüchtern bin -, weht mir ein kleiner Hauch von Curry zu, dicht gefolgt von den Schrecken der Nacht.«

Die Kamikaze Maru - die Divine Wind - war seit nahezu zehn Stunden auf hoher See, als die beiden Kawasaki-Ki-10-Doppeldecker über ihrem Kielwasser am Horizont auftauchten. Indy hatte das Dröhnen der großen Sternmotoren gehört und sofort gewusst, dass sie nichts als Ärger bedeuten konnten. Er hatte in seinen Kleidern geschlafen, sodass er, um sich fertig anzuziehen, auf dem Weg aus seiner Kabine nur Hut und Jacke zu greifen brauchte. Mittlerweile dämmerte es, und die aufgehende Sonne überzog den östlichen Himmel mit einem Hauch von Bronze.

Als Indy auf der Brücke eintraf, überflogen die Doppeldecker das Schiff bereits in geringer Höhe.

Snark stand an Deck und verfolgte durch einen Feldstecher, wie die Flugzeuge abdrehten und sich auf einen weiteren Überflug vorbereiteten. Faye, Mystery und Bryce waren ebenfalls anwesend.

Auch ohne Feldstecher konnte Indy auf beiden Tragflächen deutlich die hinamaru - die rot aufgehende Sonne des japanischen Kaiserreiches erkennen.

»Dr. Jones«, sagte Snark. »Sie scheinen mehr Ärger zu machen, als Sie wert sind. Jemand muss dahinter gekommen sein, welches Schiff das Unglück hatte, Sie an Bord zu nehmen. Gibt es zu Hause irgendjemanden, der einen stattlichen Betrag dafür zahlen würde, Sie gesund und wohlbehalten wieder zu bekommen?«

»Nein, es sei denn, mein Freund Marcus Brody findet eine Möglichkeit, ein Museumsexponat aus mir zu machen.«

»Das ist Pech«, meinte Snark. »Diese Doppeldecker sind zu weit draußen über dem Meer, um in die Mandschurei zurückzukehren. Auf dem Wasser können sie nicht landen, und sie dürften kaum genug Treibstoff haben, um das japanische Festland zu erreichen. Statt eines zusätzlichen Treibstofftanks haben sie nämlich beide ein Torpedo unter ihrem Rumpf.«

Snark reichte Indy den Feldstecher.

»Können Sie Verbindung mit ihnen aufnehmen?«, fragte Faye.

»Und vielleicht verhandeln?«

»An Bord der Divine Wind gibt es kein Funkgerät«, sagte Snark.

»Ich dachte, nach dem was 1912 passiert ist -«, setzte Faye an.

»Das ist Ihre Welt«, unterbrach Snark sie ungehalten. »Für uns hatte die Titanic keine sonderliche Bedeutung. Zur Verständigung benutzen wir anstelle von Funk Signalpistolen, Flaggen oder Notsignale. Leider lässt dies unter den gegebenen Umständen keinen gegenseitigen Informationsaustausch zu.«

»Ich glaube, sie sind bereit, uns eine Nachricht zu schicken«, sagte Indy, während er durch den Feldstecher verfolgte, wie die Doppeldecker sich über dem Heck der Divine Wind zum Angriff formierten. Bei fünfundsiebzig Metern löste sich der Torpedo vom Rumpf der vorausfliegenden Maschine.

Der mechanische Hai hinterließ eine Blasenspur, als er durch das grüne Wasser auf sie zugeschossen kam. Snark ließ das Schiff hart nach Backbord abdrehen, dann blaffte er Kommandos durch das Sprachrohr, man solle den Maschinenraum räumen und die hinteren Schotten dicht machen.

»Sie versuchen, uns zu versenken«, platzte Faye heraus.

»Das nicht«, widersprach Snark. »Aber gelingen könnte es ihnen trotzdem. Sie wollen uns manövrierunfähig machen, das Ruder und die Schrauben der alten Dame beschädigen und auf diese Weise verhindern, dass wir ihnen entkommen. Hätten sie uns versenken wollen, hätten sie uns mit beiden Torpedos mittschiffs angegriffen. Aber sie wissen nicht, was wir in den Achterfrachträumen geladen haben. »Bereitmachen für Einschlag«, kommandierte Snark. Dann schloss er die Augen.

Der Torpedo schlug leicht seitlich ein, ein gedämpfter Schlag, der das Heck mit Gischt übersprühte und ein widerwärtiges Zittern durch den Rumpf schickte. Snark öffnete die Augen.

»Na, das war ja nicht allzu schlimm«, meinte Faye nach einem kurzen Augenblick.

»Es ist noch nicht vorbei«, sagte Snark, während er das Ruder ausprobierte. Es klemmte hart Backbord. »Eine Schraube dreht sich noch, aber jetzt können wir nichts weiter tun, als im Kreis herumzufahren.«

»Was genau haben wir eigentlich geladen?«, wollte Indy wissen. »Chinesisches Feuerwerk«, antwortete Snark. »Feuerwerk?«, fragte Indy ungläubig. »Und Sie bezeichnen sich als Schmuggler?«

»Das Zeug ist illegal«, brachte Snark zu seiner Verteidigung hervor. »Außerdem wissen Sie, dass man bei manchen von den Dingern leicht einen Finger verlieren kann.« Schwarzer Rauch brach aus dem Heck hervor. Der erste Maat drehte die Kurbel einer uralten Handsirene, um die Feuerwachen zu benachrichtigen, und das halbe Dutzend Männer der Besatzung, die sich noch unten aufhielten, erschien an Deck. Einer von ihnen mühte sich mit einem BrowningAutomatikgewehr ab.

»Gib das mir«, sagte Snark und riss ihm die BAR aus der Hand. »Willste einen Krieg gegen die gesamte kaiserliche Armee vom Zaun brechen?«

Ein ölverschmierter Mechaniker kam auf die Brücke gestürzt. »Jemand verletzt?«, erkundigte sich Snark. »Nein, Captain«, antwortete er auf Japanisch. »Dann mach, dass du runterkommst und lösch das Feuer«, fuhr er ihn an.

»Das können wir nicht, Sir«, erwiderte der Mechaniker. »Der Maschinenraum wird gerade überschwemmt, und oben auf dem Wasser brennt der Dieseltreibstoff.« »Ist der Achterladeraum gesichert?« »Ja, Sir«, antwortete der Mechaniker. »Glaube ich wenigstens.« Das Heulen einer Rakete und das maschinengewehrähnliche Knattern von Feuerwerkskörpern machte seiner Unentschlossenheit ein Ende. »Nein, Sir, offensichtlich doch nicht.« »Verdammt«, entfuhr es Snark.

Die Ki-10, die den Torpedo abgeworfen hatte, war zurückgekehrt, um den Schaden zu begutachten, und flog jetzt langsam im Tiefflug über die Divine Wind hinweg - was in diesem Augenblick für sie genau der falsche Punkt am Himmel war. Eine Kiste mit Feuerwerkskörpern explodierte, hüllte das Heck in eine Feuerwolke aus Rot und Grün und bombardierte die Tragflächen der Ki-10 mit hunderten lichterloh brennender schrotgroßer Kugeln. Die untere Tragfläche kokelte düster ein paar Augenblicke vor sich hin, dann brach sie in Flammen aus. »Er wird notlanden müssen«, stellte Indy fest. Snark fluchte ausgiebig auf Japanisch. »Wir haben eine Maschine des Kaisers abgeschossen«, murmelte er an Indy gewandt auf Englisch. »Mit geschmuggelten chinesischen Feuerwerkskörpern, während wir drei westlichen Flüchtlingen Unterschlupf gewähren.«

»Gratuliere«, meinte Indy. »Sie werden es in der Welt noch zu was bringen.«

Der Pilot der Ki-10 manövrierte das aktionsunfähige Flugzeug geschickt Richtung offenes Meer. Zweihundert Meter Steuerbord vor dem Bug des sinkenden Frachters prallte es auf die Wasseroberfläche, kippte inmitten einer gewaltigen Gischt auf die Schnauze, um sich dann schwerfällig wieder zu senken. Ruhig erteilte Snark dem ersten Maat den Befehl zum Verlassen des Schiffes.

»Wie viel Zeit bleibt uns noch?«, fragte Indy.

»Zwanzig Minuten«, sagte Snark. »Im günstigsten Fall eine halbe Stunde. Das Wasser wird die Feuerwerkskörper nicht löschen - sie sind mit chemischem Brennstoff versehen und werden ein Loch durch die Unterseite unseres Rumpfes brennen. Dann werden vier Laderäume überschwemmt sein, und das ist einer zu viel, um uns über Wasser zuhalten.«

»Sollten wir uns nicht um den Piloten kümmern?«, fragte Indy.

»Der wird früh genug absaufen«, meinte Snark, dann lächelte er.

»Komisch, aber das alte Mädchen hatte den letzten Lacher auf seiner Seite, oder?«

»Nein, ich meinte, um ihn zu bergen.«

»Keine dumme Idee«, sagte Snark. Er deutete mit einem Nicken auf den noch in der Luft befindlichen Doppeldecker. »Machen wir ordentlich Wind darum, vielleicht rettet mir das den Hals, falls ich je nach Hause, nach Nagasaki, zurückkehren sollte. Mr. Bryce, nehmen Sie eines der Boote und fischen Sie den Auserwählten des Kaisers aus dem Meer.«

»Ich werde Sie begleiten«, bot Indy an.

»Aber beeilen Sie sich«, rief Snark. »Wie es scheint, hat sich die Mannschaft bereits die beiden anderen Boote unter den Nagel gerissen. Die anderen fahren ebenfalls mit. Als Kapitän gehört es sich, dass ich als Letzter von Bord gehe.« »Holen Sie Ihre Sachen, Faye«, sagte Indy. Faye nickte. Mystery machte Anstalten, ihr zur Kabine zu folgen, aber Faye stieß sie zurück. »Hilf ihnen, das Boot zu Wasser zu lassen«, sagte sie.

»Nimm nur das Foto mit«, rief Mystery. »Und meine Tasche mit dem gesamten Repertoire.«

»Lassen Sie sich von Snark nicht in die Irre führen«, riet Bryce Indy, als sie das Rettungsboot von den Blocks des Flaschenzugs lösten. »Er hat keinen Funken Ehre - er will bloß sichergehen, dass er den Safe in seiner Kabine ausräumt, bevor ihm der erste Maat zuvorkommt.«

»Hat er denn so viel zu verlieren?«, fragte Mystery. »Viel nicht gerade«, meinte Bryce. »Jedenfalls nicht nach unseren Maßstäben. Ein paar hundert Dollar, den Gegenwert eines Neuwagens in den Staaten. Aber da das Schiff hin ist, ist es alles, was er noch hat.«

Sie warfen ein brandneues Netz über die Bordwand, und als Faye an die Reling zurückkehrte, kletterten sie hinunter in das sechzehn Fuß lange Beiboot. Indy japste vor Schmerzen, als sie endlich die Ruder im Wasser hatten.

»Überlassen Sie das mir«, sagte Mystery und nahm Indys Platz am Ruder ein. »Gehen Sie in den Bug und halten Sie nach dem Piloten Ausschau.«

»Wir haben Glück«, meinte Bryce. »Die See ist ruhig heute Morgen.«

Dann zuckten sie alle zusammen, als eine weitere Feuerwerkssalve aus dem Frachtraum hervorbrach und heulend in den frühmorgendlichen Himmel stieg. »Glück«, meinte Indy, »ist ein relativer Begriff.« Sie ruderten auf die Ölschicht zu, die die Absturzstelle des Flugzeugs markierte. Die Pilotin trat entschlossen Wasser und konnte gerade eben den Mund über Wasser halten.

Indy lachte, als er den seidigen Schöpf schwarzen Haars erblickte, der um ihren Kopf auf dem Wasser trieb.

»Leutnant Musashi«, rief Indy. »Wieso überrascht mich das nicht?«

Musashi blaffte auf Japanisch eine ätzende Erwiderung, dann schluckte sie Wasser. Sie hustete und spuckte, und ihr Kopf tauchte einmal kurz unter, bevor sie weitersprechen konnte. Sie war offensichtlich müde und der Erschöpfung nahe, trotzdem brachte sie es fertig, auf Englisch hinzuzusetzen: »Jones, Sie sind verhaftet.«

Das Gebaren kam Mystery vertraut vor.

»Ist das etwa die Verrückte, die auf dem Platz hinter Ihnen her war?«

»Ich fürchte, ja«, sagte Indy.

Bryce verließ seinen Platz, um Indy zu helfen, sie an Bord zu hieven.

»Machen Sie schon«, sagte er und streckte ihr den Riemen entgegen. »Benehmen Sie sich wie eine gute Kaisertreue und klettern Sie an Bord.«

Über ihnen kreiste der einsame Doppeldecker.

»Fahren Sie zur Hölle«, spie Musashi und schluckte noch mehr Wasser.

»Machen Sie keine Schwierigkeiten«, schimpfte Indy. »Sie werden sich noch selbst ersäufen, wenn Sie nicht Acht geben. Wissen Sie, es wäre unser gutes Recht, Sie hier draußen zurückzulassen.«

Musashi schüttelte den Kopf.

»Also schön«, meinte Bryce. »Wir sind alle verdammt noch mal verhaftet. Jetzt klettern Sie ins Boot und zwar so, dass Ihr blutrünstiger Kollege da oben das auch mitbekommt.«

Musashi ging erneut unter, bekam jedoch mit letzter Kraft das Ruderblatt zu fassen. Bryce zog sie zum Boot, und Indy langte mit seinem unverletzten Arm nach unten, packte den pelzbesetzten Kragen ihrer Fliegerjacke und wuchtete sie über das Schandeck.

»Sie wiegt in diesem Ding ja eine Tonne«, stöhnte Indy.

Bryce schwenkte das Ruder in der Luft.

Der Doppeldecker wackelte als Antwort mit den Flügeln und entfernte sich in südöstlicher Richtung. Dann warf Bryce das Ruder fort und steckte Musashi den Finger in den Mund, um sich zu vergewissern, dass sie ihre Zunge nicht verschluckt hatte.

»Atmet sie?«, erkundigte sich Indy.

»Ich denke schon«, sagte Bryce, während er ihren Kopf über die Reling legte und ihr auf den Rücken klopfte. Meerwasser sprudelte ihr aus Nase und Mund. Als Bryce sie wieder herumdrehte, versuchte sie, sich gegen ihn zur Wehr zu setzen, doch dafür fehlte ihr die Kraft.

»Helfen Sie mir, sie nach Waffen zu durchsuchen«, sagte Indy.

»Machen Sie Witze?«, fragte Bryce. »Sie ist fast ein Kind.«

»Dieses >Kind< ist die Person, die mir ein Loch in die Schulter geschossen und unser Schiff versenkt hat«, erwiderte Indy. Er öffnete den Reißverschluss ihrer Fliegerjacke, dann hielt er inne.

»Ah, Mystery. Würde es dir etwas ausmachen?«, fragte er.

»Ganz und gar nicht«, meinte Mystery, während sie vortrat und sich daranmachte, die fremden Taschen gründlich zu durchsuchen. »Da hätten wir einen Dosenöffner, einen Kompass und etwas Kleingeld.« Sie gab Indy die Gegenstände und vergrub ihre Hand in der nächsten Tasche.

»Volltreffer«, sagte sie und zog eine Automatik Kaliber 25 hervor.

Bryce nahm die Waffe an sich und ließ sie in seine Tasche gleiten.

»Such weiter«, sagte Indy.

»Papiere«, meinte sie. »Sieht aus wie ein Pass und irgendwelche anderen offiziell aussehenden Dokumente. Hier, sehen Sie mal das rote Band. Ist das nicht hübsch?«

»Mach weiter.«

»Also gut«, erwiderte Mystery und fühlte Musashis Hosenbeine bis zum Oberrand ihrer Stiefel ab. »Oh, Sie hatten Recht. Was für ein tückisch aussehendes kleines Messer.«

Indy untersuchte das Springmesser und warf es anschließend über Bord. Als sie zurückkehrten, um Snark zu holen, hatte die übrige Mannschaft bereits das Weite gesucht, und der Rumpf neigte sich auf alarmierende Weise zum Heck. Snark stand beiläufig da, rauchte eine Zigarette, einen Seesack über seine Schulter gehängt.

Er warf den Seesack ins Boot.

»Was hat Sie so lange aufgehalten?«, fragte er, als er von seinem Platz an Deck ins Rettungsboot trat.

»Es war nicht ganz einfach«, sagte Indy.

»Wenn die Wind absäuft, wird uns der Sog mit nach unten ziehen«, meinte Snark, während er die Ruderpinne übernahm.

»Wir täten gut daran, etwas Wasser zwischen uns und sie zu bringen.«

Obwohl die Kamikaze Maru im Japanischen Meer unterging, schaffte es das Wasser nicht, das Feuer zu löschen, das sich durch ihren Bauch gefressen hatte. Selbst als das Schiff längst auf Grund lag, schwelte es noch weiter und markierte seine letzte Ruhestätte mit einem Hexenkessel aus Rauch und Blasen.

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