Zehn

Unter Mr. Kotts Haut befanden sich abgestorbene Knochen, glänzend und feucht. Mr. Kott war ein Sack voller Knochen, schmutzig und dennoch feucht glänzend. Sein Kopf war ein Totenschädel, der Geldscheine in sich aufnahm und zerkaute; in seinem Innern verrotteten die Scheine, etwas fraß sie und machte sie tot.

Er konnte alles beobachten, was in Mr. Kott vor sich ging, das ganze wimmelnde Kwatschleben. Unterdessen sagte das Äußere: »Ich liebe Mozart. Ich lege einmal dieses Band ein.« Auf der Schachtel stand: »Symphonie Nr. 40 g-moll, KV 550.« Mr. Kott fingerte an den Knöpfen des Verstärkers herum. »Bruno Walter dirigiert«, sagte Mr. Kott zu seinen Gästen. »Eine Rarität aus der goldenen Zeit der Schallplatte.«

Ein schauerliches Kreischen und Kratzen drang aus den Lautsprechern, wie die letzten Zuckungen eines Sterbenden. Mr. Kott stellte das Band ab.

»Tut mir leid«, murmelte er. Es war eine alte chiffrierte Nachricht von Rockingham oder Scott Temple oder Anne, von wem auch immer; Mr. Kott wußte Bescheid. Er wußte, daß sie durch Zufall ihren Weg in seine Musiksammlung gefunden hatte.

Doreen Anderton nippte an ihrem Drink und sagte: »Das war ja ein schöner Schreck. Mit so was solltest du uns lieber verschonen, Arnie. Dein Sinn für Humor ...«

»Ein dummer Zufall«, sagte Arnie ärgerlich. Er kramte nach einem anderen Band. Ach, zum Teufel damit, dachte er. »Hören Sie, Jack«, sagte er und drehte sich um. »Tut mir leid, daß ich Sie herkommen ließ, wo ich doch weiß, daß Ihr Dad zu Besuch ist, aber mir brennt die Zeit auf den Nägeln; erzählen Sie mir von den Fortschritten, die Sie mit dem Steiner-Jungen machen, okay?« Aufregung und Unruhe ließen ihn stottern; er sah Jack erwartungsvoll an.

Aber Jack Bohlen hatte ihn nicht gehört; er unterhielt sich gerade mit Doreen, die neben ihm auf dem Sofa saß.

»Wir haben nichts mehr zu picheln«, sagte Jack und setzte sein leeres Glas ab.

»Herrgott noch mal«, sagte Arnie, »ich will hören, was Sie erreicht haben, Jack. Können Sie mir denn gar nichts sagen? Müßt ihr beiden die ganze Zeit dasitzen, tuscheln und knutschen? Mir ist schon richtig schlecht.« Er ging auf wackligen Beinen in die Küche, wo Heliogabalus wie ein Narr auf einem Barhocker saß und eine Illustrierte las. »Mach mir ein Glas warmes Wasser mit Natron«, sagte Arnie.

»Ja, Herr.« Heliogabalus klappte die Illustrierte zu und stieg vom Hocker herunter. »Ich habe mitgehört. Warum schicken Sie sie nicht weg? Sie bringen nur Ärger, nichts als Ärger, Herr.« Er entnahm einem Hängeschrank über der Spüle ein Päckchen Natriumbicarbonat; dann maß er einen Teelöffel voll ab.

»Wen interessiert schon, was du denkst?« sagte Arnie.

Doreen betrat die Küche, das Gesicht ausgelaugt und müde. »Arnie, ich glaube, ich gehe nach Hause. Ich kann wirklich nicht viel mit Manfred anfangen; die ganze Zeit läuft er herum, sitzt nie still. Ich ertrage das einfach nicht.« Sie ging zu Arnie hinüber und küßte ihn aufs Ohr. »Gute Nacht, mein Schatz.«

»Ich habe mal von einem Kind gelesen, das sich für eine Maschine hielt«, sagte Arnie. »Damit es funktioniere, sagte es, müsse man erst seinen Stecker reintun. Ich meine, man muß es einfach schaffen, diese Früchtchen zu ertragen. Geh nicht. Bleib, um meinetwillen. Manfred ist viel ruhiger, wenn eine Frau in der Nähe ist, keine Ahnung warum. Ich habe das Gefühl, Bohlen hat nichts erreicht; ich gehe jetzt rüber und sag es ihm ins Gesicht.« Der zahme Bleichmann drückte ihm ein Glas warmes Wasser mit Natron in die Rechte. »Danke.« Er trank gierig.

»Jack Bohlen«, sagte Doreen, »hat unter schwierigen Umständen gute Arbeit geleistet. Ich will nicht hören, daß man sich abfällig über ihn äußert.« Sie schwankte ein wenig und lächelte. »Ich bin ein bißchen beschwipst.«

»Wer ist das nicht?« sagte Arnie. Er legte einen Arm um ihre Taille und zog sie an sich. »Ich bin so besoffen, daß mir schon ganz elend ist. Okay, das Kind geht mir auch auf die Nerven. Schau, ich hab dieses alte chiffrierte Band eingelegt; ich muß bescheuert sein.« Er stellte sein Glas ab und öffnete die oberen Knöpfe ihrer Bluse. »Guck weg, Helio. Lies dein Buch.« Der Bleichmann schaute weg. Doreen fest an sich gedrückt, öffnete Arnie die restlichen Knöpfe an ihrer Bluse und schob ihr den Rock hoch. »Ich weiß, daß sie mir voraus sind, diese Erdbastarde, sie schießen wie Unkraut aus dem Boden. Mein Mann im Terminal kommt mit dem Zählen schon nicht mehr nach; sie treffen von morgens bis abends ein. Komm schon ins Bett.« Er küßte sie aufs Schlüsselbein, wühlte sich tiefer und tiefer, bis sie seinen Kopf mit aller Kraft wieder hochbog.

Im Wohnzimmer hantierte sein Topmechaniker, den er Mr. Yee ausgespannt hatte, am Bandgerät herum und legte mit ungeschickten Händen eine neue Spule ein. Er hatte sein leeres Glas umgeworfen.

Was geschieht, wenn sie mir zuvorkommen? fragte Arnie Kott sich, während er sich an Doreen klammerte und mit ihr langsam durch die Küche walzte, wobei Heliogabalus ganz für sich las. Was, wenn es mir nicht gelingt, mich einzukaufen? Dann kann ich mir gleich die Kugel geben. Er bog Doreen nach hinten und dachte die ganze Zeit: Es muß doch auch einen Platz für mich geben. Ich liebe diesen Planeten.

Musik plärrte; Jack Bohlen hatte es geschafft, das Band zum Laufen zu bringen.

Doreen kniff ihn grob, und er ließ sie los; er ging aus der Küche ins Wohnzimmer zurück, drehte die Lautstärke herunter und sagte: »Jack, reden wir übers Geschäft.«

»Gut«, stimmte Jack Bohlen zu.

Doreen folgte ihm aus der Küche, knöpfte dabei ihre Bluse zu und machte einen großen Bogen um Manfred, der auf Händen und Knien kauerte; der Junge hatte eine Lage Packpapier ausgebreitet und klebte Schnipsel, die er aus Zeitschriften ausgeschnitten hatte, mit Leim auf. An den Stellen, an denen er gekleckert hatte, zeigte der Teppich weiße Flecken.

Arnie ging zu dem Jungen, beugte sich tief zu ihm herunter und sagte: »Weißt du, wer ich bin, Manfred?«

Der Junge gab keine Antwort, keinen Hinweis, daß er ihn auch nur gehört hatte.

»Ich bin Arnie Kott. Warum lachst oder lächelst du nicht manchmal, Manfred? Magst du nicht gern herumlaufen und spielen?« Der Junge tat ihm leid, er tat ihm leid und bekümmerte ihn.

Jack Bohlen sagte mit schwankender, heiserer Stimme: »Anscheinend nicht, Arnie, aber darum geht es uns hier auch nicht.« Sein Blick war trüb; die Hand, die das Glas hielt, zitterte.

Doch Arnie fuhr fort: »Was siehst du, Manfred? Weihe uns in das ein, was du siehst.« Er wartete, aber es kam keine Antwort. Der Junge schwieg und konzentrierte sich ganz aufs Einkleben. Er hatte auf dem Papier eine Collage angefertigt: ein gezackter grüner Streifen, dann eine steile Anhöhe, grau und angsteinflößend eng.

»Was soll das sein?« sagte Arnie.

»Ein Ort«, sagte Jack. »Ein Gebäude. Ich hab's mitgebracht.« Er ging kurz weg und kehrte mit einem Jiffy-Umschlag zurück; er entnahm ihm eine große, zerknitterte, mit Buntstiften gemalte Kinderzeichnung, die er hochhielt, damit Arnie sie betrachten konnte. »Sehen Sie«, sagte Jack. »Das ist es. Sie wollten doch, daß ich eine Verbindung zu ihm herstelle; nun, ich hab's getan.« Mit den längeren Worten hatte er einige Schwierigkeiten; seine Zunge drohte sich zu verheddern.

Aber Arnie scherte es einen Dreck, wie betrunken sein Mechaniker war. Er war es gewöhnt, daß seine Gäste sich vollaufen ließen; starker Alkohol war auf dem Mars selten, und wenn die Leute bei Arnie darauf stießen, fielen sie darüber her, und das ging im allgemeinen so aus wie bei Jack Bohlen. Was zählte, war einzig und allein die Aufgabe, die er Jack gestellt hatte. Arnie nahm das Bild und musterte es.

»Das soll es sein?« fragte er Jack. »Was sonst noch?«

»Nichts.«

»Was ist mit der Kammer, die alles verlangsamt?«

»Nichts«, sagte Jack.

»Kann der Junge in die Zukunft sehen?«

»Absolut«, sagte Jack. »Daran besteht kein Zweifel. Das Bild da ist der beste Beweis, es sei denn, er hat uns gehört, als wir uns unterhielten.« Er drehte sich zu Doreen um und sagte schleppend und mühsam: »Meinst du, er hat uns gehört? Ach, du warst ja gar nicht dabei. Mein Dad war's. Ich glaube nicht, daß er was gehört hat. Passen Sie auf, Arnie. Eigentlich dürften Sie das überhaupt nicht sehen, aber ich denke, das geht in Ordnung. Jetzt ist es eh zu spät. Dieses Bild dürfte niemand sehen; so wird es hier in hundert Jahren aussehen, wenn alles in Trümmern liegt.«

»Was, zum Teufel, ist das?« sagte Arnie. »Ich werde aus dieser verrückten Kinderzeichnung nicht schlau; erklären Sie es mir.«

»Das ist das Am-Web«, sagte Jack. »Ein riesenhafter Wohnblock. Da leben Tausende von Menschen. Der größte auf dem Mars. Nur zerfällt dem Bild nach alles zu Schutt und Asche.«

Schweigen. Arnie war verdutzt.

»Vielleicht interessiert es Sie ja gar nicht«, sagte Jack.

»Natürlich interessiert es mich«, sagte Arnie wütend. Er wandte sich an Doreen, die ein wenig abseits stand und nachdenklich dreinsah. »Begreifst du das?«

»Nein, Schatz«, sagte sie.

»Jack«, sagte Arnie, »ich habe Sie herkommen lassen, damit Sie mir berichten. Und alles, was ich kriege, ist diese schwachsinnige Zeichnung. Wo liegt dieser riesige Wohnblock?«

»In den FDR-Bergen«, sagte Jack.

Arnie merkte, wie sein Puls langsamer ging und dann nur mühsam weiterschlug. »Aha, ja, ach so«, sagte er. »Ich verstehe.«

Grinsend sagte Jack: »Dachte ich's mir doch. Es interessiert Sie also. Wissen Sie, Arnie, Sie halten mich für schizophren, und Doreen glaubt es auch, und mein Vater glaubt es ... aber ich wüßte trotzdem gern Ihre Beweggründe. Ich kann Ihnen eine Menge Informationen über das UN-Projekt in den FDR-Bergen beschaffen. Was wollen Sie noch darüber wissen? Es ist kein Kraftwerk und kein Park. Es ist ein Gemeinschaftsprojekt mit der Genossenschaft. Ein ungeheuer großer Bau voller Vielzweckwohnungen mit Supermärkten und Bäckereien, mitten im Henry Wallace.«

»Wissen Sie das alles von diesem Kind?«

»Nein«, sagte Jack. »Von meinem Dad.«

Sie schauten einander lange Zeit an.

»Ihr Dad ist Spekulant?« sagte Arnie.

»Ja«, sagte Jack.

»Ist er gestern erst von der Erde eingetroffen?«

»Ja«, sagte Jack.

»Himmel«, sagte Arnie zu Doreen. »Himmel, das ist der Vater von diesem Burschen. Und er hat sich bereits eingekauft.«

»Ja«, sagte Jack.

»Ist noch was übrig?« fragte Arnie.

Jack schüttelte den Kopf.

»Ach, du großer Gott«, sagte Arnie. »Und so einen habe ich auf der Lohnliste. Wieviel Pech kann der Mensch eigentlich haben?«

Jack sagte: »Bis eben habe ich ja nicht gewußt, daß Sie dahinter her waren, Arnie.«

»Ja, auch wieder wahr«, sagte Arnie. Zu Doreen sagte er: »Ich hab es ihm nicht gesagt, also ist es nicht sein Fehler.« Geistesabwesend griff er nach der Zeichnung des Jungen. »Und so wird es einmal aussehen.«

»Irgendwann«, sagte Jack. »Anfangs nicht.«

Arnie sagte zu Manfred: »Du hattest also die Information, aber wir haben sie zu spät aus dir rausgekriegt.«

»Zu spät«, wiederholte Jack. Er schien zu verstehen; er wirkte betroffen. »Tut mir leid, Arnie. Tut mir aufrichtig leid. Das hätten Sie mir sagen sollen.«

»Ich mache Ihnen ja keinen Vorwurf«, sagte Arnie. »Wir sind nach wie vor Freunde, Bohlen. Es ist einfach Pech. Sie waren mir gegenüber absolut ehrlich; ich weiß. Verdammt noch mal, das ist wirklich ein Jammer. Hat er schon seinen Anspruch angemeldet, Ihr Dad? Na ja, so was kommt vor.«

»Er vertritt eine Gruppe von Investoren«, sagte Jack heiser.

»Natürlich«, sagte Arnie. »Mit unbegrenztem Kapital. Was hätte ich schon machen können? Da kann ich nicht mithalten. Ich bin allein.« Zu Manfred sagte er: »All diese Leute ...« Er deutete auf die Zeichnung. »Werden sie dort wohnen, ist es so? Stimmt das, Manfred? Kannst du sehen, ob große Menschenmengen dort wohnen werden?« Seine Stimme wurde lauter, geriet außer Kontrolle.

»Bitte, Arnie«, sagte Doreen. »Beruhige dich; ich sehe, wie sehr dich das aufregt, und das sollte es nicht.«

Arnie hob den Kopf und sagte mit leiser Stimme zu ihr: »Ich begreife nicht, warum dieses Kind nie lacht.«

Plötzlich sagte der Junge: »Kwatsch, kwatsch.«

»Ja«, sagte Arnie bitter. »So ist's recht. Das nenne ich erstklassige Verständigung, Kleiner. Kwatsch, kwatsch.« Zu Jack sagte er: »Sie haben eine prächtige Verbindung hergestellt; ich seh's.«

Jack schwieg. Er wirkte jetzt grimmig und fühlte sich nicht sehr wohl in seiner Haut.

»Es wird noch eine ganze Weile dauern«, sagte Arnie, »bis dieses Kind soweit ist, daß wir mit ihm sprechen können. Richtig? Schade, daß wir nicht weitermachen können. Bei mir ist die Luft raus.«

»Ist vielleicht besser so«, sagte Jack mit schwerer Zunge.

»Genau«, sagte Arnie. »Das war's dann wohl. Ihr Job ist beendet.«

Doreen sagte: »Aber du könntest ihn doch noch gebrauchen ...«

»Ja, sicher«, sagte Arnie. »Ich brauche sowieso einen tüchtigen Mechaniker, für solche Sachen wie den Chiffrierer; ich hab tausend Dinge, die jeden gottverdammten Tag den Geist aufgeben. Ich meine ja auch nur diesen speziellen Job. Schicken Sie es nach B-G zurück, das Kind. Am-Web. Ja, die Genossenschaftsgebäude tragen so komische Namen. Die Genossenschaft kommt zum Mars! Das ist ein dicker Brocken, diese Genossenschaft. Die werden viel für ihr Land bezahlen; aber sie haben's ja. Richten Sie Ihrem Vater von mir aus, daß er ein gewitzter Geschäftsmann ist.«

»Geben Sie mir die Hand drauf, Arnie?« fragte Jack.

»Klar, Jack.« Arnie streckte sie ihm entgegen, und die beiden schüttelten sich lange und kräftig die Hand und sahen sich dabei fest in die Augen. »Ich hoffe Sie noch oft hier zu sehen, Jack. Das ist nicht das Ende zwischen Ihnen und mir; das ist erst der Anfang.« Er ließ Jack Bohlens Hand los und ging wieder in die Küche, wo er für sich allein nachdachte.

Kurz darauf gesellte sich Doreen zu ihm. »Das waren schreckliche Neuigkeiten für dich, stimmt's?« sagte sie und legte den Arm um ihn.

»Ganz furchtbare«, sagte Arnie. »Die schlimmsten seit langer Zeit. Aber ich komme schon drüber weg; die Genossenschaftsbewegung macht mir keine Angst. Lewistown und die Kanalarbeiter waren zuerst hier, und sie werden noch viel länger hier sein. Hätte ich das Projekt mit dem Steiner-Jungen eher gestartet, wäre es anders gelaufen, aber ich gebe Jack sicher nicht die Schuld.« Doch tief in seinem Herzen dachte er: Du hast gegen mich gearbeitet, Jack. Die ganze Zeit. Du hast gemeinsame Sache mit deinem Vater gemacht. Und sogar von Anfang an; seit dem Tag, an dem ich dich eingestellt habe.

Er kehrte ins Wohnzimmer zurück. Jack stand mißmutig und schweigend am Bandgerät und spielte mit den Knöpfen herum.

»Nehmen Sie's nicht so schwer«, sagte Arnie zu ihm.

»Danke, Arnie«, sagte Jack. Sein Blick war stumpf. »Ich komme mir vor, als hätte ich Sie hintergangen.«

»Mich nicht«, versicherte ihm Arnie. »Sie haben mich nicht hintergangen. Mich hintergeht nämlich niemand.«

Auf dem Boden war Manfred Steiner weiter mit Kleben beschäftigt und ignorierte sie alle.

*

Als er seinen Vater nach Hause zurückflog und sie die FDR-Berge hinter sich ließen, dachte Jack: Soll ich das Bild des Jungen Arnie zeigen? Soll ich es nach Lewistown mitnehmen und ihm geben? Es ist so wenig ... es gibt einfach nicht das her, was ich bisher hätte herausholen sollen.

Er wußte, daß er Arnie am Abend auf jeden Fall sehen würde.

»Ganz schön trostlos da unten«, sagte sein Dad und deutete mit einem Nicken zur Wüste hinunter. »Erstaunlich, daß ihr euch ständig beklagt; ihr solltet stolz sein.« Aber eigentlich war er mehr an seinen Landkarten interessiert. Seine Worte waren nichtssagend; reine Formalität.

Jack stellte das Funkgerät an und rief Arnie in Lewistown. »Tschuldige, Dad; ich muß mit meinem Boss sprechen.«

Das Gerät gab ein paar Geräusche von sich, die sofort Manfreds Interesse weckten; er hörte auf, sich mit seinen Zeichnungen zu beschäftigen, und hob den Kopf.

»Ich nehm dich mit«, sagte Jack zu dem Jungen.

Gleich darauf hatte er Arnie dran. »Hey, Jack.« Arnies Stimme dröhnte. »Ich hab versucht, Sie an die Strippe zu kriegen. Können Sie ...?«

»Ich komme heute abend zu Ihnen«, sagte Jack.

»Nicht eher? Wie wär's mit nachmittags?«

»Fürchte, vor heute abend kann ich nicht«, sagte Jack. »Es ...« Er zögerte. »Nichts Dringendes, hat bis heute abend Zeit.« Wenn ich bei ihm bin, dachte er, erzähle ich ihm vom Gemeinschaftsprojekt der Genossenschaft und der UN; er wird alles von mir erfahren. Ich warte damit, bis Dads Antrag eingereicht ist, dann kann es nichts mehr schaden.

»Bis heute abend dann«, willigte Arnie ein. »Aber ich sitze wie auf Kohlen, Jack. Auf glühenden Kohlen. Ich weiß, daß Sie mit etwas Aufregendem kommen werden; ich habe volles Vertrauen zu Ihnen.«

Jack dankte ihm, verabschiedete sich und hängte ein.

»Dein Boss hört sich an wie ein Gentleman«, sagte sein Vater, nachdem die Verbindung unterbrochen war. »Und anscheinend ist er stolz auf dich. Ich nehme an, du bist von unschätzbarem Wert für seine Organisation, ein Mann mit deinen Fähigkeiten.«

Jack schwieg. Er hatte bereits Schuldgefühle.

»Zeichne mir ein Bild«, sagte er zu Manfred, »darüber, wie es heute abend zugehen wird zwischen mir und Mr. Kott.« Er nahm dem Jungen das Blatt weg, auf dem er gerade herumkritzelte, und gab ihm ein neues. »Tust du das, Manfred? Du kannst doch vorhersehen, wie es heute abend wird. Mit dir, mir und Mr. Kott, in Mr. Kotts Wohnung.«

Der Junge nahm einen blauen Stift und begann zu zeichnen. Während er den Hubschrauber steuerte, sah Jack zu.

Manfred zeichnete mit großer Sorgfalt. Anfangs konnte Jack nichts erkennen. Dann dämmerte ihm, was die Szene darstellte. Zwei Männer. Einer verpaßte dem anderen ein blaues Auge.

Manfred lachte, ein langes, hohes, nervöses Lachen, und drückte das Bild plötzlich an sich.

Jack überlief es kalt, und er wandte seine Aufmerksamkeit wieder den Kontrollen vor ihm zu. Er merkte, daß ihm der Schweiß ausbrach, feuchter Angstschweiß. So wird es also laufen? fragte er stumm sich selbst. Ein Kampf zwischen mir und Arnie? Und du wirst vielleicht Zeuge dabei sein ... oder es zumindest eines Tages erfahren.

»Jack«, sagte Leo, »bringst du mich noch zum Grundbuchamt? Und setzt mich dort ab? Ich will meine Unterlagen einreichen. Können wir gleich dort hinfliegen anstatt erst nach Hause? Ich gebe zu, daß mir unbehaglich zumute ist. Es muß hiesige Spekulanten geben, die das alles beobachten, und ich kann gar nicht vorsichtig genug sein.«

Jack sagte: »Ich kann mich nur wiederholen: Was du da machst, ist unmoralisch.«

»Das überlaß mal mir«, sagte sein Vater. »So wickle ich meine Geschäfte eben ab, Jack. Ich habe nicht vor, das zu ändern.«

»Profitgier«, sagte Jack.

»Ich will mich nicht mit dir streiten«, sagte sein Vater. »Das geht dich nichts an. Wenn du keine Lust hast, mir zu helfen, nachdem ich Millionen Meilen von der Erde hierher gekommen bin, schaffe ich's sicher, irgendwo ein öffentliches Verkehrsmittel aufzutreiben.« Er sprach in sanftem Tonfall, war aber rot angelaufen.

»Ich bringe dich hin«, sagte Jack.

»Ich kann's nicht leiden, wenn man mir Moralpredigten hält«, sagte sein Vater.

Jack schwieg. Er steuerte den Hubschrauber nach Süden, Richtung UN-Gebäude in Pax Grove.

Manfred zeichnete noch immer mit seinem blauen Stift und ließ jetzt einen der beiden Männer in seinem Bild, den, der das blaue Auge abbekommen hatte, tot zu Boden sinken. Jack sah das, er sah, wie die Gestalt auf dem Rücken liegenblieb und keinen Mucks mehr von sich gab. Bin ich das? fragte er sich. Oder ist es Arnie?

Eines Tages - vielleicht schon bald - werde ich es wissen.

*

Unter Mr. Kotts Haut befanden sich abgestorbene Knochen, glänzend und feucht. Mr. Kott war ein Sack voller Knochen, schmutzig und dennoch feucht glänzend. Sein Kopf war ein Totenschädel, der Geldscheine in sich aufnahm und zerkaute; in seinem Innern verrotteten die Scheine, etwas fraß sie und machte sie tot.

Auch Jack Bohlen war ein abgestorbener Sack, in dem es von Kwatsch wimmelte. Das Äußere, auf das fast jeder hereinfiel - es war wunderschön bemalt und roch gut -, beugte sich über Miss Anderton, und er sah das; er sah, daß er sie auf furchtbare Weise begehrte. Er spülte sein nasses, klebriges Selbst näher an sie heran, und die Worte des toten Käfers brachen aus ihm hervor.

»Ich liebe Mozart«, sagte Mr. Kott. »Ich lege einmal dieses Band ein.« Er fingerte an den Knöpfen des Verstärkers herum. »Bruno Walter dirigiert. Eine Rarität aus der goldenen Zeit der Schallplatte.«

Ein schauerliches Kreischen und Kratzen drang aus den Lautsprechern, wie die letzten Zuckungen eines Sterbenden. Er stellte das Band ab.

»Tut mir leid«, murmelte Arnie Kott.

Bei dem Lärm zuckte Jack Bohlen zusammen .und beschnüffelte den Körper der Frau an seiner Seite, bemerkte glänzenden Schweiß auf ihrer Oberlippe, wo Lippenstift verschmiert war, daß der Mund wie eine Schnittwunde aussah. Er wollte ihr in die Lippe beißen, wollte, daß dort Blut floß. Seine Daumen wollten sich in ihre Achselhöhlen bohren und nach oben stoßen, bis er ihre Brüste bearbeitete, dann würde er das Gefühl haben, daß sie ihm gehörten und er damit machen konnte, was er wollte. Er hatte sie schon soweit, daß sie sich bewegten; wie lustig das war.

»Das war ja ein schöner Schreck. Mit so was solltest du uns lieber verschonen, Arnie. Dein Sinn für Humor ...«

»Ein dummer Zufall«, sagte Arnie. Er kramte nach einem anderen Band.

Jack Bohlen streckte die Hand aus und berührte den Schoß der Frau. Sie trug keine Unterwäsche unter dem Rock. Er rieb ihre Schenkel, und sie zog die Beine an und wandte sich ihm zu, so daß ihre Knie sich an ihn preßten; wie ein Tier saß sie da, zusammengekauert vor Erwartung. Ich kann's gar nicht abwarten, bis wir beide hier weg sind, irgendwo, wo wir allein sein können, dachte Jack. Gott, wie will ich dich fühlen, und nicht etwa durch deine Kleidung hindurch. Seine Finger packten ihr bloßes Fußgelenk, und sie schrie vor Schmerz leise auf und lächelte ihn an.

»Hören Sie, Jack«, sagte Arnie Kott und drehte sich um. »Tut mir leid ...« Seine Worte wurden abgeschnitten. Jack hörte den Rest nicht mehr. Die Frau an seiner Seite sagte etwas zu ihm. Schnell, sagte sie. Ich kann auch nicht mehr warten. Der Atem ging in kurzen, rauhen Stößen, und sie starrte ihn unverwandt an, ihr Gesicht nah an seinem, mit großen Augen, als durchbohrte man sie. Keiner von beiden hörte Arnie. Im Zimmer war es jetzt still.

Hatte er etwas überhört, was Arnie gesagt hatte? Jack streckte die Hand aus und griff nach seinem Glas, aber es war nichts mehr drin. »Wir haben nichts mehr zu picheln«, sagte Jack und setzte es wieder auf dem Sofatisch ab.

»Herrgott noch mal«, sagte Arnie, »ich will hören, was Sie erreicht haben, Jack. Können Sie mir denn gar nichts sagen?« Weiter vor sich hinredend, ging er vom Wohnzimmer in die Küche; seine Stimme entfernte sich. Die Frau neben Jack starrte immer noch zu ihm hoch, der Mund schlaff, als drückte er sie fest an sich, als bekäme sie kaum noch Luft. Wir müssen hier raus und für uns allein sein, wurde Jack klar. Dann, als er sich umsah, stellte er fest, daß keiner mehr da war; Arnie hatte das Zimmer verlassen und konnte sie nicht mehr sehen. Er sprach in der Küche mit seinem zahmen Bleichmann. Also war er schon allein mit ihr.

»Nicht hier«, sagte Doreen. Aber ihr Körper bebte und sträubte sich nicht, als er sie um die Taille faßte und an sich zog; es störte sie nicht, so derb gehalten zu werden, weil sie es ebenfalls wollte; auch sie konnte sich nicht mehr zurückhalten. »Ja«, sagte sie. »Aber schnell.« Ihre Nägel gruben sich in seine Schultern, und sie schloß fest die Augen, stöhnte und schauderte. »An der Seite«, sagte sie. »Er hat Knöpfe, mein Rock.«

Er beugte sich über sie und sah, wie ihre matte, fast mürbe Schönheit verging. Gelbe Risse durchzogen ihre Zähne, und die Zähne spalteten sich und versanken im Zahnfleisch, das seinerseits grün wurde und brüchig wie uraltes Leder, und dann hustete sie und spuckte ihm Unmengen von Staub ins Gesicht. Der Kwatscher hatte sie genommen, wurde ihm klar, ehe es ihm möglich gewesen war. Also ließ er sie los. Sie sackte nach hinten um, und ihre berstenden Knochen verursachten heftige, splitternde Geräusche.

Ihre Augen schmolzen, wurden trüb, und die Wimpern eines Auges verwandelten sich in die pelzigen, tastenden Beine eines dichtbehaarten Insekts, das hinter dem Augapfel festsaß und rauswollte. Sein kleines, nur stecknadelkopfgroßes rotes Auge spähte hinter dem schlaffen Rand ihres blinden Auges hervor und verschwand dann wieder; das Insekt begann sich zu krümmen und wölbte das tote Auge der Frau hervor, und dann spähte es einen Moment lang durch ihre Augenlinse, schaute hierhin und dorthin und sah ihn, ohne begreifen zu können, wer oder was er war; es konnte den zerfallenden Mechanismus, hinter dem es lebte, nicht voll nutzen.

Ihre Brüste zitterten wie überreife Pusteblumen und sackten pfeifend in sich zusammen, und aus ihrem lichten Innern drang durch das Netzwerk aus Rissen, das sie bedeckte, eine Sporenwolke und wehte ihm mitten ins Gesicht; es war der Gestank von Moder und Alter des Kwatsches, der sich schon vor langer Zeit darin eingenistet hatte und sich jetzt einen Weg an die Oberfläche bahnte.

Der tote Mund zuckte, und dann murmelte von tief unten am Grund der Röhre, die ihr Hals war, eine Stimme: »Du warst nicht schnell genug.« Und dann fiel der Kopf vollends ab, und nur das weiße, spitze, stabähnliche Ende der Wirbelsäule ragte noch hervor.

Jack ließ sie los, und sie sackte zu einem kleinen, verdorrten Haufen flacher, fast durchsichtiger Plättchen zusammen, wie die abgestreifte Haut einer Schlange, praktisch gewichtslos; er bürstete sie mit der Hand von sich ab. Und gleichzeitig hörte er zu seiner Überraschung ihre Stimme aus der Küche.

»Arnie, ich glaube, ich gehe nach Hause. Ich kann wirklich nicht viel mit Manfred anfangen; die ganze Zeit läuft er herum, sitzt nie still.« Als er den Kopf wandte, sah er sie drin mit Arnie, dicht bei ihm. Sie küßte ihn aufs Ohr. »Gute Nacht, mein Schatz«, sagte sie.

»Ich habe mal von einem Kind gelesen, das sich für eine Maschine hielt«, sagte Arnie, und dann schloß sich die Küchentür; Jack konnte sie nicht mehr hören noch sehen.

Er rieb sich die Stirn und dachte: Ich bin wirklich betrunken. Was ist bloß los mit mir? Mein Bewußtsein, es spaltet sich ... Er blinzelte, versuchte sich zusammenzunehmen. Auf dem Teppich, nicht weit vom Sofa entfernt, schnitt Manfred Steiner mit einer stumpfen Schere ein Bild aus einer Zeitschrift aus und lächelte dabei in sich hinein; das Papier raschelte beim Zerschneiden, ein Geräusch, das Jack ablenkte und es ihm noch schwerer machte, seine umherirrenden Gedanken zu sammeln.

Hinter der Küchentür hörte er schweres Atmen und dann geschäftiges, anhaltendes Stöhnen. Was machen die da? fragte er sich. Die drei, sie, Arnie und der zahme Bleichmann, alle zusammen ... das Stöhnen ließ nach und hörte schließlich auf. Kein Laut drang mehr zu ihm.

Ich wünschte, ich wäre zu Hause, sagte sich Jack verzweifelt und durcheinander. Ich will hier raus, aber wie? Er fühlte sich schwach und furchtbar elend und blieb einfach auf dem Sofa sitzen, unfähig, sich davonzumachen, zu denken oder sich zu rühren.

Eine Stimme in seinem Kopf sagte: Kwatsch kwatsch kwatsch, ich bin kwatsch kwatsch kwatsch kwatsch.

Hör auf, sagte er zu ihr.

Kwatsch, kwatsch, kwatsch, kwatsch, antwortete sie.

Staub fiel von den Wänden auf ihn herunter. Das Zimmer ächzte vor Alter und Staub, zerfiel um ihn herum. Kwatsch, kwatsch kwatsch, sagte das Zimmer. Der Kwatscher ist hier, um dich zu kwatsch-kwatschen und Kwatsch aus dir zu machen.

Taumelnd richtete er sich auf und schaffte es, Schritt für Schritt zu Arnies Verstärker und Bandgerät zu gehen. Er griff ein Band heraus und öffnete den Kasten. Nach einigen vergeblichen, kraftlosen Bemühungen gelang es ihm schließlich, die Spule auf den Transportmechanismus zu stecken.

Die Küchentür öffnete sich einen Spalt breit, und ein Auge beobachtete ihn; er konnte nicht sagen, wer es war.

Ich muß hier raus, sagte sich Jack Bohlen. Oder mich wehren; ich muß dagegen angehen, es von mir stoßen, sonst frißt es mich auf.

Es frißt mich auf.

Ruckartig drehte er am Lautstärkeknopf, so daß die Musik losplärrte und ihn fast taub werden machte, durchs Zimmer dröhnte, über die Wände brandete, über die Möbel, gegen die leicht geöffnete Küchentür gischtete, auf alles und jeden in erreichbarer Nähe einschlug.

Die Küchentür fiel heraus, als die Scharniere zerbrachen; sie kippte vornüber, und ein Ding kam seitwärts aus der Küche gehuscht, vom Getöse der Musik zu verspäteter Aktivität angestachelt. Das Ding krabbelte auf ihn zu und an ihm vorbei, tastete nach dem Kontrollknopf für die Lautstärke. Die Musik verebbte.

Aber jetzt fühlte er sich besser. Er fühlte sich wieder auf der Höhe, Gott sei Dank.

*

Jack Bohlen setzte seinen Vater am Grundbuchamt ab und flog dann mit Manfred nach Lewistown weiter, zu Doreen Andertons Apartment.

Als sie die Tür aufmachte und ihn erblickte, sagte sie: »Was ist los, Jack?« Sie hielt die Tür schnell weit auf, und er und Manfred traten ein.

»Heute abend wird es ganz schlimm«, erzählte er ihr.

»Bist du sicher?« Sie setzte sich ihm gegenüber. »Mußt du denn überhaupt hin? Ja, ich denke schon. Aber vielleicht irrst du dich auch.«

Jack sagte: »Manfred hat es mir schon verraten. Er hat schon alles gesehen.«

»Hab keine Angst«, sagte Doreen sanft.

»Habe ich aber«, sagte er.

»Wieso wird es denn schlimm?«

»Keine Ahnung. Das konnte mir Manfred nicht sagen.«

»Aber ...« Sie gestikulierte aufgeregt. »Du hast Kontakt mit ihm hergestellt; das ist phantastisch. Das ist es doch, was Arnie wollte.«

»Ich hoffe, du kommst auch hin«, sagte Jack.

»Ja, ich werde da sein. Aber - ich kann wenig tun. Ist meine Meinung überhaupt etwas wert? Ich bin sicher, daß Arnie sich freuen wird; ich glaube, du hast ohne jeden Grund einen Angstanfall.«

»Das ist das Ende«, sagte Jack, »zwischen mir und Arnie - heute abend. Ich weiß es, aber ich hab keinen Schimmer, wieso.« Ihm war durch und durch schlecht. »Fast habe ich den Eindruck, als könnte Manfred mehr als nur in die Zukunft sehen; irgendwie kontrolliert er sie, er kann es so anstellen, daß die schlimmste Möglichkeit eintritt, weil das anscheinend in seiner Natur liegt, so sieht er die Realität. Es ist, als würden wir, einfach dadurch, daß wir uns in seiner Nähe befinden, in seine Realität hineingezogen. Sie beginnt in uns einzusickern und unsere eigene Sichtweise der Dinge zu ersetzen, und die Ereignisse, die unserer Erfahrung nach eintreten, treten jetzt irgendwie nicht mehr ein. Für mich ist das ein ganz ungewohntes Gefühl; so habe ich die Zukunft früher nie empfunden.«

Dann schwieg er.

»Du bist zuviel mit ihm zusammen gewesen«, sagte Doreen. »In dir sind Anlagen, die ...« Sie zögerte. »Labile Anlagen, Jack. Ähnlich wie seine; du solltest ihn in unsere Welt herüberziehen, in die gemeinsame Realität unserer Gesellschaft ... hat er dich statt dessen nicht in seine hineingezogen? Ich glaube nicht an so etwas wie Präkognition; ich glaube, es war von Anfang an ein Fehler. Es wäre besser, wenn du die Sache aufgäbst, diesen Jungen in Ruhe ließest ...« Sie schaute kurz zu Manfred hinüber, der ans Fenster ihres Apartments getreten war und jetzt auf die Straße hinunter starrte. »Wenn du gar nichts mehr mit ihm zu tun hättest.«

»Dafür ist es zu spät«, sagte Jack.

»Du bist weder Psychotherapeut noch Arzt«, sagte Doreen. »Für Milton Glaub ist es ganz normal, Tag für Tag mit autistischen und schizophrenen Personen in engem Kontakt zu stehen, aber du - du bist Mechaniker, der wegen eines verrückten Einfalls von Arnie in die Sache hineingeschlittert ist; du warst einfach nur im selben Raum mit ihm und hast seinen Chiffrierer repariert und bist so in das Ganze verwickelt worden. Du solltest nicht passiv sein, Jack. Du überläßt dein Leben ganz dem Zufall, und du lieber Himmel - merkst du denn überhaupt nicht, was es mit dieser Passivität auf sich hat?«

Nach einer Weile sagte er: »Ich denke schon.«

»Sprich's aus.«

Er sagte: »Schizophrene neigen zur Passivität; das ist mir durchaus klar.«

»Sei entscheidungsfreudiger; mach nicht so weiter. Ruf Arnie an und sag ihm, daß du einfach nicht kompetent genug bist, um dich weiter um Manfred zu kümmern. Er sollte nach B-G zurück, wo Milton Glaub mit ihm arbeiten kann. Sie können diese Verlangsamungskammer auch dort bauen; sie waren doch schon drauf und dran, oder?«

»Sie werden es niemals schaffen. Sie sprechen davon, die Ausrüstung von zu Hause herüberkommen zu lassen; du weißt, was das heißt.«

»Und du wirst es auch nicht schaffen«, sagte Doreen, »weil du schon lange vorher ein geistiges Wrack sein wirst. Ich kann auch in die Zukunft sehen; und weißt du, was ich da sehe? Ich sehe, daß du einen viel schlimmeren Zusammenbruch als je zuvor haben wirst; ich sehe -deinen totalen psychischen Kollaps, Jack, wenn du mit dieser Arbeit weitermachst. Dir setzt doch jetzt schon akute schizophrene Angst zu, Panik - ist es nicht so? Stimmt doch.«

Er nickte.

»Ich habe das bei meinem Bruder erlebt«, sagte Doreen. »Schizophrene Panik, und wenn man einmal erlebt hat, wie sie bei einer Person ausbricht, vergißt man das nie mehr. Der Zusammenbruch ihrer Realität ringsum ... der Zusammenbruch ihrer Wahrnehmung von Raum und Zeit, Ursache und Wirkung ... geschieht das nicht gerade bei dir? Du redest, als ob dieses Treffen mit Arnie sich durch nichts, was du tust, ändern ließe - und das ist für dich ein gewaltiger Rückschritt von der Verantwortung und Reife eines Erwachsenen; das sieht dir überhaupt nicht ähnlich.« Sie atmete tief durch, so daß sich ihre Brust schmerzhaft hob und senkte, und fuhr fort: »Ich werde Arnie anrufen und ihm sagen, daß du aussteigst, dann muß er sich jemand anderen suchen, der die Sache mit Manfred zu Ende bringt. Und ich sage ihm, daß du keine Fortschritte erzielt hast, daß es zwecklos für euch beide ist, weiterzumachen. Ich habe diese Marotten bei Arnie schon früher erlebt; er hält einige Tage oder Wochen daran fest, und dann vergißt er sie wieder. Das hier kann er auch vergessen.«

Jack sagte: »Er wird es nicht vergessen.«

»Laß es drauf ankommen«, sagte sie.

»Nein«, sagte er. »Ich muß heute abend dort hingehen und ihm von meinen Fortschritten berichten. Das habe ich ihm versprochen; ich schulde es ihm.«

»Du bist ein verdammter Narr«, sagte Doreen.

»Ich weiß«, sagte Jack. »Aber aus einem anderen Grund, als du meinst. Ich bin ein Narr, weil ich einen Job angenommen habe, ohne die Folgen zu bedenken. Ich ...« Er brach ab. »Vielleicht ist es auch so, wie du sagst. Ich bin nicht kompetent genug, um mit Manfred zu arbeiten. So wird's sein, punktum.«

»Und du machst trotzdem weiter. Was kannst du Arnie heute abend denn vorweisen? Zeig's mir, sofort.«

Jack holte einen Jiffy-Umschlag hervor, griff hinein und zog das Bild mit den Gebäuden heraus, das Manfred gezeichnet hatte. Doreen betrachtete es lange. Dann gab sie es ihm zurück.

»Das ist eine teuflische, krankhafte Zeichnung«, sagte sie mit kaum hörbarer Stimme. »Ich weiß, was das ist. Die Gruftwelt, nicht wahr? Das ist es, was er gezeichnet hat. Die Welt nach dem Tod. Und genau das sieht er auch, und jetzt beginnst du es durch ihn zu sehen. Das willst du Arnie bringen? Du hast wohl schon jeden Sinn für die Realität verloren; meinst du, Arnie will so eine Scheußlichkeit sehen? Verbrenn's!«

»So schlimm finde ich's gar nicht«, sagte er, tief betrübt durch ihre Reaktion.

»O doch, es ist schlimm«, sagte Doreen. »Und es ist entsetzlich, daß dir das nicht mal mehr auffällt. War das schon immer so?«

Er mußte den Kopf schütteln.

»Dann weißt du ja, daß ich recht habe«, sagte sie.

»Ich muß weiter«, sagte er. »Wir sehen uns heute abend bei ihm.« Er ging zum Fenster hinüber und tippte Manfred auf die Schulter. »Wir müssen gehen. Wir sehen diese Dame heute abend, und Mr. Kott auch.«

»Mach's gut, Jack«, sagte Doreen und begleitete ihn zur Tür. In ihren großen dunklen Augen lag tiefe Verzweiflung. »Ich habe getan, was ich konnte, um dich davon abzubringen; keine Frage. Du hast dich verändert. Du bist jetzt nicht mehr so - lebhaft, wie du es gestern noch warst ... weißt du das?«

»Nein«, sagte er. »Das wußte ich nicht.« Aber es erstaunte ihn nicht, das zu hören; er spürte, wie es schwer auf seinen Gliedern lastete, ihm das Herz zusammenpreßte. Er beugte sich vor und küßte sie auf die vollen, wohlschmeckenden Lippen. »Dann bis heute abend.«

Sie stand an der Tür und sah schweigend zu, wie er mit dem Jungen davonging.

In der Zeit, die noch bis zum Abend blieb, wollte Jack Bohlen bei der Public School vorbeifliegen und seinen Sohn abholen. Dort, an dem Ort, den er mehr als alle anderen fürchtete, würde er herausfinden, ob Doreen recht hatte; er würde erfahren, ob seine Moral und seine Fähigkeit, die Realität von den Projektionen seines eigenen Unbewußten zu unterscheiden, gelitten hatte oder nicht. Für ihn bedeutete die Public School den Scheideweg. Und während er den Hubschrauber der Yee Company dorthin steuerte, spürte er in seinem tiefsten Innern, daß es ihm gelingen würde, einen zweiten Besuch zu bestehen.

Außerdem war er furchtbar neugierig, wie Manfred wohl auf den Ort reagierte, auf die Simulakra, die Lehrmaschinen. Seit einiger Zeit hatte er das dunkle Gefühl, daß Manfred eine deutliche Reaktion zeigen würde, wenn er den Schullehrern gegenüberstünde, vielleicht seiner ähnlich, vielleicht auch ganz anders. Jedenfalls würde er reagieren; davon war er überzeugt.

Aber dann dachte er resigniert: Ist nicht alles schon zu spät? Ist es nicht längst vorbei mit dem Job, hat Arnie ihn nicht zurückgepfiffen, weil ihm nichts mehr daran liegt?

Bin ich heute abend nicht schon bei ihm gewesen? Wie spät ist es eigentlich?

Entsetzt dachte er: Ich habe jedes Zeitgefühl verloren.

»Wir fliegen zur Public School«, murmelte er Manfred zu. »Was hältst du davon? Die Schule sehen, in die David geht.«

Die Augen des Jungen strahlten erwartungsvoll. Ja, schien er zu sagen. Dazu hätte ich Lust. Also los.

»Okay«, sagte Jack, dem es nur mit Mühe gelang, die Kontrollen des Hubschraubers zu bedienen; er kam sich vor wie auf dem Grund eines großen stehenden Meeres, als kämpfte er bloß noch darum, Luft zu bekommen, fast unfähig, sich zu bewegen. Aber wieso?

Er wußte es nicht. Er machte weiter, so gut er konnte.

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