Zwölf

Dr. Milton Glaub grübelte noch hinter dem Schreibtisch in seinem Sprechzimmer von Camp B-G über das Verhalten von Anne Esterhazy nach, als er eine Katastrophenmeldung erhielt. Sie kam vom Rektorschaltkreis der Public School.

»Doktor«, erklärte die klanglose Stimme, »es tut mir leid, Sie zu stören, aber wir brauchen Ihre Hilfe. Ein männlicher Bürger irrt offenbar im Zustand geistiger Verwirrung bei uns durchs Haus. Wir möchten Sie bitten, zu kommen und ihn zu entfernen.«

»Gewiß«, murmelte Dr. Glaub. »Ich fliege sofort los.«

Kurz darauf befand er sich in der Luft und steuerte seinen Hubschrauber über die Wüste von Neu-Israel Richtung Public School.

Als er gelandet war, empfing ihn der Rektorschaltkreis und führte ihn schnellen Schritts durch das Gebäude, bis sie an einen versiegelten Flur kamen. »Wir haben es für besser gehalten, die Kinder von ihm fernzuhalten«, erklärte der Rektorschaltkreis und veranlaßte die Wand, zur Seite zu gleiten, so daß der Flur zugänglich wurde.

Mit verwirrter Miene stand dort ein Mann, den Dr. Glaub kannte. Der Arzt empfand sofort, ohne daß er es wollte, ein Gefühl der Genugtuung. Jack Bohlens Schizophrenie hatte ihn also doch noch eingeholt. Bohlen starrte ins Leere; anscheinend befand er sich in einem Zustand stupöser Katatonie, die wahrscheinlich mit Erregungszuständen abwechselte - er wirkte erschöpft. Und noch eine Person war bei ihm, die Dr. Glaub wiedererkannte. Manfred Steiner saß zusammengekauert auf dem Boden, vornübergebeugt, ebenfalls im Zustand fortgeschrittener Entrückung.

Euer Bündnis hat keinem von euch besonders viel Glück gebracht, sagte sich Dr. Glaub.

Mit Hilfe des Rektorschaltkreises verfrachtete er Bohlen und den Steiner-Jungen in seinen Hubschrauber, und kurz darauf befand er sich auf dem Rückflug nach Neu-Israel ins Camp B-G.

Vorgebeugt und die Hände ineinander verschränkt, sagte Bohlen: »Ich möchte Ihnen erklären, was passiert ist.«

»Nur zu«, sagte Dr. Glaub und hatte - endlich - wieder das Gefühl, Herr der Lage zu sein.

Jack Bohlen sagte mit rauher Stimme: »Ich bin zur Schule gekommen, um meinen Sohn abzuholen. Ich hatte Manfred dabei.« Er verrenkte sich auf seinem Sitz, um einen Blick auf den Steiner-Jungen zu werfen, der seine Katalepsie noch nicht überwunden hatte; der Junge lag zusammengerollt auf dem Boden des Hubschraubers, reglos wie eine Plastik. »Manfred ist mir weggelaufen. Und dann - brach die Verbindung zwischen mir und der Schule zusammen. Alles, was ich noch hören konnte, war ...« Er unterbrach sich.

»Folie a deux«, murmelte Glaub. Doppelter Wahnsinn.

Bohlen sagte: »Statt der Schule hörte ich ihn. Ich hörte seine Worte aus dem Mund der Lehrer.« Dann verstummte er.

»Manfred ist eine starke Persönlichkeit«, sagte Dr. Glaub. »Es zehrt an den Kräften, wenn man ihn lange um sich hat. Ich glaube, es wäre für Sie und Ihre Gesundheit das beste, wenn Sie dieses Projekt aufgäben. Ich finde, das Risiko ist zu groß.«

»Ich muß mich heute abend mit Arnie treffen«, flüsterte Bohlen heiser und barsch.

»Und was ist mit Ihnen? Was soll aus Ihnen werden?«

Bohlen schwieg.

»Ich kann Sie behandeln«, sagte Dr. Glaub, »jedenfalls in diesem Stadium Ihres Leidens. Später - bin ich mir da nicht mehr so sicher.«

»Da drin, in dieser verdammten Schule«, sagte Bohlen, »bin ich völlig konfus geworden; ich wußte nicht mehr, was ich tun sollte. Ich bin immer weitergegangen und habe nach jemandem gesucht, mit dem ich noch reden kann. Der nicht so war wie - er.« Er deutete auf den Jungen.

»Für Schizophrene stellt es ein großes Problem dar, sich auf die Schule einzulassen«, sagte Glaub. »Schizophrene wie Sie gehen mit anderen Menschen häufig auf unbewußter Ebene um. Die Lehrmaschinen haben natürlich keine tiefere Persönlichkeit; alles, was sie sind, liegt an der Oberfläche. Da Schizophrene es aber gewohnt sind, beständig zu ignorieren, was an der Oberfläche liegt, und hinter die Dinge zu sehen - erfaßt sie Verzweiflung. Es ist ihnen einfach nicht möglich, sie zu verstehen.«

Bohlen sagte: »Ich habe nichts von dem verstanden, was sie dort sagten; es war immer nur dieses - sinnlose Geplapper, das Manfred von sich gibt. Diese Privatsprache.«

»Sie können von Glück reden, daß Sie da wieder herausgekommen sind«, sagte Dr. Glaub.

»Ich weiß.«

»Und wie soll's jetzt mit Ihnen weitergehen, Bohlen? Fronturlaub? Oder wollen Sie diesen gefährlichen Kontakt weiter aufrechterhalten, mit einem Kind, das ...«

»Ich habe keine Wahl«, sagte Jack Bohlen.

»Ganz recht. Sie haben keine Wahl; Sie müssen sich zurückziehen.«

Bohlen sagte: »Aber ich habe etwas gelernt. Ich habe gelernt, wieviel für mich persönlich auf dem Spiel steht. Jetzt weiß ich, wie es ist, von der Welt abgeschnitten zu sein, isoliert wie Manfred. Ich würde alles tun, um das zu verhindern. Ich habe nicht vor, jetzt einfach aufzugeben.« Mit zitternden Händen holte er sich eine Zigarette aus der Tasche und zündete sie an.

»Ihre Prognose sieht nicht gut aus«, sagte Dr. Glaub.

Jack Bohlen nickte.

»Ihre Schwierigkeiten haben ein wenig nachgelassen, zweifellos, weil Sie dem Schulmilieu entronnen sind. Darf ich offen reden? Niemand kann Ihnen sagen, wie lange Sie noch funktionieren werden, vielleicht zehn Minuten, eine Stunde - womöglich bis heute abend, aber dann könnte es zu einem noch schwereren Kollaps kommen. Die Nachtstunden sind besonders schlimm, nicht wahr?«

»Ja«, sagte Bohlen.

»Ich kann zweierlei für Sie tun. Ich kann Manfred ins Camp B-G zurückbringen, und ich kann Sie heute abend bei Arnie vertreten, als Ihr offizieller Psychiater. So etwas mache ich öfter; das gehört zu meinem Beruf. Geben Sie mir einen Vorschuß, und ich setze Sie bei sich zu Hause ab.«

»Vielleicht nach heute abend«, sagte Bohlen. »Vielleicht können Sie mich später vertreten, wenn es schlimmer werden sollte. Aber heute abend nehme ich Manfred mit zu Arnie Kott.«

Dr. Glaub zuckte die Achseln. Gutem Rat unzugänglich, wurde ihm klar. Ein Anzeichen für Autismus. Man konnte Jack nicht überzeugen; er war schon zu sehr von allem abgeschnitten, als daß er noch hören oder verstehen konnte. Sprache war für ihn ein hohles Ritual geworden, ohne jede Bedeutung.

»Mein Sohn David«, sagte Bohlen plötzlich. »Ich muß noch einmal zur Schule zurück und ihn holen. Und mein Hubschrauber von der Yee Company; der ist auch noch dort.« Seine Augen waren jetzt klarer geworden, als tauchte er aus seinem Zustand wieder auf.

»Gehen Sie nicht mehr zurück«, drängte ihn Dr. Glaub.

»Fliegen Sie mich hin.«

»Dann gehen Sie wenigstens nicht hinunter in die Schule; bleiben Sie auf dem Landeplatz. Ich sorge dafür, daß man Ihren Sohn hinaufschickt - Sie können im Hubschrauber sitzen bleiben, bis er oben ist. Dann wären Sie vielleicht sicher. Ich kümmere mich schon um den Rektorschaltkreis.« Dr. Glaub empfand eine Woge der Sympathie für diesen Mann, der verbissen seine Sache weiterverfolgen wollte.

»Danke«, sagte Bohlen. »Das weiß ich zu schätzen.« Er lächelte dem Arzt kurz zu, und Glaub erwiderte das Lächeln.

*

Arnie Kott jammerte: »Wo bleibt Jack Bohlen?« Es war sechs Uhr abends, und Arnie saß allein in seinem Wohnzimmer und trank einen Old Fashioned, den Helio ihm gemixt hatte und der ein bißchen zu süß war.

Im Augenblick hielt sich sein zahmer Bleichmann in der Küche auf und bereitete ein Essen ganz aus Schwarzmarktwaren vor, alle aus Arnies neuem Vorrat. Der Gedanke, daß er seinen Bedarf jetzt zu Großhandelspreisen decken konnte, bereitete Arnie Wohlbehagen. Was für eine Verbesserung gegenüber dem alten System, bei dem Norbert Steiner den gesamten Profit eingestrichen hatte! Arnie nippte an seinem Drink und wartete auf die Ankunft seiner Gäste. In einer Ecke drang Musik aus Lautsprechern, sanft und einschmeichelnd; sie erfüllte das ganze Zimmer und lullte Gildebruder Kott ein.

Er befand sich noch in dieser tranceartigen Stimmung, als der Lärm des Telefons ihn aufschreckte.

»Arnie, hier spricht Scott.«

»Oh?« sagte Arnie nicht gerade erfreut; er zog es vor, seine Geschäfte über die ausgeklügelte Codierungsanlage zu tätigen. »Schau, ich hab hier heute abend eine sehr wichtige Besprechung, und wenn es nichts Wichtiges ist

...«

»Und ob es wichtig ist«, sagte Scott. »Jemand anderes macht sich auf unserem Gebiet breit.«

Verdutzt sagte Arnie: »Was?« Und dann begriff er, was Scott Temple meinte: »Redest du von der Feinkost?«

»Ja«, sagte Scott. »Und er ist voll bestückt. Er hat einen Landeplatz, Zubringerraketen, eine eigene Route -das muß er von Steiner übernommen haben ...«

»Kein Wort mehr«, unterbrach ihn Arnie. »Komm sofort her!«

»Gebongt.« Das Telefon klickte, als Scott auflegte.

Was sagt man dazu? sinnierte Arnie. Gerade, wenn es richtig gut läuft, kommt so ein blöder Fatzke daher. Und dabei habe ich mich überhaupt nicht darum gerissen, ins Schwarzmarktgeschäft einzusteigen - wieso hat mir der Kerl nicht erzählt, daß er Steiners Laden übernehmen will? Aber jetzt ist es zu spät; ich bin nun mal im Geschäft, und keiner bootet mich mehr aus.

Eine halbe Stunde später tauchte ein völlig aufgewühlter Scott bei ihm auf; er lief in Arnie Kotts Wohnzimmer auf und ab, aß von den Horsd'reuvre und redete wie ein Wasserfall. »Ist ein echter Profi, der Typ; muß schon länger im Geschäft sein - er hat bereits den ganzen Mars abgegrast, war praktisch bei jedem, sogar in den abgelegenen Häusern in diesen gottverdammten Randgebieten, bei den Hausfrauen da draußen, die höchstens mal ein Glas von irgendwas kaufen; er hat aber auch nichts ausgelassen. Da haben wir nicht mehr viel zu melden, und dabei fangen wir gerade erst an, den Karren zum Laufen zu bringen. Zwecklos, die Augen zu verschließen, der Kerl zeigt uns echt, wo's langgeht.«

»Verstehe«, sagte Arnie und strich sich über die kahle Stelle auf seinem Kopf.

»Wir müssen etwas tun, Arnie.«

»Weißt du, wo seine Versorgungsbasis liegt?«

»Nicht genau, wahrscheinlich in den FDR-Bergen; da hatte Norb Steiner seinen Landeplatz. Schauen wir dort zuerst nach.« Scott machte sich darüber eine Notiz.

»Such diesen Landeplatz«, sagte Arnie, »und gib mir Bescheid. Ich werde dann von Lewistown aus ein Polizeischiff losschicken.«

»Dann weiß er doch genau, wer seine Gegner sind.«

»Ganz recht. Ihm soll klar sein, daß er sich mit Arme Kott angelegt hat und nicht mit irgendeinem lächerlichen Großkotz. Ich sorge dafür, daß das Polizeischiff eine taktische A-Bombe oder einen harmloseren Waffentyp abwirft und seinem Landeplatz ein Ende macht. Dann wird der Mistkerl schon kapieren, daß wir wegen seiner Dreistigkeit echt sauer auf ihn sind. Darauf läuft's doch hinaus: Kommt der einfach daher und legt sich mit mir an, wo mir dieses Geschäft ja geradezu aufgedrängt wurde! Das ist schon schlimm genug, ohne daß der Knilch es noch auf die Spitze treibt.«

Scott schrieb alles in sein Notizbuch: ohne daß der Knilch es noch auf die Spitze treibt usw.

»Finde den genauen Standort heraus«, schloß Arnie, »und ich seh zu, daß man sich um ihn kümmert. Ich lass ihn nicht von der Polizei kassieren, bloß seine Ausrüstung; wir wollen doch keinen Ärger mit der UN bekommen. Sicher ist die Sache bald aus der Welt. Und du meinst, es ist nur einer? Nicht vielleicht eine von diesen großen Cliquen zu Hause?«

»Nach dem, was ich gehört habe, ist es nur einer.«

»Schön«, sagte Arnie und schickte Scott fort. Die Tür schloß sich hinter ihm, und Arnie Kott war wieder allein in seinem Wohnzimmer, während sein zahmer Bleichmann sich in der Küche zu schaffen machte.

»Wie sieht's mit der Bouillabaisse aus?« rief Arnie.

»Gut, Herr«, sagte Heliogabalus. »Dürfte ich wohl erfahren, wer heute abend kommt, um das alles zu essen?« Er plagte sich am Herd ab, umgeben von allen möglichen Fischarten sowie reichlich Kräutern und Gewürzen.

Arnie sagte: »Jack Bohlen, Doreen Anderton und so ein autistisches Kind, das Dr. Glaub empfohlen hat und mit dem Jack arbeitet ... Norb Steiners Sohn.«

»Alles niedrige Typen«, murmelte Heliogabalus.

Also genau wie du, dachte Arnie. »Werd bloß mit dem Essen rechtzeitig fertig«, sagte er gereizt; er schloß die Küchentür und kehrte ins Wohnzimmer zurück. Du schwarzer Bastard, du hast mich da reingeritten, dachte er bei sich; du und dein prophetischer Stein, ihr habt mich überhaupt erst auf die Idee gebracht. Und es wäre besser, wenn die Sache klappt, weil ich nämlich alles auf diese eine Karte gesetzt habe. Und außerdem ...

Durch die Lautsprechermusik hindurch erklang ein Läuten.

Arnie öffnete die Haustür und sah sich Doreen gegenüber; sie lächelte ihm herzlich zu, während sie ins Wohnzimmer stöckelte, einen Pelz um die Schulter. »Hey. Was riecht hier denn so gut?«

»Irgendwas Fischiges.« Arnie nahm ihr den Umhang ab; ihre Schultern kamen zum Vorschein, glatt, braungebrannt, leicht sommersprossig und nackt. »Nein«, sagte er gleich, »das ist heute keiner von den Abenden; heute geht's ums Geschäft. Geh rein und zieh dir eine vernünftige Bluse an.« Er bugsierte sie zum Schlafzimmer. »Nächstes Mal.«

Als er in der Schlafzimmertür stand und ihr beim Umkleiden zusah, dachte er: Was für ein tolles Rasseweib ich da doch habe. Als sie sorgfältig das trägerlose Kleid aufs Bett legte, dachte er: Das hat sie von mir. Er erinnerte sich noch an das Model, das es im Warenhaus vorgeführt hatte. Aber Doreen stand es erheblich besser; sie hatte dieses volle, flammendrote Haar, das ihr wie eine Feuerkaskade den Nacken hinabwallte.

»Arnie«, sagte sie und wandte sich ihm zu, während sie ihre Bluse zuknöpfte, »sei heute abend nett zu Jack Bohlen.«

»Ach zum Teufel«, protestierte er, »wie kommst du eigentlich darauf? Alles, was ich vom guten alten Jack hören will, sind Resultate; ich finde, er hat mehr als genug Zeit gehabt - es reicht!«

Doreen wiederholte: »Sei nett, Arnie. Sonst verzeihe ich dir das nie.«

Murrend ging er davon, zur Anrichte im Wohnzimmer, und begann ihr einen Drink zu machen. »Was willst du? Ich hab eine Flasche von diesem zehn Jahre alten irischen Whisky; der ist prima.«

»Dann gib mir davon«, sagte Doreen und tauchte aus dem Schlafzimmer auf. Sie setzte sich auf das Sofa, schlug die Beine übereinander und strich sich den Rock glatt.

»Dir steht einfach alles«, sagte Arnie.

»Danke.«

»Hör mal, wie du weißt, hat das, was du da mit Bohlen treibst, meine Billigung. Aber das ist rein oberflächlich, klar? Tief drin sparst du dich für mich auf.«

Spöttisch sagte Doreen: »Was meinst du mit >tief drin

»Warum an mich?«

»Weil du der Totemgott des vergeudeten Wassers bist.« Sie lächelte ihn an. »Ein kleiner Scherz, mehr nicht; ich mußte gerade an dein Dampfbad mit den gurgelnden Rinnsalen denken.«

»Ja«, sagte Arnie. »Weißt du noch, als wir einmal spät abends hin sind, und ich hab's mit meinem Schlüssel aufgeschlossen, und wir gingen hinein wie ein paar ungezogene Kinder ... schlichen uns rein, ließen die Warmwasserduschen laufen, bis der ganze Raum voller Dampf war. Und dann zogen wir uns aus - wir müssen total besoffen gewesen sein - und liefen nackt im Dampf herum und spielten Verstecken ...« Er grinste. »Und dann hab ich dich gefangen, genau da, wo die Bank ist, wo einen sonst die Masseuse durchwalkt, daß einem Hören und Sehen vergeht. Und auf der Bank hatten wir doch wirklich jede Menge Spaß.«

»Absolut hemmungslos«, erinnerte sich Doreen.

»In jener Nacht kam ich mir vor, als wäre ich wieder neunzehn«, sagte Arnie. »Für einen alten Knacker bin ich ja noch recht rüstig - ich meine, ich kann immer noch ganz gut, wenn du verstehst, was ich meine.« Er ging im Zimmer auf und ab. »Himmelherrgott, wann kommt denn endlich dieser Bohlen?«

Das Telefon klingelte.

»Herr«, rief Heliogabalus aus der Küche. »Ich kann mich nicht darum kümmern; bitten gehen Sie ran.«

Arnie sagte zu Doreen: »Wenn das Bohlen ist, der sagt, daß er's nicht schafft ...« Er machte eine ärgerliche, halsabschneidende Geste und nahm den Hörer ab.

»Arnie«, erklang eine männliche Stimme. »Tut mir leid, wenn ich störe; hier ist Dr. Glaub.«

Erleichtert sagte Arnie: »Hey, Doc Glaub.« Zu Doreen sagte er: »Es ist nicht Bohlen.«

Dr. Glaub sagte: »Arnie, ich weiß, daß Sie heute abend Jack Bohlen erwarten - er ist doch noch nicht da, oder?«

»Nö.«

Zögernd sagte Glaub: »Arnie, zufällig bin ich heute eine Weile mit Jack zusammen gewesen, und obwohl ...«

»Was ist, hat er wieder einen schizophrenen Schub gehabt?« Instinktiv wußte Arnie, daß es so war; deshalb der Anruf des Arztes. »Okay«, sagte Arnie, »er steht unter Stress, unter Zeitdruck; zugegeben. Aber das tun wir alle. Wenn ich ihn entschuldigen soll wie ein Kind, das zu krank ist, um zur Schule zu gehen, muß ich Sie enttäuschen. Das läuft nicht. Bohlen hat gewußt, worauf er sich einläßt. Wenn er mir heute abend keine Resultate bringt, mache ich ihn dermaßen fertig, daß er sein Leben lang hier auf dem Mars nicht mal mehr einen Toaster repariert.«

Dr. Glaub schwieg und sagte dann: »Es sind Leute wie Sie mit Ihren grausamen Ansprüchen, die überhaupt erst Schizophrenie hervorrufen.«

»Na und? Ich habe gewisse Maßstäbe; an denen muß er sich messen lassen, das ist alles. Sehr strenge Maßstäbe, ich weiß.«

»Er hat auch strenge Maßstäbe.«

Arnie sagte: »Nicht so streng wie meine. Also, gibt es sonst noch was, Doc Glaub?«

»Nein«, sagte Glaub. »Außer ...« Seine Stimme bebte. »Nichts weiter. Danke für Ihre Zeit.«

»Danke für den Anruf.« Arnie legte auf. »Dieser schwanzlose Hurensohn; er ist zu feige zu sagen, was er denkt.« Angeekelt entfernte er sich vom Fon. »Hat Angst, für das, was er glaubt, auch einzutreten; für so einen habe ich nur Verachtung übrig. Wieso ruft er überhaupt an, wenn ihm der Mumm fehlt?«

Doreen sagte: »Erstaunlich, daß er überhaupt angerufen hat. Sich hervorwagte. Was hat er über Jack gesagt?« Ihr Blick verdüsterte sich vor Sorge; sie erhob sich und ging auf Arnie zu, legte ihm die Hand auf den Arm, damit er nicht mehr umherlief. »Sag's mir.«

»Ach, er meinte nur, daß er heute eine Weile mit Jack zusammen war; ich nehme an, Bohlen hatte eine Art Anfall, sein Leiden, weißt du.«

»Kommt er?«

»Herrje, ich weiß nicht. Wieso muß eigentlich immer alles so kompliziert sein? Ärzte rufen an, du schnappst wie ein geprügelter Hund nach mir.« Grollend und ablehnend befreite er sich von ihr und schob sie zur Seite. »Und dann dieser bescheuerte Nigger in der Küche; mein Gott! Braut er da drinnen einen Hexentrunk? Das dauert jetzt schon Stunden!«

Mit leiser, aber beherrschter Stimme sagte Doreen: »Arnie, hör zu. Wenn du Jack zu hart anpackst und ihm wehtust, werde ich nie mehr mit dir schlafen. Ich schwör's.«

»Alle Welt beschützt ihn, kein Wunder, daß er krank ist.«

»Er ist ein guter Kerl.«

»Er sollte lieber auch ein guter Techniker sein; er sollte lieber den Geist dieses Kindes wie eine Straßenkarte vor mir ausbreiten, damit ich drin lesen kann.«

Sie sahen einander an.

Kopfschüttelnd wandte Doreen sich ab, nahm ihren Drink und entfernte sich, mit dem Rücken zu Arnie.

»Okay. Du mußt selbst wissen, was du tust. Du kannst ein Dutzend Frauen haben, die genau so gut im Bett sind wie ich; was bin ich schon für den großen Arnie Kott?« Ihre Stimme klang traurig und verbittert.

Er folgte ihr unbeholfen. »Verdammt, Dor, du bist einmalig, ich schwör's, du bist unglaublich, was für einen irre weichen Rücken du zum Beispiel hast, das Kleid, das du gerade anhattest, darin konnte man's deutlich sehen.« Er streichelte ihren Nacken. »Das war der Hammer, selbst nach irdischen Maßstäben.«

An der Tür läutete es.

»Das ist er«, sagte Arnie und ging sofort hin.

Er öffnete die Tür, und Jack Bohlen stand vor ihm, sichtlich erschöpft. Bei ihm war ein Junge, der unaufhörlich auf Zehenspitzen um ihn herumtänzelte, von einer Seite zur anderen, mit leuchtenden Augen, die alles in sich aufnahmen, ohne sich auf etwas Bestimmtes zu konzentrieren. Plötzlich zwängte der Junge sich an Arnie vorbei ins Wohnzimmer, so daß Arnie ihn aus den Augen verlor.

Verwirrt sagte Arnie zu Jack Bohlen: »Treten Sie ein.«

»Danke, Arnie«, sagte Jack und tat's. Arnie schloß die Tür, und die beiden sahen sich nach Manfred um.

»Er ist in die Küche gegangen«, sagte Doreen.

Und richtig, als Arnie die Küchentür öffnete, stand da der Junge und beobachtete ganz versunken Heliogabalus. »Was ist?« fragte Arnie den Jungen. »Hast du noch nie einen Bleichmann gesehen?«

Der Junge schwieg.

»Was für ein Dessert machst du da, Helio?« fragte Arnie.

»Auflauf«, sagte Heliogabalus. »Ein philippinisches Gericht, Eierkuchen mit Karamelsauce. Aus Mrs. Rombauers Kochbuch.«

»Manfred«, sagte Arnie, »das hier ist Heliogabalus.«

Doreen und Jack standen in der Küchentür und schauten zu. Der Bleichmann schien den Jungen tief zu beeindrucken, fiel Arnie auf. Wie gebannt verfolgte er mit den Augen jede Bewegung, die Helio machte. Ungemein sorgfältig goß Helio die schaumige Masse in Formen, die er ins Gefrierfach des Kühlschranks stellte.

Fast scheu sagte Manfred: »Hallo.«

»He«, sagte Arnie. »Er hat doch wahrhaftig ein Wort von sich gegeben.«

Helio sagte ärgerlich: »Ich muß Sie alle bitten, die Küche zu verlassen. Ihre Anwesenheit macht mich befangen, so kann ich nicht arbeiten.« Er starrte sie an, bis sie einer nach dem anderen die Küche verließen. Die Tür bekam einen Stups, fiel hinter ihnen ins Schloß und schnitt ihnen den Blick auf den arbeitenden Helio ab.

»Er ist schon ein merkwürdiger Kauz«, entschuldigte sich Arnie. »Aber kochen kann er.«

Jack sagte zu Doreen: »Das ist das erste Mal, daß ich Manfred reden höre.« Er wirkte beeindruckt, ging gedankenverloren zum Fenster und blieb davor stehen, ignorierte alle anderen.

Arnie gesellte sich zu ihm und sagte: »Was möchten Sie trinken?«

»Bourbon mit Wasser.«

»Ich mache Ihnen einen«, sagte Arnie. »Helio kann ich mit solchen Lappalien nicht behelligen.« Er lachte, aber Jack nicht.

Eine Zeitlang saßen die drei über ihren Drinks. Manfred, dem man einige alte Zeitschriften zu lesen gegeben hatte, lag auf dem Teppich ausgestreckt und schien ihre Anwesenheit auch diesmal nicht zu bemerken.

»Wartet nur ab, bis ihr das Essen zu kosten bekommt«, sagte Arnie.

»Riecht wunderbar«, sagte Doreen.

»Alles Schwarzmarkt«, sagte Arnie.

Doreen und Jack nickten.

»Das ist ein wichtiger Abend«, sagte Arnie.

Wieder nickten sie.

Arnie erhob seinen Drink und sagte: »Auf die Kommunikation. Ohne die es verdammt noch mal nichts gäbe.«

Düster sagte Jack: »Darauf trinke ich, Arnie.« Aber er hatte seinen Drink schon geleert; er starrte ins leere Glas, sichtlich verlegen.

»Ich hole Ihnen einen anderen«, sagte Arnie und nahm es ihm aus der Hand.

Als er Jack vor der Anrichte einen neuen Drink machte, sah er, daß Manfred die Zeitschriften inzwischen satt hatte; der Junge war wieder auf den Beinen und streifte durchs Zimmer. Vielleicht möchte er etwas ausschneiden und aufkleben, befand Arnie. Er gab Jack seinen neuen Drink und ging dann in die Küche.

»Helio, besorg ein wenig Leim und eine Schere für das Kind, und einige Bögen Papier, damit es etwas aufkleben kann.«

Helio war mit dem Auflauf fertig; seine Arbeit war anscheinend getan, und er hatte sich mit einer Nummer von Life hingesetzt. Widerstrebend erhob er sich und machte sich auf die Suche nach Leim, Schere und Papier.

»Komisches Kind, nicht?« sagte Arnie zu Helio, als der Bleichmann zurückkam. »Was hältst du von ihm? Dasselbe wie ich?«

»Kinder sind alle gleich«, sagte Helio und ging aus der Küche, ließ Arnie einfach stehen.

Arnie folgte ihm. »Bald gibt's was zu essen«, verkündete er. »Hat sich schon jeder vom Danish-blue-Horsd'reuvre bedient? Braucht noch einer was?«

Das Fon klingelte. Doreen, die am nächsten stand, ging ran. Sie reichte den Hörer Arnie. »Für dich. Ein Mann.«

Es war wieder Dr. Glaub. »Mr. Kott«, sagte Dr. Glaub mit dünner, unnatürlicher Stimme, »es ist für meine Integrität unerläßlich, meine Patienten zu schützen. Dieses tyrannische Spiel können auch zwei spielen. Wie Sie wissen, befindet sich Ihr uneheliches Kind Sam Esterhazy in Camp B-G, und ich bin dort der Leiter.«

Arnie stöhnte auf.

»Wenn Sie Jack Bohlen nicht anständig behandeln«, fuhr Glaub fort, »wenn Sie Ihre unmenschlichen, grausamen, aggressiven und despotischen Taktiken bei ihm anwenden, werde ich Sam Esterhazy aufgrund des Umstands, daß er geistig zurückgeblieben ist, aus Camp B-G entlassen. Haben Sie verstanden?«

»Du meine Güte, jedes einzelne Wort«, stöhnte Arnie. »Wir sprechen morgen darüber. Gehn Sie zu Bett oder machen Sie sonstwas. Werfen Sie eine Pille ein. Nur lassen Sie mich jetzt in Ruhe.« Er schmiß den Hörer auf die Gabel.

Das Tonband war abgelaufen; die Musik hatte schon vor langer Zeit aufgehört, und Arnie ging zu seiner Sammlung und griff sich eine beliebige Schachtel. Dieser Quacksalber, sagte er sich. Der kann noch was erleben, aber nicht jetzt. Keine Zeit. Bestimmt hat er auch Dreck am Stecken; irgendeine Leiche wird er schon im Keller haben.

Er prüfte die Schachtel und las:

W. A. Mozart, Symphonie Nr. 40 g-moll, KV 550

»Ich liebe Mozart«, sagte er zu Doreen, Jack Bohlen und dem Steiner-Jungen. »Ich lege einmal dieses Band ein.« Er nahm die Spule aus der Schachtel und setzte sie auf den Transportmechanismus; er fingerte an den Knöpfen des Verstärkers herum, bis er hörte, wie das Band knisternd über die Tonköpfe lief. »Bruno Walter dirigiert«, verkündete er seinen Gästen. »Eine Rarität aus der goldenen Zeit der Schallplatte.«

Ein schauerliches Kreischen und Kratzen drang aus den Lautsprechern. Lärm wie bei den letzten Zuckungen eines Sterbenden, dachte Arnie entsetzt. Er lief hinüber und stellte das Bandgerät ab.

*

Manfred Steiner saß auf dem Teppich und schnitt gerade mit der Schere Bilder aus Zeitschriften aus, die er dann in neuer Zusammensetzung wieder aufklebte, als er den Lärm hörte und hochschaute. Er sah, wie Mr. Kott zum Tonbandgerät lief, um es abzustellen. Mr. Kott verschwamm dabei regelrecht, fiel Manfred auf. Man konnte ihn kaum noch erkennen, so schnell bewegte er sich; es schien fast, als wäre es ihm irgendwie gelungen, aus dem Zimmer zu verschwinden und an anderer Stelle wieder aufzutauchen. Der Junge bekam es mit der Angst zu tun.

Auch der Lärm machte ihm Angst. Er sah zum Sofa hinüber, auf dem Mr. Bohlen saß, um festzustellen, ob er ebenfalls unruhig war. Aber Mr. Bohlen blieb weiter neben Doreen Anderton sitzen, auf eine Art mit ihr verbunden, daß der Junge sich vor Sorge fast wand. Wie konnten zwei Menschen es nur aushalten, einander so nahe zu sein? Für Manfred war das, als wären ihre separaten Persönlichkeiten miteinander verschmolzen, und die Vorstellung, daß so ein Kuddelmuddel überhaupt möglich war, entsetzte ihn. Er tat so, als sähe er es nicht; er schaute an ihnen vorbei, auf die sichere, unverfälschte Wand.

Mr. Kotts Stimme brach über den Jungen herein, rauhe und schroffe Töne, die er nicht verstand. Dann sprach Doreen Anderton, und dann Jack Bohlen; und jetzt schwatzten alle so chaotisch durcheinander, daß der Junge sich die Ohren zuhielt. Urplötzlich schoß Mr. Kott durchs Zimmer und verschwand endgültig.

Wo war er nur hin? Ganz gleich, in welche Richtung der Junge blickte, er konnte ihn nicht finden. Er fing an zu zittern und fragte sich, was nun geschehen würde. Und dann sah er zu seiner Verblüffung, daß Mr. Kott in dem Zimmer, in dem die Lebensmittel waren, wiederaufgetaucht war; er plauderte dort mit der schwarzen Gestalt.

Die schwarze Gestalt schwebte in anmutigem Gleichmaß von ihrem Platz oben auf dem hohen Stuhl herab, floß Schritt für Schritt durchs Zimmer und holte ein Glas aus dem Wandschrank. Voll Ehrfurcht vor den Bewegungen des Mannes sah Manfred ihn geradeheraus an, und im selben Moment sah der schwarze Mann zu ihm herüber, so daß ihre Blicke sich trafen.

»Du mußt sterben«, sagte der schwarze Mann mit einer Stimme wie aus weiter Ferne. »Dann wirst du wiedergeboren. Begreifst du das, mein Kind? So wie du jetzt bist, hast du nichts vom Leben, denn etwas ist schiefgegangen, und du kannst weder sehen, hören noch fühlen. Niemand kann dir helfen. Siehst du das ein, mein Kind?«

»Ja«, sagte Manfred.

Die schwarze Gestalt glitt zur Spüle hinüber, schüttete etwas Pulver und Wasser ins Glas und reichte es Mr. Kott, der den Inhalt austrank und dabei unaufhörlich weitersprach. Wie schön die schwarze Gestalt war. Warum kann ich nicht auch so sein? dachte Manfred. Niemand sonst sah ihr ähnlich.

Sein flüchtiger Blick, seine Verbindung mit diesem schattengleichen Mann, wurde abgeschnitten. Doreen Anderton war in die Küche gekommen und zwischen sie getreten. Sie begann in schrillem Ton zu reden. Wieder hielt Manfred sich die Ohren zu, aber er konnte sich dem Lärm nicht entziehen.

Er sah voraus, um zu fliehen. Er entkam dem Krach und dem grausamen, verschwommenen Kommen und Gehen.

Vor ihm erstreckte sich ein Bergpfad. Der Himmel über ihm war schwer und rot, und dann sah er die Punkte: Hunderte riesiger Flecken, die größer wurden und näher kamen. Dinge regneten davon herab, Menschen mit ungeheuerlichen Gedanken. Die Menschen fielen auf den Boden und rasten im Kreis umher. Sie zogen Linien, und dann landeten große, schneckenähnliche Geschöpfe, eines nach dem anderen, vollkommen hirnlos, und fingen an zu graben.

Er sah ein Loch, so groß wie die Welt; die Erde verschwand darin und wurde schwarz, leer, ein Nichts ... Nacheinander sprangen die Menschen in das Loch hinein, bis niemand mehr übrig war. Er war allein mit dem schweigenden Weltenloch.

Er spähte über den Rand des Lochs hinab. Auf dem Grund, im Nichts, räkelte sich eine gekrümmte Gestalt, als wollte sie erlöst werden. Sie wand sich empor, wurde breiter, nahm eckige Formen und Farbe an.

Ich bin in dir, dachte Manfred. Wieder.

Eine Stimme sagte: »Er ist schon länger als alle anderen hier im Am-Web. Er war schon hier, als der Rest von uns kam. Er ist unglaublich alt.«

»Gefällt es ihm?«

»Wer weiß? Er kann weder allein gehen noch sich ernähren. Die Unterlagen gingen im Feuer verloren. Womöglich ist er zweihundert Jahre alt. Sie haben ihm die Gliedmaßen amputiert und natürlich bei seinem Eintritt hier den größten Teil der inneren Organe herausgenommen. Am meisten beklagt er sich über Heuschnupfen.«

Nein, dachte Manfred. Das halte ich nicht aus; meine Nase brennt. Ich kriege keine Luft. Ist das hier der Beginn des Lebens, das mir die schwarze Schattengestalt versprochen hat? Ein neuer Anfang, bei dem ich anders sein werde und mir jemand helfen kann?

Bitte helft mir, sagte er. Ich brauche jemanden, irgendwen. Ich kann nicht ewig hier warten; es muß bald geschehen oder gar nicht. Wenn nichts geschieht, dann werde ich wachsen und zum Weltenloch werden, und das Loch wird alles auffressen.

Das Loch unter dem Am-Web wartete darauf, wie alles zu werden, das oben einherging oder dort jemals einhergegangen war; es wartete darauf, alles und jedes zu sein. Und nur Manfred Steiner hielt es davon zurück.

*

Als Jack Bohlen das leere Glas absetzte, hatte er den Eindruck, sein ganzer Körper zerfiele in kleine Teile. »Wir haben nichts mehr zu picheln«, konnte er noch irgendwie zu dem Mädchen neben sich sagen.

Doreen flüsterte ihm rasch zu: »Jack, erinnere dich daran, daß du Freunde hast. Ich bin dein Freund, Dr. Glaub hat angerufen - er ist dein Freund.« Sie sah ihn besorgt an. »Kommst du wieder in Ordnung?«

»Herrgott noch mal«, brüllte Arnie, »ich will hören, was Sie erreicht haben, Jack. Können Sie mir denn gar nichts sagen?« Neiderfüllt blickte er zu ihnen hinüber; Doreen rückte kaum merklich von Jack ab. »Müßt ihr beiden die ganze Zeit dasitzen, tuscheln und knutschen? Mir ist schon richtig schlecht.« Darauf ließ er die beiden allein und ging in die Küche.

Doreen schmiegte sich an Jack, bis ihre Lippen fast seine berührten, und flüsterte: »Ich liebe dich.«

Er versuchte, sie anzulächeln. Aber sein Gesicht war wie erstarrt; es gab einfach nicht nach. »Danke«, sagte er, weil er sie wissen lassen wollte, wieviel ihm das bedeutete. Er küßte sie auf den Mund. Ihre Lippen waren warm, ganz weich vor Liebe; sie schenkten ihm alles, was sie hatten, und hielten nichts zurück.

Mit Tränen in den Augen sagte sie: »Ich spüre, wie du immer weiter in dich selbst abgleitest.«

»Nein«, sagte er. »Mir geht's prima.« Aber das stimmte nicht; er wußte es.

»Kwatsch kwatsch«, sagte das Mädchen.

Jack schloß die Augen. Ich kann nicht dagegen an, dachte er. Es schlägt endgültig über mir zusammen.

Als er die Augen öffnete, merkte er, daß Doreen vom Sofa aufgestanden war und in die Küche ging. Stimmen, ihre und Arnies, wehten zu ihm herüber.

»Kwatsch kwatsch kwatsch.«

»Kwatsch.«

Jack wandte sich dem Jungen zu, der immer noch auf dem Teppich saß und aus Zeitschriften ausschnitt, und sagte: »Kannst du mich hören? Kannst du mich verstehen?«

Manfred sah kurz hoch und lächelte.

»Sprich mit mir«, sagte Jack. »Hilf mir.«

Es kam keine Antwort.

Jack rappelte sich auf und ging zum Bandgerät; mit dem Rücken zum Zimmer begann er es zu inspizieren. Wäre ich jetzt noch am Leben, fragte er sich, wenn ich auf Dr. Glaub gehört hätte? Wenn ich nicht hergekommen wäre, zugelassen hätte, daß er mich vertritt? Vermutlich nicht. Wie beim vorigen Anfall: Es wäre auf jeden Fall passiert. Es ist ein Prozeß, der sich entfalten muß; er mußte bis zum bitteren Ende ablaufen.

Ehe er sich versah, stand er plötzlich auf einem schwarzen, leeren Fußweg. Das Zimmer, die Leute um ihn herum, waren verschwunden; er war allein.

Gebäude, graue, hochaufragende Fassaden zu beiden Seiten. War das hier das Am-Web? Er sah sich voller Panik um. Lichter da und dort; er war in einer Stadt, und nun wurde ihm klar, daß es Lewistown war. Er ging los.

»Warte«, rief eine Stimme, eine Frauenstimme.

Aus dem Eingang eines Gebäudes kam eine Frau im Pelzmantel geeilt; ihre Absätze klapperten auf dem Pflaster und ließen Echos erschallen. Jack blieb stehen.

»So schlecht liefs doch gar nicht«, sagte sie und holte ihn außer Atem ein. »Gott sei Dank ist es jetzt vorbei; du warst so angespannt - ich hab's den ganzen Abend gemerkt. Arnie hat sich über die Neuigkeiten wegen der Genossenschaft furchtbar aufgeregt; sie sind so reich und mächtig, daß er sich dagegen ganz klein vorkommt.«

Sie gingen zusammen ohne bestimmtes Ziel weiter, das Mädchen hatte sich bei ihm untergehakt.

»Und er hat gesagt«, sagte sie, »daß er dich als Mechaniker behalten will; ich bin überzeugt, er meint's ernst. Aber er ist sauer, Jack. Durch und durch. Ich weiß das; ich kann's beurteilen.«

Er versuchte sich zu erinnern, doch es klappte nicht.

»Sag doch was«, flehte Doreen.

Nach einer kleinen Weile sagte er: »Ihn zum Feind zu haben - wäre schlimm.«

»Ich fürchte, da hast du recht.« Sie sah zu ihm hoch. »Wollen wir zu mir gehen? Oder möchtest du noch auf einen Drink irgendwo hin?«

»Laß uns einfach weitergehen«, sagte Jack Bohlen.

»Liebst du mich noch?«

»Natürlich«, sagte er.

»Hast du Angst vor Arnie? Könnte sein, daß er versucht, sich an dir zu rächen, weil - er begreift das mit deinem Vater nicht; er meint, daß du ihn gewissermaßen ...« Sie schüttelte den Kopf. »Jack, er wird es dir heimzahlen wollen; er gibt dir die Schuld. Er ist so unglaublich primitiv.«

»Ja«, sagte Jack.

»Sag etwas«, sagte Doreen. »Du bist wie aus Holz, als wärst du gar nicht lebendig. War es denn so furchtbar? Doch wohl nicht, oder? Du hast dich offenbar sehr zusammengerissen.«

Mühsam sagte er: »Ich - habe keine Angst vor ihm.«

»Würdest du meinetwegen deine Frau verlassen, Jack? Du hast gesagt, du liebst mich. Wir könnten doch wieder zur Erde auswandern oder so.«

Sie gingen zusammen weiter.

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