Acht

David Bohlen wußte, daß sein Großvater Leo eine Menge Geld besaß und nichts dagegen hatte, es auszugeben. Zum Beispiel war der alte Mann im strengen Anzug mit Weste und goldenen Manschettenknöpfen - es war der Anzug, nach dem der Junge Ausschau gehalten hatte, als die Passagiere auf der Rampe erschienen waren -, gleich nach Verlassen des Raketenterminals an einem Blumenstand stehengeblieben und hatte für die Mutter des Jungen einen Strauß großer blauer Erdenblumen gekauft. Und David wollte er auch etwas kaufen, aber sie hatten kein Spielzeug, nur Süßigkeiten, die Großvater ihm dann eben kaufte: eine kiloschwere Schachtel.

Unter dem Arm trug Großvater Leo einen weißen, von einer Schnur zusammengehaltenen Karton: Er hatte dem Personal des Raketenschiffs nicht erlaubt, ihn zum übrigen Gepäck zu tun. Als sie das Terminal verlassen hatten und im Hubschrauber seines Dads saßen, öffnete Großvater Leo das Paket. Es war voll mit jüdischem Brot, eingelegten Gurken und hauchdünn geschnittenen Cornedbeefscheiben, die in eine Frischhaltefolie gewickelt waren, im ganzen drei Pfund Corned Beef.

»Meine Güte«, rief Jack erfreut. »Den ganzen Weg von New York. Das kriegt man hier draußen in den Kolonien nicht, Dad.«

»Weiß ich, Jack«, sagte Großvater Leo. »Ein jüdischer Bekannter sagte mir, wo man es bekommt, und ich mag es so sehr, daß ich einfach wußte, du würdest es auch mögen, wo wir beide doch den gleichen Geschmack haben.« Er kicherte vor Freude, als er sah, wie glücklich er sie gemacht hatte. »Sobald wir zu Hause sind, mach ich euch ein Sandwich. Als allererstes.«

Der Hubschrauber stieg jetzt über dem RaketenschiffTerminal auf und flog weiter über die dunkle Wüste.

»Wie ist eigentlich euer Wetter hier?« fragte Großvater Leo.

»Sehr stürmisch«, sagte Jack. »Hat uns vor knapp einer Woche praktisch begraben. Wir mußten uns Maschinen leihen, um alles wieder freizuschaufeln.«

»Schlimm«, sagte Großvater Leo. »Du solltest diese Betonwand hochziehen, die du in deinen Briefen erwähnt hast.«

»Hier draußen etwas bauen zu lassen kostet ein Vermögen«, sagte Silvia, »das ist nicht so wie drüben auf der Erde.«

»Weiß ich«, sagte Großvater Leo, »aber man muß seine Investitionen schützen - dieses Haus ist viel wert, und das Land; ihr habt Wasser in der Nähe, vergeßt das nicht.«

»Wie könnten wir das vergessen?« sagte Silvia. »Großer Gott, ohne den Graben müßten wir sterben.«

»Hat man den Kanal dieses Jahr verbreitert?« fragte Großvater Leo.

»Wie gehabt«, sagte Jack.

David meldete sich zu Wort. »Sie haben ihn ausgebaggert, Großvater Leo. Ich hab zugesehen; die UNLeute haben eine große Maschine benutzt, die den Sand vom Grund gesaugt hat, und jetzt ist das Wasser viel sauberer. Also hat mein Dad das Filtersystem abgeschaltet, und wenn jetzt der Schiffer kommt und das Tor für uns aufmacht, können wir so schnell pumpen, daß mein Dad mir erlaubt hat, einen neuen Gemüsegarten anzulegen, den ich mit dem überlaufenden Wasser fluten kann, und ich hab Mais und Kürbisse und ein paar Karotten, aber irgend etwas hat die ganzen Rüben gefressen. Gestern abend gab's bei uns Mais aus meinem Garten. Wir haben einen Zaun gezogen, um zu verhindern, daß die kleinen Tiere reinkommen - wie heißen sie noch gleich, Dad?«

»Sandratten, Leo«, sagte Jack. »Kaum konnte man in Davids Garten was ernten, da zogen die Sandratten ein. Sie sind irre lang.« Er hielt seine Hände hoch, um es zu zeigen. »Harmlos, nur daß sie in zehn Minuten ihr eigenes Körpergewicht verdrücken können. Die älteren Siedler haben uns gewarnt, aber wir mußten es einfach probieren.«

»Prima Sache, wenn man sein Gemüse selber anbaut«, sagte Großvater Leo. »Ja, du hast mir von dem Garten geschrieben, David. Morgen sehe ich ihn mir gern an. Heute abend bin ich zu müde dafür; die lange Reise, die ich hinter mir habe, selbst mit den neuen Schiffen, die sie jetzt haben - wie nennen sie die? - Lichtschnell. Das sind sie aber eigentlich gar nicht; dauert immer noch eine ganze Weile, das Starten und Landen, und dann die Erschütterungen. Neben mir saß eine Frau; sie hatte furchtbare Angst, dachte, daß wir verbrennen, so heiß wurde es da drin, trotz Klimaanlage. Ich verstehe nicht, warum sie es so heiß werden lassen, wo der Flug doch teuer genug ist. Aber das ist schon eine große Verbesserung, verglichen mit ... Erinnert ihr euch noch an das Schiff, mit dem ihr vor zwei Jahren ausgewandert seid? Zwei Monate!«

Jack sagte: »Leo, du hast doch deine Sauerstoffmaske mitgebracht, hoffe ich. Unsere ist inzwischen zu alt und unzuverlässig.«

»Sicher, ich hab sie in meinem braunen Koffer. Macht euch um mich keine Sorgen, ich vertrage diese Atmosphäre - hab eine neue Herztablette bekommen, um einiges besser. Drüben auf der Erde wird jetzt alles besser. Klar ist es da überfüllt. Aber immer mehr Menschen wollen hierher auswandern - glaubt mir. Der Smog drüben auf der Erde ist so schlimm, daß er einen fast umbringt.«

David unterbrach ihn: »Großvater Leo, der Mann von nebenan, Mr. Steiner, er hat sich das Leben genommen, und jetzt ist sein Sohn Manfred aus dem Camp für abnorme Kinder zurück, und mein Dad baut einen Apparat, damit er mit uns sprechen kann.«

»Schau an«, sagte Großvater Leo freundlich. Er strahlte den Jungen an. »Das ist ja interessant, David. Wie alt ist der Junge denn?«

»Zehn«, sagte David, »aber er kann noch kein bißchen mit uns reden. Na, das wird mein Dad mit seinem Apparat schon hinkriegen, und weißt du, für wen mein Dad gerade arbeitet? Für Mr. Kott, der die Kanalarbeitergilde und ihre Siedlung leitet; das ist ein ungeheuer wichtiger Mann.«

»Ich glaube, ich hab von ihm gehört«, sagte Großvater Leo und zwinkerte Jack zu, was der Junge bemerkte.

Jack sagte zu seinem Vater: »Dad, hast du immer noch vor, in den FDR-Bergen Land zu erwerben?«

»Oh, gewiß«, sagte Großvater Leo. »Da kannst du sicher sein, Jack. Natürlich bin ich aus familiären Gründen hierhergereist, um euch alle wiederzusehen, aber wenn es nicht auch ums Geschäft ginge, hätte ich mir nicht so lange frei nehmen können.«

»Ich hatte gehofft, du hättest es aufgegeben«, sagte Jack.

»Also, Jack«, sagte Großvater Leo, »mach dir darüber mal keine Sorgen; überlaß ruhig mir, ob das richtig ist; ich bin jetzt schon viele Jahre im Maklergeschäft. Paß auf. Du fliegst mich zu diesem Gebirgszug raus, damit ich mir aus erster Hand einen Eindruck verschaffen kann, ja? Ich hab eine Menge Landkarten; aber ich möchte es mit eigenen Augen sehen.«

»Du wirst enttäuscht sein, wenn du es siehst«, sagte Silvia. »Es ist so trostlos dort, kein Wasser, kaum Lebewesen.«

»Zerbrechen wir uns darüber jetzt nicht den Kopf«, sagte Großvater Leo und lächelte David zu. Er knuffte den Jungen in die Rippen. »Tut gut, hier draußen so einen kräftigen, gesunden jungen Mann zu sehen, weit weg von der verschmutzten Luft auf der Erde.«

»Nun, der Mars hat auch seine Nachteile«, sagte Silvia. »Versuch mal, für eine Weile mit schlechtem oder gar keinem Wasser auszukommen, dann wirst du schon sehen.«

»Ich weiß«, sagte Großvater Leo nüchtern. »Wer hier draußen leben will, muß wirklich Schneid haben. Aber es ist gesund; vergeßt das nicht.«

Unter ihnen glitzerten jetzt die Lichter von Bunchewood Park. Jack drehte der Hubschrauber nach Norden, Richtung Heimat.

*

Während er den Hubschrauber der Yee Company steuerte, warf Jack Bohlen seinem Vater einen kurzen Blick zu und staunte darüber, wie wenig er gealtert war, wie kräftig und gut beieinander er für einen Mann Ende Siebzig wirkte. Und immer noch den ganzen Tag am Ackern, das Spekulieren machte ihm soviel Spaß wie eh und je.

Aber auch wenn es nicht danach aussah, er war sicher, daß die lange Reise von der Erde Leo stärker erschöpft hatte, als er zugab. Nun ja, jetzt war es nicht mehr weit bis zum Haus. Der Kreiselkompaß zeigte genau 7.08054 an; sie waren nur noch Minuten entfernt.

Als sie auf dem Hausdach geparkt hatten und die Treppe hinuntergestiegen waren, löste Leo sofort sein Versprechen ein; frohen Mutes machte er sich in der Küche ans Werk und bereitete jedem ein koscheres Cornedbeefsandwich mit jüdischem Brot zu. Bald saßen alle im Wohnzimmer und aßen. Ein jedes war friedlich und entspannt.

»Du glaubst ja nicht, wie sehr wir uns nach dieser Art Essen gesehnt haben«, sagte Silvia endlich. »Sogar auf dem Schwarzmarkt ...« Sie warf Jack einen Blick zu.

»Manchmal kann man auf dem Schwarzmarkt Leckereien bekommen«, sagte Jack, »obwohl es in letzter Zeit schwieriger geworden ist. Wir tun das aber nicht. Nicht aus moralischen Gründen: Es ist einfach zu teuer.«

Sie schwatzten noch eine Weile miteinander, erfuhren einiges über Leos Reise und die Zustände daheim. David wurde um halb elf ins Bett geschickt, und um elf entschuldigte sich dann Silvia und ging ebenfalls zu Bett. Leo und Jack blieben im Wohnzimmer sitzen, nur sie beide.

Leo sagte: »Können wir nicht noch mal hinausgehen und uns den Garten des Jungen anschauen? Du hast doch sicher eine gute Taschenlampe?«

Jack kramte sein Prüflicht hervor und führte sie aus dem Haus hinaus in die kalte Nachtluft.

Als sie am Rand des kleinen Maisfelds standen, raunte Leo ihm zu: »Wie läuft's denn jetzt so mit Silvia und dir?«

»Gut«, sagte Jack, leicht bestürzt über die Frage.

»Mir scheint, daß ihr recht kühl miteinander umgeht«, sagte Leo. »Es wäre wirklich schrecklich, Jack, wenn ihr euch auseinanderlebt. Ist eine prima Frau, die du da hast

- eine unter Millionen.«

»Ist mir klar«, sagte Jack kleinlaut.

»Zu Hause auf der Erde«, sagte Leo, »als du noch ein Jungspund warst, hast du immer viel herumgetechtelt. Aber jetzt bist du ja zur Ruhe gekommen.«

»Bin ich«, sagte Jack. »Und ich glaube, du siehst Gespenster.«

»Du machst so einen verschlossenen Eindruck«, sagte sein Vater. »Ich hoffe, dein altes Leiden - du weißt schon, wovon ich rede - macht dir nicht wieder zu schaffen. Ich meine ...«

»Ich weiß, was du meinst.«

Unerbittlich fuhr Leo fort: »Als ich noch jung war, gab es keine Geisteskrankheiten, so wie heute. Das ist ein Zeichen der Zeit; zu viele Menschen, große Überbevölkerung. Ich weiß noch, als du das erste Mal krank wurdest und schon lange Zeit vorher, sagen wir mit Siebzehn, da warst du so kalt gegenüber anderen Menschen, gänzlich uninteressiert an ihnen. Und launisch. Mir scheint, du bist jetzt wieder genauso.«

Jack starrte seinen Vater an. Das war das Problem, wenn man Verwandte zu Besuch hatte; nie konnten sie der Versuchung widerstehen, wieder in ihre alte Rolle als Allweise, Allwissende zu schlüpfen. Für Leo war Jack kein Erwachsener mit Frau und Kind; er war einfach sein Sohn Jack.

»Sieh mal, Leo«, sagte Jack. »Hier draußen gibt es nur wenige Menschen; bisher ist das noch ein dünn besiedelter Planet. Natürlich sind die Menschen hier nicht so gesellig; sie müssen introvertierter sein als zu Hause auf der Erde, wo es wohl genauso ist, wie du sagst, tagaus, tagein ein einziger Volksauflauf.«

Leo nickte. »Hmm. Aber dann sollte es dich um so mehr freuen, andere Menschen zu sehen.«

»Wenn du damit dich selber meinst: Ich freue mich sehr, dich zu sehen.«

»Klar, Jack«, sagte Leo, »ich weiß. Vielleicht bin ich ja auch nur müde. Aber du scheinst so wortkarg zu sein; du bist mit den Gedanken ganz woanders.«

»Meine Arbeit«, sagte Jack. »Dieser Junge, Manfred, dieses autistische Kind - ich muß unablässig an ihn denken.«

Aber wie in alten Zeiten konnte sein Vater mit zuverlässigem Elterninstinkt die Vorwände seines Sohns durchschauen: »Komm schon, Junge«, sagte Leo. »Dir geht viel im Kopf herum, aber ich kenne deinen Job; du arbeitest mit den Händen, und ich spreche von deiner Psyche, deine Psyche hat sich nach innen gekehrt. Kann man dieses Psychotherapie-Brimborium auch hier auf dem Mars bekommen? Streit's nicht ab, ich weiß es nämlich besser.«

»Ich streite es ja gar nicht ab«, sagte Jack, »aber eins will ich dir sagen: Das geht dich einen Dreck an.«

Neben ihm in der Dunkelheit schien sein Vater zusammenzuschrecken und lenkte ein. »Okay, Junge«, murmelte er. »Tut mir leid, daß ich mich eingemischt habe.«

Beide verfielen in betretenes Schweigen.

»Zum Teufel«, sagte Jack, »laß uns nicht zanken, Dad. Gehen wir wieder rein und trinken noch einen, bevor wir uns in die Falle hauen. Silvia hat im zweiten Schlafzimmer ein schönes weiches Bett für dich hergerichtet; ich bin sicher, du wirst gut schlafen.«

»Silvia kümmert sich sehr aufmerksam um die Bedürfnisse anderer«, sagte Leo in leicht vorwurfsvollem Ton zu seinem Sohn. Dann wurde seine Stimme milder: »Jack, ich mache mir ständig Sorgen um dich. Vielleicht bin ich ja altmodisch und verstehe diese ganze Sache -das mit der Geisteskrankeit - nur nicht; heutzutage scheint das jeder zu haben; es ist so verbreitet wie früher Grippe oder Kinderlähmung oder wie die Masern, die man in meiner Kindheit bekam. Bei euch ist das jetzt eben das. Jeder dritte, habe ich mal im Fernsehen gehört. Schizo ... was auch immer. Ich meine, Jack, wo es doch soviel gibt, wofür zu leben sich lohnt, warum sollte man da dem Leben den Rücken zukehren wie diese Schizo-Leute? Das ergibt doch keinen Sinn. Ihr habt hier einen ganzen Planeten, den ihr erobern könnt. Morgen, zum Beispiel, fahre ich mit dir zu den FDR-Bergen, und du kannst mich überall herumführen. Ich kenne sämtliche Details über das juristische Prozedere hier; ich werde kaufen. Paß auf: Du kaufst auch, hörst du? Ich strecke dir das Geld vor.« Er grinste Jack hoffnungsvoll an und zeigte dabei sein Gebiß aus rostfreiem Stahl.

»Nicht mein Fall«, sagte Jack. »Trotzdem danke.«

»Ich suche auch die Parzelle für dich aus«, bot Leo an.

»Nein. Ich bin einfach nicht interessiert.«

»Du - hast doch jetzt Spaß an deinem Job, Jack? Diese Maschine zu konstruieren, um mit dem kleinen Jungen reden zu können, der nicht sprechen kann? Klingt nach einer nützlichen Tätigkeit; es erfüllt mich mit Stolz, das zu hören. David ist ein prächtiger Junge, und er ist ja so stolz auf seinen Dad.«

»Ich weiß«, sagte Jack.

»David zeigt doch keine Anzeichen dieser Schizosache, oder?«

»Nein«, sagte Jack.

»Ich weiß nicht, woher du das hast, sicher nicht von mir - ich mag Menschen.«

»Ich auch«, sagte Jack. Er fragte sich, wie sein Vater reagieren würde, wenn er das mit Doreen wüßte. Wahrscheinlich wäre er zutiefst betrübt; er stammte aus einer sittenstrengen Generation - 1924 geboren, vor langer Zeit. Das war noch eine andere Welt damals. Erstaunlich, wie sein Vater sich der heutigen angepaßt hatte; ein Wunder. Leo, in der Zeit des Aufschwungs nach dem Ersten Weltkrieg geboren, stand jetzt hier am Rand der Marswüste ... aber das mit Doreen würde er immer noch nicht verstehen, wie lebenswichtig es für ihn war, um jeden Preis einen solchen persönlichen Kontakt aufrechtzuerhalten; oder doch fast um jeden Preis.

»Wie heißt sie?« fragte Leo.

»W-was?« stammelte Jack.

»Ich habe ein gewisses telepathisches Gespür«, sagte Leo mit tonloser Stimme. »Nicht wahr?«

Nach einer Weile sagte Jack: »Anscheinend.«

»Weiß Silvia davon?«

»Nein.«

»Ich bin darauf gekommen, weil du mir nicht in die Augen schauen konntest.«

»Scheiße«, sagte Jack heftig.

»Ist sie auch verheiratet? Hat sie auch Kinder, diese andere Frau, mit der du dich eingelassen hast?«

Jack sagte so ruhig wie möglich: »Wieso benutzt du nicht dein telepathisches Gespür und findest es selbst heraus?«

»Ich will einfach nicht, daß Silvia leiden muß«, sagte Leo.

»Muß sie auch nicht«, sagte Jack.

»Schlimm«, sagte Leo, »die lange Reise zu machen und dann so etwas zu erfahren. Tja ...« Er seufzte. »Gehe ich eben meinen Geschäften nach. Morgen stehen wir in aller Frühe auf und fliegen los.«

Jack sagte: »Urteile nicht zu hart, Dad.«

»In Ordnung«, stimmte Leo zu. »Ich weiß, die Zeiten sind moderner geworden. Du glaubst wohl, es tut dir gut, wenn du so herummachst - was? Vielleicht. Vielleicht verhindert es, daß man verrückt wird. Womit ich nicht sagen will, du seist verrückt ...«

»Nur leicht angeknackst«, sagte Jack mit großer Bitterkeit. Himmel, dein eigener Vater, dachte er. Was für eine Prüfung. Was für eine elende Tragödie.

»Ich weiß, daß du heil aus der Sache herauskommst«, sagte Leo. »Ich merke, daß du es dir nicht leichtmachst; es ist nicht nur das Herummachen. Deine Stimme verrät es mir - du hast Sorgen. Dieselben, die du schon immer hattest; wenn man älter wird, wiegen sie bloß schwerer, und es fällt einem nicht mehr so leicht - stimmt's? Ja, das verstehe ich. Dieser Planet ist einsam. Ein Wunder, daß ihr Auswanderer nicht alle auf Anhieb verrückt geworden seid. Ich verstehe, warum du die Liebe so hoch schätzt, wo auch immer du sie findest. Du brauchst etwas, wie ich es habe, in Form dieser Grundstückssache; vielleicht findest du es darin, daß du für diesen armen stummen Jungen deine Maschine baust. Ich würde ihn gern einmal kennenlernen.« »Das wirst du«, sagte Jack. »Vielleicht morgen.« Sie standen noch eine Weile beisammen und gingen dann wieder ins Haus.

»Nimmt Silvia noch Dope?« fragte Leo.

»Dope!« Er lachte. »Luminal. Ja, tut sie.«

»So ein nettes Mädchen«, sagte Leo. »Ein Jammer, daß sie so verkrampft ist und sich ständig Sorgen macht. Und dann hilft sie noch dieser unglücklichen Witwe nebenan, wie du sagst.« Im Wohnzimmer setzte sich Leo in Jacks Sessel, schlug die Beine übereinander und lehnte sich mit einem Seufzer zurück, machte es sich bequem, damit er weiterreden konnte ... er hatte ganz entschieden noch eine Menge zu sagen, zu einer Vielzahl von Themen, und er war entschlossen, es auch zu tun.

*

Silvia lag im Bett und war schon halb eingeschlafen, ihre Wahrnehmung durch die 100-Milligramm-Tablette Luminal getrübt, die sie gewohnheitsmäßig vor dem Schlafengehen genommen hatte. Nebelhaft hatte sie das Stimmengemurmel ihres Mannes und ihres Stiefvaters im Hof gehört; einmal war der Tonfall scharf geworden, und sie hatte sich entsetzt aufgerichtet.

Ob sie sich zanken werden? fragte sie sich. Lieber Gott, ich hoffe nicht; ich hoffe, daß Leos Besuch nicht alles kaputtmacht. Aber die Stimmen waren leiser geworden, und jetzt döste sie wieder friedlich vor sich hin.

Er ist wirklich ein feiner alter Herr, dachte sie. Ähnlich wie Jack, nur entschiedener in seiner Haltung.

In letzter Zeit, seit er für Arnie Kott tätig war, hatte ihr Mann sich verändert. Das lag zweifellos an dem grausigen Auftrag, den er bekommen hatte; der stumme, autistische Steiner brachte sie ganz durcheinander, und sie hatte es von Anfang an bedauert, daß er aufgetaucht war. Das Leben war auch ohne ihn schon kompliziert genug. Der Junge ging im Haus aus und ein, huschte immer auf Zehenspitzen umher, und seine Blicke schossen durch die Gegend, als ob er Dinge sähe, die gar nicht vorhanden waren, Töne vernahm, die außerhalb des normalen Hörbereichs lagen. Wenn man nur die Zeit zurückdrehen und irgendwie Norbert Steiner wieder zum Leben erwecken könnte! Wenn ...

In ihrem drogenumnebelten Verstand sah sie blitzartig diesen untauglichen kleinen Mann vor sich auftauchen, der morgens mit seinen Koffern voller Waren aufbrach, ein Handelsreisender, der seine Runde machte, mit Yoghurt und Portweinsirup.

Ob er noch irgendwo am Leben ist? Vielleicht konnte Manfred ihn sehen, und er war genau wie der Junge -

Jacks Meinung nach - in einer verzerrten Zeit gefangen. Das gäbe eine schöne Überraschung, wenn sie mit dem Jungen Kontakt aufnähmen und herausfänden, daß sie das traurige kleine Gespenst wiedererweckt hatten ... Aber wahrscheinlicher ist wohl, daß sie mit ihrer Theorie recht haben und es das Bevorstehende ist, er sieht das Bevorstehende. Sie werden bekommen, was sie wollen. Warum Jack? Warum liegt dir soviel daran, Jack? Gibt es ein Einvernehmen zwischen dir und diesem kranken Kind. Ist es das? Oh ... Ihre Gedanken verloren sich im Dunkel.

Und was dann? Wirst du mich wieder mögen?

Kein Einvernehmen zwischen Gesunden und Kranken. Du bist anders; das erdrückt mich. Leo weiß es, ich weiß es. Wirst du? Mich wieder mögen?

Sie schlief ein.

*

Hoch am Himmel kreisten fleischfressende Vögel. Am Fuß des Gebäudes mit den vielen Fenstern lagen ihre Exkremente. Er hob die Haufen auf, bis er mehrere davon in der Hand hielt. Sie gingen auf wie Teig, blähten sich, und er wußte, daß sich Lebewesen darin befanden; behutsam trug er sie in den leeren Flur des Gebäudes. Ein Haufen öffnete sich, bildete einen Spalt in der geflochtenen, haarknäuelartigen Flanke; er wurde zu groß, um ihn weiter halten zu können, und jetzt sah er es in der Wand. Eine Nische, in der es auf der Seite lag, der Spalt gerade breit genug, daß er das Wesen darin erkennen konnte.

Kwatsch! Ein eingerollter Wurm aus nassen, knochenweißen Falten, der Kwatsch-Wurm im Innern des Menschen. Wenn doch nur die weit oben fliegenden Vögel ihn erspähen könnten und auffräßen, einfach so. Er lief die Stufen hinunter, die unter seinen Füßen nachgaben. Einige Diehlen fehlten. Er sah durch das Sieb aus Holz den Boden darunter, die Höhle, dunkel, kalt und voll modrigem Holz, nur noch feuchter Puder, zersetzt von Kwatsch-Fäulnis.

Hochgereckte Arme warfen ihn den kreisenden Vögeln entgegen; er schwebte nach oben und fiel doch zugleich. Sie fraßen ihm den Kopf ab. Und dann stand er auf einer Brücke über dem Meer. Haie zerteilten das Wasser mit spitzen, zerpflügenden Flossen. Er fing einen an der Leine, und mit weit aufgerissenem Rachen glitt er aus dem Wasser, um ihn zu verschlingen. Er wich einen Schritt zurück, doch die Brücke gab nach und sackte durch, so daß ihm das Wasser bis zur Taille stand.

Jetzt regnete es Kwatsch; alles war Kwatsch, wohin er auch sah. Eine Gruppe derer, die ihn nicht mochten, tauchte am Ende der Brücke auf und hielt eine Schlinge aus Haifischzähnen in die Höhe. Er war der Kaiser. Sie krönten ihn mit der Schlinge, und er wollte ihnen danken. Aber sie zwängten ihm die Schlinge über den Schädel bis zum Hals und machten sich daran, ihn zu erdrosseln. Sie verknoteten die Schlinge, und die Haifischzähne bissen ihm den Kopf ab. Erneut saß er in dem dunklen, feuchten Keller inmitten der pudrigen Fäulnis und lauschte dem Schwappen der Gezeiten ringsum. Eine Welt, regiert von Kwatsch, und er hatte keine Stimme; die Haifischzähne hatten ihm die Stimme herausgebissen.

Ich bin Manfred, sagte er.

»Glaub mir«, sagte Arnie Kott zu dem Mädchen, das neben ihm in dem breiten Bett lag, »du wirst einfach begeistert sein, wenn wir Kontakt mit ihm aufnehmen -ich meine, dann haben wir einen Insiderblick: Wir kennen dann die Zukunft, und was denkst du wohl, wo sich die Dinge sonst entscheiden, wenn nicht in der Zukunft?«

Doreen Anderton bewegte sich und murmelte etwas.

»Schlaf nicht ein«, sagte Arnie und beugte sich vor, um sich noch eine Zigarette anzuzünden. »Hör zu, weißt du was - heute ist ein wichtiger Grundstücksspekulant von der Erde eingetroffen; ein Gildebruder war am Raketenterminal, und der hat ihn erkannt, obwohl der Spekulant sich natürlich unter falschem Namen eintragen ließ. Wir haben den Frachter überprüft, und er stieg einfach aus und ist unserem Mann entwischt. Ich habe ja gleich gesagt, daß sie auftauchen werden! Hör zu, wenn dieser Steiner-Junge plaudert, sind wir volle Kanne dabei. Stimmt's?« Er schüttelte das schlafende Mädchen. »Wenn du nicht aufwachst«, sagte Arnie, »kipp ich dich aus dem Bett, daß du auf deinen dicken Arsch fällst, und dann kannst du von mir aus zu Fuß nach Hause in dein Apartment latschen.«

Doreen stöhnte, wälzte sich herum und setzte sich auf. Im düsteren Licht von Arnie Kotts bevorzugtem Schlafzimmer saß sie blaß und durchscheinend da, strich sich das Haar aus dem Gesicht und gähnte. Ein Träger ihres Nachthemds rutschte ihr von der Schulter, und Arnie sah mit Wohlgefallen die hohe, feste Brust mit einem Juwel von Brustwarze direkt in der Mitte.

Meine Güte, das nenne ich ein Weib, sagte sich Arnie. Die ist wirklich was Besonderes. Und sie hat erstklassige Arbeit geleistet, als es darum ging, diesen Bohlen daran zu hindern, keinen Pfifferling drauf zu geben und einfach abzuschwirren, wie es diese hebephrenen Schizophrenen eben tun - ich meine, es ist fast unmöglich, sie dauernd bei der Stange zu halten, sie sind so launisch und haben kein Verantwortungsgefühl. Dieser Bohlen; er ist ein idiot savant, ein Idiot, der Dinge wieder ins Lot bringt, und wir müssen seiner Idiotie schmeicheln, wir müssen darauf eingehen. So einen Typ kann man nicht zwingen; er gibt dem Zwang nicht nach. Arnie ergriff die Bettdecke und schlug sie zurück, über Doreen hinweg; er lächelte beim Anblick ihrer nackten Beine, lächelte, als er sah, wie sie ihr kurzes Nachthemd über die Knie zog.

»Wie kannst du nur müde sein?« fragte er sie. »Außer herumzuliegen hast du doch nichts getan. Stimmt das nicht? Ist das Herumliegen so schwer?«

Sie sah ihn aus zusammengekniffenen Augen an. »Nicht mehr«, sagte sie.

»Was?« sagte er. »Du machst wohl Witze? Wir haben gerade erst angefangen. Zieh das Nachthemd aus.« Er packte es am Saum und zog es wieder hoch; er schob einen Arm unter sie, hob sie an und hatte es ihr im Nu über den Kopf gestreift. Er legte es auf den Stuhl neben dem Bett.

»Ich will jetzt schlafen«, sagte Doreen und schloß die Augen. »Wenn du nichts dagegen hast.«

»Warum sollte ich?« sagte Arnie. »Du bist immer noch da, nicht wahr? Wach oder schlafend - ich kann dich auch so vernaschen, und wie.«

»Autsch«, protestierte sie.

»Tut mir leid.« Er küßte sie auf den Mund. »Ich wollte dir nicht wehtun.«

Ihr Kopf rollte zur Seite; sie war tatsächlich kurz vor dem Einschlafen. Arnie fühlte sich gekränkt. Aber zum Teufel - sie tat sowieso nie sehr viel.

»Zieh mir das Nachthemd wieder an«, murmelte Doreen, »wenn du fertig bist.«

»Ha, ich bin noch lange nicht fertig.« Eine Stunde schaffe ich allemal, sagte sich Arnie. Vielleicht sogar zwei. Außerdem mag ich's irgendwie so. Eine Frau, die schläft, quatscht nicht. Das verdirbt doch nur alles, wenn sie anfangen zu quatschen. Oder wenn sie stöhnen. Das Stöhnen hatte er noch nie ausstehen können.

Er dachte: Ich bin ganz heiß drauf, mit diesem BohlenProjekt zu Potte zu kommen. Ich kann's gar nicht mehr abwarten; ich weiß, daß wir etwas Außergewöhnliches hören werden, wenn wir erst einmal etwas hören. Dieses abgekapselte Bewußtsein des Kindes; man stelle sich nur vor, welche Schätze es birgt. Das muß wie im Märchen sein da drin, wunderschön und rein und wahrhaft unschuldig.

Doreen stöhnte im Halbschlaf.

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