Fünfzehn

In der Glut des frühen Morgens ragte riesig und finster der schwarze, überhängende Vorsprung aus Sandstein und Obsidian vor ihnen auf - der Schmutzige Knorren. Sie hatten die Nacht in der Wüste verbracht, in einem Zelt, unweit des geparkten Hubschraubers. Jack Bohlen und Doreen Anderton hatten kein Wort mit ihnen gewechselt; bei Morgengrauen war der Hubschrauber gestartet, um wieder über ihnen zu kreisen. Arnie und der Junge Manfred Steiner hatten reichlich und gut gefrühstückt, dann zusammengepackt und ihre Reise fortgesetzt.

Jetzt war die Reise, die Wallfahrt zum heiligen Felsen der Bleichmänner, zu Ende.

Als er den Schmutzigen Knorren so dicht vor sich sah, dachte Arnie: Das ist der Ort, der uns alle von jeglichen Leiden befreit. Er ließ Manfred das Steuer des Busses halten und zog die Karte zu Rate, die Heliogabalus gezeichnet hatte. Sie zeigte einen Pfad durch hügeliges Gelände hinauf bis zum Felsen. Helio hatte ihm erzählt, daß es an der Nordseite des Felsens eine Höhle gab, in der man gewöhnlich auf einen Priester der Bleichmänner stieß. Es sei denn, sagte sich Arnie, daß er gerade irgendwo seinen Rausch ausschläft. Er kannte die bleichen Priester; sie waren größtenteils alte Säufer. Selbst die Bleichmänner hatten nur Verachtung für sie übrig.

Am Fuß des ersten Hügels stellte er den Bus im Schatten ab und schaltete den Motor aus. »Von hier aus steigen wir zu Fuß hoch«, sagte er zu Manfred. »Wir nehmen soviel Ausrüstung wie möglich mit, natürlich Lebensmittel und Wasser und den Sender, und wenn wir kochen müssen, denke ich, können wir immer noch zurückkommen und uns den Kocher holen. Es sollen ja nur ein paar Meilen sein.«

Der Junge sprang aus dem Bus. Er und Arnie luden die Ausrüstung ab, und kurz darauf schleppten sie sich einen steinigen Pfad ins FDR-Gebirge hinauf.

Manfred schlang zitternd die Arme um sich und warf ängstliche Blicke in alle Richtungen. Vielleicht durchlebte er wieder seine Erfahrungen im Am-Web. Arnie nahm es an. Das Henry Wallace lag nur hundert Meilen von hier entfernt. Gut möglich, daß der Junge die Emanationen des zukünftigen Gebäudes auffing, dicht genug dran waren sie ja. Er konnte sie fast schon selber spüren.

Oder spürte er den Felsen der Bleichmänner?

Der Anblick mißfiel ihm. Wieso einen Schrein daraus machen? fragte er sich. Pervers - dieser karge Ort. Aber vielleicht war die Gegend vor langer Zeit einmal fruchtbar gewesen. Am Rande des Pfads konnte man Spuren von früheren Lagern der Bleichmänner erkennen. Vielleicht stammten die Marsianer ja von hier; das Land wirkte jedenfalls alt und ausgelaugt. Als hätte eine Million grauschwarzer Wesen, dachte er, alles durch Generationen hindurch bearbeitet. Und was war es jetzt? Die letzte Zuflucht einer aussterbenden Rasse. Eine Reliquie für jene, die es nicht mehr lange geben würde.

Arnie blieb keuchend stehen. Er war die Anstrengung, schwerbepackt bergauf zu steigen, nicht gewohnt. Manfred quälte sich hinter ihm die steile Anhöhe hoch und warf noch immer angstvolle Blicke in die Runde.

»Mach dir keine Sorgen«, ermunterte Arnie ihn. »Hier ist nichts, wovor du dich fürchten mußt.« Vermischte die Begabung des Jungen sich schon mit der des Felsens? Und war der Felsen selber, fragte er sich, auch ängstlich geworden? War das möglich?

Der Pfad wurde ebener und breiter. Und alles lag im Schatten; kalt und feucht umfing es sie, als wanderten sie durch ein großes Grab. Die Vegetation, die dünn und ungesund auf der Oberfläche der Felsen wuchs, sah abgestorben aus, als hätte etwas sie am Wachstum gehindert. Weiter vorn lag ein toter Vogel auf dem Pfad, ein verwester Kadaver, der sich vielleicht schon seit Wochen dort befand; das war schwer zu sagen. Er wirkte mumifiziert.

Begeistert bin ich nicht gerade von der Gegend, sagte sich Arnie.

Manfred blieb bei dem Vogel stehen, beugte sich vor und sagte: »Kwatsch.«

»Ja«, murmelte Arnie. »Komm, wir gehen weiter.«

Auf einmal standen sie am Fuß des Felsens.

Wind brachte die Blätter der Pflanzen zum Rascheln, der Sträucher, die aussahen, als hätte man sie bis auf ihre Grundbestandteile enthäutet: kahl und abgenagt, aufrecht ins Erdreich gesteckte Knochen. Der Wind drang aus einer Spalte im Schmutzigen Knorren und roch, fand er, als lebte dort irgendein Tier. Vielleicht war das ja der Priester; ohne großes Erstaunen sah er am Wegrand eine leere Weinflasche liegen, sowie weitere Abfälle, die daneben in den scharfen Blättern hängengeblieben waren.

»Ist jemand da?« rief Arnie.

Nach langer Zeit zwängte sich ein alter Mann, ein Bleichmann, grau, als wäre er in Spinnweben gehüllt, aus der Felsenkammer. Der Wind schien ihn vor sich her zu treiben, und so kroch er seitwärts, drückte sich kurz an die äußere Höhlenwand und schob sich dann weiter. Seine Augen waren blutunterlaufen.

»Du alter Trunkenbold«, sagte Arnie leise. Und dann begrüßte er den alten Mann mit Hilfe eines Zettels, den Helio ihm mitgegeben hatte, auf bleichmännisch.

Der Priester murmelte zahnlos eine mechanische Antwort.

»Hier.« Arnie hielt ihm ein Päckchen Zigaretten hin. Murmelnd schob der Priester sich näher und nahm das Päckchen in seine Klauen; er verstaute es unter seinem spinnwebgrauen Gewand. »Darauf stehst du wohl, heh?« sagte Arnie. »Dachte ich's mir doch.«

Er las auf bleichmännisch den Grund seines Besuchs vom Zettel ab und was der Priester für ihn tun sollte. Er wollte, daß der Priester ihn und Manfred für ungefähr eine Stunde in der Höhle allein ließ, damit sie den Geist des Felsens anrufen konnten.

Fortwährend murmelnd, zog der Priester sich zurück, hantierte wichtigtuerisch am Saum seines Gewands, wandte sich dann um und trottete davon. Ohne sich auch nur einmal nach Arnie und Manfred umzusehen, verschwand er unten an einer Abzweigung des Pfads.

Arnie drehte den Zettel um und las die Anweisungen, die Helio ihm aufgeschrieben hatte.

(1) Betreten Sie den Raum.

Er nahm Manfred am Arm und führte ihn Stufe für Stufe durch die dunkle Felsspalte; er knipste die Taschenlampe an und führte den Jungen weiter, bis die Kammer sich vergrößerte. Es riecht immer noch schlimm, dachte er, als wäre sie jahrhundertelang verschlossen gewesen. Wie eine Kiste voll modriger Lumpen, eher ein pflanzlicher als ein tierischer Geruch.

Und jetzt? Wieder zog er Helios Zettel zu Rate.

(2) Zünden Sie ein Feuer an.

Ein ungleichmäßiger Steinring umgab eine geschwärzte Grube, in der Holzreste lagen und etwas, das wie Knochen aussah ... Anscheinend bereitete der alte Säufer sich hier seine Mahlzeiten zu.

Arnie hatte Feueranzünder in seinem Gepäck; er legte das Gepäck auf den Höhlenboden, zog mit steifen Fingern an den Schnüren und holte sie heraus. »Verlauf dich nicht, Kind«, sagte er zu Manfred. Ob wir hier wohl je wieder fortkommen? fragte er sich.

Als erst einmal das Feuer brannte, fühlten sie sich schon viel besser. Die Höhle wurde wärmer, wenn auch nicht trockener; der Modergeruch blieb und schien sogar noch stärker zu werden, als zöge das Feuer die Ursache an.

Die nächste Anweisung verwirrte ihn; sie schien fehl am Platz zu sein, aber trotzdem hielt er sich daran.

(3) Stellen Sie das Kofferradio auf 574 kHz ein.

Arnie kramte das kleine, in Japan hergestellte Transistorgerät hervor und schaltete es an. Auf 574 kHz gab es nichts als Statik. Aber er hatte den Eindruck, als antwortete ihnen der Felsen ringsum; der Felsen veränderte sich offenbar und belebte sich, als hätte der Radiolärm ihn darauf gebracht, daß sich hier jemand aufhielt. Die nächste Anweisung war genauso irritierend.

(4) Nehmen Sie Nembutal ein (der Junge nicht).

Mit Wasser aus seiner Feldflasche spülte Arnie das Nembutal hinunter und überlegte, ob es vielleicht dazu dienen sollte, ihn zu benebeln und willenlos zu machen. Oder sollte es nur seine Ängste unterdrücken? Eine Anweisung blieb noch zu befolgen.

(5) Werfen Sie das beiliegende Paket ins Feuer.

Helio hatte Arnies Gepäck ein Stückchen Papier beigegeben, eine zerknüllte Seite aus der New York Times, in der irgendein Gras war. Neben dem Feuer kniend, wickelte Arnie das Päckchen vorsichtig aus und warf die dunklen, trockenen Halme in die Flammen. Ein übler Geruch stieg auf, und die Flammen erloschen. Rauch wallte auf und erfüllte die Kammer; er hörte Manfred husten. Verdammt, dachte Arnie, wenn das so weitergeht, ist das noch unser Tod.

Plötzlich war der ganze Rauch verschwunden. Die Höhle schien jetzt dunkel und leer zu sein und viel größer als vorher, als wäre der Felsen ringsum zurückgewichen. Mit einem Mal hatte er das Gefühl, gleich umfallen zu müssen; er schien gar nicht mehr aufrecht zu stehen. Mein Gleichgewichtssinn ist dahin, wurde ihm klar. Er konnte sich nicht mehr orientieren.

»Manfred«, sagte er, »paß auf. Durch mein Eingreifen brauchst du dir keine Sorgen mehr wegen dieses AM-WEB zu machen, wie Helio schon sagte. Hast du verstanden? Gut. Nun versetz dich um etwa drei Wochen zurück. Kannst du das? Leg dich richtig ins Zeug, gib alles, was du hast.«

Im Halbdunkel spähte der Junge zu ihm herüber, die Augen weit aufgerissen vor Angst.

»Geh zurück in eine Zeit, als ich Jack Bohlen noch nicht kannte«, sagte Arnie. »Zu dem Tag, als ich ihm draußen in der Wüste begegnete, bei den verdurstenden Bleichmännern. Verstehst du?« Er ging auf den Jungen zu

Und fiel flach aufs Gesicht.

Das Nembutal, dachte er. Besser schnell wieder aufstehen, ehe ich vollends wegtrete. Er rappelte sich auf, griff nach etwas, um sich daran festzuhalten. Es flackerte hell auf, versengte ihn; er streckte die Hände aus ... und dann spürte er plötzlich Wasser. Warmes Wasser prasselte auf ihn nieder, auf sein Gesicht; er prustete, japste nach Luft, sah um sich nur Schwaden, spürte vertraute Fliesen unter den Füßen.

Er war in seinem Dampfbad.

Männerstimmen, die sich unterhielten. Eddys Stimme sagte: »Genau, Arnie.« Dann die Umrisse von Gestalten um ihn herum, andere Männer, die duschten.

Tief in seinem Innern, in der Leistengegend, begann sein Zwölffingerdarmgeschwür zu brennen, und ihm wurde klar, daß er entsetzlich hungrig war. Er kam unter der Dusche hervor und tappte mit schwachen Beinen, die ihm nicht recht gehorchen wollten, über die warmen, feuchten Fliesen, suchte seinen Badewärter, damit der ihm sein großes Froteebadetuch gab.

Hier war ich doch schon, dachte er. Das habe ich doch alles schon getan, schon gesagt, was ich jetzt sagen will; das ist ja unheimlich. Wie nennt man das noch gleich? Ein französischer Ausdruck ...

Ich sollte besser etwas frühstücken. Sein Magen knurrte, und das Geschwür quälte ihn immer mehr.

»He, Tom«, rief er dem Badewärter zu. »Trockne mich ab und kleide mich an, ich will essen gehen; mein Geschwür bringt mich sonst noch um.« Er hatte nie zuvor solche Schmerzen gehabt wie jetzt.

»Klar, Arnie«, sagte der Badewärter, trat auf ihn zu und hielt ihm das große weiche weiße Handtuch hin.

*

Als der Badewärter ihn angekleidet hatte und er wieder seine grauen Flanellhosen und das T-Shirt, die weichen Lederstiefel und die Seglermütze trug, verließ Gildebruder Arnie Kott das Dampfbad und ging durch den Flur des Gildehauses in sein Eßzimmer, wo Heliogabalus schon mit dem Frühstück auf ihn wartete.

Schließlich saß er vor einem Haufen Maiskuchen und Schinken, echtem Kaffee von Zuhause, einem Glas Orangensaft aus Neu-Israel-Orangen und der Sonntagsausgabe der New York Times von voriger Woche.

Er zitterte vor Entsetzen, als er seine Hand nach dem Glas mit eisgekühltem süßem Orangennektar ausstreckte; das Glas war glitschig und gab jedem Druck nach und wäre ihm fast auf halbem Weg aus der Hand gerutscht. Er dachte: Ich muß vorsichtig sein, langsam machen und die Sache locker angehen. Es ist wirklich wahr; ich bin wieder hier, wo ich schon vor einigen Wochen war. Das ist das Werk von Manfred und dem Felsen der Bleichmänner. Irre, dachte er, und in seinem Kopf herrschte ein einziges gespanntes Durcheinander. Nicht zu fassen! Er trank den Orangensaft und genoß jeden Schluck davon, bis das Glas leer war.

Ich habe bekommen, was ich wollte, sagte er sich.

Also, ich muß jetzt vorsichtig sein, redete er sich zu; es gibt da einige Dinge, die ich ganz sicher nicht ändern will. Zum Beispiel darf ich mir das Schwarzmarktgeschäft nicht verderben, indem ich das Naheliegende tue und verhindere, daß Norb Steiner sich das Leben nimmt. Ich meine, es ist schade um ihn, aber ich habe nicht vor, aus dem Geschäft auszusteigen; das bleibt also schon mal, wie es ist. Wie es sein wird, berichtigte er sich.

Ich muß vor allem zweierlei tun. Zunächst einmal muß ich zusehen, daß ich eine rechtskräftige Urkunde für alles Land in den FDR-Bergen rund um das Henry-Wallace-Gebiet bekomme, und diese Urkunde wird mehrere Wochen älter sein als die von Bohlens altem Herrn. Dann kann mir dieser Spekulant, der eigens von der Erde hergeflogen kommt, gestohlen bleiben. Wenn er, von jetzt an gerechnet, in einigen Wochen hier eintrifft, wird er feststellen, daß das Land schon verkauft ist. Die ganze Reise hin und zurück für die Katz. Vielleicht kriegt er ja einen Herzanfall. Arnie kicherte bei dem Gedanken. Ein Jammer.

Und dann war da noch etwas. Jack Bohlen selber.

Ich werde ihn ausschalten, sagte er sich, einen Typ, dem ich noch nie begegnet bin, der zwar mich nicht kennt, den aber ich kenne.

Für Jack Bohlen bin ich das Schicksal.

»Guten Morgen, Mr. Kott.«

Verärgert darüber, daß man ihn in seinen Gedanken gestört hatte, schaute er hoch und sah, daß ein Mädchen das Zimmer betreten hatte und nun erwartungsvoll vor seinem Schreibtisch stand. Er erkannte sie nicht. Ein Mädchen vom Sekretärinnenpool, wurde ihm klar, das sein morgendliches Diktat aufnehmen wollte.

»Nennen Sie mich Arnie«, murmelte er. »Jeder soll mich so nennen. Wie kommt's, daß Sie das nicht wissen? Sind Sie neu hier?«

Sieht nicht sonderlich gut aus, das Mädchen, dachte er und wandte sich wieder der Zeitungslektüre zu. Aber andererseits war sie drall und üppig. Das schwarze Seidenkleid, das sie anhatte: Ist nicht viel drunter, sagte er sich, während er am Zeitungsrand vorbeilugte. Unverheiratet; er sah keinen Ehering an ihrem Finger.

»Kommen Sie her«, sagte er. »Haben Sie keine Angst vor mir, weil ich der berühmte und großartige Arnie Kott bin, der den ganzen Laden hier schmeißt?«

Sie näherte sich elegant und mit vorgeschobener Schulter, was ihn erstaunte; sie schien seitwärts an den Schreibtisch heranzukriechen. Und mit einschmeichelnd rauher Stimme sagte sie: »Nein, Arnie, ich habe keine Angst vor Ihnen.« Ihr ungenierter Blick schien nicht gerade Unschuld auszustrahlen; im Gegenteil, die Erfahrungen, die daraus sprachen, ließen ihn aufmerken. Er hatte den Eindruck, als wäre sie sich jeder Laune und Begierde in ihm bewußt, vor allem jener, die sie angingen.

»Arbeiten Sie schon lange hier?« fragte er.

»Nein, Arnie.« Sie rückte weiter auf ihn zu und setzte sich so auf den Rand des Schreibtischs, daß eines ihres Beine - er konnte es kaum glauben - ganz leicht seines berührte.

Methodisch wippte es in einem einfachen, reflexhaften Rhythmus immer wieder gegen sein Bein, bis er zurückfuhr und in schwacher Abwehr »He!« sagte.

»Was haben Sie, Arnie?« sagte das Mädchen lächelnd. Es war ein Lächeln, wie er es noch nie zuvor in seinem Leben gesehen hatte, kalt und doch verheißungsvoll; ohne jede Wärme, wie von einer Maschine dort eingestanzt, nach einem Bauplan aus Lippen, Zähnen und Zunge zusammengesetzt ... dabei überwältigte es ihn durch seine Sinnlichkeit. Es strömte eine drückende, schwüle Hitze aus, die ihn veranlaßte, sich kerzengerade auf dem Stuhl aufzurichten, unfähig, den Blick abzuwenden. Es ist vor allem die Zunge, dachte er. Sie vibriert. Die Spitze, bemerkte er, war so spitz, daß sie auch vortrefflich zum Aufspießen geeignet wäre; eine Zunge, die verletzen konnte, die es genoß, in etwas Lebendiges zu gleiten und es dazu zu bringen, um Gnade zu winseln. Den Teil hatte sie am liebsten: das Flehen zu hören. Auch die Zähne, weiß und scharf ... waren wie geschaffen dafür, etwas zu zerfleischen.

Ihn schauderte.

»Bin ich Ihnen lästig, Arnie?« murmelte das Mädchen. Sie war mit dem Körper allmählich so weit am Schreibtisch entlanggerutscht, daß sie jetzt - es war ihm ein Rätsel, wie sie das geschafft hatte - fast ganz an ihm lehnte. Mein Gott, dachte er, sie ist ... das war unmöglich.

»Hören Sie«, sagte er mit einem Schlucken und merkte, daß seine Kehle ganz trocken war; er konnte die Worte kaum hervorkrächzen. »Gehen Sie, und lassen Sie mich weiterlesen.« Er griff nach der Zeitung und hielt sie zwischen das Mädchen und sich. »Machen Sie schon«, knirschte er.

Die Gestalt waberte ein bißchen. »Was haben Sie, Arnie?« schnurrte ihre Stimme wie zwei ineinandergreifende Zahnräder, irgendwie ein mechanisches Geräusch, das sie da von sich gab, wie bei einer Aufzeichnung, dachte er.

Er sagte nichts; er griff nach seiner Zeitung und las.

Als er wieder aufsah, war das Mädchen verschwunden. Er war allein.

Daran erinnere ich mich nicht, sagte er sich und bebte innerlich, tief drinnen im Magen. War für ein Geschöpf war das? Kapiere ich nicht - was war da eben los gewesen?

Er begann automatisch, einen Zeitungsartikel zu lesen, in dem es um ein Schiff ging, das im Weltraum verunglückt war, ein Frachter aus Japan, der Fahrräder geladen hatte. Das amüsierte ihn, obgleich dreihundert Personen an Bord den Tod gefunden hatten; es war einfach zu komisch, sich vorzustellen, wie all die Tausende kleiner, superleichter Japs-Bikes als Trümmer dahintrieben und für immer die Sonne umkreisten ... Nicht, daß man sie auf dem Mars nicht gebraucht hätte, wo es praktisch keine Energiequellen gab ... bei der niedrigen Schwerkraft des Planeten konnte ein Mensch mühelos Hunderte von Meilen radeln.

Als er weiterlas, stieß er auf einen Artikel über einen Empfang im Weißen Haus für - er kniff die Augen zusammen. Die Wörter schienen zu verschwimmen; er konnte sie kaum noch lesen. Ein Druckfehler? Was stand da? Er hielt die Zeitung dichter vor sich ...

Kwatsch kwatsch, stand da. Der Artikel war bedeutungslos, nichts als Kwatsch-Kwatsch-Wörter, eines nach dem anderen. Großer Gott! Er starrte sie angewidert an, und sein Magen reagierte; sein Zwölffingerdarmgeschwür bereitete ihm größere Schmerzen als jemals zuvor. Er hatte sich verkrampft und war wütend geworden, die schlimmstmögliche Kombination für einen Magengeschwürpatienten, besonders zur Essenszeit. Zum Teufel mit diesen Kwatsch-Kwatsch-Wörtern, sagte er sich. Die benutzt doch der Junge! Müssen die jetzt auch noch den Zeitungsartikel verhunzen?

Als er die Zeitung überflog, sah er, daß fast alle Artikel sich in Unsinn verwandelt hatten und schon nach einer Zeile oder so verschwammen. Seine Verwirrung nahm zu, und er warf die Zeitung beiseite. Wozu soll der verdammte Spuk eigentlich gut sein? fragte er sich.

Das ist doch dieses Schizophrenengewäsch, wurde ihm klar, diese Privatsprache. Hier paßt mir das ganz und gar nicht! Wenn er selbst so sprechen will, in Ordnung, aber hier gehört das nicht her! Er hat kein Recht, dieses Zeug in meine Welt zu stopfen. Und dann dachte Arnie: Natürlich, er hat mich hierher zurückgebracht, und jetzt meint er vielleicht, das gibt ihm das Recht dazu. Vielleicht hält der Junge das hier für seine Welt.

Dieser Gedanke gefiel Arnie überhaupt nicht; er wünschte, er wäre ihm nie gekommen.

Er stand vom Schreibtisch auf, ging zum Fenster hinüber und schaute tief unten auf die Straßen von Lewistown hinab. Leute eilten dahin; wie schnell sie liefen! Und auch die Autos; weshalb so schnell? Ihre Bewegungen hatten etwas unangenehm Kinetisches an sich, eine gewisse Sprunghaftigkeit, entweder schienen sie sich anzurempeln oder kurz davor zu sein. Kollidierende Gegenstände wie Billardkugeln, hart und gefährlich ... die Gebäude, fiel ihm auf, schienen von scharfen Ecken nur so zu strotzen. Aber wenn er die Veränderungen genau zu bestimmen versuchte - und es waren Veränderungen, daran bestand kein Zweifel -, gelang ihm das nicht. Es war die vertraute Szenerie, die er jeden Tag erblickte. Und doch ...

Bewegten sie sich zu schnell? War es das? Nein, es war mehr. Über allem lag eine allgegenwärtige Feindseligkeit; die Dinge stießen nicht einfach zusammen - sie schlugen aufeinander, als täten sie es mit Absicht.

Und dann sah er noch etwas, etwas, das ihn nach Luft schnappen ließ. Die Leute unten auf der Straße, die hin und her eilten, hatten praktisch keine Gesichter, nur Bruchstücke oder Überreste von Gesichtern ... als hätten sie sich nicht richtig ausgeformt.

O Mann, das gibt's doch nicht, sagte sich Arnie. Er hatte jetzt Angst, echte, entsetzliche Angst. Was geht hier vor? Was tun sie mir an?

Erschüttert kehrte er an seinen Schreibtisch zurück und setzte sich wieder. Er nahm die Kaffeetasse, trank und versuchte die Szenerie da unten zu vergessen, versuchte seine Morgenroutine wiederaufzunehmen.

Der Kaffee hatte einen ungewohnt bitteren und scharfen Beigeschmack, und er mußte die Tasse gleich wieder absetzen. Das Kind bildet sich wohl ständig ein, daß man es vergiftet, dachte Arnie verzweifelt. Ist es das? Muß ich wegen dieser Wahnvorstellungen jetzt abscheulich schmeckendes Essen zu mir nehmen? O Gott, dachte er; das ist ja furchtbar.

Das Beste wird sein, beschloß er, hier so schnell wie möglich fertig zu werden und dann in die Gegenwart zurückzukehren.

Arnie schloß die untere Schublade des Schreibtischs auf, holte das kleine batteriebetriebene Chiffrierdiktaphon heraus und machte es aufnahmebereit. »Scott«, sprach er hinein, »ich muß dir eine furchtbar wichtige Sache mitteilen. Ich bestehe darauf, daß du sofort handelst. Ich will mich in die FDR-Berge einkaufen, weil die UN da einen riesigen Wohnkomplex errichten wird, speziell um den Henry-Wallace-Canyon herum. Überweise genug Gildegelder, natürlich in meinem Namen, um sicherzustellen, daß ich Anspruch auf die ganze Gegend habe, weil in ungefähr zwei Wochen Spekulanten von der ...«

Er brach ab, denn der Chiffrierer gab ächzend seinen Geist auf. Er klopfte dagegen, die Spulen drehten sich langsam weiter, blieben aber gleich wieder stehen.

Ich hatte angenommen, es wäre jetzt in Ordnung, dachte Arnie wütend. Hat dieser Jack Bohlen nicht daran herumgebastelt? Und dann fiel ihm ein, daß hier ja alles in der Vergangenheit stattfand, also bevor er Jack Bohlen benachrichtigt hatte; es konnte ja gar nicht funktionieren.

Dann muß ich's wohl dem Sekretärinnen-Geschöpf diktieren, wurde ihm klar. Er wollte schon auf einen Knopf auf dem Schreibtisch drücken, um sie herbeizurufen, überlegte es sich dann aber anders. Wie kann ich so etwas hier wieder reinlassen? fragte er sich. Aber es blieb ihm nichts weiter übrig. Er drückte auf den Knopf.

Die Tür öffnete sich, und sie kam herein. »Ich wußte, daß Sie nach mir verlangen würden, Arnie«, sagte sie und eilte stolzen Schrittes auf ihn zu.

»Hören Sie«, sagte er mit Autorität in der Stimme. »Kommen Sie mir nicht zu nahe, ich kann es nicht leiden, wenn man mir zu nahe kommt.« Aber noch während er sprach, erkannte er seine Ängste als das, was sie waren; es handelte sich um eine der grundlegenden Ängste eines Schizophrenen, daß man ihm zu nahe kommen und in seinen Bereich eindringen könnte. Angst vor Nähe, nannte man das; sie war darauf zurückzuführen, daß ein Schizophrener in jedem, der in seine Nähe kam, Feindseligkeit spürte. Dasselbe passiert mir jetzt, dachte Arnie. Und obwohl er das wußte, war ihm die Vorstellung unerträglich, das Mädchen an sich herankommen zu lassen; abrupt sprang er auf und hastete davon, zurück ans Fenster.

»Wie Sie wollen, Arnie«, sagte das Mädchen in einem maßlosen Tonfall, und trotz ihrer Worte kroch sie weiter auf ihn zu, bis sie ihn wie vorhin fast berührte. Er stellte fest, daß er deutlich ihren Atem hörte, sie witterte, den säuerlichen Körpergeruch, ihren Atem, der heiß und unangenehm war ... Er glaubte ersticken zu müssen, weil er nicht genug Luft in die Lungen bekam.

»Ich werde Ihnen jetzt etwas diktieren«, sagte er und rückte von ihr ab, brachte eine gewisse Distanz zwischen sie beide. »Es geht an Scott Temple und sollte chiffriert werden, damit die es nicht lesen können.« Die, dachte er. Also, das war schon immer seine Angst gewesen; daran war der Junge nicht schuld. »Ich habe hier eine brandheiße Sache«, diktierte er. »Du mußt sofort handeln; es hängt viel davon ab, ein echter Geheimtip. Die UN werden in den FDR-Bergen ein riesiges Stück Land kaufen ...«

Er diktierte weiter und weiter, und noch während er sprach, befiel ihn Furcht, eine grauenhafte Angst, die mit jedem Moment größer wurde. Angenommen, sie schrieb einfach nur diese Kwatsch-Kwatsch-Wörter auf? Ich muß mich davon überzeugen, sagte er sich; ich muß mich in ihre Nähe begeben und selbst nachsehen. Aber er schreckte davor zurück, vor dieser Nähe. Er brach ab.

»Hören Sie, Miss«, sagte er. »Reichen Sie mir doch mal Ihren Block; ich möchte gern sehen, was Sie da schreiben.«

»Arnie«, sagte sie mit ihrer rauhen, schleppenden Stimme, »Sie können daraus nichts ersehen.«

»W-was?« fragte er erschrocken.

»Das ist Steno.« Sie lächelte ihn kalt und mit spürbarer Boshaftigkeit an, wie ihm schien.

»Okay«, sagte er und gab auf. Er machte weiter und beendete sein Diktat, dann bat er sie, es zu chiffrieren und sofort an Scott abzusenden.

»Und dann?« sagte sie.

»Wie meinen Sie das?«

»Sie wissen schon, Arnie«, sagte sie, und der Ton, in dem sie das sagte, ließ ihn vor Schreck und purem körperlichen Ekel zusammenfahren.

»Nichts dann«, sagte er. »Verschwinden Sie einfach; und kommen Sie nicht wieder.« Er ging ihr nach und schlug lautstark die Tür hinter ihr zu.

Ich werde wohl direkt mit Scott Verbindung aufnehmen müssen, sagte er sich; ich kann ihr nicht trauen. Er setzte sich an den Schreibtisch, nahm den Hörer ab und wählte.

Gleich darauf klingelte es am anderen Ende. Aber es klingelte vergeblich; er bekam keine Antwort. Warum? wunderte er sich. Hat er mich im Stich gelassen? Ist er gegen mich? Arbeitet er mit denen zusammen? Ich kann ihm nicht trauen; ich kann niemandem trauen. Und dann sagte plötzlich eine Stimme: »Hallo. Hier Scott Temple.« Und ihm wurde klar, daß eigentlich nur wenige Sekunden vergangen waren und es nur ein paarmal geklingelt hatte; all diese Gedanken an Verrat und Verhängnis waren ihm im Bruchteil einer Sekunde durch den Kopf geschossen.

»Hier ist Arnie.«

»Hey, Arnie. Was gibt's? Ich hör doch an deiner Stimme, daß was nicht stimmt. Spuck's aus!«

Mein Zeitgefühl ist den Bach runter, wurde Arnie klar. Ich hatte den Eindruck, das Telefon klingelt eine halbe Stunde lang, aber das stimmte gar nicht.

»Arnie«, sagte Scott. »Melde dich. Bist du dran, Arnie?«

Das ist die schizophrene Verwirrung, wurde Arnie klar. Es ist ganz einfach ein Zusammenbruch des Zeitgefühls. Jetzt kriege ich's auch, weil das Kind es hat.

»Himmelherrgott!« sagte Scott wütend.

Mit größter Mühe durchbrach Arnie seine Gedankenkette und sagte: »Ähm ... Scott. Hör zu. Ich hab einen brandheißen Tip bekommen; wir müssen sofort handeln, klar?« Er erzählte Scott ausführlich von der UN und den FDR-Bergen. »Du siehst also«, schloß er, »daß es sich für uns lohnt, alles, was wir haben, in diese Sache hineinzustecken, und zwar stantepede. Findest du nicht auch?«

»Bist du dir sicher mit dem Tip?« sagte Scott.

»Klar bin ich das! Und wie!«

»Wie kommt's? Ehrlich gesagt, Arnie, ich mag dich, aber ich weiß auch, daß du verrückte Einfalle hast, ständig änderst du plötzlich den Kurs. Es würde mir ganz schön stinken, wenn ich schließlich auf diesem Hundsköttel von FDR-Land sitzen bliebe.«

Arnie sagte: »Du hast mein Wort drauf.«

»Läuft nicht.«

Er glaubte, seinen Ohren nicht trauen zu dürfen. »Wir arbeiten doch schon seit Jahren zusammen und haben uns immer an unsere Absprachen halten können«, würgte er hervor. »Was ist denn los, Scott?«

»Das frage ich dich«, sagte Scott ruhig. »Wie kommt's, daß ein Mann mit deinen Geschäftserfahrungen auf so einen Schwindel hereinfällt? Der eigentliche Tip lautet, daß die FDR-Berge wertlos sind, und das weißt du; ich weiß, daß du es weißt. Jeder weiß es. Also was hast du vor?«

»Vertraust du mir nicht mehr?«

»Warum sollte ich dir vertrauen? Beweis mir, daß es ein echter Insidertip ist und nicht bloß wieder die übliche heiße Luft.«

Mit Mühe sagte Arnie: »Menschenskinder, wenn ich's beweisen könnte, müßtest du mir doch nicht vertrauen;

Vertrauen wäre gar nicht nötig. Okay, ich zieh die Sache allein durch, und wenn du mitkriegst, was dir dabei entgangen ist, gib dir die Schuld, nicht mir.« Zitternd vor Wut und Enttäuschung knallte er den Hörer auf. Das war vielleicht ein Ding! Er konnte es kaum glauben; Scott Temple, der einzige auf der Welt, mit dem er telefonisch Geschäfte machen konnte. Alle anderen konnte man gleich als Fischfutter verwenden, solche Gangster waren das ...

Es ist ein Mißverständnis, sagte er sich. Aber auf Grund eines tiefen, fundamentalen, heimtückischen Mißtrauens. Eines schizophrenen Mißtrauens.

Ein Zusammenbruch, stellte er fest, der Kommunikationsfähigkeit.

Er stand auf und sagte laut: »Ich werde wohl selbst nach Fax Grove gehen müssen, um die Leute vom Grundbuchamt zu sprechen. Und meinen Anspruch anzumelden.« Und dann erinnerte er sich: Er mußte erst sein Terrain abstecken, das Gelände in den FDR-Bergen aufsuchen. Und bei dem Gedanken schrie alles in ihm vor Empörung auf. In diese furchtbare Gegend, in der eines Tages das Gebäude auftauchen würde?

Nun ja, da gab es kein Entrinnen. Zunächst mußte er sich in einer der Gildewerkstätten einen Pflock anfertigen lassen, dann würde er sich einen Hubschrauber nehmen und zum Henry Wallace fliegen.

Als er darüber nachdachte, schien es ihm eine quälend schwierige Abfolge von Handlungen zu sein, die es da auszuführen galt. Wie sollte er das alles schaffen? Als erstes mußte er einen Metallarbeiter der Gilde finden, der ihm seinen Namen in den Pflock eingravierte; das konnte ja Tage dauern. Wen kannte er in den Werkstätten hier in Lewistown, der das für ihn machte? Und wenn er den Betreffenden nicht einmal kannte, wie sollte er ihm dann vertrauen?

Schließlich - als kämpfte er schwimmend gegen eine reißende Strömung an - gelang es ihm, den Hörer von der Gabel zu nehmen und eine Werkstatt anzurufen.

Ich bin so müde, daß ich mich kaum noch bewegen kann, wurde ihm klar. Warum? Was habe ich heute schon groß getan? Sein Körper schien vor Erschöpfung dem Zusammenbruch nahe. Wenn ich doch nur etwas Ruhe fände, dachte er bei sich. Wenn ich doch nur schlafen könnte.

*

Es war schon später Nachmittag, als es Arnie Kott endlich gelang, den Metallpflock mit seinem eingravierten Namen aus einer Gildewerkstatt abzuholen und Anweisung zu geben, daß ein KAG-Hubschrauber ihn in die FDR-Berge flog.

»Hallo, Arnie«, begrüßte ihn der Pilot, ein nett aussehender junger Mann vom Pilotenpool der Gilde.

»Hallo, mein Junge«, murmelte Arnie, als der Pilot ihm in den bequemen Spezialledersitz half, den man in der Siedlungspolsterei eigens für ihn angefertigt hatte. Während der Pilot sich vor ihm in seinen Sitz zwängte, sagte Arnie: »Jetzt machen Sie schon, ich bin spät dran; ich muß auf dem kürzesten Weg zum Grundbuchamt in Pax Grove.«

Und ich weiß, daß wir es nicht schaffen werden, sagte er sich. Uns bleibt einfach nicht genug Zeit.

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