Nachwort

Im vorletzten Kapitel von Pu der Bär stechen Christopher Robin und Pu in See, um Ferkel zu retten, und zwar in einem Schiff (eigentlich ein umgedrehter Regenschirm), das »Pus Verstand« heißt. Das ist insofern bemerkenswert, da der besondere Zauber der Pu-Geschichten darin besteht, daß wir die Gelegenheit bekommen, uns für eine Weile in Pus Kopf aufzuhalten. So wie die nahezu unwiderstehliche Anziehungskraft der Science-Fiction-Romane von Philip K. Dick darin besteht, daß wir die Gelegenheit bekommen, in Phils Kopf herumzureisen und vielleicht sogar einen rettenden Hafen dort zu finden.

Seit dem psychotischen Erlebnis mit dem Personalchef bei Corona Corporation hatte ein Gedanke ihn ständig verfolgt: Angenommen, es war keine Halluzination gewesen? Angenommen, der sogenannte Personalchef war genau das, was er in ihm gesehen hatte, ein künstliches Gebilde, eine Maschine wie diese Lehrmaschinen?

Wenn das zutraf, dann gab es gar keine Psychose.

Statt um eine Psychose, ging es ihm immer wieder durch den Kopf, hatte es sich eher um eine Art Vision gehandelt, ein kurzes Aufglimmen totaler Realität, der man die Maske vom Gesicht gerissen hatte. Und das war ein so vernichtender, ein so radikaler Gedanke, daß er nicht mit seinen sonstigen Auffassungen zusammenpaßte. Und daraus war die Geistesverwirrung entstanden.

- Marsianischer Zeitsturz

Philip K. Dick war der Dostojewski, der große Fragende, der zweifelnde Prophet der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Wie wohl kein anderer Schriftsteller seiner Zeit ergründete er die große Ambivalenz der menschlichen Existenz, das Dilemma des Individuums, das seinen Platz einzunehmen versucht in einer schwer zu erfassenden Wirklichkeit und einer sich mit rasender Geschwindigkeit wandelnden Zeit.

»Things are seldom what they seem, skim milk masquerades as cream«, heißt es in W. S. Gilberts Operette H. M. S. Pinafore aus dem Jahr 1878, und Philip K. Dick widmete sich sein Leben lang der Niederschrift eines Riesenromans (mehr als zwei Millionen Wörter), der sich aus diesem einen Gedanken entwickelt. Fünfundvierzig Romane, von einem einzelnen geschrieben, Stück für Stück in einzelnen Büchern veröffentlicht, und doch von seinen zahlreichen Lesern auf der ganzen Welt intuitiv als eine große fortlaufende - oder auch nicht fortlaufende -Geschichte verstanden, als ein großes Buch. Ein Buch über fiktionale Gestalten, die einen Blick auf die absolute Realität erhaschen, die immer wieder entdecken, daß die Dinge nicht das sind, was sie zu sein scheinen. Das ist dein Leben, Homo sapiens des 20. Jahrhunderts: Finde dich damit ab! Und wer sich nicht damit abfinden kann, dem mag die Lektüre von Philip K. Dicks Romanen wenigstens helfen, darüber zu lachen und sich nicht so allein zu fühlen. Phils Verstand ist ein merkwürdig anheimelnder Ort, denn auch wir haben seine verrückten Zweifel und Visionen gehabt. Durch ihn bekommt unsere eigene Verrücktheit etwas Gewitztes - vielleicht sogar Weises. Sehen Sie dasselbe wie ich?? Ja? Haben Sie dann vielleicht eine Ahnung, wie wir die nächsten Minuten, Stunden, Jahre überstehen sollen?

Es ist doch so: Denken Sie daran, daß wir alle nur aus Staub gemacht sind. Das verspricht zugegebenermaßen wenig Aussicht auf Erfolg, und davor dürfen wir die Augen nicht verschließen. Aber selbst wenn man bedenkt, daß zu Anfang einiges schiefgelaufen ist, halten wir uns eigentlich recht gut. Ich bin der festen Überzeugung, daß wir es, trotz der miserablen Situation, in der wir uns momentan befinden, schaffen können. Noch Fragen?

(Aus einem firmeninternen Audio-Memo an alle Pre-Fash-Berater der Perky Pat Layouts Inc., diktiert von Leo Bulero unmittelbar nach seiner Rückkehr vom Mars)

- Die drei Stigmata, des Palmer Eldritch

In Dicks Roman Ubik ist der Protagonist Joe Chip dabei, sein futuristisches Kondommium-Apartment zu verlassen:

Er ging energischen Schritts auf die Wohnungstür zu, drehte den Drücker herum und zog den Riegel zurück. Die Tür ließ sich nicht öffnen.

Sie sagte: »Fünf Cents, bitte.«

Er durchkramte seine Taschen. Keine einzige Münze mehr; nichts. »Ich zahle morgen«, sagte er. Erneut drehte er an dem Drücker. Das Schloß blieb zu. »Was ich dir zahle«, sagte er, »ist seinem Wesen nach ein Trinkgeld. Ich muß dich nicht bezahlen.«

»Das sehe ich anders«, sagte die Tür. »Bitte werfen Sie einen Blick in den Kaufvertrag, den Sie selbst unterschrieben haben, als Sie diese Wohnung erwarben.«

Joe Jedermann im Streit mit dem Computer, der für die Tür seines schäbigen, futuristischen Großstadtapartments zuständig ist, ist eine der komischen Schlüsselszenen in Dicks Meta-Roman; so wie der geschlagene Held in Now Wait for Last Year, der einen sprechenden Taxifahrerroboter um Verständnis und Rat bittet in der Frage, ob er seine Frau verlassen soll oder nicht, eine der tragikomischen Schlüsselszenen ist. Und es ist wiederum ein Apartmentgebäude, das sich als ein zentrales Motiv postmodernen Schreckens in einem an alptraumhaften Schrecken reichen Gesamtwerk in den Köpfen der Leser festgesetzt hat: das sogenannte Am-Web in Marsianischer Zeitsturz, einer slumartig heruntergekommenen Wohnheimanlage, gezeichnet von dem aus der Zeit gefallenen autistischen Kind Manfred Steiner, der eines Tages dort für hundertdreiundzwanzig Jahre als starrsinniger Pflegefall eingesperrt sein wird. Das ist nicht komisch. Vielen Lesern geht das zu sehr ans Eingemachte, obwohl der Gebäudekomplex noch gar nicht existiert in der steinigen marsianischen Ödnis der Franklin D. Roosevelt-Berge, sondern zur Zeit der Romanhandlung gerade erst Gegenstand erbitterter Grundstücksspekulationen ist.

Manfreds Horrorvision ist gleichzeitig Ausdruck der unauslöschlichen Greuel der jüngsten Menschheitsgeschichte wie auch seiner, Manfreds, eigenen unabwendbaren Zukunft und gleichzeitig Ausdruck seiner und unserer Gegenwart. Bei Dick wird der Schrecken des Am-Web mit Händen greifbar, und die Zeitsprünge, die Manfred erlebt und provoziert, scheinen auf mysteriöse Weise vertraut, glaubhaft, wiedererkennbar. Manfred ist ein paradoxes, zynisches (und gefährliches) Unschuldslamm, und wir können nicht umhin, uns mit ihm und seinen bizarren Umständen zu identifizieren, mitzufühlen mit ihm und den Menschen, deren Lebensweg er kreuzt: Jack, dem ex-schizophrenen Mechaniker; Doreen, Jacks gutaussehender und überraschend einfühlsamer Geliebter; Silvia, seiner verwirrten, tablettenabhängigen Ehefrau; und selbst mit Arnie Kott, dem maßlosen, von Selbstzweifeln geplagten komischen Despoten und Führer der marsianischen Kanalarbeitergewerkschaft. Dies ist kein gewöhnlicher Roman. Es ist ein Philip-K.-Dick-Abenteuer, und die Gefahr ist, wie viele festgestellt haben, daß, wer es einmal erlebt hat, süchtig danach wird. Selbst der Autor hatte mit Entzugserscheinungen zu kämpfen:

Was mir wichtig ist, ist das Schreiben, der Akt der Romanverfertigung, denn während ich dabei bin, in dem Moment bin ich in der Welt, über die ich schreibe. Sie ist für mich durch und durch real. Dann, wenn ich fertig bin und aufhören muß, mich für immer von dieser Welt verabschieden muß, bin ich wie am Boden zerstört. Die Männer und Frauen haben aufgehört zu reden. Sie bewegen sich nicht mehr. Ich bin allein, es fehlt an Geld, und, wie gesagt, ich bin jetzt fast vierzig ... und ich schwör mir: Ich werde nie mehr einen Roman schreiben. Ich werde mir nie mehr Menschen ausdenken, von denen ich mich am Ende trennen muß. Das ist es, was ich mir vornehme ... und still und heimlich beginne ich ein neues Buch.

Die Welt, über die Dick schreibt, ist für seine Leser so real, wie sie für ihn real ist, und das macht Dicks besondere Leistung als Romanautor aus. Patricia Warrick macht in ihrem Buch Mind in Motion. The Fiction of Philip K. Dick eine wichtige Beobachtung, wie er das bewerkstelligt:

In Marsianischer Zeitsturz sehen wir die Welt nicht nur mit den Augen der Hauptfiguren wie Jack Bohlen und Arnie Kott, sondern auch aus der Sicht fast aller Nebenfiguren -Otto Zitte, Anne Esterhazy, Dr. Glaub, Silvia Bohlen. Das Ergebnis ist eine Fülle und eine Tiefe der Charakterisierungen, die uns mit jedem Individuum mitfühlen und mitleiden lassen. Die Ökonomie der Mittel ist dabei beeindruckend - eine rasche Skizzierung mit sicheren Strichen, wie bei einem Zeichner, der auf einem Skizzenblock vor unseren Augen eine Figur zum Leben erweckt. In einem kurzen Kapitel wird Norbert Steiner mit seinen Schuldgefühlen und seinem qualvollen Innenleben so real, daß wir das Unvermeidliche seines Selbstmords sofort begreifen.

Dicks Äußerung über den Produktionsprozeß und Warricks Äußerung über die Lektüreerfahrung bedingen sich gegenseitig. Er kann seine Figuren so leicht und effektiv zeichnen, weil er keine Distanz zu ihnen hat. Er verwendet sie nicht als Symbole (obwohl sie für den Leser reiche symbolische Bedeutung bekommen können), er feilt nicht an ihnen herum im Hinblick auf einen Plot oder eine Botschaft. Sie sind für ihn real, er schreibt auf, was er sie sagen hört und was er sie tun sieht. Wenn die Dinge, die sie tun, Wiederholungen von Handlungen und Begebenheiten aus seinem eigenen Leben sind, dann deshalb, weil es Projektionen seines Unbewußten sind, wie Personen und Situationen in Träumen. Er läßt uns mit ihnen allen mitfühlen, weil er es auch tut. Das ist keine Frage der Technik. Es ist sein konkretes Erleben im Moment des Schreibens, das wir beim Lesen teilen können.

Dr. Milton Glaub ist ein faszinierendes Beispiel. Er ist der einzige Psychiater im Roman, und wenngleich Dick (und sein Haupt-alter-ego im Roman Jack Bohlen) große Vorbehalte Psychiatern gegenüber hegt, die er als Tyrannen erlebt hat, die ihre Patienten mit einer PseudoWirklichkeit abspeisen, so ist Glaub doch kein Scharlatan, nicht die Art von eindeutigem Charakter, den man vielleicht von einem Autor erwarten könnte, der sich anschickt, sein Hauptwerk über die subjektiven Welten von Schizophrenen zu schreiben. Dick verwendet Glaub nicht als Symbol im gewöhnlichen dramaturgischen Sinn. Er beobachtet ihn, ehrlich interessiert und mitfühlend. Dies trotz des engen biographischen Bezugs, den Dick selbst nicht eher bemerkt haben dürfte, bis seine Helden so und nicht anders zu handeln anfingen und er es aufzeichnete.

Hm. Höchstwahrscheinlich hat er ihn doch bemerkt, weil er die Handlung sehr bedacht in die Vorzeitigkeit verlegt, wenn er in Kapitel fünf Jack Bohlen beschreibt, wie dieser sich erinnert an seine schizophrene Halluzination angesichts dieses Personalchefs: »Der Mann war tot ... Die verdorrten Organe hatte man durch künstliche Bauteile ersetzt ... alles bestand aus Plastik und rostfreiem Stahl.« Dem folgt eine etwas weniger dramatische Szene in Kapitel sieben: »(Jack) sah den Psychiater im Licht absoluter Realität: ein Ding, aus kalten Drähten und Schaltern zusammengesetzt, keinesfalls ein Mensch, nicht aus Fleisch und Blut geschaffen.« Weniger dramatisch, weil Jack jetzt damit »klarkommt«, er verschweigt einfach seine Vision, der Psychiater bemerkt das momentane Entsetzen des Mannes nicht, ebensowenig sein Boss Arnie ... aber die junge Frau, Doreen, deren Bruder schizophren war, bemerkt sehr wohl, was in Jack vorgeht, und reagiert mit Interesse und Anteilnahme. »Ich würde jeden gern an der Nase herumführen«, erzählt er ihr, wenn sie allein sind, denn sollte er ehrlich sein, müßte er sagen: »Doc, ich sehe Sie im Licht der Ewigkeit, und Sie sind tot.«

Die autobiographische Parallele, auf die ich anspielte, beschreibt Dick selbst in einem Interview im Jahr 1977:

Ich erinnere mich, wie ich, noch als Teenager, bei einem Psychiater war - ich hatte Probleme in der Schule -, und ich erzählte ihm, daß ich mich seit einiger Zeit fragte, ob unser Wertesystem - was richtig ist und was falsch - eine absolute Wahrheit darstellte oder bloß etwas kulturell Bedingtes. Und er sagt: »Das ist ein Symptom deiner Neurose, daß du die Werte Richtig und Falsch anzweifelst.« Ich besorgte mir daraufhin eine Ausgabe der englischen Zeitschrift Nature ... und da gab's einen Artikel, in dem gesagt wurde, daß unsere Werte im Grunde genommen alle von der Bibel abgeleitet worden waren und empirisch nicht verifiziert werden können und daß sie daher in die Kategorie des Nicht-Begründbaren und NichtBeweisbaren fallen. Ich zeigte ihn dem Arzt, und er wurde richtig böse und sagte: »Das ist nichts als Dreck. Dreck, sage ich!« Wenn ich jetzt zurückblicke, sehe ich, daß dieser Mann völlig zementiert war, eine vollzementierte primitive Gußform. Ich meine, sein Gehirn war tot für meine Begriffe. Irgendwo auf seinem Lebensweg war sein Kopf zubetoniert. Er dachte, gewisse Dinge sind absolut richtig, empirisch richtig. Psychiater sind naive Philosophen. Die meisten jedenfalls. Mit Ausnahme von Laing und so weiter.

Wie lernen wir nun Dr. Glaub in Marsianischer Zeitsturz kennen? Bei seinem ersten Auftritt im Roman (er wird beschrieben als »groß, schlank, in weißem Kittel, in der Hand ein Klemmbrett«) trifft er auf Norbert Steiner (die Perspektivfigur in dieser kurzen Szene), den unglücklichen Vater des autistischen Jungen Manfred Steiner. Manfred lebt im Ben-Gurion-Camp, einem Heim für »anomale Kinder« im israelischen Sektor des kolonisierten Mars. Dr. Glaub ist der Anstaltspsychologe im B-G-Camp. Bei seinem ersten Erscheinen beeindruckt er den Leser mit seinem Einfühlungsvermögen und seinem Engagement; er berichtet begeistert von einer neuen Theorie über Autismus als eine Art »Störung der Zeitwahrnehmung«, von der er glaubt, daß sie es ihm ermöglichen wird, Manfred dabei zu helfen, ein normales und glücklicheres Leben zu führen. Dr. Glaubs Zuversicht steht im Kontrast zur pessimistischen Haltung von Manfreds Vater: »>Träumereien<, unterbrach Steiner. >Sie werden nie mit meinem Sohn in Verbindung treten können.< Er wandte sich um und ließ Dr. Glaub stehen.«

Hier am Anfang wird Glaub porträtiert als umsichtiger, intellektuell versierter Wissenschaftler und Arzt - ein Symbol, wenn man denn so will, der Hoffnung. Wenn er dann einige Seiten später erneut auftaucht, ist er die Perspektivfigur (Philip K. Dick war ein Meister des Perspektivenwechsels), und wir stellen fest, wie dieses Symbol der Hoffnung im Innern von Unzufriedenheit und nur allzu menschlichen Geldsorgen gequält wird. Der »beste Psychiater auf dem Mars« wird also nicht so sehr als Autorität gezeigt (tatsächlich hat er selbst seine Mühe mit dem autoritären Arnie Kott, der die Macht hat, ihn, wenn er wollte, anzuheuern und seine finanzielle Not ein für allemal zu beheben), sondern als sympathisch und menschlich und, wie Joe Chip, irgendwie komisch.

Und weil er eine Philip-K.-Dick-Figur ist, bleibt die Sicht des Erzählers (und damit des Lesers) auf Glaub nicht darauf beschränkt. In einer dramatischen Szene sieht ihn nicht nur Jack als ein aus kalten Drähten und Schaltern zusammengesetztes Etwas, sondern auch Jacks vornehme Freundin Doreen (da sie darauf fixiert ist zu beobachten, wie die Leute auf Arnies Macht reagieren) bemerkt, wie neidisch der Doktor auf Jack ist, der scheinbar problemlos sein Auskommen bei dem großen Boss gefunden hat. Von da an geht es bergab mit dem besten Psychiater auf dem Mars, wird er immer mehr zu einem neurotischen, wenig liebenswerten oder wenigstens eindeutig schwachen Menschen. Die Figuren in Dicks Romanen wechseln die Rollen je nachdem, wie sich die Sicht des Erzählers ändert, durch die Sicht der anderen Figuren auf sie; aber auch, wie die Figuren sich selbst sehen, ändert sich. Nichts ist dauerhaft. Sieht man mal ab von gewissen schwer zu definierenden menschlichen Werten und von einer alles unterminierenden Ungewißheit über den wahren Sinn von Vernunft, Realität und richtigem Handeln.

»Was ist hier los???« Diese Frage stellt sich in einem subjektiven wie objektiven Sinn, und wir sehen, wie die kollektive Sicht auf die Wirklichkeit selbst Gestalt annimmt und sich verändert, selbst wenn die einzelnen Figuren nicht diese kollektive Sicht teilen können und ihre Sichtweise selbst dauerndem Wechsel unterworfen ist ...

In einem wunderbar Dickschen satirischen Intermezzo in Kapitel vier erfahren wir, daß man auf dem Mars, oder in dieser zukünftigen Welt, Psychiater als Double für unliebsame öffentliche Auftritte mieten kann: »>Ich weiß es wirklich zu schätzen, daß Sie an meiner Stelle [zu der Party] gehen wollen, Doc. Ihr Psychiater nehmt einem eine ungeheure Last ab; ich scherze nicht, wenn ich sage, daß ich deswegen schon schlaflose Nächte hatte.< ... >Zerbrechen Sie sich darüber nicht weiter den Kopf<, sagte Dr. Glaub. Schließlich, dachte er, was ist schon so eine kleine Schizophrenie? Das ist es nämlich, was dir fehlt ... Ich befreie dich von deinem gesellschaftlichen Druck, und du kannst weiter in deinem chronischen Zustand unzureichender Anpassung verharren, wenigstens ein paar Monate lang. Bis die Gesellschaft wieder mit einer dramatischen Forderung an dich herantritt, die deine begrenzten Fähigkeiten übersteigt ...«

Die Figuren in Marsianischer Zeitsturz wechseln also nicht nur ihre Rollen (gut - böse, Freund - Feind etc.), sie können sich auch noch gegenseitig anheuern, um Rollen füreinander zu spielen. Bekäme Arnie Kott Wind davon, daß es einen Philip K. Dick gäbe, er würde es wohl auch schaffen, ihn zu bestechen, damit er den Plot des Romans zu seinen Gunsten abändert. Und Phil gibt zu bedenken, daß er in diesem Fall so käuflich wie jede einzelne seiner Figuren wäre; er nimmt für sich keine moralische Überlegenheit in Anspruch, nur weil er der Autor ist ...

Wie auch immer, wenn Glaub seinen letzten Auftritt im Roman hat (in Kapitel vierzehn), lebt er seine eigenen Neurosen ziemlich hilflos aus, lauert Arnie Kott, zusammen mit dessen Ex-Frau, auf, angeblich in einem Anfall von Selbstlosigkeit, um Jack Bohlen zu helfen, tatsächlich aber, so versteht es der Leser, entlädt er nur seinen irrationalen Haß auf einen Mann, der sich geweigert hat, Glaubs finanzielle Probleme zu lösen, als ihm dies, so Glaubs Meinung, möglich gewesen wäre. Keine besonders sympathische Figur mehr, je nachdem natürlich, wie sympathisch oder unsympathisch dem Leser auf der anderen Seite Arnie Kott ist (der allerdings zu diesem Zeitpunkt selbst ziemlich hilflos agiert). Wenn man so will, kann man den Psychiater Glaub hier als rehabilitiert betrachten; er ist durchaus aus Fleisch und Blut und alles andere als eine besonders effektiv funktionierende Maschine. Womit nichts gegen Jacks Blick auf die absolute Realität gesagt sei ...

Ich möchte Marsianischer Zeitsturz in die Reihe der »Greatest Hits« des zwanzigsten Jahrhunderts stellen und zwar als Synekdoche (das ist jener rhetorische Kniff, der es einem gestattet, mit einem Teil ein größeres Ganzes zu bezeichnen). Der Meta-Roman ist in gewisser Weise unteilbar, und man kann nicht einzelne Romane wie Marsianischer Zeitsturz oder Das Orakel vom Berge oder Ubik oder Die Wiedergeburt des Timothy Archer, so großartig sie sind, herauspicken und sie als Einzelwerke neben Moby Dick oder Huckleberry Finn oder Bleak House stellen, Werke, die für sich allein den Ruhm ihres Autors begründen könnten. Marsianischer Zeitsturz repräsentiert allerdings auf einzigartige Weise Dicks Gesamtwerk und seine Genialität. Und glauben Sie nicht, Sie könnten nach der Lektüre der Party-Szene (eins der psychedelischeren Kapitel in der Literatur des 20. Jahrhunderts) dieses wunderbar verwirrende Buch einfach beiseite legen. »... still und heimlich beginne ich ein neues Buch.« Phils Kopf (oder Jacks oder Manfreds) entkommen Sie so leicht nicht.


Paul Williams

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