Drei

Norbert Steiner stand es weitgehend frei, zu kommen und zu gehen, wie es ihm beliebte, denn er war selbständig. In einem kleinen Blechschuppen außerhalb von Bunche-wood Park stellte er Naturkost her, die ganz aus einheimischen Pflanzen und Mineralien gemacht wurde, ohne Konservierungsstoffe oder chemische Sprays oder nicht organische Düngemittel. Eine Firma in Bunchewood Park verpackte die Produkte für ihn in handelsübliche Kisten, Kartons, Gläser und Tüten, und dann fuhr Steiner über den Mars und verkaufte sie unmittelbar an den Verbraucher.

Sein Gewinn konnte sich sehen lassen, denn schließlich hatte er keine Konkurrenz; ihm gehörte der einzige Naturkostladen auf dem Mars.

Und außerdem hatte er noch einen Nebenerwerb. Er importierte von der Erde diverse Nahrungsmittel für Feinschmecker wie Trüffel, Gänseleberpastete, Kaviar, Känguruhschwanzsuppe, Danish-Blue-Käse, geräucherte Austern, Wachteleier und Rumkuchen; das alles war auf dem Mars nicht zugelassen, weil die UN versuchten, die Kolonien zu zwingen, hinsichtlich Nahrungsmitteln autark zu sein. Die UN-Ernährungsexperten behaupteten, es sei unsicher, Nahrungsmittel durch den Weltraum zu transportieren, weil sie durch schädliche Strahlung verseucht werden könnten, aber Steiner wußte es besser; der wahre Grund war ihre Furcht vor den Folgen, die ein Krieg drüben in der Heimat für die Kolonien haben könnte. Die Verschiffung von Nahrungsmitteln würde aufhören, und wenn die Kolonien dann nicht autark waren, würden wahrscheinlich innerhalb kürzester Zeit alle verhungern.

Obwohl er ihre Beweggründe bewunderte, wollte er sich doch nicht einfach fügen. Ein paar klammheimlich eingeführte Dosen französischer Trüffel würden die Milchfarmer nicht gleich veranlassen, ihre Produktion einzustellen, und auch die Schweine-, Ochsen- und Schafzüchter würde es nicht davon abhalten, den Kampf um die Rentabilität ihrer Höfe weiterzuführen. Man würde auch dann noch Apfel-, Pfirsich- und Aprikosenbäume pflanzen und pflegen, spritzen und gießen, wenn in den verschiedenen Siedlungen Gläser mit Kaviar zu zwanzig Dollar das Stück auftauchten.

Im Augenblick prüfte Steiner gerade eine Ladung Dosen mit Halvah, einer türkischen Pastete, die vergangene Nacht an Bord eines computergesteuerten Schiffes eingetroffen war, das Steiner mit Hilfe von bleichen Arbeitern gebaut hatte und das nun ständig zwischen Manila und dem kleinen Landeplatz im Ödland der FDR-Berge pendelte. Halvah verkaufte sich gut, besonders in Neu-Israel, und während er die Dosen auf eventuelle Beschädigungen hin untersuchte, schätzte Steiner, daß er für jede wenigstens fünf Dollar bekäme. Und dann war da noch der alte Arnie Kott in Lewistown, der ihm praktisch alle Arten von Süßigkeiten abnahm, die Steiner in die Finger bekommen konnte, sowie Käse und jeden erdenklichen Dosenfisch, ganz zu schweigen von kanadischem Räucherschinken, der in Fünf-Pfund-Konserven daherkam, genau wie holländischen Schinkenspeck. Arnie Kott war wirklich sein bester Einzelabnehmer.

Die Lagerhalle, in der Steiner gerade saß, befand sich in Sichtweite seines kleinen, illegalen privaten Landeplatzes. Aufrecht auf dem Platz stand die Rakete, die in der Nacht angekommen war; Steiners Techniker -er selbst besaß nicht die geringsten technischen Fähigkeiten - war eifrig damit beschäftigt, sie für den Rückflug nach Manila startbereit zu machen. Die Rakete war klein, nur sechs Meter hoch, aber ein schweizerisches Erzeugnis und ziemlich robust. Oben warf die rötliche Marssonne lange Schatten von den Höhen der umliegenden Berge, und Steiner hatte zur Erwärmung der Lagerhalle einen Kerosin-Ofen angestellt. Der Techniker sah Steiner aus dem Fenster der Lagerhalle schauen und nickte, um ihm zu bedeuten, daß die Rakete zur Aufnahme der Rückfracht bereit war, also legte Steiner seine Dosen mit Halvah vorerst beiseite. Er ergriff einen Handkarren und schob die Kartonladung durchs Tor der Lagerhalle hinaus auf den felsigen Platz.

»Das sieht aber nach mehr als hundert Pfund aus«, sagte sein Techniker kritisch, als Steiner mit dem Handkarren angerollt kam.

»Ganz leichte Kartons«, sagte Steiner. Sie enthielten ein getrocknetes Gras, das drüben auf den Philippinen so verarbeitet wurde, daß als Endprodukt eine Art Haschisch herauskam. Man rauchte es mit gewöhnlichem Virginia-Burley-Tabak vermischt und erzielte damit einen horrenden Preis in den Vereinigten Staaten. Steiner selbst hatte den Stoff noch nie probiert; für ihn waren physische und moralische Gesundheit untrennbar miteinander verbunden - er glaubte an seine Naturkost und verzichtete aufs Rauchen und Trinken.

Gemeinsam verluden er und Otto die Fracht in die Rakete, plombierten sie, und dann stellte Otto die Uhr des Leitsystems ein. In wenigen Tagen würde Jose Pesquito die Fracht zu Hause in Manila wieder entladen, die beigefügte Bestelliste durchgehen und Steiners Posten für den Rückflug zusammenstellen.

»Können Sie mich mit zurücknehmen?« fragte Otto.

»Ich fliege erst noch nach Neu-Israel«, sagte Steiner.

»Mir recht. Ich habe genug Zeit.«

Früher hatte Otto Zitte selbst einmal ein kleines Schwarzmarktgeschäft betrieben; er handelte ausschließlich mit elektronischen Ausrüstungen, hochzerbrechlichen Teilen in Miniaturausführung, die an Bord der gewöhnlichen Frachter, die zwischen Erde und Mars verkehrten, eingeschmuggelt wurden. Und davor hatte er versucht, so begehrte Schwarzmarktartikel wie Schreibmaschinen, Kameras, Tonbandgeräte, Pelze und Whiskey zu importieren, aber die Konkurrenz hatte ihn aus dem Feld geschlagen. Den Handel mit solchen lebensnotwendigen Gütern, die überall in den Kolonien im großen Stil verscherbelt wurden, hatten berufsmäßige Schwarzmarktspekulanten an sich gerissen, denen ihr enormes Kapital Rückendeckung gab und die über eigene durchorganisierte Transportsysteme verfügten. Und Otto war sowieso nicht mit dem Herzen dabei gewesen. Er wollte Mechaniker werden; eigentlich war er nur deshalb auf den Mars gekommen, ohne zu wissen, daß zwei oder drei Firmen, die wie Zünfte organisiert waren, das Monopol für das Reparaturgeschäft innehatten, zum Beispiel die Yee Company, für die Steiners Nachbar Jack Bohlen arbeitete. Otto hatte die Eignungsprüfungen gemacht, war aber nicht gut genug gewesen. Also hatte er nach etwa einem Jahr auf dem Mars begonnen, für Steiner zu arbeiten und ihm sein kleines Importunternehmen zu führen. Es war demütigend, aber wenigstens brauchte er keine Handlangerdienste in einem der kolonialen Arbeitstrupps zu leisten und draußen unter der Sonne die Wüste urbar zu machen.

Als Otto und Steiner zur Lagerhalle zurückgingen, sagte Steiner: »Ich persönlich kann diese Israelis ja nicht ausstehen, obwohl ich die ganze Zeit mit ihnen Geschäfte machen muß. Das ist einfach unnatürlich, wie die leben, in diesen Baracken, und ständig sind sie darauf aus, Obstgärten mit Orangen und Zitronen anzulegen, wissen Sie. Die haben einen Vorteil gegenüber allen anderen, weil sie zu Hause genauso gelebt haben wie wir hier, umgeben von Wüste und fast ohne alle Ressourcen.«

»Stimmt«, sagte Otto. »Aber eins muß man ihnen lassen: sie sind wirklich unermüdlich. Sie sind nicht faul.«

»Und nicht nur das«, sagte Steiner, »was die Ernährung angeht, sind sie die reinsten Heuchler. Schauen Sie sich bloß mal die Unmengen Dosen nicht koscheres Fleisch an, die sie von mir kaufen. Von denen hält sich keiner an die rituellen Diätvorschriften.«

»Na, wenn Sie nicht damit einverstanden sind, daß sie geräucherte Austern von Ihnen kaufen, dann verhökern Sie doch keine an die«, sagte Otto.

»Das ist deren Sache, nicht meine«, sagte Steiner.

Er hatte noch einen Grund, nach Neu-Israel zu fliegen, einen Grund, den nicht einmal Otto kannte. Einer von Steiners Söhnen lebte dort in einem Sondercamp für »abnorme Kinder«, wie sie genannt wurden. Unter diese Bezeichnung fiel jedes Kind, das physisch oder psychisch in einem Maß von der Norm abwich, daß es an der Public School nicht unterrichtet werden konnte. Steiners Sohn war autistisch, und die Lehrerin im Camp arbeitete nun schon seit drei Jahren mit ihm und versuchte, zwischen ihm und der menschlichen Kultur, in die er hineingeboren worden war, eine Verständigungsmöglichkeit zu schaffen.

Ein autistisches Kind zu haben war eine besondere Schande, weil die Psychologen der Meinung waren, daß dieser Zustand von einem Defekt der Eltern herrührte, gewöhnlich von einer Neigung zur Schizophrenie. Manfred Steiner, zehn Jahre alt, hatte noch nie ein Wort gesprochen. Er lief auf Zehenspitzen umher und wich den Menschen aus, als wären sie spitze, gefährliche Gegenstände. Körperlich war er ein großer, gesunder, blonder Junge, und ungefähr ein Jahr lang hatten die Steiners sich gefreut, ihn zu haben. Aber jetzt - selbst die Lehrerin in Camp B-G konnte ihnen nur noch wenig Hoffnung machen. Und Lehrerinnen waren immer optimistisch; das gehörte zu ihrem Beruf.

»Vielleicht bleibe ich den ganzen Tag in Neu-Israel«, sagte Steiner, als er und Otto die Halvah-Dosen in den Hubschrauber luden. »Ich muß dort jeden einzelnen verdammten Kibbuz besuchen, und das dauert Stunden.«

»Warum wollen Sie nicht, daß ich mitkomme?« wollte Otto ärgerlich wissen.

Steiner schurrte mit den Füßen, ließ den Kopf hängen und sagte schuldbewußt: »Sie verstehen mich falsch. Ich hätte gern Gesellschaft, aber ...« Für einen Moment erwog er, Otto die Wahrheit zu sagen. »Ich nehm Sie zur Traktorbus-Endstation mit und setz Sie dort ab - in Ordnung?« Er fühlte sich müde. Bei seiner Ankunft in Camp B-G würde er Manfred so wie immer vorfinden, jedermanns Blicken ausweichend, ständig an der Peripherie entlangstreifend, eher ein angespanntes, wachsames Tier als ein Kind ... Eigentlich brauchte er gar nicht hinzugehen, aber er würde es tun.

Insgeheim gab Steiner seiner Frau die alleinige Schuld; als Manfred noch ein Baby war, hatte sie nie mit ihm gesprochen oder ihm ein Zeichen der Zuneigung entgegengebracht. Da sie eine Ausbildung als Chemikerin hatte, verhielt sie sich intellektuell und sachlich, unangemessen für eine Mutter. Sie hatte das Baby gebadet und gefüttert, als wäre es ein Labortier wie eine weiße Ratte. Sie hatte es sauber und gesund erhalten, aber ihm nie etwas vorgesungen oder mit ihm gelacht, ihm nie etwas vorgelesen oder es mit der Sprache vertraut gemacht. Also war es natürlich autistisch geworden; was blieb ihm auch anderes übrig? Bei dem Gedanken daran wurde Steiner bitter. Das kommt davon, wenn man eine Frau mit Diplom heiratet. Wenn er dagegen an den Jungen der Bohlens nebenan dachte, wie er kreischte und lachte - aber man brauchte sich ja nur Silvia Bohlen anzusehen; sie war eine echte Mutter und Frau, vital, körperlich anziehend, lebendig. Sicher, sie war dominant und selbstsüchtig ... sie hatte einen ausgeprägten Sinn für Besitztum. Aber er bewunderte sie dafür. Sie war nicht sentimental; sie war stark. Man denke nur an die Wasserfrage und wie sie sich darin verhielt. Sie war einfach nicht kleinzukriegen, nicht einmal dann, wenn man so tat, als sei einem der Vorrat von zwei Wochen aus dem Wassertank ausgelaufen. Beim Gedanken daran lächelte Steiner wehmütig. Silvia Bohlen konnte man nichts vormachen, auch nicht für einen Augenblick.

Otto sagte: »Setzen Sie mich eben an der BusEndstation ab.«

Erleichtert sagte Steiner: »Gut. Sie brauchen dann auch nicht diese Israelis ertragen.«

Otto sah ihn scharf an. »Ich sagte Ihnen doch, Norbert, daß ich nichts gegen die habe.«

Gemeinsam bestiegen sie den Hubschrauber, und Steiner setzte sich an die Kontrollen und ließ den Motor an. Er sagte nichts mehr zu Otto.

*

Als er mit dem Hubschrauber auf dem Weizmann-Landeplatz nördlich von Neu-Israel niederging, hatte Steiner Schuldgefühle, weil er so schlecht über die Israelis gesprochen hatte. Er hatte es nur als Teil einer Rede getan, die Otto davon abbringen sollte, mit ihm zu kommen, aber trotzdem war es nicht richtig gewesen; es widersprach seinen wahren Gefühlen. Scham, wurde ihm klar. Deshalb hatte er das gesagt; Scham über seinen schwachsinnigen Sohn in Camp B-G ... was für ein mächtiger Antrieb das doch war, es konnte einen dazu bringen, alles Mögliche zu sagen.

Ohne die Israelis würde sein Sohn verwahrlosen. Es gab auf dem Mars sonst keine Anstalt für abnorme Kinder, obgleich zu Hause Dutzende solcher Institute existierten, sowie alle nur erdenklichen anderen Einrichtungen. Und die Kosten für Manfreds Aufenthalt in Camp waren so niedrig, als handelte es sich um eine bloße Formalität. Während er seinen Hubschrauber parkte und ausstieg, merkte Steiner, wie seine Schuldgefühle stärker wurden, bis er sich fragte, wie er den Israrelis überhaupt entgegentreten sollte. Ihm schien, daß es ihnen - Gott bewahre - vielleicht möglich sein könnte, seine Gedanken zu lesen, irgendwie intuitiv zu erfassen, was er woanders über sie gesagt hatte.

Aber das israelische Bodenpersonal begrüßte ihn freundlich, und seine Schuldgefühle verschwanden allmählich wieder; es stand ihm wohl doch nicht auf die Stirn geschrieben. Er schleppte sein schweres Gepäck über die Landebahn zum Parkplatz, wo der Traktorbus auf Passagiere wartete, um sie ins Hauptgeschäftsviertel zu bringen.

Er hatte den Bus bereits bestiegen und machte es sich gerade bequem, als ihm einfiel, daß er kein Mitbringsel für seinen Sohn hatte. Miss Milch, die Lehrerin, hatte ihm eingeschärft, immer etwas mitzubringen, etwas Bleibendes, was Manfred an seinen Vater erinnerte, wenn er wieder fort war. Steige ich eben irgendwo aus, sagte sich Steiner. Ein Spielzeug kaufen, vielleicht ein Spiel. Und dann fiel ihm ein, daß eine Mutter, die immer ihr Kind in Camp B-G besuchte, in Neu-Israel einen Geschenkartikelladen führte; Mrs. Esterhazy. Da konnte er hingehen; Mrs. Esterhazy kannte Manfred und verstand sich ganz allgemein gut auf abnorme Kinder. Sie würde wissen, was man ihm mitbringen konnte, und es käme nicht zu peinlichen Fragen etwa der Art: Wie alt ist der Junge?

An der Haltestelle, die dem Geschenkartikelladen am nächsten lag, verließ er den Bus wieder und ging auf dem Bürgersteig dahin, erfreute sich am Anblick der kleinen, gut geführten Läden und Büros. Neu-Israel erinnerte ihn in vieler Hinsicht an zu Hause; es war eine richtige Stadt, mehr noch als Bunchewood Park oder Lewistown. Man sah eine Menge Leute, die es meistens eilig hatten, als müßten sie dringenden Geschäften nachgehen, und er sog diese Atmosphäre von Handel und Wandel genüßlich ein.

Er erreichte den Geschenkartikelladen mit dem modernen Schild und den schräg abfallenden Glasfenstern. Abgesehen vom Marsgestrüpp auf dem Fenstersims hätte es auch ein Laden mitten in Berlin sein können. Er trat ein und sah Mrs. Esterhazy hinter der Theke stehen und lächeln, als sie ihn erkannte. Sie war eine attraktive, gesetzte Frau Anfang Vierzig, mit dunklen Haaren und immer gut gekleidet, immer munter und intelligent aussehend. Wie jeder wußte, war Mrs. Esterhazy in der Stadtpolitik und im Gemeinwesen ungeheuer aktiv; sie gab ein Nachrichtenblatt heraus und gehörte ständig irgendwelchen Komitees an.

Daß sie ein Kind in Camp B-G hatte: das war ein Geheimnis, das nur wenige der anderen Eltern kannten, und natürlich die Belegschaft im Camp selbst. Es war ein kleines Kind, erst drei Jahre alt, das an schrecklichen körperlichen Mißbildungen litt, die damit in Zusammenhang gebracht wurden, daß es während seines intrauterinen Daseins Gammastrahlen ausgesetzt war. Er hatte es einmal gesehen. In Camp B-G gab es viele ernüchternde Abnormitäten, aber er hatte sie mit der Zeit akzeptiert, unabhängig von ihrem Äußeren. Anfangs hatte es ihn erschreckt, dieses Esterhazy-Kind; es war so klein und verschrumpelt, mit großen Augen wie denen eines Lemuren. Es hatte eigenartige Spinnwebhände, als wäre es für eine Wasserwelt vorgesehen. Irgendwie hatte er den Eindruck gehabt, daß seine Sinne erstaunlich scharf waren; mit gespannter Aufmerksamkeit hatte es ihn beobachtet und offenbar Tiefen in ihm ergründet, die sonst niemandem zugänglich waren, vielleicht nicht einmal ihm selbst ... Es war ihm vorgekommen, als streckte es irgendwelche Fühler aus und sondierte seine Geheimnisse, und dann hatte es sich zurückgezogen und ihn auf der Grundlage dessen, was es empfangen hatte, anerkannt.

Das Kind, hatte er vermutet, war ein Marsianer, das heißt auf dem Mars geboren, von Mrs. Esterhazy und einem Mann gezeugt, der nicht mehr ihr Gatte war, denn sie war nicht verheiratet. Das hatte er zufällig im Gespräch von ihr erfahren; sie hatte es nebenbei erwähnt, ohne viel Aufhebens darum zu machen. Sie war schon seit einigen Jahren geschieden. Anscheinend war das Kind in Camp B-G also unehelich zur Welt gekommen, was Mrs. Esterhazy, wie so viele moderne Frauen, jedoch nicht als Schande empfand. Steiner teilte ihre Einstellung.

Steiner setzte sein schweres Gepäck ab und sagte: »Was für einen hübschen kleinen Laden Sie doch haben, Mrs. Esterhazy.«

»Danke«, sagte sie und kam hinter der Theke hervor. »Was kann ich für Sie tun, Mr. Steiner? Sind Sie hier, um mir Yoghurt und Weizenkeime zu verkaufen?« Sie zwinkerte mit ihren dunklen Augen.

»Ich brauche ein Geschenk für Manfred«, sagte Steiner.

Ihr Gesicht nahm einen sanften, mitfühlenden Ausdruck an. »Verstehe. Nun ...« Sie entfernte sich und ging zu einer der Theken. »Ich habe Ihren Sohn gestern gesehen, als ich das B-G besuchte. Zeigt er vielleicht Interesse an Musik? Autistische Kinder finden oft Gefallen an Musik.«

»Er zeichnet gern. Er malt ständig Bilder.«

Sie griff nach einem kleinen flötenartigen Instrument aus Holz. »Das wurde hier angefertigt. Und gut gemacht ist es auch.« Sie hielt es ihm hin.

»Ja«, sagte er. »Das nehme ich.«

»Miss Milch verwendet die Musik als Methode, um an die autistischen Kinder im B-G heranzukommen«, sagte Mrs. Esterhazy, als sie die Holzflöte einpackte. »Besonders Tanz.« Dann zögerte sie. »Mr. Steiner, Sie wissen, daß ich ständig Verbindung mit der politischen Szene zu Hause habe. Ich ... es geht das Gerücht um, daß die UN erwäge ...« Sie senkte die Stimme, das Gesicht blaß. »Ach, ich hasse es, Ihnen Kummer zu bereiten, Mr. Steiner, aber wenn etwas Wahres daran ist, und es hat ganz den Anschein ...«

»Weiter.« Aber er wünschte jetzt, er wäre gar nicht erst hereingekommen. Ja, Mrs. Esterhazy wußte über wichtige Vorfälle Bescheid, und schon bei dem Gedanken

- ohne daß er mehr gehört hatte - wurde ihm unwohl.

Mrs. Esterhazy sagte: »Man munkelt, daß bei der UN gerade über eine Maßnahme beraten werde, die mit abnormen Kindern zu tun hat.« Ihre Stimme bebte. »Sie hätte zur Folge, daß man Camp B-G schließt.«

Erst nach einer Weile gelang es ihm zu sagen: »Aber warum denn?« Er starrte sie an.

»Sie fürchten - na ja, sie wollen nicht, daß auf den Kolonialplaneten etwas auftaucht, was sie >schadhaften Bestand< nennen. Sie wollen die Rasse rein erhalten. Können Sie das verstehen? Ich kann es, und trotzdem -also, gutheißen kann ich es nicht. Wahrscheinlich wegen meines eigenen Kindes. Nein, gutheißen kann ich es nicht. Über die abnormen Kinder zu Hause zerbrechen sie sich nicht den Kopf, weil sie an sich selbst nicht die gleichen Ansprüche stellen wie an uns. Man muß den Idealismus und die Besorgnis verstehen, die sie für uns zeigen ... Erinnern Sie sich noch an ihre Gefühle, bevor Sie mit Ihrer Familie hierher auswanderten? Zu Hause betrachten sie die Existenz abnormer Kinder auf dem Mars als Zeichen dafür, daß eines der Hauptprobleme der Erde in die Zukunft verpflanzt wurde, denn wir sind für sie die Zukunft, und ...«

Steiner unterbrach sie. »Sind Sie sich mit dem Gesetzentwurf sicher?«

»Mein Gefühl sagt ja.« Sie sah ihn unverblümt an, das Kinn vorgereckt, die intelligenten Augen ruhig. »Wir können gar nicht vorsichtig genug sein; es wäre schrecklich, wenn sie Camp B-G schlössen und ...« Sie beendete den Satz nicht. Er las etwas Unaussprechliches in ihren Augen. Man würde die abnormen Kinder, seinen Jungen und ihren, auf irgendeine schnelle, schmerzlose, wissenschaftliche Art und Weise umbringen. Meinte sie das?

»Sprechen Sie es aus«, sagte er.

Mrs. Esterhazy sagte: »Man würde die Kinder einschläfern.«

Aufgebracht sagte er: »Sie meinen wohl töten.«

»Oh«, sagte sie, »wie können Sie dieses Wort benutzen, als wär's Ihnen egal?« Sie starrte ihn entsetzt an.

»Mein Gott«, sagte er mit heftiger Bitternis. »Wenn das wahr ist ...« Aber er glaubte ihr nicht. Vielleicht, weil er nicht wollte? Weil es zu grauenhaft war? Nein, dachte er. Weil er ihren Instinkten nicht traute, ihrem Realitätssinn; sie hatte lediglich ein abstruses, hysterisches Gerücht aufgeschnappt. Vielleicht gab es ja einen Gesetzentwurf, der sich mit einem Randaspekt befaßte, von dem Camp B-G und die Kinder in irgendeiner Hinsicht betroffen waren. Aber unter dieser Drohung hatten sie - die Eltern der abnormen Kinder -von jeher gelebt. Sie hatten schon von der zwangsweisen Sterilisierung beider Elternteile und ihrer Nachkommen gelesen, die man in Fällen vorgenommen hatte, in denen die Geschlechtsdrüsen sich erwiesenermaßen dauerhaft verändert hatten, in der Regel unter Einwirkung ungewöhnlich hoher Dosen Gammastrahlung.

»Wer in der UN hat den Gesetzentwurf eingebracht?« fragte er.

»Sechs Mitglieder des Interplanetaren Gesundheitsund Wohlfahrtsausschusses sollen das Gesetz entworfen haben.« Sie begann zu schreiben. »Hier sind ihre Namen. Also, Mr. Steiner, wir wären Ihnen verbunden, wenn Sie an diese Männer schrieben, und jedem, von dem Sie wissen, daß er ...«

Er hörte kaum zu. Er bezahlte seine Flöte, bedankte sich, nahm das gefaltete Papier entgegen und ging zum Ausgang des Geschenkartikelladens.

Verdammt noch mal, wie sehr wünschte er, ihn gar nicht erst betreten zu haben! Ob sie solche Geschichten gern erzählte? Gab es nicht so schon genug Probleme auf der Welt, auch ohne Weibergeschwätz, mit denen Frauen mittleren Alters hausieren gingen, die sich besser einen Teufel um öffentliche Belange scherten?

Aber eine leise Stimme in ihm sagte: Vielleicht hat sie ja recht. Man muß den Tatsachen ins Auge sehen. Im Gehen ergriff er sein schweres Gepäck, verwirrt und verängstigt, und war sich kaum der neuen kleinen Läden bewußt, an denen er vorbeikam, als er in Richtung Camp B-G zu seinem wartenden Sohn eilte.

*

Als er das Solarium von Camp Ben-Gurion mit seiner großen Glaskuppel betrat, stand dort die junge, strohblonde Miss Milch in Arbeitskittel und Sandalen, mit Lehm und Farbe bespritzt, die Augenbrauen in nervöser Hektik zusammengezogen. Sie warf den Kopf zurück und strich sich das zerzauste Haar aus der Stirn, während sie auf ihn zukam. »Hallo, Mr. Steiner. Das war vielleicht ein Tag. Zwei neue Kinder, und eines davon das nackte Grauen.«

»Miss Milch«, sagte er, »ich habe gerade mit Mrs. Esterhazy in ihrem Laden gesprochen ...«

»Hat sie Ihnen von dem angeblichen Gesetzentwurf der UN erzählt?« Miss Milch sah müde aus. »Ja, einen solchen Gesetzentwurf gibt es. Anne bekommt alle Arten von Insiderinformationen, obwohl mir schleierhaft ist, wie sie das macht. Versuchen Sie in Manfreds Nähe möglichst jede stärkere Gemütsbewegung zu vermeiden; die Neuzugänge heute haben ihn schon genug aufgeregt.« Sie schickte sich an, Mr. Steiner aus dem Solarium durch den Flur zum Spielzimmer zu führen, in dem sein Sohn sich aufhalten mußte, doch er eilte ihr nach und hielt sie zurück.

»Was können wir gegen diesen Gesetzentwurf tun?« wollte er atemlos wissen. Er stellte seine Koffer ab und hielt jetzt nur noch die Papiertüte in der Hand, in die Mrs. Esterhazy die Holzflöte gepackt hatte.

»Ich weiß nicht, ob wir überhaupt etwas tun können«, sagte Miss Milch. Sie ging langsam auf die Tür zu und öffnete sie. Der Lärm von Kinderstimmen drang schrill und laut an seine Ohren. »Selbstverständlich haben die Behörden von Neu-Israel und zu Hause in Israel heftig protestiert, und desgleichen mehrere andere Regierungen. Aber davon ist ja soviel geheim; der Gesetzentwurf ist geheim, und alles muß unter dem Siegel der Verschwiegenheit geschehen, damit keine Panik ausgelöst wird. Das Thema ist wirklich heikel. Eigentlich weiß keiner so recht, was die Öffentlichkeit darüber denkt, oder auch nur, ob man auf sie hören sollte.« Ihre Stimme, müde und brüchig, wurde schleppend, als verlöre sie jede Kraft. Doch dann schien sie sich wieder zu fangen. Sie klopfte ihm auf die Schulter. »Ich denke, das Äußerste, was sie bei einer Schließung des B-G tun könnten, wäre, die abnormen Kinder in die Heimat zu deportieren; ich glaube nicht, daß sie jemals so weit gehen würden, sie zu vernichten.«

Steiner sagte rasch: »In Lager drüben auf der Erde.«

»Suchen wir jetzt lieber Manfred«, sagte Miss Milch. »Einverstanden? Ich glaube, er weiß, daß Sie immer an diesem Tag kommen; er hat am Fenster gestanden, aber das tut er natürlich oft.«

Plötzlich platzte er zu seinem eigenen Erstaunen mit erstickender Stimme heraus: »Ich frage mich, ob sie nicht vielleicht sogar recht haben. Was hat es denn für einen Sinn, ein Kind zu haben, das nicht unter Menschen leben und mit ihnen sprechen kann?«

Miss Milch sah ihn kurz an, sagte aber nichts.

»Er wird niemals in der Lage sein, einen Beruf auszuüben«, sagte Steiner. »Er wird der Gesellschaft immer zur Last fallen, so wie jetzt. Stimmt das nicht?«

»Autistische Kinder überraschen uns stets von neuem«, sagte Miss Milch. »Durch ihr Wesen und wie sie dazu gekommen sind, durch ihre Neigung, sich plötzlich ohne ersichtlichen Grund geistig zu entfalten, nachdem sie jahrelang nicht die geringste Reaktion gezeigt haben.«

»Ich glaube, ich kann nicht guten Gewissens gegen diesen Gesetzentwurf sein«, sagte Steiner. »Wenn ich es mir näher überlege. Jetzt, wo der erste Schock vorbei ist. Es wäre richtig. Ich finde, es ist richtig.« Seine Stimme bebte.

»Tja«, sagte Miss Milch, »ich bin froh, daß Sie das nicht Anne Esterhazy gesagt haben, sie hätte Sie nie gehen lassen; sie wäre hinter Ihnen her gewesen und hätte auf Sie eingeredet, bis Sie bekehrt gewesen wären.« Sie hielt die Tür zum großen Spielzimmer auf. »Manfred ist da drüben in der Ecke.«

Als er seinen Sohn aus der Entfernung sah, dachte Steiner: Man sollte es nicht meinen, wenn man ihn so sieht. Der große, wohlgeformte Kopf, das Kraushaar, die edlen Züge ... Der Junge war vornübergebeugt, ganz von einem Gegenstand eingenommen, den er hielt. Ein wirklich gut aussehender Junge, mit Augen, die manchmal spöttisch aufblitzten, manchmal fröhlich und aufgeregt glänzten ... und diese unglaubliche Harmonie der Bewegungen. Wie er umherschnellte, auf Zehenspitzen, als tanzte er nach einer unhörbaren Musik, nach einer Melodie aus seinem eigenen Innern, deren Rhythmus ihn völlig in ihren Bann schlug.

Wie prosaisch sind wir, verglichen mit ihm, dachte Steiner. Bleiern. Wie die Schnecken kriechen wir dahin, während er tanzt und hüpft, als hätte die Schwerkraft auf ihn nicht die gleiche Wirkung wie auf uns. Bestand er vielleicht aus irgendwelchen neuen und andersartigen Atomen?

»He, Manni«, sagte Mr. Steiner zu seinem Sohn.

Der Junge hob weder den Kopf, noch ließ er sich sonstwie anmerken, daß er ihn gehört hatte; er spielte weiter mit dem Gegenstand herum.

Ich werde an die Urheber des Gesetzentwurfs schreiben, dachte Steiner, und ihnen mitteilen, daß ich ein Kind im Camp habe. Und daß ich ihrer Meinung bin.

Seine Gedanken erschreckten ihn.

Mord, an Manfred - wurde ihm klar. Mein Haß auf ihn bricht hervor, freigesetzt durch diese Nachricht. Jetzt verstehe ich, warum sie heimlich darüber beraten; ich wette, viele Menschen haben diesen Haß. Im Innern, unbemerkt.

»Keine Flöte für dich, Manni«, sagte Steiner. »Weshalb sollte ich sie dir schenken, möchte ich wissen? Kümmert dich das überhaupt? Nein.« Der Junge blickte nicht auf und ließ auch nicht erkennen, daß er ihn gehört hatte. »Nichts«, sagte Steiner. »Leere.«

Während Steiner dastand, näherte sich ihm der große schlanke Dr. Glaub in seinem weißen Kittel mit einem Klemmbrett in der Hand. Steiner bemerkte ihn plötzlich und erschrak.

»Es gibt da eine neue Theorie über Autismus«, sagte Dr. Glaub. »Aus Burghölzli in der Schweiz. Ich möchte sie gern mit Ihnen besprechen, weil sie uns einen neuen Zugang zu Ihrem Sohn hier verschaffen könnte.«

»Das bezweifle ich«, sagte Steiner.

Dr. Glaub hatte es anscheinend nicht gehört, er fuhr fort: »Sie vermutet eine Störung im Zeitgefühl des autistischen Individuums, durch die alles in seiner Umwelt so beschleunigt vor sich geht, daß es dabei nicht mithalten kann, ja nicht einmal fähig ist, diese richtig wahrzunehmen, genauso als wenn wir eine Fernsehsendung im Zeitraffer in uns aufnehmen sollten, bei der die Gegenstände so schnell vorüberflitzen, daß man sie gar nicht erkennen kann, und bei der die Geräusche ein einziges Kauderwelsch bilden - verstehen Sie? Bloß noch einen extrem schrillen Tonmischmasch. Also, diese neue Theorie versetzt das autistische Kind nun in einem geschlossenen Raum vor eine Leinwand, auf die in Zeitlupe Filmsequenzen projiziert werden - können Sie mir folgen? Ton und Bild werden verzögert und sind schließlich so langsam, daß weder Sie noch ich überhaupt eine Bewegung feststellen oder den Ton als menschliche Sprache wahrnehmen könnten.«

Müde sagte Steiner: »Faszinierend. Es gibt doch immer wieder was Neues in der Psychotherapie, nicht wahr?«

»Ja«, bestätigte Dr. Glaub und nickte. »Besonders bei den Schweizern; es ist genial, wie sie die Weltsicht gestörter Personen und abgekapselter Individuen erfassen, die von normalen Kommunikationsmöglichkeiten ausgeschlossen sind, isoliert - verstehen Sie?«

»Ich verstehe«, sagte Steiner.

Dr. Glaub, der immer noch nickte, war weitergegangen und bei einem anderen Besucher stehengeblieben, einer Frau, die neben ihrem kleinen Mädchen saß und sich mit ihr ein leinengebundenes Bilderbuch ansah.

Hoffnung vor der Sündflut, dachte Steiner. Ob Dr. Glaub weiß, daß die Behörden drüben auf der Erde Camp B-G jeden Tag schließen können? Der gute Doktor arbeitet in idiotischer Unschuld einfach weiter ... glücklich in seinen Lehrgebäuden.

Steiner ging Dr. Glaub nach und wartete eine Gesprächspause ab, bis er sagte: »Doktor, ich möchte mich gern noch weiter mit Ihnen über diese neue Theorie unterhalten.«

»Ja, ja«, sagte Dr. Glaub und entschuldigte sich bei der Frau und ihrem Kind; er nahm Steiner zur Seite, damit sie privat miteinander sprechen konnten. »Dieses Konzept von Zeitgeschwindigkeiten könnte uns einen Zugang zu Bewußtseinen eröffnen, die von der unmöglichen Aufgabe, in einer Welt, in der alles rasend schnell vor sich geht, so erschöpft sind, daß ...«

Steiner unterbrach: »Angenommen, Ihre Theorie stimmt. Wie können Sie so einem Individuum helfen, es wieder funktionsfähig machen? Wollen Sie, daß es den Rest seines Lebens in einem geschlossenen Raum vor einer Leinwand mit Zeitlupenfilmen verbringt? Ich finde, Doktor, daß Sie hier alle nur ihre Spielchen spielen. Sie stellen sich nicht der Realität. Keiner von Ihnen hier in Camp B-G. Sie sind ja so rechtschaffen. So arglos. Aber die Welt da draußen - die ist nicht so. Hier drin ist alles edelmütig und idealistisch, aber Sie machen sich etwas vor. Und deshalb machen Sie auch den Patienten etwas vor; entschuldigen Sie, daß ich das sage. Aber dieser Raum mit der Leinwand und den in Zeitlupe ablaufenden Filmen, das ist bezeichnend für Sie alle hier, für Ihr Verhalten.«

Dr. Glaub hörte zu und nickte dabei mit gespannter Miene. »Uns wurden die erforderlichen Geräte versprochen«, sagte er, als Steiner fertig war. »Von Westinghouse, drüben auf der Erde. Die Verbindung mit anderen wird in der Gesellschaft hauptsächlich durch Laute hergestellt, und Westinghouse hat einen Audiorecorder für uns entwickelt, der die ans psychotische Individuum - zum Beispiel Ihren Sohn Manfred - gerichtete Mitteilung auffängt und sie dann, sobald diese Mitteilung auf Eisenoxidband aufgezeichnet ist, für ihn gleich darauf mit langsamerer Geschwindigkeit wieder abspielt, sie danach selbsttätig löscht und die nächste Mitteilung aufzeichnet und so weiter, mit dem Ergebnis, daß nach seinem eigenen Zeitmaß ein ständiger Kontakt zur Außenwelt aufrechterhalten wird. Und später steht uns hier hoffentlich ein Videorecorder zur Verfügung, der ihn mit einer ständigen, aber eben verlangsamt ablaufenden Aufzeichnung des sichtbaren Bereichs der Realität versorgt, synchronisiert mit dem Audioteil. Zugegeben, er wird immer einen Schritt vom Kontakt mit der Realität entfernt sein, und die unmittelbare Berührung bleibt auch weiterhin ein Problem - aber ich kann Ihnen nicht zustimmen, wenn Sie meinen, das sei alles zu idealistisch, um von Nutzen sein zu können. Denken Sie an die weitverbreitete Therapie mit chemischen Präparaten, die vor noch gar nicht langer Zeit ausprobiert wurde. Stimulantien beschleunigten das innere Zeitgefühl des Psychotikers, so daß er die auf ihn einprasselnden Reize aufnehmen konnte, doch kaum ließ die Wirkung des Stimulans nach, nahm auch die Wahrnehmung des Psychotikers in dem Maß wieder ab, wie sein schadhafter Metabolismus wirksam wurde - verstehen Sie? Trotzdem haben wir viel daraus gelernt; wir haben gelernt, daß Psychosen eine chemische Grundlage haben, keine psychologische. Sechzig Jahre irriger Vorstellungen wurden mit einem einzigen Experiment, der Anwendung von Natriumamytal, hinweggefegt und ...«

»Träumereien«, unterbrach Steiner. »Sie werden nie mit meinem Sohn in Verbindung treten können.« Er wandte sich um und ließ Dr. Glaub stehen.

*

Von Camp B-G aus fuhr er mit dem Bus zu einem protzigen Restaurant, dem Red Fox, das immer im großen Stil bei ihm einkaufte. Nachdem er seine Geschäfte mit dem Besitzer getätigt hatte, saß er noch eine Weile an der Bar und trank ein Bier.

Wie Dr. Glaub drauflos geplappert hatte - das war genau die Art von Idiotie, die dazu geführt hatte, daß sie jetzt auf dem Mars waren. Auf einem Planeten, auf dem ein Glas Bier doppelt soviel kostete wie ein Schuß Scotch, weil es entsprechend mehr Wasser enthielt.

Der Besitzer des Red Fox, ein kleiner, fülliger Glatzkopf mit Brille, setzte sich neben Steiner und sagte: »Weshalb schauen Sie so finster drein, Norb?«

Steiner sagte: »Sie wollen Camp B-G schließen.«

»Gut«, sagte der Besitzer des Red Fox. »Wir können diese Mißgeburten hier auf dem Mars nicht brauchen; das ist schlecht fürs Image.«

»Finde ich auch«, sagte Steiner, »wenigstens zum Teil.«

»Das ist genau dasselbe wie bei den Babies mit Seehundflossen damals in den Sechzigern, als sie dieses deutsche Medikament verwendeten. Die hätten sie alle ausmerzen sollen; es werden genug normalgesunde Babies geboren, warum sollte man die anderen verschonen? Wenn Sie ein Kind mit Extraarmen oder überhaupt keinen Armen hätten, irgendwie deformiert, dann würden Sie doch auch nicht wollen, daß es am Leben bleibt, oder?«

»Nein«, sagte Steiner. Er sagte nicht, daß der Bruder seiner Frau drüben auf der Erde ein Phokomelus war; er war ohne Arme geboren und bediente sich erstklassiger künstlicher Gliedmaßen, die eine Firma in Kanada, die auf solche Geräte spezialisiert war, eigens für ihn entwickelt hatte.

Tatsächlich sagte er gar nichts zu dem fülligen kleinen Mann; er trank sein Bier und starrte auf die Flaschen hinter der Bar. Er konnte den Mann nicht leiden und hatte ihm nie etwas von Manfred erzählt. Seine tiefsitzenden Vorurteile waren ihm bekannt. Darin war er kein Einzelfall. Steiner konnte es ihm nicht einmal übelnehmen; er war nur müde und wollte nicht groß darüber reden.

»So fing es an«, sagte der Besitzer. »Mit diesen Babies, die Anfang der Sechziger geboren wurden - gibt es davon welche in Camp B-G? -, ich habe nie einen Fuß dort hineingesetzt und werde es auch nicht tun.«

Steiner sagte: »Wie sollten sie im B-G sein? Die sind ja nicht abnorm; abnorm bedeutet einmalig.«

»Richtig«, gab der Mann zu. »Ich verstehe, was Sie meinen. Wie dem auch sei - hätte man sie schon vor Jahren weggeräumt, dann hätten wir jetzt nicht solche Orte wie das B-G, denn meiner Meinung nach besteht ein direkter Zusammenhang zwischen den Monstern, die in den Sechzigern zur Welt kamen, und allen Mißgeburten, die seitdem, angeblich aufgrund von Strahlung, geboren wurden; ich meine, das ist doch alles nur auf Gene zurückzuführen, die unterhalb der gültigen Norm liegen, stimmt's? Also, ich glaube, in der Hinsicht hatten die Nazis recht. Die erkannten schon 1930, daß es notwendig ist, die minderwertigen Erbanlagen auszumerzen; sie erkannten ...«

»Mein Sohn ...«, sagte Steiner und verstummte. Ihm wurde klar, was er gesagt hatte. Der Füllige starrte ihn an. »Mein Sohn ist dort«, fuhr Steiner schließlich fort. »Hab ihn genauso gern wie Sie Ihren. Ich weiß, daß er eines Tages wieder in die Welt hinaustritt.«

»Darf ich Ihnen einen Drink spendieren, Norbert?« sagte der Füllige, »als kleine Geste der Entschuldigung; ich meine, weil ich so darüber gesprochen habe.«

Steiner sagte: »Wenn sie das B-G schließen, wird das für unserseins, der dort Kinder hat, eine furchtbare Katastrophe sein. Ich ertrag's einfach nicht.«

»Ich weiß, was Sie meinen«, sagte der Füllige. »Ich begreife Ihre Gefühle.«

»Wenn Sie begreifen, wie mir zumute ist, haben Sie mir einiges voraus«, sagte Steiner, »weil ich nämlich nicht damit klarkomme.« Er setzte sein leeres Bierglas ab und rutschte vom Stuhl. »Ich möchte keinen Drink mehr«, sagte er. »Verzeihen Sie; ich muß gehen.« Er ergriff sein schweres Gepäck.

»Sie sind die ganze Zeit hier vorbeigekommen«, sagte der Besitzer, »und wir haben viel über das Camp gesprochen, und nie haben Sie mir erzählt, daß einer Ihrer Söhne dort ist. Das war nicht richtig.« Er sah jetzt ärgerlich aus.

»Wieso war das nicht richtig?«

»Teufel, wenn ich's gewußt hätte, hätte ich das eben doch nicht gesagt; Sie sind schuld, Norbert - Sie hätten es mir erzählen können, aber Sie haben es absichtlich nicht getan. Das paßt mir kein bißchen.« Sein Gesicht war gerötet vor Entrüstung.

Sein Gepäck in Händen, verließ Steiner die Bar.

»Heute ist nicht mein Tag«, sagte er laut. Hab mich mit allen Leuten gestritten; der nächste Besuch hier wird nur dafür draufgehen, mich zu entschuldigen ... wenn ich überhaupt wiederkomme. Aber ich muß wiederkommen; mein Geschäft hängt davon ab. Und ich muß auch in Camp B-G vorbeischauen; es geht nicht anders.

Plötzlich kam ihm der Gedanke, daß er sich umbringen sollte. Die Idee stand blitzartig in seinem Bewußtsein, als wäre sie schon immer dort gewesen, schon immer ein Teil seiner selbst. Ein Klacks, einfach den Hubschrauber abstürzen lassen. Er dachte: Ich hab's, verdammt noch mal, satt, Norbert Steiner zu sein; ich hab nicht darum gebeten, Norbert Steiner zu sein oder auf dem Schwarzmarkt Lebensmittel zu verhökern oder sonst etwas. Welchen Grund sollte ich haben, am Leben bleiben? Ich bin ungeschickt mit den Händen, kann nichts reparieren oder herstellen; meinen Verstand kann ich auch nicht gebrauchen, ich bin nur ein Hausierer. Ich hab's satt, daß meine Frau mich verspottet, weil ich unsere Wasseranlage nicht in Gang halten kann - ich hab Otto satt, den ich nur deswegen einstellen mußte, weil ich sogar im eigenen Geschäft hilflos bin.

Warum, dachte er, sollte ich eigentlich warten, bis ich wieder beim Hubschrauber bin? Ein riesiger Traktorbus kam die Straße entlanggerumpelt, die Außenseiten matt vom Sand; er hatte gerade die Wüste durchquert und traf aus irgendeiner anderen Siedlung in Neu-Israel ein. Steiner setzte sein Gepäck ab und lief auf die Fahrbahn hinaus, direkt vor den Traktorbus.

Der Bus hupte; die Vakuumbremsen kreischten. Der ganze Verkehr kam zum Stillstand, als Steiner mit gesenktem Kopf, die Augen geschlossen, vorwärts lief. Erst im letzten Augenblick, als der Lärm der Lufthupe so laut in seinen Ohren gellte, daß es unerträglich schmerzhaft wurde, schlug er die Augen auf; er sah, wie der Busfahrer mit offenem Mund zu ihm hinabstarrte, sah das Lenkrad und die Zahl auf der Mütze des Fahrers. Und dann ...

*

Im Solarium von Camp Ben-Gurion hörte Miss Milch das Heulen der Sirenen und hielt mitten im Tanz der Zuckerfee aus Tschaikowskis Nußknacker-Suite inne, mit dem sie gerade auf dem Klavier die tanzenden Kinder begleitete.

»Feuer!« sagte einer der kleinen Jungen und ging zum Fenster. Die übrigen Kinder folgten.

»Nein, das ist ein Krankenwagen, Miss Milch«, sagte ein anderer Junge am Fenster. »Fährt ins Zentrum.«

Miss Milch spielte weiter, und die Kinder kehrten beim Klang der Rhythmen, die vom Klavier ertönten, wieder an ihre Plätze zurück. Sie waren Bären im Zoo, die nach Erdnüssen sprangen; die Musik suggerierte es ihnen, und Miss Milch meinte, sie sollten es ruhig ausleben.

Abseits an der Wand stand Manfred und achtete nicht auf die Musik, den Kopf gesenkt, die Miene nachdenklich. Als für einen Moment die Sirenen laut aufheulten, hob Manfred den Kopf. Miss Milch bemerkte es; sie keuchte auf und schickte ein Stoßgebet zum Himmel. Der Junge hatte es gehört! Sie hämmerte die Tschaikowski-Musik sogar noch lauter als zuvor herunter, und ein Glücksgefühl durchwogte sie: Sie und die Ärzte hatten Recht gehabt, durch den Klang war ein Kontakt mit dem Jungen zustande gekommen. Jetzt ging Manfred langsam zum Fenster und sah hinaus; ganz allein starrte er auf die Gebäude und Straßen hinunter, suchte nach dem Ursprung des Geräuschs, das ihn geweckt und seine Aufmerksamkeit erregt hatte.

Also ist doch nicht alles verloren, sagte sich Miss Milch. Wenn das erst sein Vater hört; es beweist, daß wir niemals von Aufgeben reden dürfen.

Sie spielte weiter, laut und glücklich.

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