[Sonnabend, 6. 1. 90]


[An Vera]1

… so?«Statt wie sonst hinter uns herzutrotten und für jeden Schritt eine Belohnung zu fordern, sprang Robert wie ein junger Hund davon. Wir mußten durch eine Senke, der Schnee schimmerte bläulich und reichte uns bis zu den Waden. Plötzlich schrie Robert auf und rannte den gegenüberliegenden Hang hinauf. Der Modder unterm Schnee war nicht gefroren. Auch Michaela und ich rannten. Als wir stehenblieben, hatten wir nur das weiße Feld vor und den graurosa Himmel über uns. Wir stiegen höher, überquerten einen Feldweg und gingen direkt auf den Wald zu. Der Wind fegte den Schnee von der Wintersaat. Ich gab mir Mühe, nicht hinter den beiden zurückzubleiben. Sie kehrten aber nicht wie verabredet am Rand des Waldes um, sondern liefen hinein. Und so folgte auch ich dem Wegweiser» Zum Silbersee«.

Der Teich war zugefroren. Bevor ich etwas sagen konnte, schlitterte Robert bereits übers Eis und Michaela hinterher. Robert, der stolz ist, im Stimmbruch zu sein, krähte etwas, das ich nicht verstand. Michaela rief, ich sei ein Angsthase. Aber ich wollte nichts riskieren und blieb am Ufer. Der Schnee bedeckte den herumliegenden Müll, aus dem ein Spielzeugpferd ragte. Ich bückte mich schon, da hörte ich meinen Namen, wandte mich um — etwas traf mich ins Auge. Es brannte höllisch.

Ich sah nichts mehr. Michaela glaubte, ich spiele Theater. Es sei doch Schnee gewesen, rief sie, nur Schnee, ein Schneeball!

Ich brauchte ein paar Sekunden, um zu mir zu kommen. Als mich Robert an der Hand nahm, als er mich führte, war ich glücklich. Erst in diesem Moment schien ich zu begreifen, daß ich nicht mehr nur von diesem Deinem Brief träumte, sondern daß ich ihn tatsächlich erhalten hatte und in der Brusttasche trug. Ja es war, als hätte ich erst jetzt wieder angefangen zu atmen.

Michaela, die hinter uns herstiefelte, fand, ich solle mich nicht so haben. Sie meinte wohl, ich würde weinen. Sie hält mich für einen Hypochonder, für einen Simulanten gar, und fürchtete, ich suchte nur einen neuen Vorwand, um mich weiter krank schreiben zu lassen.

Mitten auf dem Feld geriet sie in Panik, weil vom Dorf her ein Köter auf uns zuraste. Er kläffte und machte wilde Sprünge, ließ sich aber schnell von mir beruhigen. Ich wurde ihn dann gar nicht mehr los. Das verwahrloste Tier begleitete uns bis zu der Straße, die den Hügel hinab zur Stadt führt. Robert winkte, und prompt hielt ein Wagen. Die Frau, die kerzengerade hinterm Lenkrad saß, nickte mir im Rückspiegel zu. Als schlüge mein Herz im Kopf, pochte der Schmerz im Auge. Aber dieser Schmerz, so kam es mir vor, war etwas Äußerliches, nichts, was mir wirklich etwas anhaben konnte, nichts, was mich beunruhigen mußte, ganz egal, was mit dem Auge werden würde, denn ich habe ja Dich!

Am Eingang der Poliklinik lief ich Dr. Weiß, meinem Krankschreibearzt, in die Arme.»So schnell verliert man kein Auge«, sagte er und faßte mich an der Schulter. Freitags würde ich hier um diese Zeit niemanden mehr finden, ich solle also stillhalten, Arzt sei Arzt.»Zeigen Sie her«, befahl er und drehte mich ins Licht. Die Leute schoben sich an uns vorbei hinein und hinaus, ich blinzelte in die Neonröhre.»Nur ein Äderchen«, murmelte er,»nur ein geplatztes Äderchen. Sonst ist da nichts!«Weiß ließ mich auf der Schwelle stehen, als bedauere er, sich überhaupt um mich gekümmert zu haben. Ich solle jetzt nicht zimperlich werden, rief er noch und verschaffte Michaela ihren Triumph. Mittlerweile tut es nicht mal mehr weh.

Der Schnee ist schon wieder getaut. Das Gras unter den Wäschestangen sieht aus wie Matsch mit Spinat. Ich muß Michaela zur Vorstellung fahren. Wie leicht alles wird, wenn ich an Dich denken kann.

In Liebe

Dein Heinrich2

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