Verotschka!
Dein Brief liegt seit gestern hier, in der Küche, auf dem Kühlschrank. Michaela hatte die Post geholt, deshalb war der Kasten leer, als ich nachsah. Vorhin, nach dem Frühstück, erkannte ich plötzlich Deine Schrift auf einem Kuvert.
Jetzt, da der Termin feststeht und Dein Flug gebucht ist … Seit ein paar Tagen fühle ich mich so stark wie schon lange nicht mehr. Selbst dem fuchsig lauernden Jörg war ich gewachsen. Bald jedoch, wenn Du so weit weg sein wirst … Oje, ich klinge wie Mamus. Weiß sie überhaupt davon?
Ich habe keine Vorstellung von Beirut, aber ich verstehe nicht, warum Nicola13 seine Mutter nicht lieber nach Berlin bringen will? Und was für Geschäfte wollen sie denn in dieser Trümmerwüste machen?
Ich habe Angst um Dich, auch ein egoistisches Gefühl. Ich werde Dir nicht helfen können. Zweitausend Mark sind auf meinem Konto. Brauchst Du das? Wieviel ist das? Dreihundert DM?
Zeit könnte ich Dir sehr viel mehr geben. Es ist wie verhext, um vier, spätestens um fünf bin ich wach. Dabei gehe ich selten vor zwölf ins Bett. Doch von Müdigkeit keine Spur, nicht mal nachmittags. Wenn mir das Sinnieren zu langweilig wird, blättere ich im Duden. Es ist merkwürdig, wie viele Verben und Adjektive man kennt, ohne sie je zu verwenden.
Mitte der Woche rief ich Johann an, um ihm zu sagen, daß ich am Theater gekündigt habe und bei einer neugegründeten Zeitung anheuere. Er war äußerst reserviert und kurz angebunden. Jetzt kam ein Brief, der klingt, als hätte Michaela ihn diktiert. Früher hätte ich doch nie Zeitung gelesen, warum ich mich vor den neuen künstlerischen Herausforderungen (er hat tatsächlich dieses Wort verwendet!) drücken wolle. So ging das über vier Seiten. Wie fremd er mir geworden ist!
Was Du über diesen Adligen schreibst, klingt ja ganz verheißungsvoll. Wenn er tatsächlich nach Altenburg kommen will, kannst Du ihm meine Adresse geben, in der Redaktion werden wir bald ein Telephon haben.
Verotschka, wenn ich Dich schon nicht sehen darf, dann schreib mir wenigstens, was Du machst, die letzten Handgriffe, irgendwas! Außer Dir habe ich niemanden, auf den ich zählen kann.
Dein Heinrich