Himmelfahrt, 24. 5. 90


Liebe Nicoletta!

Ich hoffe sehr, daß meine Überlegungen zu den Nöten des Schreibens Sie nicht langweilen. Aber mein Wohl und Wehe hingen vom Schreiben ab. Wäre dieses ein Irrtum, so wäre ich selber einer.

Die Platitüde, beim Schreiben vergewissere man sich der Welt, erfüllte ich mit Leben. Mit anderen Worten: Solange es Blasphemiker gibt, braucht man sich um Gott keine Sorgen zu machen. In meinem Fall hieß das: Solange es mir gelang, reinen Herzens weiterzuwüten, mußte da draußen etwas existieren — Großwild, das Monströse, der real existierende Sozialismus, das andere, wie immer Sie es nennen wollen.

Sie sehen, wie dünn das Eis bereits war, auf dem ich mich bewegte. Alle Sicherheit reduzierte sich auf ein reines Herz. Sie können es auch Stilgefühl nennen oder Sinn für das Angemessene.

Michaela fand die Ausgeburten meiner Verzweiflung amüsant, nahm sie aber nicht sonderlich ernst und quälte mich weiter mit ihren Vorschlägen für das Paulini-Stück. Geronimo hat nie ein Wort darüber verloren. Vera hingegen schickte mir ein Glückwunschtelegramm. Sie glaubte, gerade die Preisgabe des Ichs werde mir zu einer solitären Stellung verhelfen. Ich hätte damit eine Abkürzung auf dem Weg zu Ruhm und Ewigkeit entdeckt. Ich fürchte, sie glaubt das weiterhin. Noch Anfang Januar hat sie mir versichert, daß ich ein» unsterbliches Spiel «besäße, meine Kunst, nur dafür lohne es sich, zu leben und zu leiden, auch sie habe schon seit langem ihr Leben darauf gesetzt, auf das Talent ihres Bruders.269

Verzweiflung wechselte mit Euphorie. Heureka! jubelte ich, weil ich der Überzeugung war, meine Methode weiterentwickelt und radikalisiert zu haben. (Auf dem Klo bemerkte ich zu spät, daß Papier fehlte, und griff mir eine herumliegende Zeitung. Als ich die Toilette verließ, fehlte einer Kolumne der schräg abgerissene Schlußteil. Der Rest ergab durch seine kürzer werdenden, mit verstümmelten Worten endenden Zeilen ein abgewürgtes Gestammel, das ich ergreifend fand. Die vorletzte Zeile bestand nur aus einem» mu«, die letzte aus einem» t«. Diese zufällige Auflösung von Personen, Dingen und Ideen in der Sprache hätte ich bewußt niemals so überzeugend darzustellen vermocht. Da ich mich beim Abtippen an die Zeilenlänge der Kolumne hielt, zog ich am Ende ein Blatt aus der Maschine, auf dem ein Gedicht zu stehen schien.) Kaum aber hielt ich mein Produkt in der Hand, versank ich in Melancholie. Wohin sollte mich diese Reduktion führen?

Das war zwei Tage bevor die Ungarn die Grenzen öffneten.270 Bisher hatte ich die Ungarnurlauber, so gut es ging, ignoriert. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte, vielleicht einen Kompromiß, der sie zurückkehren ließ, doch keinesfalls die Öffnung der Grenze! Ein dauerhaftes Loch in der Mauer war unvorstellbar. Michaela verlangte, wir sollten darauf anstoßen. So trank Robert sein erstes Glas Wein auf das Wohl der Ungarn.»Vielleicht«, sagte Michaela,»wird es ja noch was mit Westberlin!«

Ich korrigierte sie nicht, weil mir das Mißverständnis zu grundlegend erschien.

Norbert Maria Richter, der Regisseur von Nestroys» Freiheit in Krähwinkel«, versuchte zur selben Zeit, mich durch einen anderen Dramaturgen zu ersetzen. Unsere Differenzen seien unüberbrückbar.

Noch im Juni wollte Norbert Maria Richter aus» Krähwinkel «eine Art» Ritter der Tafelrunde«271 machen, eine Farce auf die verratene Revolution, auf die zu Bonzen gewordenen Revolutionäre, auf die Geschichte, die sie sich in ihrer Erinnerung schönlügen. Und das alles mit viel Show.

Jetzt, im September, glaubte Norbert Maria Richter im Stück den Geist der Revolution entdecken zu können.

Schon weil es dieser Norbert Maria Richter war, durch den ich von der Gründung des» Neuen Forums «erfuhr, er sprach» von einem bedeutenden Schritt in Richtung Demokratisierung der Gesellschaft«, wollte ich damit nichts zu tun haben.

Allerdings legte mir noch am selben Tag Ramona, meine Kollegin, ein paar ausgefüllte Anträge auf Mitgliedschaft im» Neuen Forum «auf den Tisch. Michaela habe ihr versprochen, die Anträge nach Halle zu einer Kontaktadresse zu bringen.

Mir blieb keine Wahl; ich mußte selbst einen dieser Zettel mit Name und Anschrift ausfüllen. Ich wußte, welche Dummheit ich damit beging, welche Kinderei das war. Jetzt spielte auch ich» Opposition«. Genau dieser Zettel würde mir über kurz oder lang in einem Verhör wieder vorgelegt werden.

Michaela hingegen benahm sich nicht wie eine, die ihre Existenz und das Glück ihres Kindes gefährdete, sie wirkte eher, als hätte sie endlich die richtige Rolle am richtigen Theater bekommen.

Am letzten Montag im September, dem Tag, an dem wir nach Halle fahren sollten, fand ich die Anträge nicht mehr in meiner Tasche. Ich durchwühlte meinen Schreibtisch im Theater, durfte mir aber wegen meiner Kolleginnen nichts anmerken lassen. Der Gedanke, Michaela und die anderen durch meine Unachtsamkeit ans Messer geliefert zu haben, war unerträglich.

Ich fuhr nach Hause, ich konnte kaum sprechen.»Sie sind weg«, japste ich,»die Anträge sind weg!«

Michaela hatte sie aus meiner Tasche genommen, um sich die Adressen der anderen abzuschreiben.

Auf der Fahrt sahen wir mehrere Polizeiwagen, doch der höchst unwahrscheinliche Fall, wir — Robert war mitgekommen — könnten herausgewinkt und durchsucht werden, hatte alle Schrecken verloren.

Michaela freute sich, jemanden mit dem Namen Bohley kennenzulernen, offenbar eine Verwandte von Bärbel Bohley272. Außer der funktionierenden Klingel und dem Namensschild am Briefkasten deutete nichts darauf hin, daß das Haus noch bewohnt war. Der ganze Straßenzug schien zum Abriß freigegeben. Michaela war enttäuscht. Wir beschlossen, später wiederzukommen, und fuhren ins Zentrum. Auf dem Markt liefen wir hin und her und bestellten in einer Milchbar die teuersten Eisbecher. Wir versuchten, Robert zu beschreiben, wie der Dom von Feininger gemalt aussieht, spazierten weiter zur Moritzburg und hinunter zur Saale. Michaela wollte weder zum Haus von Albert Ebert273 gehen noch Schuhe kaufen, obwohl sie welche sah, die ihr gefielen. Sie mochte nicht mit einem Einkaufspaket vor der Bohley-Tür erscheinen.274

Wir hatten dann wieder kein Glück. Michaela, die Antragszettel in der Hand, zögerte, sah von mir zu Robert und wieder zu mir, als wollte sie uns eine letzte Chance geben, sie vor einer Dummheit zu bewahren. Oder lag ihr daran, dem Augenblick eine gewisse Weihe zu verleihen, weil von nun an nichts mehr so sein würde, wie es gewesen war? Lautlos verschwanden die Zettel im Briefkasten.

Im Auto sprachen wir kaum miteinander. Auf der Schnellstraße von Leipzig nach Borna glaubte ich, etwas ein für allemal hinter mich gebracht zu haben. Ich hatte mich nicht gedrückt, ich hatte unterschrieben — was ich weder leugnen noch widerrufen würde — und einen halben Tag dafür geopfert. Damit glaubte ich mich berechtigt, nun in Ruhe meine Arbeit fortsetzen zu dürfen. Sogar inmitten dieser Mondlandschaft, sogar in Espenhain war die Milde dieses Herbstes spürbar. Ich dachte an Kartoffelkrautfeuer, an die Wanderungen durchs Saubachtal bei Dresden zur Mühle mit ihrem riesigen Wasserrad und den mit Fallobst übersäten Chausseewegen, wo man trunken wurde vom Duft überreifer Pflaumen und Äpfel und der vor Wespen zitternden Luft. Ich dachte an die ersten Saisonspiele im Dynamo-Stadion, an die Festung Königstein und den Geschmack von Bockwurst und Faßbrause. Meine Dresden-Novelle erschien mir wie ein geliebtes Buch, das ich schon lange nicht mehr gelesen hatte.

Am nächsten Tag war es Jonas, der Intendant, der mir, als wäre er zufällig dort gewesen, von Leipzig erzählte. Zehntausend seien es gewesen, zehntausend Demonstranten! Wie gern hätte ich ihm die Mär, das seien alles Antragsteller275, geglaubt, aber zehntausend waren zuviel, viel zuviel!

Michaela erzählte, daß auf dem Dach der Leipziger Post Kameras installiert gewesen seien. Alles, was sie von Max erfahren hatte, gab sie wieder, als wollte sie sagen:»Und, was hast du während dieser Zeit gemacht? Wo bist du gewesen?«276

Was ich an der Demonstration so lächerlich fand, war ihr Feierabendcharakter. Erst macht man gewissenhaft seine Arbeit, danach geht man demonstrieren, aber nicht zu lange, denn am nächsten Morgen will man pünktlich und mit regenerierter Arbeitskraft wieder im Betrieb sein.

Am Mittwoch kaufte Michaela ein neues Radio.

Norbert Maria Richter hatte für den nächsten Montag eine Abendprobe angesetzt. Michaela hielt das für ein Alibi, für eine Pro-forma-Ankündigung. So, wie sich Norbert Maria Richter gab und wie er auf Max’ Erzählungen reagiert hatte, mußten sie annehmen, er fahre als erster nach Leipzig. Norbert Maria Richter aber dachte nicht im Traum daran. Michaela nannte ihn einen falschen Hund. Was sie zu sagen hätten, so Norbert Maria Richter, könnten sie am besten hier, auf der Bühne sagen. Dieser Freiraum sei ein Privileg, das sie im Sinne der Zuschauer zu nutzen hätten, eine Verantwortung, die wahrzunehmen sei und nicht leichtfertig vertan werden dürfe.

Wer Aufruhr spiele, soll die Petrescu in bester Stanislawski-Tradition interveniert haben, komme nicht drum herum, ihn zu studieren. Gerade aus schauspielerischer Redlichkeit sei es eine Pflichtverletzung, wenn sie diese Gelegenheit ungenutzt ließen. Sonst würden wir, also die Theaterleute, eines schönen Tages vom Publikum darüber aufgeklärt, wie Aufruhr und Revolution aussehen. Norbert Maria Richter sprach von Rücksichten gegenüber jenen, die anders darüber dächten, und wie notwendig es gerade jetzt sei, Disziplin zu wahren und sich durch gute Arbeit unangreifbar zu machen.

Michaela kündigte an, sich krank schreiben zu lassen. Wenn in den Nachrichten von den Prager Botschaftsflüchtlingen die Rede war, verstummten wir, und Michaela machte eine Geste, die sagen sollte: Da hörst du es ja, wir müssen nach Leipzig!

Am Montag mittag kam Michaela in die Dramaturgie. Sie wolle nur sagen, daß niemand nach Leipzig fahre. Da stand sie, Frau Eberhard Ultra, die Anführerin der Revolutionäre, in Waden- und Knöchelwärmern, mit ihrem Tuch über der Schulter.»Es ist alles so absurd«, sagte sie,»ich schäme mich so!«

«Dann fahr ich allein«, sagte ich, als wäre das die einzig mögliche Antwort.

Natürlich hatte ich keine Lust. Aber es mir entgehen zu lassen wäre blamabel gewesen. Würde es überhaupt noch einmal eine Demonstration geben, dann an diesem Montag, dem letzten vor dem 7. Oktober277.

Kaum hatte ich das gesagt, wollte mich Michaela nicht mehr fahren lassen. Immer wieder sprach sie von Krenz, der sei doch gerade erst in China gewesen, man wisse doch, was das zu bedeuten habe.278

Man könne nicht zehntausend Leute über den Haufen schießen, jedenfalls nicht in Leipzig, und verhaften ließen sie sich auch nicht. Das Auto, sagte ich zum Schluß und gab ihr das zweite Paar Schlüssel, würde ich in der Nähe des Bayerischen Bahnhofs abstellen.

Nach unserem Abschied ging Michaela sogar auf den Balkon und winkte mir nach.

Die Sonne blendete, die späte Wärme ruhte wie ein göttlicher Segen auf diesem Tag. Die Landschaft im Rückspiegel war das Paradies, in das ich nach dieser letzten Prüfung, erfüllt von unzähligen Beobachtungen und Empfindungen, zurückkehren würde.

Gegen vier war ich in der Deutschen Bücherei, bestellte ein paar Titel über Nestroy und fand im Lesesaal einen freien Einzeltisch. Die kaputte Lampe störte mich nicht, im Gegenteil. Mir genügte es, hier sitzen zu dürfen, in diesem Asyl, dieser Arche.

Vor mir lag das Textbuch von» Freiheit in Krähwinkel«. Wenn ich den Ärmel von der Uhr zurückstrich, berührten mich meine kalten Finger wie die eines Fremden.

Ich glaubte, meine Absicht zu verraten, wenn ich Punkt fünf den Saal verließ. Also harrte ich ein paar Minuten länger aus, erkundigte mich nach den bestellten Büchern und ging auf die Toilette. Wer wußte schon, wann das wieder möglich sein würde.

Nachdem ich das Auto am Bayrischen Bahnhof abgestellt und meine polnische Ledertasche im Kofferraum verstaut hatte, schlang ich mir einen leeren Beutel ums Handgelenk, als wollte ich einkaufen.

An einer Fußgängerampel traf ich Patrick, Norbert Maria Richters Regieassistenten.»Schwänzt du?«rutschte es mir heraus. Er antwortete wie ein ertappter Schüler und vermied es, mich anzusehen. Die Frau neben ihm stellte er mir als seine Verlobte Ellen vor.

Wir gingen gerade am Gewandhaus vorbei, als ich zum ersten Mal die Sprechchöre hörte. Ich verstand sie nicht.»Stasi raus«, wiederholte Patrick wie jemand, der etwas zitieren muß, das ihn geniert; er hätte es nicht sanfter sagen können.

Ellen hatte nur bis sieben Zeit. Um acht begann in Connewitz279 ihr Klavierunterricht. Sie und Patrick mutmaßten darüber, ob und ab wann wieder Straßenbahnen fahren würden. Selbst wenn sie zu Fuß gehen müsse, sei Viertel acht ausreichend, sagte er, andernfalls verpasse sie das Beste. Ich hielt es für unangebracht zu fragen, was er unter» dem Besten «verstand.

Ich betrachtete jeden in meiner Nähe von Kopf bis Fuß. Wie ein aufgeregter Hund irrte mein Blick von einem zum anderen, denn jetzt, kurz vor sechs und nahe der Nikolaikirche, konnte es doch niemanden mehr geben, der tatsächlich einkaufen ging oder einfach nur von der Arbeit kam.

Noch am Krochhaus schien nichts auf das Ungeheuerliche hinzudeuten, obwohl ununterbrochen Parolen skandiert wurden.

Auf dem Platz vor der Nikolaikirche standen sie dicht an dicht. Wir kamen nicht weiter und reckten die Hälse. Mir reichte das vollkommen. Ellen jedoch wand und schlängelte sich zwischen den Leuten hindurch, man machte ihr Platz wie einer Kellnerin. Sie wäre weiter vorgedrungen, hätte Patrick nicht einen Bekannten getroffen. Ohne unsere Namen zu nennen, gaben wir uns die Hand.

Ich stellte mich auf die Zehenspitzen. Ich weiß nicht mal mehr, woran ich die Gruppe erkannte, die jene Ungeheuerlichkeiten riefen. War dort mehr Licht? Waren es erhobene Arme? Das Bild, das ich heute von dem Platz vor der Nikolaikirche habe, läßt sich mit dem damaligen nicht zur Deckung bringen. Wie Traum oder Vision erscheinen mir heute die Leute, die Dunkelheit, die warme Luft und jene untergründige Bewegung, die von jener Gruppe ausging.

Statt jedes Detail, jede Schwingung zu registrieren, empfand ich immer weniger. Dabei war ich überzeugt, Historisches zu erleben. Selbst wenn der Budenzauber im nächsten Moment vorbei sein sollte — der Platz war leicht abzuriegeln —, wäre es dennoch der gewaltigste Protest nach 1953 gewesen. Man würde sich bald des 2. Oktober in ähnlicher Weise erinnern wie des 17. Juni.

Die Dämmerung und das dichter werdende Gedränge erleichterten die Ausbreitung der Sprechchöre.

Ich war bereit, jene, die dort im Epizentrum die Rufe erfanden und vorgaben, als Leittiere anzuerkennen und zu bewundern. Aber glaubten sie tatsächlich, sie könnten etwas ändern?

Der Ruf» Neues Forum zulassen «war ein kleines metrisches Kunstwerk, dessen drei letzte Silben wie Fäuste gegen ein Tor schlugen. Mich berührte das eigenartig, als kämpften jene Schreihälse für mich, dafür, meine Mitgliedschaft zu legalisieren. Die Sprechchöre hallten von den Hausfassaden wider. An der Peripherie merkten sie zu spät, wenn sie im Zentrum bereits schwiegen oder eine neue Parole ausgaben.»Neues Forum zulassen«, brüllte Patricks Freund direkt neben uns. Ich gestehe — mir war das peinlich. Obwohl — er hatte seinen Teil getan, ich würde dergleichen nie über die Lippen bekommen.

Im selben Moment, da sie zum ersten Mal» Los-lau-fen!«riefen, glaubte ich Stiefelgetrappel zu hören — es war aber nur eine Schar Tauben, die vom Dach aufflog. Gern wäre ich losgelaufen — die Leute neben mir fielen schon in die Sprechchöre ein —, doch wir steckten mittendrin fest. Einen Moment später waren Ellen und Patrick spurlos verschwunden.

In der Fußgängerzone war kaum zu entscheiden, wo die Demonstration aufhörte und der Alltag begann. Ebenso unklar blieb, welchen Weg die Demonstration einschlagen würde.

In der Hoffnung, Patrick und Ellen wiederzufinden, drückte ich mich an ein Schaufenster. Und erst da begriff ich: Das ist eine Demonstration, hier demonstrieren Leute. Ich brauchte nur ein paar Schritte nach vorn zu machen und dann weiter einen Fuß vor den anderen zu setzen. So einfach ist es also, an einer illegalen Demonstration teilzunehmen, dachte ich.

Ich kann Ihnen nicht mehr sagen, wie wir zum Bahnhof kamen, ob wir bereits vor der Oper abgebogen waren oder erst auf der Ringstraße. Die späteren Bilder überlagern die frühen. Ich sehe uns noch zwischen Häusern, vor Schaufenstern, wie eine Nebendemonstration, die darauf wartet, sich dem Hauptstrom anschließen zu können. Ein Transparent, das zusammengewickelt nicht größer als eine Rangierflagge war, wurde über den Köpfen weitergereicht,»Visafrei bis Shanghai«. Ich sah darin eine Methode, die Fingerabdrücke auf den Stäben zu verwischen. Gerade als es an mir war, den Arm auszustrecken und ein Ende zu übernehmen, brach ein» Gorbi, Gorbi!«-Sprechchor über uns herein. Ich sah zu Boden und hoffte, es möge schnell vorbei sein.

Die Straßenbahngleise zu betreten kostete mich einige Überwindung. Die Bahnen waren stehengeblieben. Ein Fahrer hielt die Arme verschränkt und sah ausdruckslos auf mich herab.»Reiht euch ein«280 wurde skandiert. Die Leute in dem erleuchteten Wagen, die Stirn an der Scheibe, betrachteten uns wie Figuren in einem öden Film.»Reiht euch ein!«Sie werden das Lied kaum kennen — wir mußten es im Musikunterricht singen —, der Refrain heißt:»Drum links, zwei, drei, drum links, zwei, drei / Wo dein Platz, Genosse, ist / Reih dich ein in die Arbeitereinheitsfront, / Weil du auch ein Arbeiter bist!«Daher, aus diesem Lied, stammte ihr» Reiht euch ein!«. Ist das nicht abgeschmackt?281

Dann der Kordon der Bereitschaftspolizisten. Ich habe Ihnen ja die Stelle gezeigt, wo sie die Straße abgeriegelt hatten. Instinktiv wich ich zum Rand aus. Mir schien es ein zu offensichtliches In-die-Falle-Gehen zu sein. Die Menge rückte auf, schob die vorderen Reihen praktisch dem Kordon in die Arme. Auf einen Schlag war wieder alles überschaubar geworden, wie auf dem Platz vor der Nikolaikirche, von dem sie uns erst gar nicht hätten herunterlassen dürfen. Nun würden sie ihren Fehler korrigieren.

Links, auf dem hohen Bordstein, stand eine ältere zierliche Frau, die Arme angewinkelt, halb Tänzerin, halb Adorantin. Erst als ich die Leinen sah, an denen sie zwei Pudel hielt, die vor Aufregung umeinandersprangen, erklärte sich mir ihre Haltung.

Die Leuchtschrift auf dem Neubau links, der die Straßensperre zu verlängern schien, verkündete» Bienvenu«,»Welcome«,»Dobro poshalowat«— Grüße aus einer anderen Zeit, da man Angenehmeres zu tun hatte, als mit Tausenden auf der Straße zu stehen, sich an Sprechchören heiser zu schreien und auf neue Einheiten der Bereitschaftspolizei zu warten. Kaum ein Fenster war erleuchtet. Standen die Bewohner hinter den Gardinen, saßen sie beim Abendbrot oder vor dem Fernseher? Ich beneidete sie. Das» Astoria«, der Bahnhof, diese Leuchtreklame erschienen mir wie die Kulissen eines vertrauten Stücks, in denen man zwischen zwei Vorstellungen einen Sketch probte.

Ich weiß bis heute nicht, warum wir eigentlich stehenblieben, warum wir den Kordon nicht umgingen oder uns einen ganz anderen Weg suchten. Boten wir Demonstranten nicht der Staatsmacht geradezu an, uns einzukesseln? Oder erhielt unser Spaziergang überhaupt erst durch diese Reihe Uniformierter einen Sinn?

Ich hatte genug gesehen und gehört. Ich machte die ersten Schritte in Richtung Freiheit, da begann in meinem Rücken ein neues» Schämt euch was! Schämt euch was!«. Das dritte» Schämt euch was!«— ja, ich schämte mich für diese kindischen Sprüche — war ohrenbetäubend und versetzte die Pudel in Raserei. Sie bellten und verhedderten sich in den Leinen. Plötzlich sprang mich der eine an, ich spürte die Krallen durch die Hose. Die Frau unternahm nichts. Sie gab sogar Leine nach, als ich zurückwich, dabei blickte sie mir ungeniert in die Augen. Über den Mundwinkeln war ihr Oberlippenbärtchen besonders dicht. Erst als das» Schämt euch was «verebbte, machte die Frau kehrt. Sie humpelte, die Pudel folgten ihr willig, die Leinen hatten sich auf wundersame Weise entwirrt.

Wenn ich schon blieb, wollte ich wenigstens etwas sehen, und so versuchte ich, möglichst weit vorzudringen. Man half mir, rief die Vorderleute beim Namen oder tippte auf ihre Schultern. Ich bewegte mich sehr langsam, um niemanden zu irritieren, nachdem ein Mann, fast noch ein Junge, meinetwegen zusammengezuckt und mitten im Ruf verstummt war.

Als ich den Kordon der sich untergehakt haltenden Uniformierten unmittelbar vor mir erblickte — soweit ich sah, waren sie unbewaffnet —, verstand ich nicht, warum wir uns von ihnen aufhalten ließen. Sie waren ein Nichts gegen uns. Die Gesichter unter den Schirmmützen lagen im Schatten. Es fiel schwer, überhaupt einen Ausdruck zu erkennen.

In dem schmalen Korridor, der Demonstranten und Uniformierte trennte, liefen drei junge Frauen hin und her, besser gesagt, frühreife Mädchen. Zwei von ihnen machten gleichzeitig eine Kaugummiblase, katschten weiter mit offenem Mund und lachten aufgesetzt, jeder sollte sehen, was für einen Spaß sie hier hatten. In ihren weißgefleckten Jeans wirkten sie plump und aufreizend zugleich. Wieso erlaubte man ihnen, sich hier derart aufzuführen? Außer mir schienen sie die einzigen zu sein, die bei den Sprechchören nicht mitmachten.

Dann waren die Mädchen in nahezu klassischem Kontrapost stehengeblieben, die Hände in die Hüften gestemmt oder den Arm um die Schulter der Freundin gelegt, und taten, als plauderten sie mit einem Bekannten im Kordon.

Die entscheidende Bewegung verpaßte ich. Sie werden es für Einbildung halten, doch ich nahm das Schweigen wahr, durch das sich die Tat ankündigte. Es war ein Innehalten, wie man es aus der Natur kennt, der Augenblick, in dem Tag und Nacht zusammenstoßen und alle Kreatur für ein paar Herzschläge verstummt. Wegen dieser Stille sah ich mich um — die Leute blickten auf, etwas drehte sich über unseren Köpfen — die Mütze fiel mit einem» Klack «des Schirms auf den Asphalt, kippte über und blieb verkehrt herum keine zwei Schritte vor mir liegen. Bevor ich das Namensschild entziffert hatte, schnappte sich eines der Mädchen die Mütze und warf sie über die Schulter wieder empor.

Ich sah ihr Gesicht wie ein winziges Porträt, aufgehängt am anderen Ende der Welt, aber ich sah es in vollkommener Schärfe. Ich sah alles gleichzeitig: die um sich selbst schlingernde Mütze, den Kopf eines schwarzhaarigen Jungen, die Bewegung des Mädchens und die erstarrten Zeugen. Am meisten verwirrte mich der mützenlose Kopf, das verklebte schwarze Haar und die weiße, von einem Striemen282 durchschnittene Stirn.

Auch das zweite Mädchen fischte sich mit einer Hand die Mütze eines langen Kerls und warf diese sofort in die Luft. Die andere Hand behielt sie lässig in der Hosentasche. Diesmal landete die Mütze hinter mir. Ich hob sie auf. Jürgen Salwitzky283 stand auf dem Zettel unter der Folie. Von hinten kam erster Jubel. Jürgen Salwitzky, auch er mit dem Abdruck auf der Stirn, sah seine Mütze wieder auffliegen. Denn bevor ich sie ihm hatte zurückgeben können, war sie mir entrissen worden wie eine Beute, die mir nicht zustand.

Der Jubel, mit dem jeder neue Mützenflug begrüßt wurde, konkurrierte mit Keine-Gewalt-Rufen. Ich verstand nicht, worauf die Uniformierten warteten. Was mußte denn noch geschehen?

Das dritte Mädchen drehte eine Schirmmütze auf ihrem Kopf hin und her.

Jürgen Salwitzky und die beiden anderen Barhäuptigen sahen jetzt aus wie die Gefangenen ihrer bemützten Nebenmänner.

Die Keine-Gewalt-Sprechchöre waren verstummt. Jetzt wollten die Demonstranten mehr Mützen sehen, und einige Mutige erhaschten ihre Trophäen. Sie hatten leichtes Spiel. Untergehakt konnten die Uniformierten bestenfalls ihren Kopf nach hinten werfen und wütend und ängstlich zugleich die ausgestreckte Hand des Räubers beäugen.

Bald aber hatte man sich auch daran gewöhnt. Deshalb war es eine Erlösung, als ein junger Kerl auf irgend etwas stieg und eine kurze Ansprache hielt. Wir sollten uns nicht provozieren lassen und jetzt nach Hause gehen, am nächsten Montag aber wiederkommen und jeder noch einen Freund, Kollegen oder Nachbarn mitbringen. Heute hätten wir einen Sieg errungen, einen Sieg, auf den wir stolz sein könnten. Der Beifall war dünn.

Er verharrte, als wollte er weitersprechen oder Fragen beantworten, da aber weder ihm noch sonst jemandem etwas einfiel, verschwand er wieder in der Menge.

Wie leicht hätte ich selbst diesen Part übernehmen können. Doch hätte ich ganz anders gesprochen! Meine anklagende und aufrührerische Rede lag seit Jahren in mir bereit! Ein bißchen Mut und Kletterkunst reichten aus, um in Stunden wie dieser Historisches zu vollbringen.

Ich zählte zu den ersten, die gingen, und sah, wie klein die Welt der Demonstranten war, wie wenige Schritte ausreichten, um in die vertrauten Kulissen, in das alte liebgewonnene Stück zurückzukehren.284

Kurz nach neun war ich zu Hause. Robert hatte Michaela erwartet, nicht mich. Jedenfalls war seine Tür wieder zugegangen, noch bevor ich ihn gesehen hatte. Michaela konnte dann kaum ihre Enttäuschung über meinen Bericht verbergen, der blaß und einsilbig ausgefallen war, als hätte ich geschwänzt. Insgeheim hat sie wohl bezweifelt, daß ich überhaupt in Leipzig gewesen bin.

Im Bett mußte ich daran denken, was man uns in der Schule gelehrt hatte, nämlich daß bei uns in der DDR die Werktätigen nicht zu demonstrieren oder zu streiken brauchten, denn wer im Sozialismus auf die Straße ginge, demonstriere schließlich gegen sich selbst. Diese Formulierung beschrieb präzis meine Lage. Als Schriftsteller tat ich genau das. Ich demonstrierte für die Abschaffung meines Stoffes, meines Themas. Ich muß Ihnen das nicht weiter erläutern. Was sollte ich, ein Schriftsteller, ohne Mauer?

Herzlich wie immer,

Ihr Enrico

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