Liebe Nicoletta!
Es wird Sie vielleicht erstaunen, wenn ich die anderthalb Jahre von unserem ersten gemeinsamen Wochenende in Dresden bis zum Mai 89 eine glückliche Zeit nenne. Der Zwiespalt, von dem ich schrieb, blieb bestehen, aber ich lebte nicht schlecht mit ihm. Den Antrag auf Ausreise zögerte ich hinaus, nein, ich sparte ihn mir auf wie eine Belohnung, die ich mir erst verdienen mußte. Je länger ich in der DDR aushalten würde, desto mehr hätte ich schließlich im Westen vorzuweisen. Zudem betrachtete ich das Familienleben als neue Erfahrung. Ich fühlte mich ausgezeichnet, wenn ich Michaela dabei zusehen durfte, wie sie ihre Beine rasierte, und empfand es als Vertrauensbeweis, wenn ich unsere Wäsche aufhängte oder von der Leine nahm.
Zwischen Robert und mir blieb es anstrengend. Anerkennung fand ich bei Robert nur sporadisch, zum Beispiel wenn es mir gelang, die Tülle der Wäscheschleuder über dem Eimer zu halten. Dazu mußte ich mich mit meinem ganzen Gewicht auf die Maschine werfen. Meine Mutter hingegen wurde uneingeschränkt akzeptiert, weshalb wir oft nach Dresden fuhren.
Das Studium beendete ich glanzlos. Ungewollt war ich wenige Monate vor meiner Verteidigung an den Rand einer Exmatrikulation geraten, weil ich ein Blatt mit» konkreter Poesie «an die Wandzeitung geheftet hatte.248 So liberal, wie es manchmal schien, war die Universität doch nicht geworden.
Nach der Verteidigung der Diplomarbeit, meiner letzten Aufgabe als Student, gingen wir — Michaela, Anton und ich — zum Wehrkreiskommando. Ich mußte mich abmelden, genauer gesagt: ummelden. Michaela hörte zu, als man mir mitteilte, als Fahrer hätte ich gute Chancen, bereits in zwei Jahren (das wäre jetzt) wieder eingezogen zu werden.
Sowohl die Schulnovelle wie auch das Armeebuch gewannen durch diese Drohung für mich wieder an Kraft.
Die Premiere von» Fräulein Julie «im September249 war ein Reinfall. Als Flieder, von Michaela geführt, auf der Bühne erschien, gab es Bravo-Rufe, doch drei Viertel des Publikums warteten da bereits an der Garderobe. Wir erzwangen fünf Vorhänge, Michaela knickste jedesmal wie eine Operndiva und lächelte hinauf in die leeren Ränge. In Berlin wäre diese» Julie «wie» Dantons Tod «oder» Macbeth«250 gefeiert worden.
Erst auf der Rückfahrt nach der Premierenfeier brach die Wut aus Michaela heraus. Viel zu lange sitze sie schon in Altenburg fest, das Gerede, dieses Theater sei ein Sprungbrett, habe noch nie gestimmt.»Ich ertrage dieses Kaff nicht mehr!«schrie sie. Auf dem Gipfel ihrer Verzweiflung wollte sie sogar in die Partei eintreten, wenn das die Bedingung für ein Engagement in Berlin wäre. Die Hälfte ihrer Freunde am Gorki und im BE seien Genossen, alles Leute, von denen es niemand glauben würde.
«Wie wäre es denn mit Westberlin«, fragte ich, als wir in unsere Straße einbogen.»Sofort!«rief Michaela und sah mich mit weit aufgerissenen Augen an.»Sofort!«wiederholte sie.
Zu Hause überreichte sie mir ein Paket, ihr Premierengeschenk. Es enthielt einige, immer kleinere Päckchen, die ich zu öffnen hatte, bis ich endlich eine in Goldpapier gewickelte Schachtel» Club «in Händen hielt — voller Pfefferminze. Auf dem Zettel, der darin steckte, las ich:»Rauchen schadet werdenden Müttern und Vätern. «So weit war es noch nicht, aber wir versuchten, uns das Rauchen abzugewöhnen.
«Fräulein Julie «erlebte fünf oder sechs Aufführungen. Michaela sah in der Tatsache, daß ihre» Julie «nicht im Anrechtsprogramm251 lief, einen Akt der Zensur. Eine einzige Kritik war erschienen, ein Verriß auf der Lokalseite der LVZ.
Mit Beginn meiner Arbeit als Schauspieldramaturg waren mir anderthalb Zimmer bei der 88jährigen Emilie Paulini zugewiesen worden.
Mit ihr teilte ich das Trockenklo auf halber Treppe und die Küche, deren Waschbecken das Bad ersetzte. Dafür war der Keller voller Briketts. Ich brauchte dieses Refugium, weil Roberts Fernsehgewohnheiten und sein ununterbrochen laufender Kassettenrecorder mich regelmäßig vertrieben. Daß ich aber nur mit einem Tisch und einem Stuhl einzog, enttäuschte Emilie Paulini tief. Sie fürchtete sich nämlich, allein zu sein,»wenn es ans Sterben geht«. Abends einschlafen und nicht mehr aufwachen, so wollte sie es. Aber nebenan sollte jemand sein. Mir zu Ehren trug sie eine Perücke, die meistens schief wie eine Baskenmütze saß. In regelmäßigen Abständen winkte sie mich in ihre Stube, bat mich, Platz zu nehmen, und überreichte mir das gerahmte braunstichige Photo einer sehr schönen jungen Frau. Ob ich mir vorstellen könne, wer das sei. Sie kicherte, schob ihren Kopf mit der Perücke wie eine Schildkröte vor und sagte ganz laut: Na? Ich sah dann zwischen ihr und dem Photo hin und her und sagte schließlich:»Natürlich, Frau Paulini, das sind Sie!«Emilie Paulini kreischte, warf die Arme hoch und sprang auf, um mir sofort ein Stück Kuchen aus der Küche zu bringen.
Emilie Paulini mochte Michaela nicht, weil sie» eine vom Theater war «und obendrein schuld daran, daß ich nicht bei ihr wohnte.
Ihre Tochter Ruth kam mittwochs zu Besuch und holte sie sonntags zum Mittagessen ab. Ruth, die sehr schnell sprach und statt einer Pause zwischen den Sätzen ein hohes, gedehntes, mit dem Luftstrom absinkendes Aaah oder Neeeh ausstieß, hatte mir in der Küche erzählt (»Herr Türmer, was ich Ihnen erzählen könnte, Herr Türmer, aaah, dazu reicht unsre Zeit gar nicht aus, was ich — neeeh — so viel, so viel«), wie sie auf der Flucht im April 45 in Freital bei Dresden» den Russen in die Hände gefallen «waren. Ihre Mutter habe sie immer weggeschickt und aufgefordert zu singen.»Immer wenn Russen kamen, wurde ich singen geschickt. Aaah! Das sind Geschichten, Herr Türmer, Geschichten … Aaah! Dabei war unser Muttchen gar nicht mehr jung, hat aber nicht geholfen. Geschichten! Aaah, Herr Türmer. Sie ist schwanger hier angekommen, mit 43 schwanger! Neeeh, ohne Mann, stellen Sie sich mal vor!«252 Ruth drückte sich ihr immer griffbereites Spitzentaschentuch in die Augenwinkel.
Mir hatte der Sinn dieses Singens nicht eingeleuchtet, da uns aber Emilie Paulini nie lang allein ließ, war ich erst Tage später dazu gekommen, Ruth danach zu fragen.»Aaah, Herr Türmer, das ist doch ganz einfach. Das hat sie beruhigt. Da wußte sie, daß sie wenigstens mich in Ruhe lassen. Aaah, neeeh, Geschichten!«
Es war Michaela, die vorschlug, aus den Erzählungen der beiden Paulinis ein Stück, einen Monolog zu machen. Für sie, Michaela, sei es natürlich besser, wenn Ruth das Ganze erzählte, aber auch ein Mutter-Tochter-Stück sei denkbar. Wenn es mir gelänge, die beiden zum Erzählen zu bringen, würde sich das Stück wie von selbst schreiben.253
Nun übernachtete ich hin und wieder bei Emilie Paulini. Die Vorstellung, über einen Stoff zu verfügen, der von Krieg, Flucht, Plünderungen und Vergewaltigungen handelte, vielleicht sogar von Juden und SS, gab mir das Gefühl einer seltsamen Überlegenheit.
Ich begann bescheiden und verzeichnete Emilie Paulinis Gewohnheiten: wann sie aufs Klo und in die Küche ging, was sie einkaufen ließ, welches Mittagessen, das die Volkssolidarität brachte, ihr schmeckte und welches bis zum nächsten Tag in der Küche stand. Ihre Fernsehzeiten waren nicht zu überhören. Nachts erwachte ich mitunter von Emilie Paulinis Gebrabbel, das ich trotz der hellhörigen Wand nicht verstand. Vor ihre Tür zu schleichen hatte ich aufgeben müssen, weil sie beim ersten Dielenknarren verstummt war.
Ich versäumte keinen Mittwochabend. Wie erhofft, wurde ich bald ins Zimmer gebeten, das ich nur im Halbdunkel kannte, weil Emilie Paulini Strom sparte. Je älter die Gegenstände waren, die ich mit Argusaugen erspähte, desto mehr brachte ich meine Bewunderung zum Ausdruck, in der Hoffnung, die Paulinis zum Sprechen zu animieren. Aber es war keine» Vorkriegsware «dabei.254 Ich hoffte auf Photos, bekam aber keine anderen zu sehen als jene, die gerahmt auf dem Buffet standen.
Ich fragte sie nach Tschechen, Juden, dem Kriegsausbruch. Nichts, schon gar nichts Grausiges, fiel ihr dazu ein. Mitunter glaubte ich, Emilie Paulini spüre das Vorsätzliche meiner Neugier. Über ihren Mann sagte sie:»Die haben bis zuletzt gekämpft!«und stieß ein hohes Lachen aus. In der Küche erfuhr ich mehr. Doch Ruths Aaahs und Neeehs waren so laut, daß Emilie Paulini sofort aus ihrem Zimmer geeilt kam. Ihr Mann war Feldpolizist gewesen, ein Kettenhund, und galt als verschollen. Nicht mal ein Photo gebe es mehr von ihm. Lange vor ihrer Heirat hatte Emilie Paulini, noch nicht volljährig, einen Sohn geboren. Er war in einem Heim aufgewachsen, hatte sich freiwillig zur Marine gemeldet, war in Norwegen schwer verwundet worden und schließlich bei einem Bombenangriff auf Bremen ums Leben gekommen. Ein einziges Mal habe sie mit ihrer Mutter darüber gesprochen. Irgendwo müßten noch Briefe von ihm sein. Ihre Mutter danach zu fragen sei sinnlos, sagte Ruth. Sie könnten ja nicht einmal über Hans, das Russenkind, miteinander reden. Aber auch Ruth selbst wollte nichts von ihrem Halbbruder erzählen.
Ich benutzte Karteikarten, die ich mit Filzstift markierte. Schwarz für die häuslichen Gewohnheiten, rot für die Geschichten von Emilie Paulini, grün für die von Ruth, blau für die Gegenstände, die mir interessant schienen. Ich hoffte, meine Notate würden irgendwann gleichsam wie von selbst zueinanderfinden und eine Geschichte spinnen. Michaela las jede Menge Bücher über das Ende des Zweiten Weltkrieges und überschüttete mich mit Vorschlägen.
Nie zuvor hatte ich so viel Zeit zum Schreiben gehabt wie am Theater — unsere Anwesenheitspflicht galt von zehn bis vierzehn Uhr —, und dafür wurde ich sogar noch bezahlt! Immerhin blieben mir von neunhundert brutto siebenhundert netto, das war nicht anders als fürstlich zu nennen.
Ich betreute das jährliche Weihnachtsmärchen, eine Bearbeitung von Andersens» Schneekönigin«, und hatte darin sogar ein paar Auftritte als weiser Rabe. Vergeblich wartete ich auf einen Regisseur wie Flieder.
Am besten waren noch die Inszenierungen von Moritz Paulsen, der sein Geld mit Modenschauen verdiente und bei dem sich die Beleuchtungsproben über zwei oder drei Tage erstreckten. Was mich für Moritz Paulsen einnahm, war sein Entschluß, ein sogenanntes Glasnost-Stück als Revue aufzuführen. Höhepunkt waren jene kurzen Szenen, die mit dem von Paulsen erfundenen Ausruf» Der Parteiflamingo!«begannen und die Handlung unterbrachen. Mit verklärtem Lächeln sahen dann alle Schauspieler zu dem imaginären Parteiflamingo auf, der über den Bühnenhimmel zu ziehen schien. Wir rechneten uns gute Chancen aus, nach der Premiere verboten zu werden. Doch bis auf einen Wutausbruch von Jonas, dem Intendanten — niemand würde verstehen, was wir damit sagen wollten —, gab es nur müde Proteste. Ein Lehrer, der mit seiner Klasse die Aufführung gesehen hatte, bemängelte, daß wir, statt unsere künstlerischen Mittel für die Herausbildung eines parteilichen Bewußtseins einzusetzen, den Pädagogen in den Rücken fallen würden. Solche Briefe, die wie Trophäen ausgehängt wurden, blieben Mangelware.
Zur Zeit unseres zweiten gemeinsamen Weihnachten waren wir wohl eine glückliche Familie. Die Anwesenheit beider Großmütter besänftigte Robert. Er antwortete mir und stand nicht mehr auf, wenn ich mich zum Fernsehen neben ihn setzte.
Und dann, am Morgen des zweiten Weihnachtsfeiertages, wußte ich plötzlich, wie meine Novelle enden sollte. Ich verstand gar nicht, warum ich fast drei Jahre dafür gebraucht hatte.
Es muß mit der Stimmung bei uns zu tun gehabt haben, mit der von unserer Lektüre beeinflußten Stimmung. Michaela las Ecos» Der Name der Rose«, und Robert hatte von mir» Tim Thaler oder Das verkaufte Lachen «geschenkt bekommen. Lachen lag in der Luft, und auf einmal durfte auch Titus, mein Held, in der Novelle lächeln. Titus ließ sich nicht länger erpressen. An die Stelle des Leidens trat die Ironie. Er war erwachsen geworden.
Ich würde wieder von vorn beginnen, ganz von vorn, aber diesmal sicher im Tonfall. Das Lächeln von Titus tauchte die Novelle in ein heiteres Licht und befreite sie von der säuerlichen Tragik der Pubertät.255
Im neuen Jahr machte ich mich an die Arbeit. Ich konnte gar nicht so schnell schreiben, wie mir die Ideen zuflogen. Und weil ich nun viel Zeit in meinem Refugium verbrachte — der Herr Türmer ist stets freundlich und gut gelaunt —, war auch Emilie Paulini froh.
Heute glaubt ja jeder, bei den Kommunalwahlen256 bereits die Totenglocken des Systems gehört zu haben. Im nachhinein erscheint das plausibel.
Hatte es an der Uni noch große Diskussionen gegeben, um wieviel Uhr ein Student im Wahllokal zu sein habe, nämlich nicht später als eine Viertelstunde nach Öffnung, so kümmerten die Wahlen am Theater niemanden. Nachdem der Karl-Marx-Orden an Ceauşescu verliehen worden war,257 hatte selbst Jonas mit Parteiaustritt gedroht.
Am Wahlsonntag war schönstes Maiwetter. Wir holten die Räder heraus und machten einen Ausflug. Ich kann Ihnen kaum eine Vorstellung von jenem Schaudern geben, das mich früher auf dem Weg zum Wahllokal begleitete. Wie auch immer man sich zu tarnen versuchte, man sah es jedem an — und jeder sah es einem selbst an —, daß der Weg zur Wahlurne führte. Das Anstehen vor dem Wahllokal funktionierte wie ein Pranger.
Wir machten ein Picknick an einem See nahe Frohburg und kehrten erst nachmittags zurück — da waren kaum noch Wahlgänger unterwegs. Wir hatten uns gerade hingelegt, als es klingelte. Robert öffnete. Ich dachte, es sei sein Freund Falk. Eine Frau und ein Mann wollten uns sprechen, sagte Robert. Wir zogen uns wieder an.
Ich fühlte mich kampfeslustig! Mit ein paar klaren Worten wollte ich die Sache erledigen.
Die Frau war um die Fünfzig und wippte wie eine Turmspringerin auf unserem Treppenabsatz. Ihre hellrot geschminkten Lippen hielten ein altes Lächeln fest. Er war Mitte Dreißig, hatte schütteres dottergelbes Haar und trug eine schwarze Lederjacke. Um den linken Ellbogen lässig auf das Treppengeländer stützen zu können, mußte er sich lächerlich tief zur Seite neigen. Aus seiner Faust ragte ein Kuli. In der Rechten hielt er eine Mappe.
Er sprach, sie beobachtete unser Frage-Antwort-Spiel.
Nein, sagte ich, wir beabsichtigten nicht, bis 18 Uhr das Wahllokal aufzusuchen, nein, der Grund sei nicht die Lokalpolitik, nein, die zur Wahl stehenden Personen kennten wir nicht, sie interessierten uns nicht, wir hätten eine andere Vorstellung von Wahlen.
Ich mühte mich, mein Lächeln niederzureden. Doch auch Michaela und selbst der mit den dottergelben Haaren begannen zu lächeln. Und sogar die Frau versuchte vergeblich, ihre hellroten Lippen am Lächeln zu hindern. Er war inzwischen mit dem Ellbogen am Geländer abgerutscht.
Ob sie weitere Auskünfte wünschten, fragte Michaela und klang dabei so freundlich, als hätte sie ihnen ein Glas Wasser angeboten. Nein, sagte er, sie hätten keine weiteren Fragen. Sie seien uns dankbar, weil wir so offen mit ihnen gesprochen hätten, nun könnten sie im Wahllokal Bescheid geben, da brauchten die ehrenamtlichen Helfer nicht länger zu warten, und auch die fliegende Wahlurne müsse ja nicht zu uns geschickt werden.
«Dann haben Sie den Weg nicht ganz umsonst gemacht«, sagte ich. Und Michaela fügte hinzu:»Da können Sie wenigstens den Rest vom Sonntag genießen.«—»Ach, schön wär’s«, rief der Dottergelbe, lachte und klopfte mit dem Kuli auf seine Mappe. Fast hätten wir uns zum Abschied die Hand gereicht.
Michaela mußte Robert beruhigen, der mitgehört hatte und fürchtete, man würde ihn unseretwegen in der Schule aufrufen. Er weinte, warf sich aufs Bett und rief:»Warum macht ihr es denn nie so wie die anderen!?«Als es erneut klingelte, zuckte er zusammen. Diesmal war es sein Freund Falk.
Ich weiß nicht, ob ich mich verständlich machen kann. Aber die Jämmerlichkeit der einen Seite machte die Jämmerlichkeit der anderen noch sichtbarer. Mit diesem Tag überfiel mich ein Gefühl absoluter Sinnlosigkeit. War es nicht absurd, sich jetzt wieder an die Novelle zu setzen? War sie nicht eine unfreiwillige Parodie? Überhaupt bekam alles, wie die Szene im Treppenhaus, einen Unterton, der zum Lachen reizte. Jegliche Emphase lief ins Leere, jede Geste, jedes Aufbegehren war überflüssig. Genauso unangemessen erschien mir der kühle Beobachterblick. Er war das Lächerlichste überhaupt, der größte Kitsch.258
Ich setzte mich an meine Rheinmetall und hämmerte drauflos. Ich verstand nicht, was ich da schrieb. Ich ahnte nur, daß es mit Literatur nichts mehr zu tun hatte.
Es war ein Abschied, ich selbst vertrieb mich aus dem Paradies. Oder sollte ich sagen, ich trieb mir das Ich aus, ich opferte meine Individualität, meine eigene unverwechselbare Stimme, sofern ich sie überhaupt besessen hatte.
Ich glaubte, das, was ich tat, tun zu müssen, um mich zu bestrafen. Und in mir geißelte ich auch alle anderen, das ganze Land, das ganze System. Was ich da fabrizierte, war Dreck, aber nichts anderes als Dreck verdiente ich, dieser Staat, diese Gesellschaft! Vielleicht, dachte ich, hat Duchamp ähnlich empfunden, als er sein Pissoir zum Kunstwerk erklärte. So wie ihn vielleicht die Gewißheit gequält hat, nie wieder einen Pinsel in die Hand nehmen zu dürfen, nie wieder vor die Staffelei zu treten und die Farben auf der Palette zu riechen, so fühlte ich mich bei meinem Ausbruch. Es war ein brutaler Exorzismus, zu dem ich mich gezwungen sah. Mit jedem Satz meiner Wahlgeschichte, einer primitiven Fäkalienorgie, entfernte ich mich weiter von Arkadien.259
Das, worüber ich mich empörte, waren nicht die widerwärtigen und ekelhaften Tatsachen, sondern daß sich diese widerwärtigen und ekelhaften Tatsachen nicht mehr auf herkömmliche Art mitteilen ließen, als mache jeder Versuch, die Wahrheit zu sagen und die Lüge Lüge zu nennen, die Unterscheidung nur noch schwerer.
Das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking260 signalisierte mir vor allem eins: Die Welt würde bleiben, wie sie war. Ewig würde es so weitergehen. Etwas anderes hatte ich nicht erwartet — oder doch? Ich verstand gar nicht, wieso ich bei jener Schreckensnachricht eine gewisse Erleichterung empfand.
In der Spielzeitpause fuhren wir mit Auto und Zelt nach Bulgarien. In Achtopol am Schwarzen Meer, wo Robert beim Anblick eines gestrandeten Delphins weinte, kam ich auf die Idee, Nikolai Ostrowskis» Wie der Stahl gehärtet wurde«261 als Vorlage für ein bitterböses Opus zu nehmen.
Was in diesem Sommer tatsächlich geschehen war, wurde mir erst Ende August klar, zu Beginn der neuen Spielzeit. In der Dramaturgie schlossen wir Wetten ab, wer wieder zum Dienst antreten würde und wer bereits weg sei. Max, unser Jean, und seine Familie waren nach Ungarn gefahren. Er galt allgemein als Favorit fürs Abhauen. Max begriff dann gar nicht, warum man ihn, der zu spät zur Eröffnungsversammlung gekommen war und im Foyer gewartet hatte, derart überschwenglich begrüßte. Auf merkwürdige Art mischten sich dabei Freude und Enttäuschung, ja sogar ein bißchen Verachtung war dabei, als hätte man ihm mehr zugetraut.
Zur selben Zeit hatte es zwischen Michaela und mir Streit gegeben oder, besser gesagt, eine Verstimmung. Obwohl Michaela schon fünfunddreißig wurde, wünschten wir uns ein gemeinsames Kind.262 Früher, sagte sie, sei sie beim Anblick des Blutes wie erlöst gewesen, heute deprimiere er sie bei jedem Mal mehr. Jede neue Menstruation geriet mir zum Vorwurf. Michaela bestand darauf, daß ich mich untersuchen ließe. Ich fand das demütigend, aber darüber zu diskutieren hätte noch mehr kaputtgemacht. Die Untersuchung war genau so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Mit einem Becher stand ich auf der nach Desinfektionsmitteln stinkenden Toilette und wußte auf einmal nicht, an welche Frau ich denken sollte. Eine Woche später überreichte ich Michaela mein Zertifikat.»Komisch«, sagte sie, und das blieb auch ihr einziger Kommentar dazu.
Ihr Enrico T.