Im Torpedoraum hockte Jimmy Porter zwischen seinen tödlichen >Spargel< und blickte mit hochgezogenen Brauen auf den Laut-sprecher an der Decke. Sein rundes Gesicht drückte eine ausgesprochen miese Stimmung aus. Und wenn bei Jimmy eine Laus über die Leber kroch, war es vernünftig, ihn nicht auch noch zu reizen. Nicholsons Flüsterstimme aber reizte ihn ungemein, vor allem die Aussicht, so gut wie tot zu sein.
Er saß hinter einem kleinen Stahltisch, den man zusammenklappen konnte, und er hatte gerade einen Skat mit drei Buben gewonnen. Die Maate Duncan, Losinski und Hammett, zu der Runde gehörend, die mit Belucci um den kleinen roten Teufel Evelyn gewürfelt hatten, tranken gerade zur Auffrischung Orangensaft aus der Blechdose. Hammett mischte die Karten. Die Morde an Belucci und Fähnrich Duff hatte sie alle verdächtig gemacht, aber sie trugen es mit Anstand, in dem reinen Bewußtsein, daß keiner von ihnen ein Mörder sei. Man kann sich eines Mädchens wegen in die Fresse schlagen, das gibt ein blaues Auge, ein geschwollenes Kinn, eine Beule, eine dicke Lippe, aber sich umbringen für das bißchen Fleisch mit den winzigen roten Löckchen — das wäre geradezu absurd. Ihre Kameradschaft war eisern wie die Stahlhaut des U-Bootes. Und so hatten sie Belucci auch nur in den Hintern getreten und ihm den Verlust der Vorderzähne angekündigt, als sie seine gezinkten Würfel entdeckten — aber ihn deswegen umbringen? Der Commander schien das auch eingesehen zu haben. Er ließ sie in Ruhe. Und was den lieben Duff betraf… hatte sein Tod nicht das ganze Boot in Aufruhr gebracht? Porter und Hollyday hatten keine Ruhe gegeben, bis sie alle Mann — mit Ausnahme der Offiziere natürlich — durchgeknetet hatten. Danach stand fest, daß man Duff eher wie einen Säugling in einer Wiege geschaukelt hätte, als ihn mit einem Kissen zu ersticken.
«Mir ist nicht ganz klar, was das alles soll«, sagte Porter leise, als Nicholsons Stimme verstummte.»Gut, über uns liegt der Russe. Wir müssen flach zu Boden gehen. Aber was wird aus den Jungs an Land… und aus den Weibern?«
«Darüber nachzudenken ist nicht Sache eines Torpedoobermaats«, sagte Hammett und teilte die Karten aus. Wie Nicholson flüsterten alle, und die Karten wurden nicht wie bei Skatspielern zünftig auf den Tisch gedroschen, sondern wie hauchdünnes Porzellan behandelt. Für professionierte Spieler ist das eine ungeheure Nervenbelastung — ehrlich!
Jimmy Porter rührte seine neuen Karten nicht an und starrte noch immer an die Decke auf den Lautsprecher. Duncan stieß Losinski stumm in die Seite und deutete auf Porter. Der spinnt wieder, hieß das. Der pflegt jetzt wieder seinen Koller. Verdammt, die Weiber sind von Bord, und die Versuchung friert drüben auf dem Festland. Im Boot ist endlich Ruhe, wir haben mal ein paar Tage davon geträumt, einen nackten Frauenhintern umklammern zu können — nur gut, daß das vorbei ist. Wir sind wieder vernünftig geworden… aber der Jimmy verdaut es halt nicht. Selbst seine kalten Wassergüsse helfen nicht mehr.»Das Wasser verdampft, sobald es an den Knüppel kommt!«hatte Porter unter dem Hallo der anderen gesagt.»Aber das eine sag ich euch. Ich laß ihn mir vom Doc nicht amputieren! Da hängen Goldmedaillen dran, Jungs!«
«Los, spiel weiter, Jimmy!«sagte Losinski und entfächerte seine Karten.»Ich reize. Kameraden, die Hosen runter! Ich komme mit einer Herzflöte…«
«Ich werde mit dem Commander sprechen!«sagte Porter plötzlich, ohne seine Karten aufzunehmen.»Man hat uns gesagt, man soll über Befehle nachdenken. Weil's die Nazis nicht getan haben, hat man sie in Nürnberg aufgehängt.!«
«Jimmy, dir ist 'n Hammer auf den Schädel gefallen!«sagte Duncan grob.»Nimm 'n Schluck Orangensaft und spül's runter! Porter, der Kriegsverbrecher! Wo ist der Eimer mit dem kalten Wasser?«
«Was sich hier vorbereitet, ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit«, sagte Porter stur.
«O ihr süßen Huren von Saigon, warum habt ihr Jimmy laufen lassen?«Hammett wedelte mit seinem Kartenfächer.»Daß die Russen plötzlich da sind, kannst du dem Commander nicht ins Loch schieben — «
«Aber ich will wissen, wie er sich das alles denkt!«Porter stand auf. Die andern starrten ihn ungläubig an. Er geht wirklich zum Alten!
Nicholson wird ihn zur Sau machen, daß er auf Händen und Füßen zurückgekrochen kommt, das weiß er, und trotzdem geht er hin. Jimmy muß einen Hirnschaden haben! Ist so was möglich, daß angestauter Samen die Hirnwindungen verklebt? Bei Jimmy muß es so sein.
«Setz dich hin und spiel«, sagte Duncan, als müsse er ein Kind beruhigen.»Morgen ist der Russe vielleicht weg, und alles ist okay! Hock dich hin, Jimmy.«
«Ich bin gleich wieder da!«Porter zwängte sich hinter dem Tisch hervor, tappte auf Strümpfen zum Schott und verließ den Torpedoraum. Die drei anderen blickten ihm fast mitleidig nach. Hammett legte seine Karten mit der schönen Herzflöte hin.
«Der Alte wird ihn vor ein Gericht bringen«, sagte Losinski und schüttelte seine Orangendose.»So ein stures Arschloch! Man sollte Jimmy bei der nächsten Übung mit seinen Torpedos aus dem Rohr schießen!«
Jack Nicholson saß im Kommandantenraum und dachte an Monika. Im Boot war eine geisterhafte Stille, selbst die CO2-Filter hörte man kaum. Sie waren bis auf das lebensnotwendige Minimum gedrosselt. Überall brannte nur die Notbeleuchtung, um die Batterien zu schonen, die man jetzt nicht aufladen konnte.
Wieviel Jahre werde ich bekommen, dachte Nicholson. Es kommt eine schöne, lange Latte an Straftaten heraus: Befehlsverweigerung, Falschmeldung, Gefährdung von Boot und dreihundert Navy-Soldaten. Ein gerissener Ankläger beim Marinegericht könnte jeden Tag, seit die Mädchen an Bord waren, als eine Verfehlung aufzählen. Dazu zwei ungeklärte Morde, in engem Zusammenhang mit den Mädchen. Und verantwortlich dafür ist der Kommandant. Und das bist du, Jack Nicholson!
Wieviel Jahre hängen da drin? Wird Monika so lange auf mich warten? Ist das alles nicht eine verdammte Illusion? Und um dieser Illusion willen opfere ich alles? Jack Nicholson, was ist aus dir geworden! Ein ganzer Mann. oder bloß ein verliebter Trottel?
Nicholson fuhr zusammen, als die Tür aufging. Porter kam herein, stand auf Strümpfen stramm und grüßte.
«Verzeihung, Sir«, flüsterte er,»aber anzuklopfen war unmöglich wegen des Lärms. Bitte um Erlaubnis, Kommandantenraum betreten zu dürfen.«
«Mach die Tür zu, Jimmy«, sagte Nicholson.»Aber sachte!«
«Aye, aye, Sir. «Porter schloß ganz sanft die Stahltür und blieb dann vor Nicholson stehen. Nur zwei Meter trennten ihn von seinem Commander. Nicholson sah ihn wortlos an. Sein kantiges Gesicht — dieses Eisenfressergesicht — war unbeweglich. Auch Porter schwieg. Bullig, das Kinn angezogen, ein Klotz aus purer Kraft: so stand er vor Nicholson. Es war ein stummes Duell, bei dem nur die Blicke aufeinander einschlugen.
«Ehe du den Mund aufmachst, Jimmy«, sagte Nicholson endlich,»überleg dir, wer du bist. «Als er die erstaunten Augen Porters sah, nickte er.»Ihr vergeßt das immer. Euch gibt es nicht mehr. Ihr steht in keiner Gehaltsliste, eure Personalakten sind verschwunden. Wohin, das weiß nur einer. Wenn wir nicht wiederkommen, wird das nie einer erfahren. Dann werden die Akten in den Papierwolf gesteckt! Aus, Jimmy, aus und vorbei.«
«Soll das eine Drohung sein, Sir?«fragte Porter finster.
«Nur eine Basis fürs Gespräch, Jimmy. Was ist los?«
«Ich mach mir Sorgen, Sir.«
«Wenn es danach ginge, müßte ich längst ersoffen sein.«
«Haben die Kameraden drüben an Land und… und die Mädchen eine Überlebenschance, Sir?«
«Jeder hat eine Chance, solange er atmet.«
«Und wie lange können sie atmen?«
«Länger als wir, Jimmy. Sie haben einen ganzen Himmel voll frischer Luft, wir nur gefilterte.«
Porter kaute an der Unterlippe. Daß der Commander sich in eine Diskussion einließ, war völlig neu. Es sieht beschissen aus, dachte er. Sonst wäre ich längst hinausgeflogen. Und plötzlich hatte er den Gedanken, der etwas Rätselhaftes in ihm aufriß, etwas Urtierhaftes, etwas, das man nicht mehr bändigen konnte.
«Sir«, fragte Porter heiser,»war es bei dem Alarm eigentlich noch möglich, die Station VENUS XI anzupeilen?«
Und Nicholson antwortete ganz nüchtern:»Nein.«
Porter atmete auf. Sein breiter Brustkasten wölbte sich ungeheuerlich.»Dann… dann weiß niemand, daß sie an Land sind?«
«Niemand, Jimmy.«
«Aber die drüben an Land glauben, daß sie abgeholt werden?«
«So ist es.«
«Sie werden also verrecken?«
«Das hoffe ich nicht. Sie müssen sich nur etwas einfallen lassen, wenn sie merken, wie die Lage wirklich ist. Wir können ihnen nicht mehr helfen.«
«Und warum nicht, Sir?«
«Jimmy, frag nicht so dämlich. «Nicholson musterte Porter kritisch. Das bullige Gesicht des Obermaats färbte sich rot. Vom Hals heraufkroch das Blut, die Schläfenadern wurden zu dicken bläulichen Strängen.»Über uns liegt ein Russe, hinter uns lauern zwei andere Russen. Es kann sein, daß wir ein oder zwei Wochen auf Grund liegenbleiben müssen, bis die Luft oben nicht mehr rot ist. Wir dürfen uns nicht rühren.«
«Und die Mädchen krepieren«, sagte Porter empört.»Das lasse ich nicht zu, Sir.«
«Man wird dich nicht danach fragen!«
Porters Gesicht war jetzt feuerrot. Seine dicken Lippen zuckten. Wenn er jetzt platzt, soll er bloß keinen Krach machen, dachte Nicholson besorgt. Aber soviel man weiß, sind Gehirnschläge lautlos. Das beruhigt. Ich muß ihn nur rechtzeitig auffangen, damit er nicht zu Boden poltert. Das würden die Russen sofort in ihrem Sonar haben.
«Ich verlange«, sagte Porter mühsam,»daß Sie sofort, wenn der Russe über uns weg ist, auftauchen, die Kameraden und die Mädchen wieder an Bord nehmen — für VENUS XI ist es sowieso zu spät.«
«Verlangen!«Nicholsons Stimme war voll Bitterkeit.»Du kannst eher verlangen, daß der Papst sich einen Harem zulegt.«
«Wir reden weiter, Sir, wenn der Russe weg ist. «Porter stand wieder auf seinen Strümpfen stramm und grüßte.»Die Mädchen kommen an Bord zurück, sonst ist die Hölle eine Grillparty gegen das, was ich hier machen werde!«
Er verließ den Kommandantenraum und zog ganz leise die Tür hinter sich zu. Nicholson blieb sitzen und legte einen Augenblick die Hände gegeneinander, als wolle er beten. Dann griff er zum Mikrophon der Rundsprechanlage. Um sich Aufmerksamkeit zu verschaffen, hustetet er leise hinein.
«An alle«, sagte er dann flüsternd.»Hier spricht der Kommandant. Kraft meiner Befugnisse für Ausnahmesituationen und damit im Namen der US-Navy degradiere ich wegen Aufsässigkeit den Obermaat Jim Porter zum Gefreiten. Leutnant Prescott, schneiden Sie Porter die Litzen ab. Ende.«
Er schaltete ab. Es geht wirklich zu Ende mit uns, sagte er zu sich.
Einen Weltuntergang kann man sich in den verschiedensten Variationen vorstellen: als riesige Feuersäule zerplatzender Atome, als explodierender Zusammenprall mit einem Kometen, als einen von einer erloschenen Sonne in die Ewigkeit freigegebenen, vereisenden und lichtlosen Erdklumpen.
Es gab noch eine andere Möglichkeit, und an die begannen die Menschen in den drei gepolsterten Zelten auf dem Landplateau von Grönland zu glauben: Der Untergang in einem alles vernichtenden, infernalischen Sturm.
Es gab keine Atempause. Vier Tage und vier Nächte hieb der Wind auf das Land, riß an den Verspannungen der Zelte, schleuderte Berge von Treibschnee über die Kisten und baute über die gepolsterte Leinwand eine zweite Haut aus Eis.
Völlig unmöglich war es, einen Blick nach draußen zu werfen. Oberleutnant Bernie Cornell, von Angst getrieben, wollte nachsehen, ob das kleine Zelt der Mädchen noch stand. Als er den Reißverschluß des Eingangs endlich etwas geöffnet hatte und den Kopf hinausstreckte, traf ihn der Sturm mit einem solchen Hieb, daß er zurücktaumelte und sich an Dr. Blandy festhalten mußte.
«Ich habe das Gefühl, mir ist der Kopf abgerissen!«stammelte er.»Doc, das ist kein Sturm mehr, das ist die Hölle.«
«Noch formulieren Sie einen vollständigen Satz, Bernie, also ist's nicht so schlimm. «Blandy trat an den kleinen Schlitz des Eingangs, durch den jetzt, wie durch eine Düse, der Schnee trieb. Die Zeltleinwand blähte sich. Er riß den Reißverschluß wieder zu und pustete sofort in die Hände. Die wenigen Sekunden hatten genügt, sie fast erstarren zu lassen. Dr. Blandy sah nachdenklich auf den Propangasofen. Er war ihr einziger Lebensretter.
«Wo liegen die Ersatzflaschen?«
«Draußen im Magazin.«
«Sehr klug! Ich gebe dem Ofen noch ein paar Stunden, dann ist die Gasflasche leer! Es müssen also Leute raus und neue Flaschen holen!«Er sah sich im Kreise um. Bill Slingman grinste breit. Die anderen lagen auf ihren Luftmatratzen, in Decken gewickelt, und kauten die zur amerikanischen Marschverpflegung obligatorisch gehörenden Fruchtstangen.»Wer umsonst fliegen lernen will, soll sich melden! Da draußen bleibt keiner stehen.«
«Die Mädchen sind allein«, sagte Cornell unsicher.»Wenn bei ihnen das Gas ausgeht. Einer muß raus und nach ihnen sehen. Sie müssen ja vor Angst umkommen!«
«Ich werde gehen!«sagte Bill Slingman und stand von seiner Luftmatratze auf. Er reckte sich, dieser wie aus schwarzem Granit gehauene Klotz.»Einen solchen Wind gibt es gar nicht, der mich umhaut!«
«Und wenn du im Zelt bei den Weibern gelandet bist, mußt du dich aufwärmen. Und wie du dir das denkst, ist mir klar! Nichts gibt's, Blackboy!«
«Doc!«Slingman grinste verlegen.»Es geht wirklich nur um die Sicherheit der Girls.«
«Das ist in erster Linie die Aufgabe eines Arztes!«Dr. Blandy musterte den schwarzen Riesen, als wäre er ein Roß, das zum Verkauf steht.»Ich glaube, wir haben das gleiche Gewicht. Mich bläst auch kein Wind um.«
Er zog seinen dicken Pelz an, stülpte die Pelzkappe bis weit über die Ohren auf seinen dicken Schädel, band sich einen Wollschal um den Mund, daß nur die Augen freiblieben, setzte eine Schneebrille auf und ließ sich die Fellhandschuhe um die Handgelenke binden. Leutnant Hendricks, der das tat, benutzte dazu eine Nylonschnur.
«Viel Glück, Doc«, sagte er dabei.»Ich würde kriechen. Das gibt die geringste Angriffsfläche.«
«Genau das habe ich auch vorgehabt!«Blandy trat an den Eingang.»Verdrückt euch, Jungs«, sagte er laut.»Für ein paar Augenblicke wird der Sturm hineinblasen. Bernie, reißen Sie sofort hinter mir den Verschluß wieder zu! Kümmern Sie sich bloß nicht darum, was mit mir passiert!«
Er öffnete den Reißverschluß, der Sturm heulte sofort ins Zelt und warf Schneestaub hinein. Mit einem Hechtsprung fast stürzte Dr. Blandy ins Freie und ließ sich dort sofort aufs Eis fallen. Der Sturm erfaßte ihn und riß ihn herum. Das ist doch nicht möglich, dachte er erschrocken. Ich wiege über zwei Zentner. Es ist, als wäre ich gegen eine Mauer gesprungen.
Er kroch auf allen vieren weiter. Der Sturm hämmerte auf ihn herunter wie mit Riesenfäusten, aber er kam vorwärts, auch wenn er sofort mit einer zähen Schnee- und Eisschicht bedeckt war.
Mit großer Erleichterung stellte er fest, daß das Mannschaftszelt noch stand und daneben, ebenfalls durch eine Eismauer geschützt, das kleinere Zelt der Mädchen. Es sah nicht mehr wie ein Zelt aus. Es glich eher einem Eskimo-Iglu, denn es war völlig zugeweht.
Dr. Blandy kroch weiter. Der Sturm packte ihn, als er zwischen den beiden schützenden Eismauern ein Stück freies Land überwinden mußte, mit einer solchen Wucht, daß er sich flach hinlegen mußte, um nicht weggerollt zu werden. Und wieder dachte er: So etwas von Wind gibt es gar nicht. Ich habe in der Südsee einen Tornado erlebt und dachte damals, toller geht's nicht. Und ein flaues Gefühl hatte ich im Magen. Aber das hier! Verdammt — Junge, bleib nicht liegen, beweg dich… du bist sonst in Sekundenschnelle ein Eiszapfen.
Er erreichte das kleine Zelt, hieb mit der Faust dagegen und schlug damit große Eisbrocken ab. Innen rührte sich nichts. Natürlich, sie denken, das ist der Wind, sagte sich Blandy. Und schreien nützt auch nichts. Sie können einen kaum hören.
Er trat gegen die vereiste, innen gepolsterte Leinwand, immer und immer wieder, und immer gegen die gleiche Stelle. Das müssen sie merken, dachte er. So dämlich kann keiner sein, zu glauben, daß der Sturm immer die gleiche Stelle einbeult. Nun bewegt euch schon, Mädchen! Ich spüre den Frost bereits auf den Knochen!
Auf der Eingangsseite bröckelte das Eis ab. Der Reißverschluß wurde von innen ein wenig geöffnet. Blandy sah die kühlen Augen Monikas und einen Schimmer von ihren blonden Haaren.
«Macht auf, ihr Süßen, ich bin Väterchen Frost!«brüllte Blandy gegen das Heulen des Sturmes.
Er half, den Reißverschluß so weit aufzuziehen, daß er sich in das Zelt zwängen konnte. Und sogleich riß er ihn wieder zu.
Die Wärme, die ihn empfing, war geradezu höllisch im Vergleich zu diesem Eiswind draußen. Die Polsterung des Zeltes war fabelhaft. Der Gasofen flackerte. Die Mädchen lagen auf ihren Matratzen, mit Decken umwickelt. Blandy's zweiter Blick — der erste hatte dem Gasofen gegolten — traf Evelyn Darring. Sie war wie immer geschminkt, ihr rotes Haar war zu frechen Locken gedreht. Jetzt roch er auch das Parfüm, dessen Duft das ganze Zelt erfüllte. Sehr süßlich — vermutlich der Extrakt irgendeiner tropischen Blume. Dr. Blandy nahm die Pelzmütze ab und öffnete den Mantel.
«Alles okay?«fragte er.
«Bis jetzt noch«, sagte Monika. Sie schien jetzt hier der Chef zu sein.»Wie haben Sie's überhaupt geschafft, bis hierzu zu uns?«
«Auf einer Duftwolke! Hier riecht es nämlich wie im Puff.«
«Es ist mein Parfüm, Bärchen!«Evelyn räkelte sich unter der Decke. Blandy kannte das. Die Geschmeidigkeit ihrer Glieder hatte ihn immer fasziniert. Sie konnte einen Mann umarmen, daß er völlig wehrlos, ja, eine Beute ihrer Glieder wurde. Eine Umklammerung, aus der allerdings auch keiner entrinnen wollte.
«Andere Sorgen habt ihr wohl nicht?«knurrte er und setzte sich auf eine Kiste mit Konserven.
«Genug!«sagte Lili Petersen.»Wenn Evelyn nicht ihr Parfüm bei sich hätte, stänke es hier ganz anders. Wir sind nicht anders gebaut als andere Menschen.«
«Wir haben nur einen Plastikeimer hier. «Monikas Blick ging in eine Ecke. Blandy folgte ihm und sah einen Stapel Decken.»Ja, da drunter!«sagte Monika, ehe Blandy eine Bemerkung machen konnte.»Es ist unmöglich, ihn auszuschütten.«
«Und wenn, dann nur gegen den Wind!«sagte Blandy und lachte.
«Sind Sie zu uns gekommen, um dämliches Zeug zu quasseln?«fauchte Dorette.»Wie soll das weitergehen!«
«Da müssen Sie den lieben Gott fragen, der diesen Sturm losgelassen hat. «Blandy klopfte gegen die Gasflasche. Sie klang ziemlich hohl.»Ohne diesen Sturm wären wir jetzt schon im warmen Schoß von VENUS XI. So verzögert sich die ganze Sache ein wenig, aber es ist kein Grund vorhanden, sich um die Testamente zu kümmern. Das wollte ich erst einmal gesagt haben.«
Das war gut und glatt gelogen, dachte er. Sie müssen es glauben. Wenn sie alle wüßten, welchen Verdacht ich habe! Ich werde darüber nachher mit Cornell und Hendricks sprechen. Wir können nicht hier oben bleiben, um Eisdenkmäler zu werden.
«Und was ist zweitens?«fragte Joan. Sie war dabei, mit einem Büchsenöffner eine Konserve aufzuschneiden. Sie hatte das Kochen übernommen.
«Wenn das Gas zu Ende geht, nützen euch auch eure heißen Körper nichts!«sagte Blandy und betrachtete sinnend den Gasofen.»Das war unsere stärkste Sorge, und sie ist es noch.«
«Wir haben genug Gasflaschen vom Boot mitgenommen«, sagte Monika.
«Aber wie kommen wir an sie heran? Wo liegen sie? Ich weiß, ich weiß. Wir sind alles Rindviecher, aber wer hat jemals an einen solchen Sturm gedacht! Wir haben sieben Materialstapel. Ich habe sie vorhin gesehen… sie sind nicht mehr zu sehen. Nur Schneehaufen. Man muß also alle sieben Stapel — im ungünstigsten Fall, denn meistens ist es immer der letzte — ausgraben, um an das Gas und andere notwendige Dinge heranzukommen. Und das bei diesem Sturm! Mädchen, und wenn ihr uns für ganz trübe Flaschen haltet: Das ist unmöglich! Da draußen kann sich keiner auf den Beinen halten, geschweige denn arbeiten!«
«Also erfrieren wir in absehbarer Zeit!«sagte Monika nüchtern.»Das ist eine erfreuliche Botschaft.«
«Sie werden uns nicht umkommen lassen. «Dorette verschränkte die Arme hinter ihrem Kopf.»Dafür wird schon Billy sorgen.«
«Auch Ihr schwarzer Riese kann den Wind nicht wegboxen. Aber wir werden alles versuchen, um ans Material heranzukommen. Wir haben ja die gleichen Probleme. Bei uns reicht das Gas nur noch einen Tag.«
«Es wäre schon aus, wenn wir es nicht mehrmals am Tag abdrehten!«sagte Monika.»Dann machen wir hier Freiübungen, um uns warmzuhalten.«
«Fünf starke Boys wären uns lieber!«rief Lili und lachte.»Sie müssen ein toller Knabe sein, Doc. Du Himmel, wie Evelyn von Ihnen schwärmt. Warum kommt mein starkes Bärchen nicht? Ach, wenn doch Pauli da wäre! Ich muß immer an ihn denken! So geht's seit vier Tagen.«
«Du bist gemein!«sagte Evelyn und sah Blandy ganz verliebt an.»Hundsgemein, das zu erzählen!«
«Ich stelle fest, den Damen geht es vorzüglich!«sagte Blandy mit rauher Stimme. Sie scheinen wirklich nicht zu ahnen, dachte er dabei, in welch verzweifelter Lage sie sich tatsächlich befinden.»Mir scheint sogar, es ist Ihnen ab und zu ein wenig zu heiß unter der Haut. Machen Sie den Reißverschluß des Zeltes auf und strecken Sie den Hintern eine Minute ins Freie. Das hilft garantiert.«
«Und das ist nun dein charmanter süßer Pauli«, sagte Dorette sarkastisch zu Evelyn.»Den würde ich auf ganz andere Art vernaschen.«
Blandy erhob sich, knöpfte den Fellmantel zu und stülpte die Pelzmütze auf den Schädel.»Wir werden Ihnen neues Gas bringen!«sagte er.»Irgendwie muß uns etwas einfallen, wie wir an das Material herankommen.«
«Du bleibst nicht hier?«rief Evelyn und fuhr hoch. Sie trug über ihre spitzen Brüste nur ein Unterhemd und sah geradezu verworfen hübsch aus.»Wir haben Angst… wir fünf hier allein. Das hat dir Monika nicht gesagt.«
«Kein Wind bläst ewig, Baby. «Dr. Blandy tappte zum Ausgang. Es fiel ihm tatsächlich schwer, wegzugehen. Das rote Biest hat mich geschafft, dachte er. Aber das wußte ich vom ersten Augenblick an, als ich sie sah. Daß sie mit dem windigen Belucci geschlafen hat, traf mich verdammt hart. Aber das ist jetzt vorbei, man sollte nicht mehr daran denken.»Ich war mal in einer Jagdhütte in den Rocky Mountains eingeschneit«, sagte er.»Vierzehn Tage lang. Und ganz allein! Man gewöhnt sich dran. Bis morgen, Mädchen!«
Monika riß den Reißverschluß auf, er sprang ins Freie und ließ sich sofort hinfallen. Der Sturm packte ihn wieder, und es war ihm, als hätte ihn ein Bulle ins Hinterteil getreten.
Auf allen vieren kroch er zurück.
Morgen müssen wir an die Gasflaschen ran, dachte er. Auch wenn's nur eine Verlängerung des Lebens um ein paar Tage ist. Der Mensch klammert sich an die Hoffnung. Wenn es ganz hart kommt, glaubt er sogar an Wunder.
«Es geht ihnen gut!«sagte Blandy.»Sie haben noch Gas für einen Tag!«Sie kamen auf ihn zugestürmt, als er ins Zelt schlüpfte. Sie zogen ihm den Mantel aus, rissen ihm die Pelzmütze vom Kopf, überschütteten ihn mit Fragen. Cornell rieb ihm mit einem harten Frotteehandtuch das Gesicht warm, Hendricks klopfte mit den Fäusten Blandys Körper ab, um die Blutzirkulation anzuregen. Die mörderische Kälte hatte ihm doch sehr zugesetzt.
«Sie machen Turnübungen, um sich fit zu halten, und dabei ahnen sie gar nicht, was auf sie zukommt«, sagte Blandy.»Ich glaube, die einzige, die die Lage ganz nüchtern sieht, ist Monika. Aber sie schluckt's runter.«
«Wir werden alles versuchen, die Gasflaschen auszugraben«, sagte Cornell.»Die Hauptsache ist, daß die Zelte halten! Schlimmer kann's nicht mehr kommen.«
Blandy sah ihn nachdenklich an, goß sich einen Whisky ein und kippte ihn mit einem Zug hinunter. Er hustete nicht einmal dabei. Wer so etwas sah, war versucht, ihn statt Blandy sinnigerweise Dr. Brandy zu nennen, aber nachdem das ein paarmal geschehen war und der Witzbold sich ein geschwollenes Auge einhandelte, sprach es sich in der Navy herum, den Doc nicht mit anzüglichen Wortspielen zu reizen.
«Meinen Sie«, sagte er laut. Cornell warf das Handtuch weg. Blandy setzte sich auf eine Kiste und rieb seine dicke Nase.»Fangt mal an, zu denken, Jungs. Der Commander schickt uns los mit dem Versprechen, Radar VENUS XI zu verständigen, daß sie uns abholen sollen. Aber noch bevor wir an Land sind, muß er Alarmtauchen und spielt seitdem tote Fliege. Über ihm liegt ein Russe! Und nun denkt mal schön nach.«
Cornell und Hendricks starrten Dr. Blandy an. Die anderen grinsten verlegen. Sie begriffen die Lage noch nicht.
«Das ist unmöglich«, sagte Cornell endlich.»Doc, der Commander hatte genug Zeit.«
«Er hatte keine, Bernie!«Blandy sah die anderen an, die noch immer nicht begriffen.»Das ist meine feste Überzeugung: VENUS XI konnte gar nicht benachrichtigt werden, daß wir an Land sind. Also kann uns auch keiner abholen!«
«O Scheiße!«sagte Slingman.
«Wir könnten versuchen, mit unserem kleinen Funkgerät die Station zu erreichen.«
«Und der Russe hört alles mit, peilt uns an und holt uns ab!«Blan-dy schüttelte den Kopf.»So geht's nicht, Bernie.«
«Dann ziehen wir allein, wenn der Sturm vorbei ist, zur Station!«sagte Hendricks.
«Womit denn? Zu Fuß? Die Mädchen im Schlauchboot, vor das sich sechs Mann wie Schlittenhunde gespannt haben?«
«So ähnlich, Doc! Anders geht's doch nicht, wenn das stimmt, was Sie sagen. Wir können doch nicht hier tatenlos herumhocken und warten, bis wir krepiert sind. Vielleicht ist der Russe auch morgen weg, und der Commander kann auftauchen.«
«Damit sollten wir gar nicht rechnen. «Dr. Blandy griff wieder zur Whiskyflasche, goß den Becher voll und ließ den ganzen Inhalt in sich hineinlaufen.»Nicholson wird froh sein, wenn er sich lautlos wegschleichen kann aus dem Sonarbereich der Russen. Auftauchen und durch die Gegend funken, wäre kompletter Irrsinn. Machen wir uns also mit dem Gedanken vertraut, daß wir allein auf uns angewiesen sind. Es gibt keine fremde Hilfe. So, Jungs, und jetzt malt euch die Zukunft aus! Jeder darf ab sofort vor Angst in die Hosen scheißen!«
«Und… und wenn wir uns tatsächlich den Russen übergeben?«sagte Obermaat Yenkins leise.»Nichts einfacher als das. Sie liegen ja vor der Tür. Dann sind wir gerettet. Die Mädchen sind in Sicherheit. Man wird uns zum nächsten Hafen bringen oder dem nächsten Schiff übergeben.«
«Yenkins, Sie sind wirklich ein blöder Hund!«unterbrach ihn Blandy.»Die Sowjets werden uns durch die Mühle drehen. So einen Happen bekommt ihr Geheimdienst selten. Also, Junge, halt's Maul, ich weiß, was du sagen willst. Was ist mehr wert — das Boot oder die Mädchen?«
«Irgendwo hört die Pflicht auf!«sagte Cornell großartig.
«Und wo liegt Irgendwo?«bellte Blandy.»Bernie, mir sind rote Haare auch lieber als Eisbrocken! Sie sind noch jung. Sie haben keinen Krieg mitgemacht. Aber ich habe Vietnam hinter mir.«
«Scheiß-Vietnam!«schrie Slingman.
«Zugegeben. Aber, Bill, wir haben dort gelernt, Tatsachen hinzunehmen. Wir waren bereit, zu krepieren. Für nichts! Jetzt aber haben wir ein Boot, das wirklich einen Einsatz wert ist. Natürlich setzen wir uns jetzt nicht hin und warten, bis wir vereist sind. Aber wir sollten alle wissen, daß unsere Chance beschissen ist! Wir werden gegen Eis, Frost und Sturm kämpfen und versuchen, VENUS XI zu erreichen und sollten immer dabei denken: Das ist so etwas wie ein Kriegseinsatz!«
«Mit fünf Mädchen zwischen uns!«
«In Vietnam sind Hunderte von Krankenschwestern umgekommen!«
«Scheiß-Vietnam!«brüllte Slingman noch einmal.»Ich hab's überlebt und soll jetzt auf Grönland krepieren?«
«Man kann sich den Ort nicht aussuchen, Bill. Ende des Themas!«Dr. Blandy stieß Oberleutnant Cornell an.»Jetzt bist du wieder dran, Bernie! Ihr müßt die Materiallager ausgraben.«
Am sechsten Tag ließ der Sturm merklich nach, am siebten war der Himmel blank und blau, als wäre er die Arglosigkeit selbst.
Blandy, Cornell und Hendricks standen hinter der Eismauer und blickten hinunter aufs Meer. Das sowjetische U-Boot war noch immer da. Es tanzte in der noch unruhigen See und schien unendlich viel Zeit zu haben.
«Sie machen tatsächlich Grönland-Urlaub!«sagte Blandy sarkastisch.»Es kommt alles, so wie ich's geahnt habe. Nicholson muß weiter auf Grund liegen, bewegungslos und stumm wie das Grab. Wenn die da unten nicht verrückt werden, schreib ich dem Papst nach Rom, er soll's als Wunder anerkennen. Und wir werden zu Fuß losziehen!«
Die Stimmung war trotz dieser Aussichten in den vergangenen Tagen gut gewesen. Ein Kommando aus neun Mann, mit Stricken miteinander verbunden, hatte es tatsächlich fertiggebracht, mitten im Sturm die Gasflaschen zu finden. Sie hatten allerdings Glück gehabt. Schon beim zweiten Materialhaufen stießen sie auf die Flaschen sowie auf Kisten mit Wurst, Gebäck und Milchkakaopulver. Blandy brachte drei große Dosen davon hinüber zu den Mädchen. Er brüllte ins Zelt, durch den Schlitz des Reißverschlusses:»Einen guten Kaffeeklatsch mit Kakao! Kakao ist gesund und gibt Kraft. «Dann kämpfte er sich wieder zum Lager durch und schleppte die Kisten zu den übrigen Zelten. Die Eimer mit den Fäkalien wurden ausgeschüttet — der Sturm riß sie gleich mit und zerstäubte sie.
Jetzt, an diesem schönen Tag, der so blau und harmlos aussah, daß man vergaß, wie dreckig eigentlich die Lage war, band sich Dr. Blan-dy — zunächst versuchsweise — zwei Kistendeckel unter die Fellstiefel und rutschte damit übers Eis.
«Das ist was für Skihasen!«lachte er, nachdem er ein paar Meter gelaufen war.»Übrigens, das werde ich dem Admiral sagen. Hier haben wir einen Fehler in der Ausrüstung der POSEIDON I entdeckt! Wenn man uns schon zum Nordpol schickt, hätte man uns auch Ski mitgeben müssen!«
«Wir sollten unter dem Eis durch, Doc!«sagte Cornell.»Von Landgang ist nie die Rede gewesen. «Er beugte sich zu Blandy vor und senkte die Stimme.»Glauben Sie wirklich, daß Sie noch einmal den Admiral sprechen werden?«
«Jetzt ja, Bernie. Bei diesem Wetter! Wenn es so bleibt, habe ich die größte Hoffnung, daß wir es bis VENUS XI schaffen. Ha, dieses Wetter! Ich bekomme Frühlingsgefühle.«
«Es sind genau vierunddreißig Grad Frost, Doc!«
«Und in mir sind hundert Grad Lebenslust. Da bleiben immer noch Sechsundsechzig Plus übrig, genug, um zu platzen!«Er band die Kistendeckel fester um seine Stiefel und stand wieder auf.»Bernie, opfern Sie noch sechs Deckel. Ich möchte mit drei Mann herumlatschen und mir die Gegend ansehen. Vielleicht entdecken wir etwas.«
«Was denn?«
«Einen Wegweiser nach New York.«
«Die Entfernung stimmt nicht, Doc!«lachte Cornell.»Aber Sie sollen Ihre sechs Kistendeckel haben.«
Eine halbe Stunde später glitten Dr. Blandy, Slingman, Yenkins und der Maat Puckray auf ihren Kistendeckeln über das Eis. Sie wandten sich nach Norden, in die Richtung, wo die Radarstation VENUS XI liegen sollte. Yenkins hatte das kleine Funkgerät mitgenommen, nicht um selbst zu senden, sondern um zu versuchen, Zeichen von
VENUS XI aufzufangen.»Auch das wäre ein Wunder!«sagte Dr. Blandy.»Wenn das so weitergeht, werden wir den Papst mit Arbeit tüchtig eindecken!«
Sie winkten den andern zu und schlurften davon.
Hendricks stand hinter der Eismauer und beobachtete durch das Fernglas das sowjetische U-Boot. Auch dieses genoß den schönen Tag. Auf der Turmplattform standen eine Menge vermummter Männer, einige Deckschotten waren aufgeklappt. Russische Matrosen rannten auf Deck hin und her. Ein Raketenwerfer hinter dem Turm war ausgefahren und versank jetzt wieder, um gleich wieder hochzukommen.»Trockenschießübung. Sie wollen nicht einrosten.«
«Das ist ein sorgloser Verein«, sagte Hendricks zu Cornell.»Wenn die wüßten, was unter ihnen liegt.«
«Mir ist ein Rätsel, daß sie unser Boot nicht auf dem Radar sehen«, sagte Cornell sinnend.
«Vielleicht sehen sie es und bleiben deshalb so ruhig liegen. Sie warten ab, was der Commander macht. «Hendricks setzte das Glas ab. Sein Gesicht war mit Eis überkrustet. Gefrorener Atem.»Sobald er sich bewegt, greifen sie ein. Bleibt er auf Grund, lachen sich die Russen da oben ins Fell und hungern ihn aus. Sie haben Zeit, viel Zeit.«
«Ich möchte jetzt nicht an Nicholsons Stelle sein. «Cornell tappte zurück zum Zelt. Hendricks folgte ihm. Für ihn war es beruhigend, daß die Russen anscheinend nicht daran dachten, an Land zu gehen. Wozu auch?
«Wie will der Commander aus dieser Falle heraus?«
Dr. Blandy und seine drei Begleiter schlurften unterdessen nach Norden über das Eis. Sie trugen Brillen mit gefärbten Gläsern, denn die Blendung war sehr stark, und ohne diese Brillen war es möglich, zu erblinden. Sie tappten auf ihren Kistendeckeln etwa zwei Stunden über das Festlandeis, dann senkte sich das Land zur Küste hin, führte in einem sanften Gefälle zum Meer, das hier teilweise zugefroren war. Breite und dicke Eisschollen schaukelten auf dem Wasser. Dr. Blandy zeigte hinunter. Bizarre Eistürme, wie Stalagmiten in einer Tropfsteinhöhle, bildeten den Rand der Küste, bald blauweiß schimmernd in der Sonne, bald funkelnd wie Bergkristall.
«Wunderschön«, sagte Blandy. Slingman, bis zu den Augen vermummt, schüttelte den Kopf.
«In Alabama fühle ich mich wohler, Doc!«rief er durch seine Vermummung.»Ich mag die Kälte gar nicht.«
Yenkins rumpelte zu Blandy und packte ihn am linken Ärmel.»Doc, hören Sie das auch?«
«Was?«
«Hundegebell!«
«Sie spinnen, Yenkins!«Blandy lauschte angestrengt. Aber was er hörte, war nur ein Rauschen in seinem Kopf. Der Blutdruck, dachte er. Das verdammte Saufen und Rauchen! Und man kommt langsam in die Jahre. Verflucht nein, nicht langsam, sehr schnell geht das mit dem Klapprigwerden! Früher bin ich auf Skiern stundenlang herumgepirscht, und jetzt merke ich zwei läppische Stunden von den Haarspitzen bis zum Zehennagel!» Ich höre nichts! Bill, ihr Schwarzen habt doch ein Ohr, das den Furz einer Ameise hört. Hörst du was?«
Slingman schob seine Fellkappe hoch und legte seine Ohren frei.
«Jetzt fährt er seine Teleskope aus!«rief Yenkins lachend.
Und Puckray sagte:»Es geht um Hundebellen, Bill. Nicht um den Gesang der Marsmenschen.«
«Arschlöcher!«Slingman lauschte, und plötzlich verzog sich sein Gesicht zu einem breiten Grinsen.»Hunde. Tatsächlich Hunde. Viele Hunde. Yenkins hat recht. Da sind Hunde in der Nähe!«
«Und wo Hunde sind, sind auch Menschen!«schrie Puckray.»Doc, wir sind gerettet. Gerettet!«
«Ich höre gar nichts. «Blandys dröhnende Stimme verhallte in der weißen Einsamkeit. Er atmete ein paarmal tief durch, um das Rauschen seines Blutes im Kopf zu dämpfen. Von jetzt ab wird weniger gesoffen und geraucht, dachte er. Dafür wird häufiger mit roten Haaren gespielt… einen Ausgleich muß der Mensch ja haben. Aber jetzt kam der Laut auch zu ihm. ganz fern und fremd in dieser Stille.»Haltet die Fresse, Jungs!«sagte Blandy.»Jetzt hör auch ich was.«
«Hunde!«riefYenkins.»Das sind wirklich Hunde, Doc. «Er machte fast einen Luftsprung und hielt sich dabei an dem riesigen Sling-man fest.»Da… sehen Sie doch. An der Küste!«
Blandy starrte hinunter auf das bizarre Eisgebirge. Ganz klein, wie ein Spielzeug, glitten drei Schlitten mit einer langen Kette von Hunden davor über das Eis. Gleichzeitig sahen sie, wie drei Eisbären mit weiten Sätzen flüchteten und versuchten, das Meer zu erreichen. Sechs Hunde sprangen um sie herum. Sie kläfften, wichen den Prankenhieben aus, wenn die Bären stehenblieben und sich zur Verteidigung nach allen Seiten drehten. Sie schnellten vor und versuchten, die Bären zu beißen, und sie heulten auf, wenn die gehetzten Tiere sich wieder in Bewegung setzten.
Die drei Schlitten mit den Zughunden folgten ihnen. In jedem Schlitten hockten zwei Kugeln aus Pelzen.
«Eskimos!«schrie Yenkins.»Mein Gott, haben wir ein Glück! Jetzt haben wir Schlitten und Hunde und können VENUS XI erreichen!«
«Grönland ist ein Wunderland, Doc!«sagte Slingman. Er weinte fast.»Sehr schön. Ich habe schon immer Hunde gemocht.«
«In der Pfanne, ich weiß!«Blandy zeigte nach unten.»Los, Jungs, jetzt zeigt mal, ob man auf Kistenbrettern einen Abfahrtslauf machen kann. Hinunter! Yippiieh!«
Er stieß sich als erster ab, gab sich einen gehörigen Schwung und glitt das sanfte Gefälle hinunter. Es ging besser als erwartet. Es rappelte zwar gewaltig durch den ganzen Körper, die Beine begannen zu zittern, so hart waren die Stöße, die kein Muskel mehr auffangen konnte, aber sie kamen gut voran. Die Eskimos verloren sie jetzt aus dem Blick, und das Knirschen der Kistenbretter übertönte sogar das Hundegebell. Sie erreichten die ersten Eisfelsen, jene wundervoll geformten Säulen, an denen der Wind gearbeitet hatte wie ein einfallsreicher Bildhauer.
Blandy rutschte voraus, ihm folgten Yenkins und Slingman. Den Schluß bildete Puckray. Er mußte vorsichtiger sein, denn er trug das wertvolle Funkgerät auf dem Rücken. Ein richtiger Sturz, und man konnte den Apparat ins Meer werfen.
«Wir kommen genau vor den Eisbären raus!«brüllte Slingman.
«Sie sind weiß!«schrie Yenkins zurück.»Wenn sie einen Schwarzen sehen, fallen sie vor Schreck tot um!«
«Dämlicher Hund!«Slingman rutschte an Blandys Seite.»Wir müssen mehr nach links, Doc!«
Dr. Blandy hatte wieder das Rauschen im Ohr. Sein Atem keuchte. Er hatte den Schal vom Gesicht gerissen. Er schwitzte. Der Schweiß lief ihm über die Augen und gefror in der Höhe der Wangen. Er sah wie ein trauriger Clown aus.
«O Scheiße! Die Bären!«brüllte dicht hinter ihnen Yenkins. Puckray bremste seinen Lauf. Eisbären haben keinen Sinn für wertvolle Funkgeräte.
Es waren nur zwei große, weißzottelige Tiere, die, von den sechs Hunden gehetzt, an Blandy, Slingman, Yenkins und Puckray vorbeiliefen. Sie warfen zwar die Köpfe herum, die kleinen schwarzen Augen starrten die neuen Feinde an, aber dann torkelten sie weiter, mit jenen kurzen Sprüngen, die für Bären typisch sind. In den Freilandzoos lachen die Menschen darüber. Hier war es die Flucht vor dem Tode.
Dr. Blandy hatte ein Stück freies Eisfeld zwischen den bizarren Säulen erreicht. Die Hundeschlitten waren noch weit weg, aber der dritte Bär lag auf dem Boden, unbeweglich, die Glieder von sich gestreckt. Ein eiserner Pfahl ragte aus seiner linken Seite, genau in Brusthöhe. Hier war das weiße Fell voll Blut, und auch das Eis darunter färbte sich rot. Dr. Blandy bremste seinen Lauf. Sein Atem ging röchelnd vor lauter Anstrengung.
«Sie jagen mit Harpunen!«rief er seinen Leuten zu. Er hatte einen Augenblick das Bedürfnis, sich an Slingman festzuklammern, so schwer kam der Atem. Aber dann unterließ er es. Ein Blandy wird doch nicht schwach! Ein Kerl wie er bleibt stehen. Aufrecht, und wenn's schwerfällt.
Er tappte auf seinen Kistenbrettern zu dem erlegten Eisbären und schob die Pelzmütze ein wenig in den Nacken. Slingman hielt Blan-dy am Mantel fest.
«Vorsichtig, Doc!«sagte er.»Bären spielen gern tot.«
«Nicht mit einem Eisenpfahl im Leib! Jungs, ist das ein Kerl! Schade, daß man Eisbärfleisch nicht essen darf. Es ist voller Trichinen!«Dr. Blandy lachte dröhnend. sein Atem war wieder da. Da ist doch noch Kraft in mir, dachte er zufrieden.»Das wär ein schöner Bettvorleger für Evelyn!«
Er kam noch ein paar Schritte näher und beugte sich über den Bären. In diesem Augenblick zuckte das Tier hoch. Blandy hatte es kommen sehen. Er hatte in die offenen Augen geblickt, aber er war nicht schnell genug. Auch Slingman gelang es nicht, Blandy zurückzureißen. Mit einem dumpfen, ächzenden Brüllen, die eiserne Harpune in der Brust, mit einer Schnelligkeit, die unfaßbar war, erhob sich der Bär, breitete die Vordertatzen aus und schlug dann mit unvorstellbarer Wucht zu. Wie ein zuschnappendes Fangeisen war das. Blandy brüllte. Er umklammerte mit beiden Händen die Harpune und drückte mit ihr den Bären von sich. Die Tatzen lösten sich. Der Bär riß sein Maul auf, und mit einem letzten langgezogenen und dumpfen Laut fiel das Tier krachend aufs Eis.
Auch Blandy sank in die Knie. Slingman und Yenkins fingen ihn auf und sahen sich entsetzt an. Blut!
«Doc!«schrie Slingman.»Doc! Haben Sie was abbekommen? Doc?«
Dr. Blandy schloß die Augen. Seine Brust und sein Rücken waren ein einziges Brennen. Es war ihm, als wäre sein Leib aufgeschlitzt worden. Aus seinem Körper, das spürte er ganz deutlich, lief das Blut. Es mußte gleich auf das Eis tropfen und zu einem großen roten See werden.
«Die Brust«, sagte er mühsam.»Und im Rücken! Er. er hat mich aufgerissen. Zieht mir den Mantel aus. Kein Haar in die Wunden. Infektion.«
Die Stimme versagte ihm. Der Schmerz umkrampfte sein Gehirn. Dann brach er in den Armen Slingmans zusammen und verlor die Besinnung.
Über das Eis, die flache Küste entlang, jagten die drei Hunde-schlitten der Eskimos heran. Yenkins und Puckray winkten und schrien.
«Hierher! Hierher!«
Die Schlitten änderten die Richtung und kamen auf sie zu. Das Gebell der Hunde kam Yenkins jetzt wie Glockengeläut vor. Er weinte plötzlich wie ein Kind.
«Ich glaube, er verblutet«, sagte Slingman tonlos und hielt den Doktor in den Armen.»Was kann ich denn tun? Sag mir doch einer, was ich tun soll?«