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IN DEM
FAT CHARLIE
DIE WELT SIEHT
UND
MAEVE LIVINGSTONE
UNZUFRIEDEN IST
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FAT CHARLIE saß auf der Decke auf dem Metallbett und wartete darauf, dass etwas passierte, aber es passierte nichts. Es fühlte sich an, als würden mehrere Monate vergehen, und zwar extrem langsam. Er versuchte zu schlafen, wusste jedoch nicht mehr, wie das geht.
Er schlug gegen die Tür.
Jemand rief: »Ruhe da!« Er konnte nicht erkennen, ob es ein Beamter oder ein Mithäftling war.
Er ging in der Zelle auf und ab, gefühlte zwei bis drei Jahre lang, bei vorsichtiger Schätzung. Dann setzte er sich wieder hin und ließ die Ewigkeit über sich zusammenschlagen. Durch den oben in der Wand sitzenden dicken Glasstein, der als Fenster seinen Dienst verrichtete, war Tageslicht zu sehen, allem Anschein nach das gleiche Tageslicht, das schon sichtbar gewesen war, als am Morgen die Tür hinter ihm geschlossen wurde.
Fat Charlie versuchte sich daran zu erinnern, was die Leute im Gefängnis normalerweise machten, um sich die Zeit zu vertreiben, aber ihm fiel nicht viel ein: geheime Tagebücher führen und irgendwelche Dinge im Hintern verstecken – darüber hatte er mal gelesen. Er besaß jedoch nichts, worauf er schreiben konnte, und seiner Ansicht nach ließ sich ein ganz wesentlicher Maßstab für ein gelungenes Leben aus der Tatsache gewinnen, dass man nicht gezwungen war, Dinge in seinem Hintern zu verstecken.
Nichts geschah. Es geschah weiterhin: Nichts. Noch mehr Nichts. Die Rückkehr des Nichts. Der Sohn des Nichts. Nichts ist wieder unterwegs. Nichts, Teil 10. Nichts schlägt zurück …
Als die Tür aufgeschlossen wurde, wäre Fat Charlie um ein Haar in Jubel ausgebrochen.
»Okay. Bewegung im Hof. Kannst ‘ne Zigarette haben, wennde eine brauchst.«
»Ich rauche nicht.«
»Ist eh ‘ne schlechte Angewohnheit.«
Der Hof zum Bewegen war ein unüberdachter Platz in der Mitte des Polizeireviers, rundum von Mauern umgeben, auf denen Stacheldraht lag. Hier marschierte Fat Charlie immer im Kreis herum und kam dabei zu der Überzeugung, dass unter den Dingen, in die er sich keinesfalls zu begeben wünschte, der Polizeigewahrsam eine Spitzenstellung einnahm. Fat Charlie hatte durchaus keine spezielle Neigung für die Polizei, aber bis jetzt war es ihm immerhin noch gelungen, ein grundsätzliches Vertrauen auf die natürliche Ordnung der Dinge zu bewahren, darauf, dass es irgendeine Macht gab – ein Viktorianer hätte sie vielleicht als »Vorsehung« aufgefasst –, die dafür sorgte, dass die Schuldigen bestraft und die Unschuldigen auf freien Fuß gesetzt wurden. Dieser Glaube war im Angesicht der jüngsten Ereignisse zerstäubt und von der Vermutung ersetzt worden, dass er den Rest seines Lebens damit verbringen werde, seine Unschuld gegenüber einer Vielzahl von unerbittlichen Richtern und Peinigern zu beteuern, von denen viele wie Daisy aussahen, und dass er höchstwahrscheinlich am nächsten Morgen in Zelle sechs aus unruhigen Träumen erwachen und sich in eine ungeheuere Kakerlake verwandelt finden würde. Denn daran konnte ja kein Zweifel bestehen, dass es ihn in jene bösartige Sorte von Universum verschlagen hatte, in denen Menschen zu Ungeziefer verwandelt werden …
Etwas fiel aus dem Himmel und landete im Stacheldraht über ihm. Fat Charlie sah auf. Eine Amsel starrte ihm mit hochmütigem Desinteresse entgegen. Dann gab es einiges Geflatter, und der Amsel gesellten sich mehrere Spatzen zu und etwas, das Fat Charlie für eine Drossel hielt.
Sie starrten ihn an; er starrte zurück.
Weitere Vögel kamen.
Es wäre Fat Charlie schwergefallen, genau zu bestimmen, an welchem Punkt die Ansammlung von Vögeln auf dem Stacheldraht vom Interessanten ins Erschreckende umschlug. In jedem Fall aber irgendwo im ersten Hundert. Und es hatte vor allem damit zu tun, dass sie weder gurrten noch krächzten noch trillerten noch sangen. Sie landeten einfach alle auf dem Stacheldraht und beobachteten ihn.
»Verschwindet«, sagte Fat Charlie.
Wie ein Mann, beziehungsweise ein Vogel, folgten sie der Aufforderung nicht. Stattdessen sprachen sie. Sie sagten seinen Namen.
Fat Charlie ging hinüber zur Tür in der Ecke. Er schlug dagegen. Er sagte ein paarmal »Entschuldigung«, und dann begann er zu rufen: »Hilfe!«
Ein dumpfes Geräusch. Die Tür wurde geöffnet, und ein mit schweren Augenlidern ausgestattetes Mitglied der Polizei Ihrer Majestät sagte: »Wollen mal schwer hoffen, dass es was Wichtiges ist.«
Fat Charlie zeigte nach oben. Er sagte nichts. Das musste er auch nicht. Der Polizistenmund klappte seltsam weit auseinander, und die Kinnlade hing schlaff nach unten. Fat Charlies Mutter hätte den Mann aufgefordert, den Mund zuzumachen, sonst würde am Ende noch etwas hineinfliegen.
Der Stacheldraht sackte durch unter dem Gewicht von abertausend Vögeln. Winzige Vogelaugen starrten unverwandt nach unten.
»Meine Fresse«, sagte der Polizist, und er führte Fat Charlie ohne ein weiteres Wort in den Zellenblock zurück.
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MAEVE LIVINGSTONE hatte Schmerzen, sie lag hingestreckt auf dem Boden. Sie erwachte, und ihre Haare und ihr Gesicht waren nass und warm, dann schlief sie erneut ein, und als sie wieder aufwachte, waren Haare und Gesicht klebrig und kalt. Sie träumte, erwachte und träumte wieder, wurde grad wach genug, um sich des Schmerzes am Hinterkopf bewusst zu werden, und dann, weil es leichter war zu schlafen, und weil sie, während sie schlief, keine Schmerzen hatte, ließ sie sich vom Schlaf umfangen und einhüllen wie von einer bequemen Decke.
In ihren Träumen ging sie durch ein Fernsehstudio, auf der Suche nach Morris. Hin und wieder bekam sie ihn auf den Monitoren kurz zu sehen. Jedes Mal wirkte er besorgt. Sie versuchte den Ausgang zu finden, aber alle Wege führten sie nur immer wieder zurück in die Studiokulissen.
Mir ist so kalt, dachte sie, und da wusste sie, dass sie wieder wach war. Der Schmerz allerdings hatte nachgelassen. Alles in allem, dachte Maeve, fühlte sie sich ganz gut.
Es gab irgendetwas, das sie wütend machte, aber sie war sich nicht ganz sicher, was das war. Vielleicht hatte es mit anderen Teilen ihres Traumes zu tun.
Es war dunkel, dort wo sie sich befand. Es schien sich um eine Art Besenkammer zu handeln, und sie streckte die Arme aus, um in der Dunkelheit nicht irgendwo anzustoßen. Unsicher, die Arme nach vorn gestreckt und die Augen geschlossen, machte sie ein paar Schritte, dann öffnete sie die Augen. Jetzt war sie in einem Raum, den sie kannte.
Es war ein Büro.
Grahame Coats’ Büro.
Jetzt erinnerte sie sich. Die typische Benommenheit nach dem Erwachen war noch da – sie konnte noch nicht wieder klar denken, und so richtig in Gang kommen würde sie natürlich sowieso erst, wenn sie ihre morgendliche Tasse Kaffee getrunken hatte – aber dennoch fiel ihr alles wieder ein: Grahame Coats’ Heimtücke, sein Verrat, sein kriminelles Verhalten, sein …
Ja, was denn, dachte sie, er hat mich überfallen. Mich hinterrücks geschlagen. Und dann dachte sie: Die Polizei. Ich sollte die Polizei rufen.
Sie griff nach dem Telefon auf dem Tisch und nahm den Hörer ab, oder versuchte es jedenfalls, aber der Hörer schien mächtig schwer oder rutschig, oder auch beides, und sie bekam ihn nicht richtig zu fassen. Er fühlte sich ganz verkehrt an den Fingern an.
Anscheinend bin ich schwächer, als ich dachte, schloss Maeve daraus. Am besten sag ich ihnen, dass sie auch gleich einen Arzt schicken sollen.
In ihrer Jackentasche hatte sie ein kleines silbernes Handy, das »Greensleeves« spielte, wenn es klingelte. Erleichtert stellte sie fest, dass es noch da war und sie keinerlei Probleme hatte, es festzuhalten. Sie wählte die Nummer des Notrufs, und während sie darauf wartete, dass jemand ranging, überlegte sie, warum man eigentlich noch immer davon sprach, »den Hörer abzunehmen« oder auch »aufzulegen«, obwohl es doch praktisch gar keine Telefone mit Hörer mehr gab. Ganz früher, in ihrer Kindheit, hatte man Telefone mit Hörern und Wählscheiben gehabt. Statt der Wählscheiben zum Drehen gab es irgendwann Knöpfe zum Drücken, und die entsprechenden Telefone, die einen besonders unangenehmen elektronischen Klingelton hatten, wurden in England als Trimphone bezeichnet. Als Teenager hatte Maeve einen Freund gehabt, der das Klingeln eines Trimphones imitieren konnte und dies auch fortwährend tat, eine Fertigkeit, die, wie Maeve im Rückblick urteilte, so ziemlich das Einzige war, was er für sich ins Feld zu führen hatte. Sie fragte sich, was aus ihm geworden sein mochte. Sie fragte sich, wie ein Mann, der ein Trimphone imitieren konnte, in einer Welt zurechtkam, in der Telefone nach allem klangen, was man sich vorstellen konnte, und auch nach allem, was man sich lieber nicht vorstellen mochte …
»Leider sind im Moment alle Anschlüsse besetzt«, sagte eine mechanische Stimme. »Bitte haben Sie etwas Geduld.«
Maeve war merkwürdig gelassen, so als könne ihr nie wieder etwas Schlimmes zustoßen.
Eine Männerstimme ließ sich in der Leitung hören.
»Hallo?«, sagte die Stimme. Sie klang ausgesprochen kompetent.
»Ich brauche die Polizei«, sagte Maeve.
»Sie benötigen keineswegs die Polizei«, sagte die Stimme. »Mit Verbrechen jeder Art befassen sich die zuständigen und nicht zu umgehenden Behörden.«
»Wissen Sie«, sagte Maeve, »ich glaube, ich habe vielleicht die falsche Nummer gewählt.«
»Ferner«, sagte die Stimme, »sind alle Nummern letzten Endes korrekt. Es sind lediglich Nummern, und als solche können sie nicht richtig oder falsch sein.«
»Sie haben gut reden«, sagte Maeve. »Aber ich muss die Polizei sprechen. Eventuell brauche ich auch einen Rettungswagen. Und ich habe ganz offensichtlich eine falsche Nummer gewählt.« Sie beendete den Anruf. Vielleicht, dachte sie, funktionierte die 999 nicht von einem Handy aus. Sie rief ihr Adressenverzeichnis auf und wählte die Nummer ihrer Schwester. Das Telefon klingelte ein Mal, dann sagte eine vertraute Stimme: »Lassen Sie mich Folgendes klarstellen:
Ich sage nicht, dass Sie absichtlich eine falsche Nummer gewählt haben. Was ich aber doch hoffe, zum Ausdruck bringen zu können, ist dies, dass alle Nummern von der Natur der Sache her korrekt sind. Nun, ausgenommen Pi, selbstverständlich. Mit Pi können Sie mich jagen. Krieg schon Kopfschmerzen, wenn ich nur daran denke, wie es nach dem Komma immer weitergeht, und weiter und weiter …«
Maeve drückte auf den roten Knopf und brach den Anruf ab. Sie rief ihren Bankfilialleiter an.
Die Stimme, die sich meldete, sagte: »Aber da rede und rede ich und lass mich über die Richtigkeit von Nummern aus, und Sie denken zweifellos, dass es günstigere Gelegenheiten gäbe, ein solches Thema …« Klick. Sie rief ihre beste Freundin an.
»… und dabei ist es ja eigentlich die grundsätzliche Frage Ihres Zustands, die wir hier zu verhandeln hätten, nicht wahr. Leider herrscht heute Nachmittag ein sehr dichter Verkehr, wenn es Ihnen also nichts ausmacht, noch ein wenig dort auszuharren, wo Sie gerade sind, dann werden Sie bald abgeholt werden …« Es war eine beruhigende Stimme, die Stimme eines Radiopastors, der seinen Hörern besinnliche Gedanken für den Tag mitgibt.
Wäre Maeve nicht so ungewöhnlich gelassen gewesen, hätte sie jetzt einen Panikanfall bekommen. Stattdessen dachte sie nach. Angesichts dessen, dass ihr Telefon – wie nannte man das: gehäckt? – worden war, würde sie wohl einfach auf die Straße hinausgehen, einen Polizisten finden und formelle Beschwerde einlegen müssen. Nichts passierte, als Maeve den Knopf für den Fahrstuhl drückte, also nahm sie die Treppe. Beim Hinuntergehen dachte sie, dass wahrscheinlich wieder mal kein Polizist zu sehen sein würde, wenn man schon mal einen brauchte, die sausten ja ständig nur in diesen Autos durch die Gegend, die immer Niinorninor machten. Die Polizei, fand Maeve, sollte paarweise durch die Straßen schlendern und den Leuten sagen, wie spät es ist, oder am unteren Ende von Regenrohren stehen und die ganzen Einbrecher in Empfang nehmen, die dort mit ihren Säcken voller Beute heruntergeklettert kamen …
Am unteren Ende der Treppe, in der Eingangshalle, standen zwei Polizeibeamte, ein Mann und eine Frau. Sie hatten gerade keine Uniform an, aber sie waren trotzdem Polizisten. Unverkennbar. Der Mann war stämmig und rotgesichtig, die Frau war klein und dunkel und wäre unter anderen Umständen womöglich ausgesprochen hübsch gewesen. »Wir wissen, dass sie bis hierher gekommen ist«, sagte die Frau gerade. »Die Empfangsdame erinnert sich, dass sie die Büroräume betreten hat, kurz vor Mittag. Als sie aus der Mittagspause zurückkam, waren beide weg.«
»Glaubst du, dass sie zusammen getürmt sind?«, fragte der stämmige Mann.
»Ähm, entschuldigen Sie«, sagte Maeve Livingstone höflich.
»Es ist denkbar. Es muss eine einfache Erklärung geben. Das Verschwinden von Grahame Coats. Das Verschwinden von Maeve Livingstone. Wenigstens haben wir Nancy in Gewahrsam.«
»Wir sind selbstverständlich nicht zusammen getürmt«, sagte Maeve, aber sie fand keine Beachtung.
Die beiden Polizeibeamten stiegen in den Fahrstuhl und schlugen die Tür hinter sich zu. Maeve sah zu, wie sie losschaukelten, dem obersten Stockwerk entgegen.
Sie hielt noch immer ihr Handy in der Hand. Es begann jetzt zu vibrieren und spielte dann »Greensleeves«. Sie warf einen Blick aufs Display. Morris’ Foto füllte es ganz aus. Aufgeregt drückte sie auf den grünen Knopf. »Ja?«
»Hallo, Liebes. Wie geht’s?«
Sie sagte: »Danke, gut.« Dann sagte sie: »Morris?« Und dann: »Nein, überhaupt nicht gut. Eigentlich ganz schrecklich.«
»Jau«, sagte Morris. »Hab ich mir schon gedacht. Aber da kann man jetzt erst mal nichts machen. Ist jetzt Zeit, den Weg weiterzugehen.«
»Morris? Von wo rufst du an?«
»Das ist ‘n bisschen kompliziert«, sagte er. »Ich mein, ich bin gar nicht wirklich am Telefon. Wollte dir einfach nur weiterhelfen.«
»Grahame Coats«, sagte sie. »Er war ein Gauner.«
»Ja, Liebes«, sagte Morris. »Aber es ist Zeit, das alles loszulassen. Lass es hinter dir.«
»Er hat mich von hinten auf den Kopf geschlagen«, erzählte sie ihm. »Und er hat uns unser Geld gestohlen.«
»Das sind nur materielle Dinge, Liebes«, sagte Morris beschwichtigend. »Jetzt hast du das Jammertal hinter dir …«
»Morris«, sagte Maeve. »Dieser pestbringende kleine Wurm hat versucht, deine Frau zu ermorden. Ich finde wirklich, du könntest ein bisschen mehr Betroffenheit zeigen.«
»Sei nicht so, Liebes. Ich versuch nur zu erklären …«
»Also, Morris, ich muss dir sagen, wenn das deine Einstellung ist, dann werde ich die Sache einfach selbst in die Hand nehmen. Ich werde ganz bestimmt nicht die Achseln zucken und alles vergessen. Für dich mag das angehen, du bist tot. Du brauchst dir keine Gedanken über diese Dinge zu machen.«
»Du bist auch tot, Liebes.«
»Das tut jetzt wenig zur Sache, Morris«, sagte sie. Dann:
»Was bin ich?« Und dann, bevor er irgendetwas sagen konnte, sagte Maeve: »Morris, ich sagte, er hätte versucht, mich zu ermorden. Es war keine Rede davon, dass es ihm gelungen sei.«
»Ähm.« Der verstorbene Morris Livingstone schien um Worte verlegen. »Maeve. Liebes. Ich weiß, das ist jetzt vielleicht ein bisschen ein Schock für dich, aber die Wahrheit ist die, dass …«
Das Telefon machte ein »Plibbel«-Geräusch, und die Abbildung einer leeren Batterie erschien auf dem Display.
»Das habe ich leider nicht verstanden, Morris«, sagte sie. »Ich fürchte, die Akkus im Telefon verabschieden sich gerade.«
»Du hast keine Telefonakkus«, erklärte er. »Du hast kein Telefon. Das ist alles Illusion. Das versuch ich dir doch die ganze Zeit zu erklären: Du hast das Tal von Hastdunichtgesehen durchschritten und wirst jetzt, ach, verdammt, es ist wie mit den Würmern und Schmetterlingen, Liebes. Du weißt schon.«
»Raupen«, sagte Maeve. »Ich glaube, du meinst Raupen und Schmetterlinge.«
»Ah ja, gut möglich«, sagte Morris’ Stimme übers Telefon. »Raupen. Genau, das meinte ich. In was verwandeln sich denn die Würmer?«
»Die verwandeln sich in gar nichts, Morris«, sagte Maeve ein bisschen gereizt. »Es sind einfach Würmer.« Das silberne Telefon gab ein kleines Geräusch von sich, wie ein elektronisches Rülpsen, zeigte noch einmal das Bild der leeren Batterie und schaltete sich dann ab.
Maeve klappte es zu und steckte es zurück in ihre Tasche. Sie ging zur nächsten Wand und drückte probehalber mit einem Finger dagegen. Die Wand fühlte sich feuchtkalt und gallertartig an. Sie drückte ein bisschen fester, da schob sich die ganze Hand in die Wand. Und dann hindurch.
»Auweia«, sagte sie und hatte, nicht zum ersten Mal im Verlauf ihrer Existenz, das Gefühl, sie hätte lieber auf Morris hören sollen, der schließlich, das musste sie zugeben, mittlerweile vermutlich ein wenig mehr vom Totsein verstand als sie selbst. Ach, na ja, dachte sie. Tot zu sein ist wahrscheinlich wie alles andere im Leben auch: Man guckt sich das eine oder andere ab, und den Rest erfindet man.
Sie ging durch die Eingangstür und kam aber unversehens durch die hintere Wand der Eingangshalle zurück ins Gebäude. Sie probierte es noch einmal, mit dem gleichen Ergebnis. Dann spazierte sie in das Reisebüro, das im Erdgeschoss des Gebäudes residierte, und versuchte sich durch die Mauer an der Westseite des Gebäudes zu drücken.
Sie ging hindurch und kam wiederum, von Osten her, in der Eingangshalle heraus. Es war, als befinde man sich in einem Fernseher und versuche den Bildschirm zu verlassen. Topografisch gesehen, schien das Bürogebäude zu ihrem Universum geworden zu sein.
Sie ging wieder die Treppe hinauf, um zu sehen, was die Polizisten machten. Sie starrten auf den Schreibtisch, auf die ganze Unordnung, die Grahame Coats beim Packen hinterlassen hatte.
»Wissen Sie«, sagte Maeve hilfsbereit, »ich bin in einem Raum hinter dem Bücherregal. Da hinten drin.« Sie beachteten sie nicht.
Die Frau hockte sich hin und wühlte im Papierkorb.
»Bingo«, sagte sie und zog ein mit getrocknetem Blut beflecktes weißes Oberhemd hervor. Sie steckte es in einen Plastikbeutel. Der stämmige Mann zückte sein Handy.
»Ich brauch die Forensiker hier«, sagte er.
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FAT CHARLIE stellte fest, dass seine Zelle ihm jetzt eher Zuflucht war als Gefängnis. Denn zum einen befanden sich die Zellen tief im Innern des Gebäudes, weit weg von den Aufenthaltsorten selbst der abenteuerlustigsten Vögel. Und zum andern war sein Bruder nirgends zu sehen. Es störte ihn nicht mehr, dass in Zelle sechs absolut nichts passierte. Dieses Nichts war den meisten Etwassen, die ihm in den Sinn kamen, bei Weitem vorzuziehen. Sogar eine ausschließlich mit Schlössern, Kakerlaken und Leuten namens K bevölkerte Welt war einer Welt vorzuziehen, in der bösartige Vögel seinen Namen im Chor flüsterten.
Die Tür ging auf.
»Klopfen Sie gar nicht?«, fragte Fat Charlie.
»Nein«, sagte der Polizist. »Wenn ich’s mir recht überlege, klopfen wir nicht. Dein Anwalt ist endlich da.«
»Mister Merryman?«, sagte Fat Charlie und hielt dann inne. Leonard Merryman war ein rundlicher Herr mit einer kleinen goldenen Brille, und auf den Mann, der hinter dem Polizisten stand, traf diese Beschreibung definitiv nicht zu.
»Alles in bester Ordnung«, sagte der Mann, der nicht sein Anwalt war. »Sie können uns jetzt allein lassen.«
»Klingeln Sie, wenn Sie fertig sind«, sagte der Polizist, dann machte er die Tür wieder zu.
Spider nahm Fat Charlie an die Hand. Er sagte: »Wir brechen hier jetzt aus.«
»Aber ich will hier nicht ausbrechen. Ich habe ja nichts verbrochen.«
»Ein guter Grund, um abzuhauen.«
»Aber wenn ich abhaue, dann habe ich etwas verbrochen. Dann gelte ich als entflohener Gefangener.«
»Du bist kein Gefangener«, sagte Spider fröhlich. »Es wird dir ja noch gar nichts zur Last gelegt. Du bist nur bei ihren Untersuchungen behilflich. Hör zu, hast du Hunger?«
»Ein bisschen.«
»Was möchtest du? Tee? Kaffee? Heiße Schokolade?« Heiße Schokolade hörte sich extrem gut an, fand Fat Charlie. »Am liebsten heiße Schokolade«, sagte er.
»Alles klar«, sagte Spider. Er hielt Fat Charlies Hand fest. »Mach die Augen zu.«
»Warum?«
»Dann ist es leichter.«
Fat Charlie machte die Augen zu, auch wenn er keine klare Vorstellung davon hatte, was dadurch leichter werden würde. Die Welt streckte sich und zog sich zusammen, und Fat Charlie war sich sicher, dass ihm schlecht werden würde. Gleich darauf aber wurde es ruhiger in seinem Kopf, und er fühlte eine warme Brise über sein Gesicht streichen.
Er öffnete die Augen.
Sie waren im Freien, auf einem großen Marktplatz, an irgendeinem Ort, der außerordentlich unenglisch aussah.
»Wo sind wir?«
»Ich glaube, es heißt Skopsie. Stadt in Italien oder so. Ich komm schon seit Jahren her. Die machen hier eine sagenhafte heiße Schokolade. Die beste, die ich je hatte.«
Sie setzten sich an einen kleinen Holztisch. Er war feuerwehrrot gestrichen. Ein Kellner trat heran und sagte etwas in einer Sprache, die in Fat Charlies Ohren nicht sehr italienisch klang. Spider sagte: »Dos Chocolatos, Alter«; der Mann nickte und entfernte sich.
»Okay«, sagte Fat Charlie. »Jetzt hast du mich in noch größere Schwierigkeiten gebracht. Jetzt werden sie nach mir fahnden oder was. Es wird in den Zeitungen stehen.«
»Was meinst du, werden sie tun?«, fragte Spider lächelnd. »Dich ins Gefängnis stecken?«
»O bitte.«
Die heiße Schokolade traf ein, und der Ober goss sie in kleine Tassen. Sie hatte ungefähr die Temperatur von geschmolzener Lava, war ein Mittelding zwischen Schokoladensuppe und Schokoladenpudding und roch erstaunlich gut.
Spider sagte: »Na, da haben wir diese ganze Geschichte mit der Familienzusammenkunft aber ganz schön in die Grütze geritten, was?«
»Wir haben sie in die Grütze geritten?« Fat Charlie brachte eine überzeugende Empörung zustande. »Ich war’s doch nicht, der mir meine Verlobte gestohlen hat. Ich war’s doch nicht, der dafür gesorgt hat, dass ich meinen Job verliere.
Und ich war’s auch nicht, der dafür gesorgt hat, dass ich verhaftet werde …«
»Nein«, sagte Spider. »Aber du warst es, der die Vögel ins Spiel gebracht hat, oder?«
Fat Charlie nahm einen sehr kleinen ersten Schluck von seiner heißen Schokolade. »Au. Ich glaube, ich habe mir gerade den Mund verbrannt.« Er sah seinen Bruder an und erkannte an ihm seinen eigenen Gesichtsausdruck wieder: besorgt, müde, ängstlich. »Ja, ich war’s, der die Vögel ins Spiel gebracht hat. Und was machen wir jetzt?«
Spider sagte: »Die machen hier übrigens auch eine sehr schöne Eintopf-Nudel-Geschichte.«
»Bist du sicher, dass wir in Italien sind?«
»Nicht so richtig.«
»Kann ich dich was fragen?« Spider nickte.
Fat Charlie überlegte, wie er es am besten ausdrücken konnte. »Die Sache mit den Vögeln. Wo sie plötzlich alle auftauchen und so tun, als seien sie einem Hitchcock-Film entflogen. Glaubst du, das ist etwas, das nur in England passiert?«
»Wieso?«
»Weil ich glaube, dass uns die Tauben da bemerkt haben.« Er zeigte zum anderen Ende des Platzes.
Die Tauben taten nicht das, was Tauben gemeinhin tun. Sie pickten nicht an Brotkrumen herum oder hoppelten mit wiegenden Köpfen durch die Gegend, immer auf der Suche nach von Touristen hinterlassenen essbaren Abfällen. Sie standen ganz still und glotzten herüber. Dann gab es ein starkes Geflatter, und schon hatten sich weitere hundert Vögel zu ihnen gesellt. Die meisten landeten auf der Statue eines dicken Mannes mit einem riesigen Hut, die das Zentrum des Platzes beherrschte. Fat Charlie sah die Tauben an, und die Tauben blickten zurück. »Was ist das Schlimmste, was passieren kann?«, fragte er Spider mit gedämpfter Stimme. »Dass sie uns von oben bis unten vollscheißen?«
»Ich weiß nicht. Aber ich denke, dass sie Übleres auf Lager haben. Trink deine heiße Schokolade aus.«
»Aber die ist so heiß!«
»Und wir brauchen auch ein paar Flaschen Wasser, nicht wahr? Garçon?«
Ein leises Rauschen von Flügeln, das Schwirren weiterer eintreffender Vögel, und unter all dem, mehr zu ahnen als zu hören, ein tiefes Gurren.
Der Ober brachte ihnen Wasserflaschen. Spider, der jetzt, wie Fat Charlie bemerkte, wieder seine rotschwarze Lederjacke trug, steckte sie sich in die Taschen.
»Es sind nur Tauben«, sagte Fat Charlie, aber noch während er die Worte aussprach, war er sich bereits über deren Unzulänglichkeit im Klaren. Es waren nicht nur Tauben.
Es war eine Armee. Die Statue des Dicken war unter all den grauen und purpurroten Federn kaum noch zu sehen.
»Ich glaube, ich fand Vögel besser, als sie noch nicht auf die Idee gekommen waren, sich gegen uns zu verbünden.« Spider sagte: »Und sie sind überall.« Dann packte er Fat Charlies Hand. »Mach die Augen zu.«
In diesem Moment stiegen die Vögel auf, alle zusammen, wie ein einziges Wesen. Fat Charlie machte die Augen zu.
Die Vögel stießen herab wie des Assyrers gewaltige Kohorten …
Es herrschte Stille und ein Gefühl von Ferne, und Fat Charlie dachte: Ich bin in einem Ofen. Er öffnete die Augen und stellte fest, dass es stimmte: ein Ofen mit roten Dünen, die sich unermesslich weit erstreckten, bis sie mit einem perlmuttfarbenen Himmel verschmolzen.
»Wüste«, sagte Spider. »Fand ich jetzt naheliegend. Vogelfreie Zone. Wo man sich ungestört unterhalten kann. Hier.« Er reichte Fat Charlie eine Flasche Wasser.
»Danke.«
»Also. Möchtest du mir jetzt erzählen, wo die Vögel herkommen?«
Fat Charlie sagte: »Es gibt da so einen Ort. Ich war da. Da gab es jede Menge von Tiermenschen. Sie, äh, alle von ihnen kannten Dad. Und die eine war eine Frau, eine Art Vogelfrau.«
Spider sah ihn an. »Es gibt da so einen Ort? Das ist nicht übermäßig hilfreich.«
»Es ist ein Berghang mit Höhlen drin. Und dann sind da noch Klippen, die runterfallen ins Nichts. Es ist wie das Ende der Welt.«
»Es ist der Anfang der Welt«, korrigierte Spider. »Ich hab von den Höhlen gehört. Ein Mädchen, das ich mal kannte, hat mir alles darüber erzählt. Bin aber selbst nie dort gewesen. Du hast also die Vogelfrau getroffen und …?«
»Sie hat angeboten, dafür zu sorgen, dass du weggehst.
Und, äh, na ja, ich bin auf das Angebot eingegangen.«
»Das«, sagte Spider mit dem Fächeln eines Filmstars,
»war echt bescheuert.«
»Ich hab ihr nicht gesagt, dass sie dir etwas tun soll.«
»Was dachtest du denn, was sie tun würde, um mich loszuwerden? Einen förmlichen Brief aufsetzen und per Einschreiben schicken?«
»Ich weiß nicht. Ich hab nicht nachgedacht. Ich war sauer.«
»Toll. Tja, wenn sie ihren Willen bekommt, wirst du sauer sein und ich tot. Du hättest mich einfach bitten können wegzugehen, weißt du.«
»Hab ich doch!«
»Äh. Und was hab ich dazu gesagt?«
»Dass es dir in meinem Haus gefiele und du nicht daran dächtest zu verschwinden.«
Spider nahm einen Schluck Wasser. »Also, was genau hast du zu ihr gesagt?«
Fat Charlie versuchte sich zu erinnern. Jetzt, wo er darüber nachdachte, kam es ihm selber ziemlich seltsam vor.
»Nur, dass ich ihr Anansis Blutlinie geben würde«, sagte er zögerlich.
»Wie bitte?«
»Das war das, worum sie mich gebeten hatte.«
Spider blickte ungläubig. »Aber das betrifft nicht nur mich. Das sind wir beide.«
Fat Charlies Mund war plötzlich sehr trocken. Er hoffte, dass es an der Wüste lag, und trank etwas Wasser.
»Moment. Warum noch mal gleich die Wüste?«, fragte Fat Charlie.
»Keine Vögel. Schon vergessen?«
»Und was sind das da für welche?« Er zeigte nach oben. Zuerst sahen sie winzig aus, aber dann begriff man, dass sie einfach nur sehr hoch flogen: Sie kreisten, schaukelten auf dem Wind.
»Geier«, sagte Spider. »Die gehen nicht an lebende Wesen ran.«
»Genau. Und Tauben haben Angst vor Menschen«, sagte Fat Charlie. Die Punkte im Himmel kreisten tiefer, und die Vögel schienen zu wachsende weiter sie hinabstiegen.
Spider sagte: »Zugegeben.« Dann: »Scheiße.«
Sie waren nicht allein. Jemand beobachtete sie von einer fernen Düne her. Ein flüchtiger Beobachter würde die Gestalt vielleicht für eine Vogelscheuche gehalten haben.
Fat Charlie rief: »Geh weg!« Seine Stimme wurde vom Sand geschluckt. »Ich nehme alles zurück. Die Abmachung gilt nicht! Lass uns in Buhe!«
Ein Mantelflattern im heißen Wind, und die Düne lag verlassen da.
Fat Charlie sagte: »Sie ist weg. Wer hätte gedacht, dass es so einfach geht?«
Spider berührte seine Schulter, zeigte mit dem Finger. Die Frau im braunen Mantel stand jetzt auf der nächstgelegenen Sanderhebung, so dicht, dass Fat Charlie das glasige Schwarz ihrer Augen erkennen konnte.
Die Geier waren zerfranste schwarze Schatten, und dann landeten sie: ihre nackten malvenfarbenen Hälse und Köpfe federlos, weil es so viel bequemer ist, den Kopf tief in einen faulenden Kadaver zu stecken reckten sich, während sie kurzsichtig in Richtung der Brüder blinzelten, als überlegten sie, ob sie warten sollten, bis die beiden Männer starben, oder ob man etwas tun konnte, um den Prozess zu beschleunigen.
Spider sagte: »Was war noch Bestandteil der Abmachung?«
»Hm?«
»Gab es noch etwas? Hat sie dir irgendwas gegeben, um die Übereinkunft zu besiegeln? Manchmal werden solche Dinge per Tauschhandel geregelt.«
Die Geier schoben sich vorwärts, Schritt für Schritt, sie schlossen die Reihen, zogen den Kreis immer enger. Es waren noch mehr schwarze Schrägstriche im Himmel, die stetig wuchsen und sich schaukelnd näherten. Spider umfasste Fat Charlies Hand.
»Mach die Augen zu.«
Die Kälte erwischte Fat Charlie wie ein Schlag in die Magengrube. Er holte tief Luft und hatte das Gefühl, seine Lunge sei vereist worden. Er hustete und hustete, während der Wind heulte wie ein großes wildes Tier.
Er öffnete die Augen. »Darf ich fragen, wo wir diesmal sind?«
»Antarktika«, sagte Spider. Er zog den Reißverschluss seiner Lederjacke zu und schien sich an der Kälte nicht zu stören. »Ist wohl ein bisschen kühl, fürchte ich.«
»Hast du keine mittleren Gänge? Von der Wüste direkt ins Eis, muss das sein?«
»Keine Vögel hier«, sagte Spider.
»Wär’s nicht leichter, sich einfach in ein nettes, vogelfreies Gebäude zu setzen? Wir könnten was zu Mittag essen.«
Spider sagte: »Na, hallo. Jetzt beschwerst du dich, nur weil’s ein klein bisschen frisch ist.«
»Es ist mitnichten ein klein bisschen frisch. Es sind minus fünfzig Grad. Und überhaupt, guck mal.«
Fat Charlie zeigte auf den Himmel. Ein blasser Schnörkel, einem mit Kreide auf den Himmel gemalten m ähnelnd, hing bewegungslos in der kalten Luft. »Albatros«, sagte er.
»Fregatte«, sagte Spider.
»Wie meinen?«
»Das ist kein Albatros. Es ist ein Fregattvogel. Wahrscheinlich hat er uns gar nicht bemerkt.«
»Kann sein«, gab Fat Charlie zu. »Die da aber haben es.«
Spider drehte sich um und fluchte. Möglicherweise waren es nicht eine Million Pinguine, die dort in Richtung der Brüder gewatschelt, geglitten und auf dem Bauch gerutscht kamen, aber es machte weiß Gott den Eindruck. Zwar darf als allgemeine Regel wohl festgehalten werden, dass es nur wenige Wesen gibt, die das Nahen von Pinguinen in Angst und Schrecken versetzt (kleine Fische zum Beispiel), aber wenn die Zahl der Pinguine eine gewisse Größe überschreitet…
Fat Charlie griff, ohne dazu aufgefordert worden zu sein, nach Spiders Hand. Er machte die Augen zu.
Als er sie wieder aufmachte, war es etwas wärmer geworden, aber was das Sehen anbetraf, machte es keinen Unterschied, ob die Augen offen waren oder geschlossen. Rundum herrschte die Farbe der Nacht. »Bin ich plötzlich blind geworden?«
»Wir sind in einem stillgelegten Kohlenbergwerk«, sagte Spider. »Vor ein paar Jahren hab ich mal ein Foto davon in einer Zeitschrift gesehen. Hier sollten wir sicher sein, es sei denn, es hätte sich eine neue Art von blinden Finken hier entwickelt, die so angepasst sind, dass sie die Dunkelheit nutzen und sich von Kohlesplittern ernähren können.«
»Das ist ein Witz, oder? Das mit den blinden Finken?«
»Mehr oder weniger.«
Fat Charlie seufzte, und das Seufzen hallte durch die unterirdischen Höhlen. »Weißt du«, sagte er, »wenn du einfach weggegangen wärst, wenn du mein Haus verlassen hättest, als ich dich darum gebeten habe, dann würden wir jetzt nicht in diesem Schlamassel stecken.«
»Das hilft uns jetzt auch nicht weiter.«
»Das war auch nicht beabsichtigt. Weiß der Himmel, wie ich Rosie das alles erklären soll.«
Spider räusperte sich. »Ich glaube nicht, dass du dir darüber Gedanken machen musst.«
»Nämlich warum nicht?«
»Weil sie mit uns Schluss gemacht hat.«
Es folgte ein langes Schweigen. Dann sagte Fat Charlie:
»Natürlich, was sonst.«
»Auf dem Gebiet hab ich wohl einigen Mist gebaut.« Spider klang etwas verlegen.
»Aber wenn ich ihr einfach alles erkläre? Ich meine, wenn ich ihr sage, dass ich nicht du war, dass du so getan hast, als seist du ich …«
»Das hab ich schon getan. Das war der Punkt, an dem sie beschlossen hat, dass sie keinen von uns beiden je wiedersehen will.«
»Mich auch nicht?«
»Fürchte ja.«
»Hör zu«, sagte Spiders Stimme in der Dunkelheit. »Ich wollte wirklich nie … Also, als ich dich besuchen kam, wollte ich nichts weiter, als Hallo zu sagen. Und nicht, ähm … Ich hab echt alles total versaubeutelt, wie?«
»Versuchst du gerade zu sagen, dass es dir leid tut?« Schweigen. Dann: »Kann wohl sein. Vielleicht.«
Weiteres Schweigen. Fat Charlie sagte: »Tja, dann tut es mir echt leid, dass ich die Vogelfrau engagiert habe, um dich loszuwerden.« Dass er Spider nicht sehen konnte, während sie redeten, machte es irgendwie leichter.
»Ja. Danke. Ich wünschte aber, ich wüsste, wie man sie loswerden könnte.«
»Eine Feder!«, sagte Fat Charlie.
»Ah nein, das hab ich jetzt nicht verstanden.«
»Du hast mich gefragt, ob sie mir irgendwas gegeben hätte, um die Abmachung zu besiegeln. Ja, hat sie. Eine Feder hat sie mir gegeben.«
»Wo ist sie?«
Fat Charlie kramte in seinem Gedächtnis. »Ich weiß nicht genau. Ich hatte sie, als ich in Mrs. Dunwiddys Wohnzimmer aufgewacht bin. Als ich ins Flugzeug stieg, hatte ich sie nicht mehr. Ich vermute, dass Mrs. Dunwiddy sie noch haben müsste.«
Das Schweigen, das darauf folgte, war lang, düster und ungebrochen. Fat Charlie bekam langsam Angst, dass Spider weggegangen war, ihn ganz allein in der Dunkelheit unter der Welt zurückgelassen hatte. Schließlich sagte er:
»Bist du noch da?«
»Ja, ich bin hier.«
»Das ist eine Erleichterung. Wenn du mich hier unten allein lassen würdest, wüsste ich nicht, wie ich je wieder rauskommen sollte.«
»Führ mich nicht in Versuchung.« Weiteres Schweigen.
Fat Charlie sagte: »In welchem Land sind wir?«
»Polen, glaube ich. Wie gesagt, ich hab mal ein Bild davon gesehen. Nur, dass sie da Licht hatten in dem Foto.«
»Du musst Fotos von den Orten sehen, um hinkommen zu können?«
»Ich muss wissen, wo sie sind.«
Es war kaum zu fassen, dachte Fat Charlie, wie vollkommen still es in dem Bergwerk war. Der Ort besaß eine ganz eigene, spezielle Stille. Fat Charlie begann sich Gedanken über die Stille zu machen. War zum Beispiel die Grabesstille anders geartet als, sagen wir, die Stille des Weltalls?
Spider sagte: »Ich erinnere mich an Mrs. Dunwiddy. Sie riecht nach Veilchen.« Es sind die Worte Alle Hoffnung ist verloren, wir werden sterben schon mit mehr Begeisterung ausgesprochen worden.
»Das ist sie«, sagte Fat Charlie. »Klein, alt wie die Berge. Dicke Brillengläser. Vermutlich werden wir einfach hinfahren und die Feder von ihr holen müssen. Dann geben wir sie der Vogelfrau zurück. Und die macht diesem Albtraum ein Ende.« Fat Charlie trank das letzte Wasser aus der Flasche, die von einem kleinen Platz irgendwo nicht in Italien herstammte. Er schraubte den Verschluss wieder auf und stellte die leere Flasche in der Dunkelheit ab, wobei er sich fragte, ob das Wegwerfen von Abfall auch dann verwerflich war, wenn niemand ihn je zu sehen bekommen würde. »Also, dann lass uns Händchen halten und Mrs. Dunwiddy besuchen.«
Spider machte ein Geräusch. Es war kein großspuriges Geräusch. Sondern ein besorgtes, unsicheres. In der Dunkelheit stellte Fat Charlie sich vor, dass Spider Luft verlor, wie ein Ochsenfrosch oder ein wochenalter Luftballon. Es war Fat Charlies Wunsch gewesen, dass Spider kräftig einen auf den Deckel bekäme, aber er hatte nicht erleben wollen, dass er Geräusche machte wie ein verängstigter Sechsjähriger. »Na, was denn, du hast Angst vor Mrs. Dunwiddy?«
»Ich … ich kann nicht in ihre Nähe gehen.«
»Tja, falls das irgendein Trost ist: Ich hatte als Kind auch Angst vor ihr, aber dann habe ich sie bei der Beerdigung wiedergesehen, und so schlimm war sie gar nicht. Sie ist halt eine sehr alte Dame.« In seiner Erinnerung zündete sie die schwarzen Kerzen noch einmal an und streute die Kräuter in die Schüssel. »Vielleicht ein bisschen unheimlich. Aber das gibt sich, wenn du sie erst einmal siehst.«
»Sie hat mich vertrieben«, sagte Spider. »Ich wollte nicht gehen. Aber ich hab die eine Kugel in ihrem Garten kaputt gemacht. So’n großes Glasding, wie ein riesiger Weihnachtsbaumschmuck.«
»Das habe ich auch gemacht. Sie war total sauer.«
»Ich weiß.« Die Stimme aus dem Dunkel war kleinlaut, besorgt und verwirrt. »Das war zur selben Zeit. Damals hat alles angefangen.«
»Na ja. Sieh mal. Es ist nicht das Ende der Welt. Du bringst mich nach Florida. Ich gehe dann und hole mir die Feder von Mrs. Dunwiddy zurück. Ich habe keine Angst. Du kannst dich fernhalten.«
»Das geht nicht. Ich kann nicht hingehen, wo sie ist.«
»Was willst du damit sagen? Dass sie eine Art magisches Annäherungsverbot erlassen hat, oder was?«
»Mehr oder weniger. Ja.« Dann sagte Spider: »Rosie fehlt mir. Tut mir leid wegen, du weißt schon.«
Fat Charlie dachte an Rosie. Es fiel ihm seltsam schwer, sich an ihr Gesicht zu erinnern. Er stellte sich vor, Rosies Mutter nicht zur Schwiegermutter zu haben, dachte an die beiden Silhouetten auf den Schlafzimmervorhängen. Er sagte: »Mach dir keine Vorwürfe. Na ja, gut, du kannst dir gern Vorwürfe machen, wenn du möchtest, denn du hast dich wie der letzte Arsch benommen. Aber vielleicht war es ja alles nur zum Besten.« Es gab einen Stich in der Gegend um Fat Charlies Herz, aber er wusste, dass es wirklich so war. Es ist leichter, gewisse Wahrheiten im Dunkeln auszusprechen.
Spider sagte: »Weißt du, was an dieser Sache keinen Sinn ergibt?«
»Ähm, alles?«
»Nein. Nur eins. Ich verstehe nicht, warum die Vogelfrau hier mitmischt. Das passt nicht.«
»Dad hat sich bei ihr unbeliebt gemacht.«
»Dad hat sich bei allen unbeliebt gemacht. Aber sie ist irgendwie verkehrt. Und wenn sie uns töten will, warum versucht sie es dann nicht einfach?«
»Ich habe ihr unsere Blutlinie gegeben.«
»Das erwähntest du bereits. Nein, da liegt was anderes im Busch, und ich komm nicht drauf.« Schweigen. Dann sagte Spider: »Halt meine Hand.«
»Muss ich meine Augen zumachen?«
»Kannst du ruhig.«
»Wo geht’s hin? Zum Mond?«
»Ich bringe dich an einen sicheren Ort«, sagte Spider.
»O gut«, sagte Fat Charlie. »Sichere Orte mag ich. Wo denn?«
Aber dann, er brauchte nicht einmal die Augen zu öffnen, wusste Fat Charlie Bescheid. Der Geruch verriet alles: ungewaschene Leiber und nicht betätigte Toilettenspülungen, Desinfektionsmittel, alte Decken und Apathie.
»Ich wette, in einem Luxushotelzimmer wäre ich genauso sicher gewesen«, sagte er laut, aber es war niemand da, der ihn hätte hören können. Er setzte sich auf das schmale Bett der Zelle sechs und legte sich die dünne Decke um die Schultern. Es war, als sei er schon ewig dort gewesen.
Eine halbe Stunde später kam jemand, um ihn in das Vernehmungszimmer zu führen.
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»HALLO«, SAGTE Daisy lächelnd, »möchten sie eine Tasse Tee?«
»Diese Mühe können Sie sich gerne sparen«, sagte Fat Charlie. »Ich habe einen Fernseher zu Hause. Ich weiß, wie das geht. Das soll hier jetzt diese Geschichte mit dem guten und dem bösen Cop werden, stimmt’s? Sie geben mir eine Tasse Tee und noch ein paar Jaffa-Kekse, und dann kommt irgendein knallharter großer Fiesling rein, der die Beherrschung verliert und mich anschreit, dann schüttet er den Tee aus und fängt an, meine Jaffa-Kekse zu essen, und Sie können ihn gerade noch daran hindern, dass er mich schlägt, und sorgen dafür, dass er mir meinen Tee und die Kekse wiedergibt, und in meiner Dankbarkeit erzähle ich Ihnen dann alles, was Sie wissen wollen.«
»Wir können das gerne alles auslassen«, sagte Daisy,
»und Sie erzählen uns einfach so alles, was wir wissen wollen. Außerdem haben wir gar keine Jaffa-Kekse.«
»Ich habe Ihnen alles erzählt, was ich weiß«, sagte Fat Charlie. »Alles. Grahame Coats hat mir einen Scheck über zwei Riesen gegeben und gesagt, ich solle mir zwei Wochen freinehmen. Er meinte, er sei sehr erfreut, dass ich ihn auf irgendwelche Unregelmäßigkeiten aufmerksam gemacht hätte. Dann hat er mich nach meinem Passwort gefragt und mir zum Abschied nachgewinkt. Ende.«
»Und Sie bleiben dabei, dass Sie nichts über das Verschwinden von Maeve Livingstone wissen?«
»Ich glaube nicht, dass ich ihr je richtig begegnet bin. Vielleicht einmal, als sie durchs Büro kam. Wir haben uns ein paarmal am Telefon gesprochen. Sie wollte Grahame Coats sprechen, und ich musste ihr sagen, dass der Scheck in der Post sei.«
»War er das?«
»Ich weiß nicht. Ich dachte es jedenfalls. Hören Sie, Sie können doch nicht glauben, dass ich irgendetwas mit ihrem Verschwinden zu tun hätte.«
»Nein«, sagte sie fröhlich. »Tu ich auch nicht.«
»Denn ich weiß ehrlich nicht, was da vielleicht was haben Sie gesagt?«
»Ich glaube nicht, dass Sie etwas mit Maeve Livingstones Verschwinden zu tun haben. Ich glaube auch nicht, dass Sie etwas mit den in der Grahame-Coats-Agentur angefallenen finanziellen Unregelmäßigkeiten zu tun haben, obwohl sich offenbar jemand große Mühe gemacht hat, eben diesen Eindruck zu erwecken. Aber es ist ziemlich offensichtlich, dass die seltsame Buchführung und das stetige Abziehen von Geldern schon vor Ihrem Eintritt in die Firma praktiziert wurden. Sie sind ja erst seit zwei Jahren da gewesen.«
»Ungefähr«, sagte Fat Charlie. Er merkte, dass ihm der Mund offen stand. Er machte ihn zu.
Daisy sagte: »Hören Sie, ich weiß, dass die Polizisten in Büchern und Filmen meistens Idioten sind, vor allem in den Büchern, deren Hauptfigur ein pensionierter Verbrechensbekämpfer oder ein dickschädeliger Privatdetektiv ist. Und es tut mir echt leid, dass wir keine Jaffa-Kekse haben. Aber wir sind trotzdem nicht vollkommen bescheuert.«
»Hab ich auch nicht behauptet«, sagte Fat Charlie.
»Nein«, sagte sie. »Aber Sie haben’s gedacht. Sie können gehen. Und eine Entschuldigung gibt’s noch dazu, wenn Sie wollen.«
»Wo ist sie, ähm, verschwunden?«, fragte Fat Charlie.
»Mrs. Livingstone? Tja, als sie zuletzt gesehen wurde, ging sie mit Grahame Coats in dessen Büro.«
»Ah.«
»Das mit dem Tee war ernst gemeint. Möchten Sie einen?«
»Ja. Sehr gern. Ähm. Ich nehme an, Ihre Leute haben bereits das Geheimzimmer in seinem Büro überprüft? Hinter dem Bücherschrank?«
Man muss Daisy zugute halten, dass sie darauf, vollkommen ruhig, nichts weiter sagte als: »Ich glaube nicht, dass sie das getan haben.«
»Wir sollten wahrscheinlich gar nichts davon wissen«, sagte Fat Charlie, »aber ich bin einmal reingekommen, da war der Bücherschrank zurückgeschoben, und er war irgendwo da drin. Ich bin dann gleich wieder gegangen«, fügte er hinzu. »Ich habe ihm nicht nachspioniert oder so.« Daisy sagte: »Wir könnten auf dem Weg ein paar Jaffa-Kekse kaufen.«
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FAT CHARLIE war sich nicht sicher, ob ihm die Freiheit gefiel. Sie ging mit etwas allzu viel freiem Himmel einher.
»Alles in Ordnung?«, fragte Daisy.
»Ja, bestens.«
»Sie machen einen etwas nervösen Eindruck.«
»Das bin ich wohl auch. Sie werden es albern finden, aber ich bin ein bisschen na ja, ich habe ein Problem mit Vögeln.«
»Was, eine Phobie?«
»Ah, kann sein.«
»Das ist der gebräuchliche Ausdruck für eine irrationale Angst vor Vögeln.«
»Und wie bezeichnet man eine rationale Angst vor Vögeln?« Er knabberte an einem Jaffa-Keks.
Es folgte Schweigen. Dann sagte Daisy: »Na, wie auch immer, in diesem Auto gibt es keine Vögel.«
Sie parkte das Auto auf der doppelten gelben Linie vor den Büroräumen der Grahame-Coats-Agentur, und sie betraten zusammen das Gebäude.
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ROSIE LAG IN DER SONNE AM POOL AUF DEM Achterdeck eines koreanischen Kreuzfahrtschiffes∗, eine Zeitschrift über dem Kopf und ihre Mutter an ihrer Seite, und grübelte, wie sie je daraufgekommen war, dass ein gemeinsamer Urlaub mit ihrer Mutter eine gute Sache sein könnte.
Es gab keine englischen Zeitungen auf dem Schiff, und Rosie vermisste sie auch nicht. Alles andere aber vermisste sie. Sie empfand die Kreuzfahrt als eine Art schwimmendes Fegefeuer, erträglich gemacht allein durch die Inseln, die sie mehr oder weniger täglich anliefen. Die anderen Passagiere gingen dann zum Shoppen oder zum Gleitsegeln an Land oder sie machten rumselige Ausflüge auf schwimmenden Piratenschiffen. Rosie dagegen ging lieber spazieren und unterhielt sich mit Leuten.
∗ Das Schiff hatte Sunny Archipelago geheißen, bis einmal eine Darmgrippe unter den Passagieren gewütet hatte und dieser Vorfall bis in die Schlagzeilen der internationalen Presse vorgedrungen war. Ein unter dem Gesichtspunkt der Kostenersparnis unternommener Versuch, einen neuen Namen einzuführen, ohne die Initialen verändern zu müssen, initiiert vom Vorsitzenden der Geschäftsleitung, dessen Englischkenntnisse weniger umfassend waren, als er glaubte, hatte zur Folge, dass das Kreuzfahrtschiff sich nunmehr an dem Namen Squeak Attack (also etwa Quietschattacke) erfreute.
Sie sah Menschen leiden, sah Menschen, die hungrig und elend wirkten, und sie wollte helfen. In Rosies Augen schienen all diese Probleme durchaus behebbar zu sein. Es bedurfte nur der Initiative, sie zu beheben.
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WIE DER TOD WOHL SEIN WÜRDE, DAZU WÄRE Maeve Livingstone zu Lebzeiten eine ganze Menge eingefallen, das Attribut ärgerlich allerdings hätte nicht dazugehört. Dennoch war sie jetzt rechtschaffen verärgert. Sie hatte genug davon, dass man ständig durch sie hindurchging, dass man sie ignorierte, vor allem aber war sie es überdrüssig, nicht aus dem Gebäude im Aldwych herauszugelangen.
»Ich meine, wenn ich schon irgendwo herumspuken muss«, sagte sie zu der Empfangsdame, »warum dann nicht im Somerset House, drüben auf der anderen Straßenseite? Schicke Gebäude, herrlicher Blick über die Themse, diverse eindrucksvolle architektonische Besonderheiten. Dazu noch einige sehr schöne kleine Restaurants. Auch wenn man persönlich nichts mehr isst, es wäre reizvoll, die Leute dabei zu beobachten.«
Annie, die Empfangsdame, deren Aufgabe seit Grahame Coats’ Verschwinden darin bestand, Telefonate mit gelangweilter Stimme entgegenzunehmen und praktisch jede Frage, die ihr gestellt wurde, mit dem Satz »Das weiß ich leider nicht« zu beantworten, und die, sofern sie nicht von dieser Tätigkeit in Anspruch genommen war, mit ihren Freundinnen telefonierte und die rätselhaften Ereignisse in gedämpftem, doch erregtem Tonfall diskutierte, antwortete darauf nicht, wie sie auch auf alles andere, das Maeve ihr mitteilte, nicht geantwortet hatte.
Die Monotonie wurde durchbrochen durch die Ankunft von Fat Charlie Nancy in Begleitung der Polizeibeamtin.
Maeve hatte Fat Charlie immer ganz gern gehabt, ungeachtet der Tatsache, dass seine Aufgabe meist darin bestanden hatte, ihr zu versichern, dass sie demnächst einen Scheck in der Post haben würde, doch jetzt sah sie Dinge, die ihr vorher nie aufgefallen waren: Da waren Schatten, die um ihn herumflatterten, immer auf Abstand bedacht böse Vorboten. Er wirkte wie ein Mann auf der Flucht, und das machte ihr Sorgen.
Sie folgte ihnen in Grahame Coats’ Büro und sah mit Freude, wie Fat Charlie sofort auf den Bücherschrank an der hinteren Wand zusteuerte.
»Und wo ist jetzt das Geheimfach?«, fragte Daisy.
»Es ist kein Fach. Da war eine Tür. Hinter diesem Bücherschrank. Vielleicht gibt’s ja einen geheimen Hebel oder was, keine Ahnung.«
Daisy nahm den Bücherschrank unter die Lupe. »Hat Grahame Coats je eine Autobiografie verfasst?«, fragte sie Fat Charlie.
»Nicht, dass ich wüsste.«
Sie drückte gegen eine ledergebundene Ausgabe von Mein Leben, von Grahame Coats. Es knackte, der Bücherschrank drehte sich von der Wand weg, und dahinter kam eine verschlossene Tür zum Vorschein.
»Wir werden einen Schlosser brauchen«, sagte sie. »Und ich glaube eigentlich nicht, dass wir Sie hier noch länger benötigen, Mr. Nancy.«
»Ja gut«, sagte Fat Charlie. »Tja«, sagte er, »es war, ähm, interessant.«
Und dann sagte er: »Sie würden vermutlich nicht … mal essen gehen wollen. Mit mir. Irgendwann?«
»Dim Sum«, sagte sie. »Sonntagmittag. Getrennte Kasse. Man muss um halb zwölf da sein, wenn sie die Türen aufmachen, sonst steht man ewig Schlange.« Sie kritzelte die Adresse des Restaurants auf einen Zettel, den sie Fat Charlie übergab. »Und auf dem Nachhauseweg immer schön auf die Vögel achten«, sagte sie.
»Mach ich«, sagte er. »Bis Sonntag also.«
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DER SCHLOSSER wickelte eine schwarze Stoffwerkzeugtasche auf und entnahm ihr mehrere dünne Metallstücke.
»Also, ehrlich mal«, sagte er. »Man würde doch glauben, dass die mal was dazulernen. Ist ja nicht so, dass gute Schlösser so teuer wär’n. Ich mein, gucken Sie sich die Tür an, richtig gute Arbeit. Echt solide. Kostet Sie’n halben Tag, da mit’m Schneidbrenner durchzugehen. Und dann vergurken sie die ganze Sache mit einem Schloss, das’n Fünfjähriger mit’m Löffelstiel aufkriegen könnte … Siehste, da haben wir’s schon … Ist so leicht, wie die Flasche an den Hals zu setzen.«
Er zog an der Tür. Die Tür ging auf, und sie erblickten das Ding auf dem Boden.
»Himmelherrgott«, sagte Maeve Livingstone. »Das bin doch nicht ich.« Sie hätte geglaubt, dass sie mehr für ihren Leichnam empfinden würde, aber dem war nicht so; er erinnerte sie an ein totgefahrenes Tier auf der Straße.
Schon bald war der Raum voller Leute. Maeve, die noch nie viel Interesse für Kriminalfilme hatte aufbringen können, war schnell gelangweilt und schenkte dem Geschehen erst wieder erhöhte Aufmerksamkeit, als sie sich unmissverständlich die Treppe hinunter und aus der Eingangstür getragen fühlte, denn das war der Moment, in dem ihre sterblichen Überreste in einem diskreten blauen Plastiksack fortgeschafft wurden.
»Na, wer sagt’s denn«, sagte Maeve Livingstone. Sie war draußen.
Wenigstens aus dem Büro im Aldwych heraus. Offensichtlich, das war ihr klar, gab es Regeln. Es musste ja wohl Regeln geben. Nur wusste sie nicht so recht, was für Regeln das waren.
Unversehens machte sich in ihr der Wunsch breit, dass sie im Leben etwas religiöser gewesen wäre; sie hatte es aber einfach nie fertiggebracht: Als kleines Mädchen war sie nicht imstande gewesen, sich einen Gott vorzustellen, der manche Leute so sehr verabscheute, dass er sie zu Höllenqualen bis in alle Ewigkeit verdammte, meistens dafür, dass sie nicht ordnungsgemäß an ihn glaubten, und als sie heranwuchs, verdichteten sich ihre Kindheitszweifel zu der felsenfesten Überzeugung, dass das Leben, von der Geburt bis zum Grab, alles war, was es gab, und alles andere nur eingebildet. Das war ein guter Glaube gewesen, mit dem sich das Leben tadellos hatte meistern lassen, aber nun wurde er ernsthaft auf die Probe gestellt.
Allerdings war es doch sehr die Frage, ob sie, selbst wenn sie ihr Leben lang brav in die richtige Kirche gegangen wäre, auf dies hier hätte vorbereitet sein können. Maeve kam zu dem Schluss, dass der Tod in einer vernünftig organisierten Welt so etwas wie ein All-inclusiveLuxusurlaub sein sollte, wo man gleich zu Anfang eine Mappe ausgehändigt bekommt mit allerlei Tickets, Gutscheinen, Programmen und diversen Telefonnummern, die man anrufen kann, wenn es Probleme gibt.
Sie ging nicht. Sie flog nicht. Sie bewegte sich wie der Wind, wie ein kalter Herbstwind, der den Leuten einen Schauer über den Rücken jagte, wenn sie vorbeikam, und das Laub auf den Bürgersteigen aufwirbelte.
Sie ging dorthin, wo sie immer als Erstes hinging, wenn sie nach London kam: zu Selfridges, dem Kaufhaus in der Oxford Street. Maeve hatte, als sie noch sehr viel jünger gewesen war, in der Kosmetikabteilung von Selfridges gearbeitet, immer zwischen zwei Tanzengagements, und später hatte sie es sich angelegen sein lassen, so oft wie möglich dorthin zurückzukehren und teures Make-up zu kaufen, ganz wie sie es sich geschworen hatte in den alten und ärmeren Zeiten.
Sie spukte in der Schminkabteilung herum, bis ihr langweilig wurde, dann sah sie sich ein wenig in der Möbeletage um. Zwar würde sie nie wieder einen neuen Esstisch kaufen, aber es konnte doch wirklich nichts schaden, wenn man mal schaute, was es so gab …
Danach schwebte sie durch die Abteilung für Unterhaltungselektronik, umgeben von Fernsehbildschirmen in allen Größen. Auf einigen lief gerade eine Nachrichtensendung. Der Ton war an allen Geräten abgeschaltet, aber das Bild, das jeden Bildschirm ausfüllte, war das von Grahame Coats. Abscheu stieg in ihr auf, heiß wie geschmolzene Lava. Ein anderes Bild erschien, und jetzt sah sie sich selbst – ein Filmausschnitt von ihr an Morris’ Seite. Es handelte sich, wie sie sogleich erkannte, um den »Gib mir einen Fünfer, und ich knutsch dich grün und blau«-Sketch ans Morris Livingstone, nehme ich an.
Sie hätte zu gern eine Möglichkeit gefunden, um ihr Handy wieder aufzuladen. Selbst wenn sie damit niemanden erreichen konnte außer jener nervtötenden Stimme, die wie ein Pastor geklungen hatte, wäre sie jetzt bereit gewesen, sogar mit dieser Person zu sprechen. Am liebsten aber hätte sie sich mit Morris unterhalten. Er würde wissen, was zu tun war. Diesmal, dachte sie, würde sie ihn zu Wort kommen lassen. Diesmal würde sie zuhören.
»Maeve?«
Morris’ Gesicht sah sie aus hundert Fernsehapparaten an. Für einen kleinen Moment dachte sie, es wäre Einbildung, dann, dass es zur Nachrichtensendung gehöre, aber er sah sie voller Sorge an, und als er ihren Namen noch einmal sagte, wusste sie, dass er es war.
»Morris …?«
Er lächelte sein berühmtes Lächeln, und jedes einzelne Gesicht auf jedem einzelnen Bildschirm konzentrierte sich ganz auf sie. »Hallo, Liebes. Ich hab mich gefragt, was dich wohl so lange aufhält. Tja, also, es wird Zeit, dass du rüberkommst.«
»Rüber?«
»Auf die andere Seite. Das Tal durchschreiten. Oder über den Berg kommen? Na, jedenfalls, du weißt schon.« Und er streckte ihr hundert Hände aus hundert Bildschirmen entgegen.
Sie wusste, dass sie nichts weiter zu tun hatte, als die dargebotene Hand zu ergreifen. Zu ihrer eigenen Überraschung sagte sie jedoch: »Nein, Morris. Das sehe ich anders.«
Hundert identische Gesichter schauten perplex. »Maeve, Liebes. Du musst das Fleisch hinter dir lassen.«
»Nun ja, sicherlich, Liebling. Das werde ich auch tun. Versprochen. Sobald ich so weit bin.«
»Maeve, du bist tot. Wie viel mehr so weit kann man sein?«
Sie seufzte. »Ich habe noch einige Dinge auf dieser Seite zu klären.«
»Zum Beispiel?«
Maeve richtete sich zu ganzer Körpergröße auf. »Nun«, sagte sie. »Ich habe die Absicht, diesen Kerl Grahame Coats zu finden und dann … na ja, das zu tun, was Geister halt so tun. Ich könnte ihn heimsuchen oder so was.«
Morris klang etwas ungläubig. »Du willst Grahame Coats heimsuchen? Warum, in aller Welt?«
»Weil«, sagte sie, »ich hier noch nicht fertig bin.« Sie presste ihre Lippen zusammen und hob das Kinn.
Morris sah sie aus hundert Fernsehbildschirmen gleichzeitig an, und dann schüttelte er den Kopf, in einer Mischung aus Bewunderung und Verzweiflung. Er hatte sie geheiratet, weil sie ihren eigenen Kopf besaß, und er liebte sie aus eben diesem Grund, aber er wünschte sich, er könne sie, wenigstens einmal, von irgendetwas überzeugen. Stattdessen sagte er: »Tja, ich bleib, wo ich bin, Schatz. Sag Bescheid, wenn du bereit bist.«
Und dann begann er zu verblassen.
»Morris, hast du irgendeine Vorstellung, wie ich ihn finden kann?«, fragte sie. Aber das Bild ihres Mannes war gänzlich verschwunden, und im Fernsehen zeigten sie jetzt die Wettervorhersage.
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FAT CHARLIE traf sich mit Daisy zum Dim Sum in einem summend vollen Restaurant in Londons winzigem Chinesenviertel.
»Sie sehen gut aus«, sagte er.
»Danke«, sagte sie. »Ich fühle mich elend. Man hat mich vom Fall Grahame Coats abgezogen. Das ist jetzt eine ausgewachsene Morduntersuchung. Wahrscheinlich kann ich mich glücklich schätzen, dass ich überhaupt damit befasst war.«
»Tja«, sagte er heiter, »sonst hätten Sie ja gar nicht das Vergnügen gehabt, mich zu verhaften.«
»Auch wieder wahr.« Sie hatte immerhin den Anstand, etwas reuevoll dreinzublicken.
»Gibt’s irgendwelche Spuren?«
»Selbst wenn es sie gäbe«, sagte sie, »könnte ich Ihnen nichts darüber sagen.« Ein kleiner Servierwagen wurde an ihren Tisch gerollt, und Daisy wählte mehrere Gerichte aus.
»Es gibt eine Theorie, nach der Grahame Coats von einer Kanalfähre gesprungen sei. Das war der letzte registrierte Kauf auf einer seiner Kreditkarten: eine Tageskarte nach Dieppe.«
»Halten Sie das für wahrscheinlich?«
Sie klemmte einen Kloß zwischen ihre Essstäbchen, führte ihn zum Mund.
»Nein«, sagte sie. »Meine Vermutung ist, dass er in ein Land ohne Auslieferungsabkommen gegangen ist. Wahrscheinlich Brasilien. Der Mord an Maeve Livingstone war unter Umständen eine Spontanhandlung, aber alles andere war systematisch geplant. So richtig akribisch. Geld ist auf Kundenkonten geflossen. Grahame hat seine fünfzehn Prozent Abschlag genommen, und Daueraufträge haben dafür gesorgt, dass noch eine ganze Menge nachgekommen ist.
Viele ausländische Schecks sind von vornherein nicht auf den Kundenkonten gelandet. Bemerkenswert ist, wie lange er dieses Spiel durchhalten konnte.«
Fat Charlie kaute auf einem Reisbällchen mit etwas Süßem darin. Er sagte: »Ich glaube, Sie wissen, wo er ist.«
Daisy hörte auf, ihren Kloß zu zermalmen.
»Irgendwas in der Art, wie Sie sagten, dass er wahrscheinlich in Brasilien sei. Es klang so, als wüssten Sie, dass er dort nicht ist.«
»Das wäre Sache der Polizei«, sagte sie. »Und ich fürchte, dass ich mich dazu nicht äußern kann. Wie geht’s Ihrem Bruder?«
»Ich weiß nicht. Ich glaube, er ist verschwunden. Sein Zimmer war nicht da, als ich nach Hause kam.«
»Sein Zimmer?«
»Seine Sachen. Er hatte seine Sachen mitgenommen. Und seither kein Lebenszeichen von ihm.« Fat Charlie schlürfte seinen Jasmintee. »Ich hoffe, es geht ihm gut.«
»Warum sollte es nicht?«
»Na ja, er hat die gleiche Phobie wie ich.«
»Die Sache mit den Vögeln. Alles klar.« Daisy nickte mitfühlend. »Und wie geht’s der Verlobten und der zukünftigen Schwiegermutter?«
»Ähm. Ich glaube, dass beide Bezeichnungen gegenwärtig, äh, keine Gültigkeit beanspruchen können.«
»Ah.«
»Sie sind weg.«
»War die Verhaftung der Grund dafür?«
»Nicht, dass ich wüsste.«
Sie sah ihn an wie ein gutherziger Kobold. »Tut mir leid.«
»Na ja«, sagte er. »Im Moment habe ich keinen Job. Ich habe kein Liebesleben, und meine Nachbarn sind – hauptsächlich dank Ihrer Bemühungen – davon überzeugt, dass ich ein Killer in Diensten einer jamaikanischen Bande bin. Einige gehen jetzt immer auf die andere Straßenseite, wenn sie mich sehen. Auf der anderen Seite möchte mein Zeitungshändler, dass der Typ, der seine Tochter geschwängert hat, eine Lektion erteilt bekommt.«
»Was haben Sie ihm gesagt?«
»Die Wahrheit. Ich glaube aber nicht, dass er mir geglaubt hat. Er hat mir eine Gratistüte Cheese-and-OnionChips und eine Packung Minzbonbons in die Hand gedrückt und meinte, davon gäbe es noch jede Menge mehr, wenn der Job erledigt sei.«
»Das wird vorbeigehen.«
Fat Charlie seufzte. »Es ist beschämend.«
»Trotzdem«, sagte sie. »Es ist nicht grad das Ende der Welt.«
Sie teilten sich die Rechnung, und mit dem Wechselgeld bekamen sie noch zwei Glückskekse.
»Was steht auf Ihrem?« fragte Fat Charlie.
»Beharrlichkeit führt zum Ziel‹, las sie. »Und auf Ihrem?«
»Das Gleiche wie bei Ihnen«, sagte er. »Gute alte Beharrlichkeit.« Er zerknüllte den Zettel mit dem Sinnspruch zu einer erbsengroßen Kugel und stopfte diese in seine Tasche. Er begleitete Daisy zur U-Bahn-Station am Leicester Square.
»Sieht so aus, als sei’s Ihr Glückstag«, sagte Daisy.
»Wie meinen Sie?«
»Keine Vögel hier.«
Es stimmte, was sie sagte, Fat Charlie sah es sofort. Es waren weder Tauben noch Stare da. Nicht der kleinste Spatz.
»Aber auf dem Leicester Square sind immer Vögel.«
»Heute nicht«, sagte sie. »Vielleicht haben sie was anderes zu tun.«
Sie blieben vor der Station stehen, und einen närrischen Moment lang dachte Fat Charlie, sie würde ihm einen Abschiedskuss geben. Sie tat es nicht. Sie lächelte nur und sagte: »Machen Sie’s gut«, und er machte eine unbestimmte Geste mit der Hand, die man unter Umständen als Winken interpretieren konnte, genauso gut aber auch als unwillkürliches Zucken, und schon war sie die Treppe hinunter und seinen Blicken entschwunden.
Fat Charlie kreuzte Leicester Square, ging Richtung Piccadilly Circus.
Er zog den Glückskekszettel aus seiner Tasche und entknüllte ihn. »Treffe dich beim Eros«, stand darauf und daneben war etwas hastig Dahingemaltes; es sah aus wie ein großes Sternchen, ein Asteriskus, möglich aber auch, dass es eine Spinne sein sollte.
Er suchte beim Gehen den Himmel ab und die Gebäude ringsum, aber es waren keine Vögel zu sehen, und das war überaus merkwürdig, denn in London gab es immer Vögel. Überall waren zu jeder Zeit Vögel.
Spider saß unter der Statue und las die News of the World. Er blickte auf, als Fat Charlie sich näherte.
»Es ist in Wirklichkeit nicht Eros, weißt du«, sagte Fat Charlie. »Sondern der Engel der Barmherzigkeit.«
»Warum ist er dann nackt und hat Pfeil und Bogen in der Hand? Das kommt mir nicht besonders engelhaft oder barmherzig vor.«
»Ich gebe nur weiter, was ich gelesen habe«, sagte Fat Charlie. »Wo warst du? Ich habe mir schon Sorgen gemacht.«
»Das war nicht nötig. Ich bin nur den Vögeln aus dem Weg gegangen, hab versucht zu kapieren, was hier abgeht.«
»Ist dir aufgefallen, dass heute keine Vögel unterwegs sind?«, sagte Fat Charlie.
»Allerdings. Und ich weiß echt nicht, was ich davon halten soll. Aber ich habe nachgedacht. Und weißt du«, sagte Spider, »an der ganzen Sache ist irgendwas faul.«
»Ich kann dir auch sagen was: alles«, sagte Fat Charlie.
»Nein, ich meine, es ist etwas faul daran, dass die Vogelfrau uns ans Leder will.«
»Jawohl. Es ist faul. Es ist gemein, und es gehört sich nicht. Willst du es ihr sagen, oder soll ich?«
»Nein, faul nicht in dem Sinne. Eher, was die Logik betrifft. Denk doch mal nach ich meine, wenn man den Hitchcock-Film mal außen vor lässt, sind Vögel nicht das ideale Mittel, um jemandem ans Leder zu wollen. Sie mögen der geflügelte Tod für Insekten sein, aber sie sind wirklich nicht besonders gut geeignet dafür, Menschen anzugreifen. In Millionen von Jahren haben sie gelernt, dass es wahrscheinlicher ist, dass die Menschen sie fressen, als umgekehrt. Ihr Instinkt sagt, ihnen, dass sie uns in Ruhe lassen sollten.«
»Nicht alle«, sagte Fat Charlie. »Nicht die Geier. Oder Raben. Aber die tauchen erst auf dem Schlachtfeld auf, wenn der Kampf vorbei ist. Warten darauf, dass du stirbst.«
»Was?«
»Ich sagte, außer den Geiern und Raben. Ich meinte nicht …«
»Nein.« Spider konzentrierte sich. »Nein, es ist wieder weg. Du hattest mich auf irgendwas gestoßen, und ich hatte es beinahe zu fassen bekommen. Hör mal, hast du Mrs. Dunwiddy schon erreicht?«
»Ich habe bei Mrs. Higgler angerufen, aber da geht keiner ran.«
»Na, fahr hin und rede mit ihnen.«
»Du hast gut reden, aber ich bin pleite. Vollkommen blank. Ich kann nicht andauernd über den Atlantik fliegen und wieder zurück. Ich habe nicht mal mehr Arbeit. Ich bin …«
Spider griff in seine schwarzrote Jacke und zog eine Brieftasche hervor. Er entnahm ihr ein Bündel Geldscheine in allerlei Währungen, das er Fat Charlie in die Hand drückte. »Hier. Das sollte reichen, um hinund wieder zurückzukommen. Sieh halt zu, dass du die Feder mitbringst.«
Fat Charlie sagte: »Hör zu. Ist dir schon mal der Gedanke gekommen, dass Dad vielleicht gar nicht tot ist?«
»Was?«
»Na ja, wenn man es sich überlegt. Vielleicht war das einer von seinen lustigen Streichen. Es kommt einem so vor wie etwas, das er fertigbringen würde, oder?« Spider sagte: »Ich weiß nicht. Könnte sein.«
Fat Charlie sagte: »Mit Sicherheit. Das ist jedenfalls das Erste, was ich tun werde. Ich werde zu seinem Grab gehen und …«
Aber dann sagte er weiter nichts mehr, denn dies war der Moment, als die Vögel kamen. Es waren Stadtvögel: Spatzen und Stare, Tauben und Krähen, tausende und abertausende, die in dichten Reihen, wie ein großer wogender Teppich durch die Regent Street auf Fat Charlie und Spider zugeflogen kamen. Eine gefiederte Phalanx, gewaltig wie die Seitenwand eines Wolkenkratzers, vollkommen flach, vollkommen unmöglich, alles immerzu in Bewegung, flatternd, wogend, herabtauchend. Fat Charlie sah es mit den Augen, aber es wollte ihm nicht in den Kopf, es passte nicht, rutschte weg, entzog sich dem Verständnis. Er starrte nach oben und versuchte zu interpretieren, was er sah.
Spider riss an Fat Charlies Ellbogen. Er rief: »Lauf weg!«
Fat Charlie schickte sich an loszulaufen. Spider faltete systematisch seine Zeitung zusammen, steckte sie in den Abfallkorb.
»Du musst auch laufen!«
»Hinter dir ist es nicht her. Noch nicht«, sagte Spider und grinste. Es war ein Grinsen, das zu seiner Zeit mehr Leute, als man sich vorstellen kann, überredet hatte, Dinge zu tun, die sie gar nicht tun wollten, und Fat Charlie wollte wirklich weglaufen. »Finde die Feder. Finde auch Dad, wenn du glaubst, dass er sich da immer noch irgendwo herumtreibt. Aber mach jetzt.«
Fat Charlie machte.
Die Wand aus Vögeln verwandelte sich jetzt, wurde zu einem Wirbelwind, der auf die Statue des Eros und den Mann darunter zuschoss. Fat Charlie rannte in einen Hauseingang und beobachtete, wie der Sockel des dunklen Tornados über Spider hereinbrach. Er glaubte seinen Bruder über das ohrenbetäubende Schwirren der Flügel hinweg schreien zu hören.
Und dann zerstreuten die Vögel sich, und die Straße war leer. Der Wind trieb eine Handvoll von Federn über das graue Pflaster.
Fat Charlie stand fassungslos da. Keiner der Passanten ließ in irgendeiner Weise erkennen, dass er bemerkt hätte, was geschehen war. Irgendwie war Fat Charlie sich sicher, dass niemand außer ihm etwas mitbekommen hatte.
Eine Frau stand unter der Statue, unweit des Punktes, wo eben noch sein Bruder gewesen war. Ihr zerschlissener brauner Mantel flatterte im Wind. Fat Charlie ging auf sie zu. »Hör mal«, sagte er, »als ich sagte, ich wollte ihn loswerden, da meinte ich nur, dass er aus meinem Leben verschwinden soll. Von solchen Sachen wie eben war nicht die Rede.«
Sie sah ihm ins Gesicht und sagte nichts. Es liegt ein Irrsinn in den Augen mancher Raubvögel, eine Wildheit, die überaus einschüchternd sein kann. Fat Charlie versuchte sich nicht einschüchtern zu lassen. »Ich habe einen Fehler gemacht«, sagte er. »Ich bin bereit, dafür zu zahlen. Nimm mich an seiner Stelle. Bring ihn zurück.«
Sie starrte ihn weiter an. Dann sagte sie: »Zweifle nicht, dass auch du an die Reihe kommst, Compé Anansis Kind. Zu gegebener Zeit.«
»Warum willst du ihn haben?«
»Ich will ihn nicht haben«, sagte sie. »Warum sollte ich? Ich war jemandem verpflichtet. Jetzt werde ich ihn abliefern, und dann ist meine Verpflichtung erfüllt.«
Die Zeitung flatterte, und Fat Charlie war allein.