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IN DEM
FAT CHARLIE
ES SELBST MIT DEM TAXI
NICHT BIS
NACH HAUSE
SCHAFFT
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DAISY ERWACHTE vom Klingeln des Weckers, streckte und räkelte sich im Bett wie eine junge Katze. Sie konnte die Dusche hören, woraus folgte, dass ihre Mitbewohnerin bereits auf war. Sie zog einen flauschigen rosa Morgenmantel über und trat in den Flur.
»Möchtest du Porridge zum Frühstück?«, rief sie durch die Badezimmertür.
»Muss nicht sein. Aber wenn du welchen machst, ess ich ihn.«
»Du hast es echt drauf, einen mit deiner Begeisterung anzustecken«, sagte Daisy, schlurfte in die kleine Küche und setzte den Haferbrei auf.
Sie ging zurück in ihr Zimmer und zog ihre Arbeitskleidung an, anschließend betrachtete sie sich im Spiegel. Sie verzog das Gesicht. Sie band die Haare zu einem festen Knoten am Hinterkopf.
Ihre Mitbewohnerin Carol, eine schmalgesichtige Weiße aus Preston, beugte den Oberkörper durch die Tür. Sie hatte ein Handtuch um den Kopf und rubbelte sich energisch die Haare trocken. »Das Bad gehört jetzt ganz dir. Wie ist der Stand beim Porridge?«
»Muss wahrscheinlich mal umgerührt werden.«
»Wo warst du eigentlich letztens die ganze Nacht? Du wolltest doch mit Sybilla Geburtstag feiern gehen, und ich hab nur gemerkt, dass du überhaupt nicht nach Hause gekommen bist.«
»Sei mal nicht so neugierig.« Daisy ging in die Küche, um den Brei umzurühren. Sie gab eine Prise Salz hinzu und rührte noch einmal. Sie ließ die zähe Masse in zwei Schüsseln schwappen, die sie auf den Esstresen stellte.
»Carol? Der Porridge wird kalt!«
Carol kam herbei, setzte sich, starrte auf den Haferbrei. Sie war erst halb angezogen. »Eigentlich ist das kein richtiges Frühstück, oder? Zu einem richtigen Frühstück, wenn du mich fragst, gehören Rührei, Würste, Black Pudding und gegrillte Tomaten.«
»Wenn du es zubereitest«, sagte Daisy, »bin ich dabei.« Carol streute einen Teelöffel voll Zucker auf ihren Porridge. Sie betrachtete das Ergebnis. Dann streute sie noch einen dazu. »Von wegen. Das sagst du nur so. Aber in Wirklichkeit würdest du dich die ganze Zeit über den Cholesteringehalt auslassen und darüber, was gebratenes Essen mit deinen Nieren anstellt.« Sie kostete vom Brei, als befürchte sie, er könnte zurückbeißen. Daisy reichte ihr einen Becher Tee. »Du und deine Nieren. Apropos, das wäre vielleicht auch mal eine schöne Abwechslung. Hast du schon mal Nieren gegessen, Daisy?«
»Einmal«, sagte Daisy. »Wenn du mich fragst, kannst du den gleichen Effekt auch dadurch erreichen, dass du ein halbes Pfund Leber grillst und dann drüberpinkelst.«
Carol rümpfte die Nase. »Das hätte jetzt nicht nötig getan.«
»Iss deinen Brei.«
Sie aßen ihren Porridge und tranken ihren Tee. Sie stellten die Schüsseln in die Spülmaschine, die sie aber, da sie noch nicht voll war, nicht in Gang setzten. Dann stiegen sie ins Auto, um zur Arbeit zu fahren. Carol, inzwischen in Uniform, saß am Steuer.
Daisy ging zu ihrem Schreibtisch, der in einem Raum voller leerer Schreibtische stand.
Das Telefon klingelte, als sie sich auf ihren Stuhl setzte.
»Daisy? Sie kommen zu spät.«
Sie blickte auf ihre Armbanduhr. »Nein«, sagte sie. »Das stimmt nicht, Sir. Gibt es sonst noch etwas, was ich heute Morgen für Sie tun kann, Sir?«
»Aber hallo. Sie können einen Menschen namens Coats anrufen. Er ist ein Freund vom Chief Super. Beide Fans von Crystal Palace. Er hat mir deswegen heute Morgen schon zweimal gesimst. Wer hat dem Chief Superintendent das Simsen beigebracht, würde ich gern mal wissen?«
Daisy notierte sich die Einzelheiten und wählte die Telefonnummer. Ihren besten geschäftsmäßigen und kompetenten Ton anschlagend, sagte sie: »Kriminalmeisterin Day hier. Was kann ich für Sie tun?«
»Ah«, sagte eine männliche Stimme. »Nun, wie ich schon zum Chief Superintendent sagte gestern Abend, ein großartiger Mann, alter Freund von mir. Sehr guter Mann. Er legte mir nahe, ich sollte mit jemandem aus Ihrer Abteilung sprechen. Ich möchte etwas anzeigen. Nun ja, ich bin mir eigentlich nicht völlig sicher, ob überhaupt eine Straftat vorliegt. Wahrscheinlich gibt es eine ganz und gar einleuchtende Erklärung. Es hat gewisse Unregelmäßigkeiten gegeben und, nun, um ganz offen zu sprechen, habe ich meinem Buchhalter ein paar Wochen freigegeben, derweil ich in Ruhe der Möglichkeit auf den Grund gehen kann, dass er sich unter Umständen in gewisse, hmm, finanzielle Unregelmäßigkeiten verstrickt hat.«
»Lassen Sie uns doch zu den Details kommen«, sagte Daisy. »Wie lautet Ihr voller Name, Sir? Und der Name des Buchhalters?«
»Ich heiße Grahame Coats«, sagte der Mann am anderen Ende der Leitung. »Von der Grahame-Coats-Agentur. Mein Buchhalter ist ein Mann namens Nancy. Charles Nancy.«
Sie schrieb sich beide Namen auf. Mit keinem von beiden konnte sie etwas anfangen.
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FAT CHARLIE hatte die Absicht, sich Spider vorzuknöpfen, sobald dieser nach Hause kam. Er hatte das Streitgespräch in Gedanken geprobt, immer wieder, und jedes Mal war er, eindeutig und verdientermaßen, als Sieger daraus hervorgegangen.
Spider war jedoch letzte Nacht nicht nach Hause gekommen und Fat Charlie schließlich vor dem Fernseher eingeschlafen, nachdem er noch einige Zeit mit halbem Auge eine chaotische Gameshow für notgeile Schlafgestörte verfolgt hatte, die anscheinend unter dem Titel Zeig uns deinen Hintern! lief.
Er erwachte, auf dem Sofa liegend, als Spider die Vorhänge aufzog. »Wunderschöner Tag«, sagte Spider.
»Du!«, sagte Fat Charlie. »Du hast Rosie geküsst. Versuch nicht, es zu leugnen.«
»Ich musste«, sagte Spider.
»Wie, was heißt das, du musstest? Es hat dich doch keiner gezwungen!«
»Sie dachte, ich wär du.«
»Na ja, du wusstest aber, dass du nicht ich bist. Du hättest sie nicht küssen sollen.«
»Wenn ich mich aber geweigert hätte, sie zu küssen, hätte sie gedacht, dass du derjenige bist, der sie nicht küssen will.«
»Ich war es aber nicht.«
»Das wusste sie doch nicht. Ich wollte nur helfen.«
»Jemandem zu helfen«, sagte Fat Charlie vom Sofa aus,
»beinhaltet, grundsätzlich gesprochen, nicht, dass man die Verlobte des Betreffenden küsst. Du hättest sagen können, dass du Zahnschmerzen hast.«
»Das«, sagte Spider rechtschaffen, »wäre gelogen gewesen.«
»Aber du warst doch schon am Lügen! Du hast so getan, als wärest du ich!«
»Na ja, es hätte die Lüge jedenfalls noch verschlimmert«, erklärte Spider. »Und ich habe das alles ja nur getan, weil du absolut nicht in der Lage warst, zur Arbeit zu gehen. Nein«, sagte er, »ich hätte die Lüge nicht noch weitertreiben können. Da hätte ich mich ganz erbärmlich gefühlt.«
»Also, ich habe mich erbärmlich gefühlt. Ich musste zugucken, wie du sie geküsst hast.«
»Ah«, sagte Spider. »Sie dachte aber, dass sie dich küsst.«
»Hör auf, das hast du jetzt oft genug gesagt!«
»Du solltest dich geschmeichelt fühlen«, sagte Spider.
»Möchtest du zu Mittag essen?«
»Zu Mittag? Natürlich nicht. Wie spät ist es?«
»Mittagszeit«, sagte Spider. »Und du kommst schon wieder zu spät ins Büro. Ein Glück, dass ich nicht wieder für dich eingesprungen bin, wenn das der ganze Dank ist, den ich dafür kriege.«
»Ja, ist schon gut«, sagte Fat Charlie. »Ich habe zwei Wochen freibekommen. Und dazu noch eine Extrazahlung.«
Spider lüpfte eine Augenbraue.
»Pass auf.« Fat Charlie hatte das Gefühl, dass es Zeit wurde, in die zweite Bunde des Streitgesprächs einzutreten.
»Nicht, dass ich dich loswerden wollte oder so, aber ich habe mich gefragt, wann du die Absicht hast, wieder abzureisen?«
Spider sagte: »Tja, als ich hier ankam, hatte ich geplant, nur einen Tag zu bleiben. Oder vielleicht zwei. Lang genug, meinen kleinen Bruder kennenzulernen und mich dann wieder auf den Weg zu machen. Ich bin ein viel beschäftigter Mann.«
»Also reist du heute ab.«
»Das war mein Plan«, sagte Spider. »Aber dann habe ich dich kennengelernt. Ich kann nicht glauben, dass wir fast ein ganzes Leben haben verstreichen lassen, ohne einander zu sehen, mein Bruder.«
»Ich schon.«
»Die Bande des Blutes«, sagte Spider, »sind stärker als Wasser.«
»Wasser ist nicht besonders stark.«
»Dann eben stärker als Wodka. Oder Vulkane. Oder, oder Salmiakgeist. Hör zu, worauf ich hinauswill: Dir begegnet zu sein, das ist na ja, ein Privileg. Wir haben all die Jahre nicht am Leben des anderen teilgenommen, aber das ist jetzt Vergangenheit. Lassen wir heute eine neue Zukunft beginnen. Das Gestern treten wir in die Tonne, und wir schmieden neue Bande – brüderliche Bande.«
»Du bist total hinter Rosie her«, sagte Fat Charlie.
»Total«, bestätigte Spider. »Was willst du dagegen tun?«
»Dagegen tun? Nun, sie ist meine Verlobte.«
»Keine Sorge. Sie glaubt, ich bin du.«
»Hörst du wohl auf, das immer zu wiederholen?«
Spider breitete die Arme aus, eine Geste des demutsvollen Einlenkens, die er jedoch umgehend dadurch ruinierte, dass er sich die Lippen leckte.
»Und?«, sagte Fat Charlie. »Was hast du als Nächstes vor? Sie heiraten, unter dem Vorwand, du seist ich?«
»Heiraten?« Spider hielt inne und dachte kurz nach.
»Welch. Schreckliche. Vorstellung.«
»Na ja, also ich habe mich eigentlich ziemlich darauf gefreut.«
»Spider heiratet nicht. Ich bin nicht der Typ zum Heiraten.«
»Meine Rosie ist also nicht gut genug für dich, willst du das damit sagen, ja?«
Spider antwortete nicht. Er ging aus dem Zimmer.
Fat Charlie hatte das Gefühl, er habe – irgendwie – obsiegt in diesem Streitgespräch. Er erhob sich vom Sofa, sammelte die leeren Folienpackungen ein, die am Abend zuvor einmal Hühnchen-Chow-Mein und einmal knusprige Schweinefleischbällchen enthalten hatten, und warf sie in den Mülleimer. Er ging ins Schlafzimmer, wo er die Sachen auszog, in denen er geschlafen hatte, und anschließend in etwas Sauberes schlüpfen wollte, jedoch feststellen musste, dass gar keine sauberen Sachen vorhanden waren, da er das Wäschewaschen zuletzt offenbar vernachlässigt hatte, und sich deshalb damit begnügte, die Kleider von gestern energisch abzubürsten wobei der eine oder andere Chow-Mein-Rest zu Roden fiel – und sie dann wieder anzuziehen.
Er ging in die Küche.
Spider saß am Tisch und widmete sich genussvoll einem Steak, das auch für zwei Personen gereicht hätte.
»Wo hast du das her?«, fragte Fat Charlie, obwohl er die Antwort bereits ziemlich sicher zu kennen glaubte.
»Ich hab dich gefragt, ob du zu Mittag essen wolltest«, sagte Spider sanft.
»Woher hast du das Steak?«
»Es lag im Kühlschrank.«
»Das«, deklamierte Fat Charlie und fuchtelte dabei mit dem Zeigefinger wie ein Staatsanwalt, der den entscheidenden Schlag gegen den Angeklagten führt, »das war das Steak, das ich fürs Essen heute Abend gekauft habe. Abendessen für mich und Rosie. Das Essen, was ich für sie machen wollte! Und du sitzt da seelenruhig wie jemand, der, äh, der ein Steak isst, und, und isst es einfach und …«
»Ist doch kein Problem«, sagte Spider.
»Was heißt das, kein Problem?«
»Na ja«, sagte Spider, »ich hab heute Morgen schon mit Rosie telefoniert, und ich gehe heute Abend mit ihr essen. Du hättest das Steak also eh nicht gebraucht.«
Fat Charlie machte den Mund auf. Klappte ihn wieder zu. »Ich will, dass du gehst«, sagte er schließlich.
»Es ist immer besser, wenn der Mensch nach mehr, äh, dings – trachtet oder so – als er bekommen kann, oder wozu gibt es einen Himmel?«, sagte Spider zwischen zwei herzhaften Bissen von Fat Charlies Steak.
»Was zum Teufel soll das jetzt wieder heißen?«
»Es heißt, dass ich nicht weggehe. Mir gefällt es hier.« Er säbelte ein weiteres Stück Steak ab, schaufelte es sich zwischen die Zähne.
»Raus«, sagte Fat Charlie, und dann klingelte das Telefon im Flur. Fat Charlie seufzte, trat in den Flur, nahm den Hörer ab. »Was ist?«
»Ah, Charles. Schön, Ihre Stimme zu hören. Ich weiß, Sie genießen gerade Ihren hochverdienten und so weiter, aber was meinen Sie, würde es eventuell im Bereich des Möglichen liegen, dass Sie morgen Vormittag mal ganz kurz vorbeikämen, für, na, ein halbes Stündchen oder so? Sagen wir, so um zehn Uhr rum?«
»Ja. Klar«, sagte Fat Charlie. »Ist kein Problem.«
»Das höre ich mit Vergnügen. Ich benötige nur ein paar Unterschriften von Ihnen. Also, bis dann.«
»Wer war das?«, fragte Spider. Er hatte aufgegessen und wischte sich den Mund mit einem Haushaltstuch ab.
»Grahame Coats. Er möchte, dass ich morgen kurz reinschaue.«
Spider sagte: »Er ist ein Scheißkerl.«
»Na und? Du bist auch ein Scheißkerl.«
»Andere Sorte Scheißkerl. Bei dem ist was faul. Du solltest dir einen anderen Job suchen.«
»Ich liebe meinen Job!« Fat Charlie sagte es mit ehrlicher Überzeugung. Es gelang ihm, voll und ganz zu vergessen, wie sehr ihm sein Job missfiel, und die ganze Grahame-Coats-Agentur, und zumal die grässliche, hinter jeder Tür lauernde Erscheinung des Vorgesetzten Grahame Coats selbst.
Spider erhob sich. »Schönes Stück Steak war das«, sagte er. »Ich hab meine Sachen in deinem Gästezimmer untergebracht.«
»Was hast du?«
Fat Charlie eilte ans andere Ende des Flurs, wo es ein Zimmer gab, das seine Bleibe formal in den Rang einer Zweizimmerwohnung erhob. Das Zimmer enthielt mehrere Bücherkartons, eine Kiste, in der eine angejahrte Autorennbahn verstaut war, einen mit Spielzeugautos (überwiegend ohne Räder) gefüllten Blechkasten und diverse andere verbeulte Überreste aus Fat Charlies Kindheit. Vielleicht hätte es als annehmbar geräumiges Schlafzimmer für einen handelsüblichen Gartenzwerg oder auch einen zu klein geratenen echten Zwerg dienen können, doch für alle anderen war es nur ein Kleiderschrank mit Fenster.
Oder besser: war es bisher gewesen. Jetzt nicht mehr.
Fat Charlie riss die Tür auf und blieb blinzelnd im Flur stehen.
Da war ein Zimmer, ja, so viel konnte man nach wie vor feststellen, aber es war jetzt ein gewaltig großes Zimmer. Ein prachtvolles Zimmer. Es gab Fenster auf der gegenüberliegenden Seite, riesige Panoramafenster, die Ausblick auf einen Wasserfall zu gewähren schienen. Jenseits des Wasserfalls stand die tropische Sonne tief am Horizont und tauchte alles in ihr goldenes Licht. Da war ein Kamin, groß genug, dass man einen ganzen Ochsen darin grillen konnte, in dem drei brennende Scheite knackten und Funken spuckten. In einer Zimmerecke hing eine Hängematte, dazu gab es ein strahlend weißes Sofa und ein Bett mit vier Pfosten. In der Nähe des Kamins befand sich etwas, das Fat Charlie bisher ausschließlich in Zeitschriften gesehen hatte: Seiner Vermutung nach handelte es sich um eine Art Whirlpool. Ein Zebrafellteppich lag auf dem Boden, ein Bärenpelz hing an der Wand, und offenbar gab es auch eine von diesen topmodernen Stereoanlagen, die in der Hauptsache aus einem schwarz glänzenden Stück Plastik bestehen, das man durch Zuwinken bedient. An einer der Wände hing ein Flachbildschirm, der so breit war wie das Zimmer, das es hier mal gegeben hatte. Und das war noch längst nicht alles …
»Was hast du getan?«, fragte Fat Charlie. Er ging nicht hinein.
»Na ja«, sagte Spider, »wo ich doch jetzt ein paar Tage bleiben werde, dachte ich, stelle ich meine Sachen hier unter.«
»Deine Sachen unterstellen? Seine Sachen unterstellen, das sind vielleicht ein paar Tragetaschen mit Wäsche, einige PlayStation-Spiele und eine Topfpflanze. Das hier ist … also, dies hier …« Ihm fehlten die Worte.
Spider klopfte Fat Charlie auf die Schulter, während er sich an ihm vorbeischob. »Wenn du mich brauchst«, sagte er zu seinem Bruder, »ich bin in meinem Zimmer.« Und er machte die Tür hinter sich zu.
Fat Charlie rüttelte am Türknopf. Die Tür war verschlossen.
Er ging ins Fernsehzimmer, holte das Telefon aus dem Flur und wählte Mrs. Higglers Nummer.
»Wer zum Teufel ruft in dieser Herrgottsfrühe an?«, sagte sie.
»Ich bin’s. Fat Charlie. Tut mir leid.«
»Na, und? Weswegen rufst du an?«
»Tja, ich wollte Sie um Rat bitten. Sehen Sie, mein Bruder ist hergekommen.«
»Dein Bruder.«
»Spider. Sie hatten mir von ihm erzählt. Sie hatten gesagt, ich soll einer Spinne Bescheid sagen, wenn ich ihn sehen will, und das hab ich gemacht und jetzt ist er hier.«
»Na ja«, sagte sie unverbindlich. »Das ist gut.«
»Eben nicht.«
»Warum nicht? Er gehört zur Familie, oder?«
»Hören Sie, ich kann das jetzt nicht näher ausführen. Ich möchte einfach, dass er wieder verschwindet.«
»Hast du versucht, ihn nett darum zu bitten?«
»Das haben wir gerade alles durch. Er sagt, dass er nicht weggeht. Er hat hier in meinem Abstellzimmer irgendwas hingestellt, das aussieht wie der Freudenpalast des Kubla Khan, und ich meine, in dieser Gegend braucht man schon eine behördliche Genehmigung, wenn man sich nur Doppelglasfenster einsetzen lassen will. Er hat eine Art Wasserfall vor dem Fenster. Und er ist hinter meiner Verlobten her.«
»Woher weißt du das?«
»Hat er selbst gesagt.«
Mrs. Higgler sagte: »Ich bin einfach nicht auf der Höhe, bevor ich meinen Kaffee getrunken hab.«
»Ich will nur wissen, was ich machen muss, damit er verschwindet.«
»Ich weiß es nicht«, sagte Mrs. Higgler. »Ich sprech mal mit Mrs. Dunwiddy.« Sie legte auf.
Fat Charlie ging wieder zurück zum anderen Flurende und klopfte an die Tür.
»Was denn jetzt schon wieder?«
»Ich möchte mit dir reden.«
Die Tür ging mit einem Klicken auf. Fat Charlie trat ins Zimmer. Spider saß nackt im Warmwasserbecken. Aus einem hohen, eisbeschlagenen Glas trank er etwas, das mehr oder weniger die Farbe von Elektrizität hatte. Das große Panoramafenster stand jetzt weit offen, und das Rauschen des Wasserfalls kontrastierte mit dem leisen, wohltönenden Jazz, der aus verborgenen Lautsprechern tropfte.
»Hör mal«, sagte Fat Charlie. »Du musst begreifen, dass dies mein Haus ist.«
Spider blinzelte. »Das hier?«, fragte er. »Das ist dein Haus?«
»Na, nicht direkt. Aber das Prinzip ist das Gleiche. Ich meine, wir sind hier in meinem Gästezimmer und du bist ein Gast. Ähm.«
Spider nippte an seinem Drink und ließ sich tiefer ins heiße Wasser sinken. »Es heißt«, sagte er, »dass Hausgäste
wie Fische sind. Nach drei Tagen fangen sie an zu stinken.«
»Gut beobachtet«, sagte Fat Charlie.
»Aber es ist hart«, sagte Spider. »Hart, wenn du deinen
Bruder ein ganzes Leben lang nicht gesehen hast. Hart, wenn er nicht mal wusste, dass du existierst. Und noch härter, wenn du ihn dann endlich zu sehen kriegst und erfahren musst, dass du in seinen Augen nichts Besseres bist als ein toter Fisch.«
»Aber«, sagte Fat Charlie.
Spider streckte sich in seiner Wanne aus. »Ich sag dir was«, sagte er. »Ich kann hier nicht ewig bleiben. Reg dich ab. Ich werde weg sein, ehe du dich versiehst. Und ich für mein Teil, ich werde dich nie als toten Fisch ansehen. Und mir ist klar, dass wir beide unter großem Stress stehen.
Sprechen wir also nicht mehr darüber. Mein Vorschlag: Geh doch ein bisschen aus und iss irgendwo etwas zu Mittag – lass deinen Haustürschlüssel ruhig hier –, und hinterher guckst du dir noch einen Film an.«
Fat Charlie zog seine Jacke an und ging nach draußen. Seinen Hausschlüssel legte er neben die Spüle. Die frische Luft war herrlich, obwohl es eigentlich ein trüber Tag war und der Himmel Nieselregen versprühte. Er kaufte sich eine Zeitung. Er machte an der Imbissbude halt und holte sich eine große Portion Pommes und eine schon ziemlich ramponierte Bratwurst zum Lunch. Da der Nieselregen inzwischen aufgehört hatte, setzte er sich auf eine Bank in einem Kirchhof, las seine Zeitung und aß Wurst mit Pommes.
Er hatte große Lust, sich einen Film anzusehen.
Er spazierte zum Odeon, kaufte sich eine Eintrittskarte für die erste Vorstellung. Es war ein Actionfilm und er lief schon, als er den Saal betrat. Es gab allerlei Explosionen. Es war toll.
Zwischendurch, mitten im Film, fiel Fat Charlie etwas ein, aber er kam nicht drauf, was es war. Es nagte irgendwo in seinem Kopf, wie ein Juckreiz hinterm Auge, und es lenkte ihn ständig ab.
Der Film ging zu Ende.
Fat Charlie merkte, dass der Film ihm zwar Spaß gemacht hatte, aber irgendwie nicht allzu viel davon hängen geblieben war. Also kaufte er sich eine große Tüte Popcorn und schaute ihn sich noch mal an. Beim zweiten Mal war er sogar noch besser.
Und auch beim dritten Mal.
Danach fasste er den Gedanken ins Auge, dass er vielleicht mal wieder nach Hause gehen sollte, aber für die Spätvorstellung war da noch ein Double-Feature mit Eraserhead und True Stories angesetzt, und er hatte beide Filme noch nie richtig gesehen, also guckte er sich diese auch noch an, obwohl er inzwischen wirklich hungrig war, was zur Folge hatte, dass er am Ende nicht genau wusste, wovon Eraserhead eigentlich handelte oder was die Frau in der Heizung zu suchen hatte, und er fragte sich, ob man ihm erlauben würde, noch dazubleiben und die Filme noch einmal zu sehen, aber von Seiten des Personals wurde ihm mit viel Geduld und in immer neuen Anläufen erklärt, dass das Kino für heute schließe, und schließlich erkundigte man sich, ob er denn kein Zuhause habe und ob es nicht langsam Zeit für ihn sei, ins Bett zu gehen?
Und das war natürlich auch der Fall, wenngleich er das eine wie das andere kurzzeitig aus den Augen verloren zu haben schien. Also wanderte er zurück nach Maxwell Gardens und war ein wenig überrascht, als er, sich dem Hause nähernd, feststellte, dass in seinem Schlafzimmer das Licht brannte.
Die Vorhänge waren zugezogen. Dennoch waren Umrisse von Personen zu erkennen, die sich vor dem Fenster bewegten. Er glaubte beide Umrisse zu erkennen.
Sie schwebten aufeinander zu, verschmolzen zu einem einzigen Schatten.
Fat Charlie stieß ein tiefes, entsetzliches Heulen aus.
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IN MRS. DUNWIDDYS HAUS GAB ES VIELE PLASTIKTIERE. Der Staub bewegte sich hier sehr langsam durch die Luft, als sei er an die Sonnenstrahlen einer geruhsameren Zeit gewöhnt und könne sich nicht recht anfreunden mit diesem modernen schnellen Licht. Auf dem Sofa lag ein durchsichtiger Plastiküberzug, und die Stühle knackten, wenn man sich darauf setzte.
In Mrs. Dunwiddys Haus gab es hartes, nach Kiefern duftendes Toilettenpapier – glänzende, unangenehme Pergamentstreifen. Mrs. Dunwiddy war eine Anhängerin der Sparsamkeit, und hartes, nach Kiefern duftendes Toilettenpapier war die Grundlage einer Kosten sparenden Haushaltsführung. Schließlich war hartes Toilettenpapier immer noch zu bekommen, wenn man nur lange genug danach suchte und notfalls auch bereit war, etwas mehr dafür zu bezahlen.
Mrs. Dunwiddys Haus roch nach Veilchenwasser. Es war ein altes Haus. Es wird gern vergessen, dass die Kinder der frühen Siedler in Florida bereits alte Männer und Frauen waren, als die mürrischen Puritaner in Plymouth Rock landeten. So weit allerdings ging die Geschichte des Hauses nicht zurück; es war in den 1920er Jahren im Zuge eines Landerschließungsprojekts gebaut worden und sollte als Muster für all jene hypothetischen Häuser dienen, die all die anderen stolzen Eigentümer dann aber doch nicht bauen konnten auf den von Alligatoren frequentierten Sumpfgrundstücken, die man ihnen verkauft hatte. Mrs. Dunwiddys Haus hatte zahlreiche Wirbelstürme überstanden, ohne auch nur einen Dachziegel einzubüßen.
Als es an der Tür klingelte, war Mrs. Dunwiddy damit beschäftigt, einen kleinen Truthahn zu füllen. Sie stieß einen missbilligenden Laut aus, wusch sich die Hände ab und ging dann, verkniffen durch die dicken, sehr dicken Brillengläser linsend und die linke Hand beim Gehen immer an die tapezierte Wand gestützt, durch den Flur zur Haustür.
Sie öffnete die Tür einen Spalt weit und spähte hinaus.
»Louella? Ich bin’s.« Es war Callyanne Higgler.
»Komm rein.« Mrs. Higgler folgte Mrs. Dunwiddy zurück in die Küche. Mrs. Dunwiddy hielt die Hände unter den Wasserhahn, dann fuhr sie fort, in eine Schüssel mit eingeweichtem Maisbrot zu greifen und dieses tief in den Truthahn hineinzustopfen.
»Erwartest du Gäste?«
Mrs. Dunwiddy brummte unverbindlich. »Es ist immer gut, wenn man vorbereitet ist«, sagte sie. »Also, wie wär’s, wenn du erzählst, was anliegt?«
»Nancys Junge. Fat Charlie.«
»Was ist mit ihm?«
»Tja, hab ihm von seinem Bruder erzählt, wie er letztens hier war.«
Mrs. Dunwiddy zog die Hand aus dem Truthahn. »Das ist noch nicht das Ende der Welt«, sagte sie.
»Hab ihm gesagt, wie er mit seinem Bruder Verbindung aufnehmen kann.«
»Ahh«, sagte Mrs. Dunwiddy. Die eine Silbe genügte, ihre Missbilligung auszudrücken. »Und?«
»Jetzt isser in England aufgetaucht. Und der Junge weiß nicht mehr weiter.«
Mrs. Dunwiddy nahm eine große Handvoll feuchtes Maisbrot und rammte sie mit einer Wucht in den Truthahn hinein, dass es diesem die Tränen in die Augen getrieben haben würde, hätte er noch welche besessen. »Wird ihn nicht wieder los?«
»Nee.«
Scharfe Augen linsten durch dicke Brillengläser. Dann sagte Mrs. Dunwiddy: »Hab’s einmal gemacht. Noch mal kann ich’s nicht. So jedenfalls nicht.«
»Ich weiß. Aber irgendwas müssen wir tun.«
Mrs. Dunwiddy seufzte. »Ist schon was dran an der Redensart. Wenn man nur lange genug lebt, muss man ir
gendwann alle alten Rechnungen begleichen.«
»Gibt’s keine andere Möglichkeit?«
Mrs. Dunwiddy war fertig mit dem Füllen des Truthahns. Mit einem Spieß, den sie durch die Hautlappen stach, verschloss sie die Öffnung. Dann wickelte sie den Vogel in Silberfolie ein.
»Ich schätze«, sagte sie, »ich werde morgen am späten Vormittag mit dem Garen anfangen. Dann ist er am Nachmittag so weit durch, und wenn ich ihn am frühen Abend noch mal in den heißen Ofen stelle, ist er zum Essen fertig.«
»Wer kommt denn zum Abendessen?«, fragte Mrs. Higgler.
»Du«, sagte Mrs. Dunwiddy, »Zorah Bustamonte, Bella Noles. Und Fat Charlie Nancy. Wenn der Junge hier ankommt, wird er mächtig Appetit haben.«
Mrs. Higgler sagte: »Er kommt hierher?«
»Hörst du mir zu, Mädchen?«, sagte Mrs. Dunwiddy. Niemand anders als Mrs. Dunwiddy konnte Mrs. Higgler als »Mädchen« bezeichnen, ohne albern zu klingen. »Und jetzt hilf mir mal, diesen Truthahn in den Kühlschrank zu kriegen.«
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OHNE ÜBERTREIBUNG darf man wohl festhalten, dass dieser Abend der bisher schönste in Rosies Leben war: zauberisch, vollkommen, rundum gelungen. Sie konnte gar nicht aufhören zu lächeln, selbst wenn sie gewollt hätte. Schon das Essen war fantastisch gewesen, und danach hatte Fat Charlie sie zum Tanzen ausgeführt. Es war ein richtiger Tanzsaal, mit einem kleinen Orchester und Leuten in pastellfarbener Kleidung, die über das Parkett glitten. Ihr kam es vor, als hätten sie gemeinsam eine Zeitreise angetreten und seien zu Besuch in einer sanfteren, liebenswürdigeren Epoche. Rosie hatte schon mit fünf Jahren den ersten Tanzunterricht genossen, doch sie hatte niemanden, der mit ihr tanzte.
»Ich wusste ja gar nicht, dass du tanzen kannst«, sagte sie.
»Es gibt so viel, was du nicht von mir weißt«, sagte er. Und das machte sie glücklich. Bald schon würden sie und dieser Mann verheiratet sein. Es gab so einiges, was sie von ihm nicht wusste? Hervorragend. Sie würde ein ganzes Leben Zeit haben, um es zu entdecken. Die verschiedensten Sachen.
Sie bemerkte, wie andere Frauen, und auch andere Männer, Fat Charlie ansahen, wenn sie an ihnen vorbeikamen, und wieder machte es sie glücklich, die Frau an seiner Seite zu sein.
Sie gingen durch Leicester Square, und Rosie konnte sehen, wie die Sterne hoch oben strahlten, ein gestochen scharfes Funkeln, trotz des grellen Lichts der Straßenlampen.
Unwillkürlich blitzte die Frage in ihr auf, warum es bisher noch nie so gewesen war mit Fat Charlie. Manchmal hatte Rosie, tief im Innern, schon den leisen Verdacht gehegt, dass sie mit Fat Charlie nur zusammenblieb, weil er ihrer Mutter so sehr missfiel; dass sie nur ja gesagt hatte, als er sie fragte, ob sie ihn heiraten wolle, weil ihre Mutter ein Nein von ihr erwartete …
Einmal hatte Fat Charlie sie ins West End ausgeführt.
Sie waren ins Theater gegangen. Es sollte ein Überraschungsgeschenk zu ihrem Geburtstag sein, aber es hatte irgendeine Verwechslung bei den Eintrittskarten gegeben, die, wie sich herausstellte, für den Tag davor ausgestellt waren; die Direktion hatte sich überaus verständnisvoll und hilfsbereit gezeigt, und so war es gelungen, für Fat Charlie noch einen Platz hinter einem Pfeiler im Parkett zu finden, während Rosie einen Sitz im oberen Rang bekam, direkt hinter einem zwanghaft dauerkichernden Damenkränzchen aus Norwich. Der Abend war, nach strengen Maßstäben gemessen, kein Erfolg gewesen.
Dieser heutige Abend jedoch, ja, dieser Abend war ein Wunder. Rosie hatte noch nicht viele vollkommene Momente in ihrem Leben genossen, doch in jedem Fall war deren Summe, ganz gleich, wie groß sie bislang gewesen sein mochte, soeben um ein ganz beträchtliches Stück gewachsen.
Es war einfach ein fantastisches Gefühl, mit ihm zusammen zu sein.
Und als das Tanzen zu Ende war, als sie, leicht benommen von der Bewegung und dem Sekt, in die Nacht hinausstolperten, da legte Fat Charlie und warum, dachte sie, war er für sie eigentlich Fat Charlie? Er war doch kein bisschen dick! – den Arm um sie und sagte: »So, und jetzt kommst du mit zu mir«, mit einer so tiefen und eindringlichen Stimme, dass ihr ganzer Unterleib zu vibrieren begann, und sie gab nicht zu bedenken, dass sie am nächsten Tag arbeiten müsse, wandte nicht ein, dass für dergleichen noch Zeit genug sei, sobald sie verheiratet waren, nein, gar nichts wandte sie ein, sagte keinen Ton, sondern dachte nur daran, dass dieser Abend nie vergehen sollte, und daran, wie gern – nein, wie dringend – sie diesen Mann auf die Lippen küssen und ihn in den Armen halten wollte.
Und dann, als ihr einfiel, dass sie wohl doch irgendetwas sagen sollte, sagte sie ja.
Im Taxi auf dem Weg zu ihm hielt sie seine Hände, lehnte sich an ihn und starrte auf sein Gesicht, das vom Licht der entgegenkommenden Autos und der Straßenlampen beleuchtet wurde.
»Du hast ein gepierctes Ohr«, sagte sie. »Wieso hab ich das vorher noch nie bemerkt?«
»Hey«, sagte er lächelnd, die Stimme im tiefsten Bassregister, »was glaubst du wohl, wie ich mich da fühle, wenn du solche Sachen nicht bemerkst, obwohl wir schon, na, wie lange zusammen sind?«
»Achtzehn Monate«, sagte Rosie.
»Achtzehn Monate lang«, sagte ihr Verlobter.
Sie schmiegte sich noch enger an ihn, atmete ihn ein.
»Ich liebe deinen Geruch«, sagte sie. »Hast du Parfüm aufgelegt?«
»Das bin einfach ich«, erklärte er.
»Also, du solltest dich in Flaschen abfüllen.«
Sie bezahlte das Taxi, während er die Haustür aufschloss. Sie stiegen die Treppe gemeinsam hinauf. Als sie oben angelangt waren, schien er merkwürdigerweise das Gästezimmer am hinteren Ende des Flurs ansteuern zu wollen.
»Na, weißt du«, sagte sie, »das Schlafzimmer ist doch hier, Dummchen. Wo willst du denn hin?«
»Nirgends. Das wusste ich«, sagte er. Sie gingen in Fat Charlies Schlafzimmer. Sie zog die Vorhänge zu. Dann sah sie ihn einfach nur an und war glücklich.
»Nun denn«, sagte sie nach einer Weile, »willst du nicht versuchen mich zu küssen?«
»Ich denke schon«, sagte er, und er tat es. Die Zeit schmolz zusammen, dehnte sich aus und krümmte sich. Sie mochte ihn eine Sekunde, eine Stunde oder auch ein ganzes Leben lang geküsst haben. Und dann …
»Was war das?«
Er sagte: »Ich hab nichts gehört.«
»Es klang, als habe jemand große Schmerzen.«
»Kämpfende Katzen vielleicht?«
»Es klang mehr wie ein Mensch.«
»Kann ein Stadtfuchs gewesen sein. Die klingen manchmal ganz schön ähnlich wie ein Mensch.«
Sie stand, den Kopf zur Seite geneigt, da und lauschte angestrengt. »Jetzt hat es aufgehört«, sagte sie. »Hmm. Willst du wissen, was wirklich seltsam ist?«
»Uh-hnh«, sagte er, seine Lippen jetzt an ihren Hals gedrückt. »Klar, erzähl mir, was wirklich seltsam ist. Aber ich hab es verscheucht. Es wird dich nicht weiter belästigen.«
»Richtig seltsam ist«, sagte Rosie, »dass es nach dir geklungen hat.«
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FAT CHARLIE lief durch die Strassen, versuchte klare Gedanken zu fassen. Am naheliegendsten wäre es wohl gewesen, an seine eigene Haustür zu klopfen, bis Spider hinunterkam und ihn einließ, und dann ihm, Spider, und Rosie kräftig die Meinung zu geigen. Es lag nahe, das zu tun. Geradezu aufdringlich nahe.
Er müsste nur zu seiner eigenen Wohnung zurückgehen, Rosie die ganze Sache erklären und Spider so sehr beschämen, dass dieser freiwillig das Feld räumte. Das war wirklich alles, was er tun musste. Was sollte daran so schwer sein?
Es war schwerer, als man denken würde, das stand fest. Er wusste nicht genau, warum er sich eigentlich von seiner Wohnung entfernt hatte. Noch weniger wusste er, wie er den Weg zurück finden sollte. Straßen, die er kannte – oder zu kennen glaubte, schienen seit Neuestem einen ganz anderen Verlauf zu nehmen. Unversehens fand er sich in Sackgassen wieder, lief unendliche Umwege und stolperte durch ein seltsam unvertrautes Gewirr von nächtlichen Wohnstraßen.
Manchmal erblickte er die Hauptstraße. Zu erkennen an den Ampeln und der Beleuchtung der Schnellrestaurants. Wenn er erst einmal auf der Hauptstraße war, dann würde er den Weg nach Hause ohne Weiteres finden, aber jedes Mal, wenn er auf diese Hauptstraße zusteuerte, landete er irgendwo anders.
Fat Charlies Füße begannen wehzutun. Sein Magen knurrte heftig. Er war wütend, und je länger er ging, desto wütender wurde er.
Die Wut machte den Kopf klar. Das Spinnennetz, das seine Gedanken umfing, löste sich langsam auf; das Netz der Straßen, durch die er lief, wurde weniger undurchdringlich. Er bog um eine Ecke und stand plötzlich auf der Hauptstraße, gleich neben einem rund um die Uhr geöffneten »New Jersey Fried Chicken«. Er bestellte sich eine Familienpackung Backhuhn, setzte sich an einen Tisch und aß alles auf, ohne jede Hilfe irgendwelcher Familienangehörigen. Als das erledigt war, stellte er sich auf den Bürgersteig und wartete, bis das freundlich leuchtende orange Licht eines großen schwarzen und vor allem freien Taxis in Sicht kam, dem er unverzüglich winkte. Es hielt an und das Fenster ging herunter.
»Wohin?«
»Maxwell Gardens«, sagte Fat Charlie.
»Wollense mich auf den Arm nehmen, oder was?«, fragte der Taxifahrer. »Das ist ja gleich um die Ecke.«
»Würden Sie mich bitte dorthin bringen? Ich geb Ihnen auch einen Fünfer extra. Ehrlich.«
Der Taxifahrer atmete durch zusammengebissene Zähne laut ein: Es war das Geräusch, das ein Kfz-Mechaniker macht, bevor er einen fragt, ob man gefühlsmäßig besonders an diesem Motor hänge. »Der Gast bestimmt und zahlt«, sagte er. »Springen Sie rein.«
Fat Charlie sprang. Das Taxi fuhr los, wartete an der Ampel, bog dann um die Ecke.
»Was sagten Sie, wo Sie hinwollten?«, fragte der Taxifahrer.
»Maxwell Gardens«, sagte Fat Charlie. »Nummer 34. Das ist gleich hinter dem Spirituosengeschäft.«
Er trug noch die Kleidung von gestern und wünschte sich, das wäre nicht der Fall. Seine Mutter hatte ihm beigebracht, er solle stets saubere Unterwäsche tragen für den Fall, dass er von einem Auto überfahren würde, und sich immer die Zähne putzen für den Fall, dass man ihn an Hand seiner Zahnabdrücke identifizieren müsste.
»Ich weiß, wo das ist«, sagte der Taxifahrer. »Das ist doch kurz vor Park Crescent.«
»Genau«, sagte Fat Charlie. Er war im Begriff, auf dem Rücksitz einzuschlafen.
»Ah, ich muss hier irgendwo falsch abgebogen sein«, sagte der Taxifahrer. Er klang ungehalten. »Ich stell das Taxameter ab, okay? Einigen wir uns auf einen Fünfer.«
»Klar«, sagte Fat Charlie, kuschelte sich in seinen Sitz und schlief. Das Taxi fuhr weiter durch die Nacht, versuchte irgendwie um die Ecke zu kommen.
————— KRIMINALMEISTERIN DAY, gegenwärtig für zwölf Monate zum Betrugsdezernat abkommandiert, traf um 9:30 Uhr in den Büroräumen der Grahame-Coats-Agentur ein. Grahame Coats erwartete sie am Empfang und führte sie dann in sein Büro.
»Möchten Sie einen Kaffee, Tee?«
»Nein, danke.« Sie schlug ein Notizbuch auf und sah ihn erwartungsvoll an.
»Also, ich kann gar nicht nachdrücklich genug betonen, dass Diskretion im Zentrum Ihrer Untersuchung stehen muss. Die Grahame-Coats-Agentur hat sich einen Ruf der Integrität und Lauterkeit erworben. Bei der GrahameCoats-Agentur ist das Geld der Kunden eine hochheilige, zu treuen Händen gehaltene Angelegenheit. Lassen Sie mich Ihnen sagen, dass ich, als sich erste Verdachtsmomente gegen Charles Nancy ergaben, diese zunächst sofort wieder verworfen habe, weil sie mir eines so anständigen Menschen und fleißigen Arbeiters unwürdig schienen. Hätten Sie mich vor einer Woche gefragt, was ich von Charles Nancy hielte, ich hätte Ihnen gesagt, er sei für mich die Rechtschaffenheit in Person.«
»Das glaube ich gern. Wann ist Ihnen denn aufgefallen, dass Geld von den Kundenkonten abgezogen worden sein könnte?«
»Nun, ich bin mir ja noch immer nicht sicher. Ich tue mich schwer, Anschuldigungen zu erheben. Oder den ersten Stein gewissermaßen. Richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet.«
Im Fernsehen, dachte Daisy, würde man jetzt sagen:
»Geben Sie mir einfach die Fakten.« Sie hätte das auch gerne gesagt, tat es aber nicht.
Sie mochte diesen Mann nicht.
»Ich habe alle ungewöhnlichen Transaktionen hier ausgedruckt«, sagte er. »Wie Sie sehen, wurden sie allesamt von Nancys Computer aus vorgenommen. Ich muss nochmals betonen, dass es hier unbedingt auf Diskretion ankommt: Zu den Kunden der Grahame-Coats-Agentur gehören eine ganze Reihe von prominenten Persönlichkeiten, und wie ich Ihrem Vorgesetzten schon gesagt habe, würden Sie mir einen großen Gefallen tun, wenn Sie diese Angelegenheit so still wie möglich abwickeln könnten. Diskretion muss Ihre Parole lauten. Falls wir zum Beispiel unseren Mister Nancy dazu überreden könnten, seinen unrechtmäßigen Gewinn einfach zurückzuerstatten, wäre ich sehr geneigt, es dabei zu belassen. Ich habe durchaus nicht den Wunsch, Anzeige zu erstatten.«
»Ich werde gern mein Möglichstes tun, aber letzten Endes sammeln wir nur Informationen und übergeben sie dann der Staatsanwaltschaft.« Sie fragte sich, wie viel Einfluss auf den Chief Super er tatsächlich hatte. »Also, wodurch wurde Ihr Verdacht geweckt?«
»Ah ja. Nun, wenn ich ganz offen sprechen darf, dann waren es gewisse Auffälligkeiten im Verhalten. Der Hund, der in der Nacht nicht gebellt hat. Wie tief die Petersilie in die Butter gesunken war. Wir Detektive sehen Bedeutsames in den kleinsten Dingen, nicht wahr, Detective Day?«
»Äh, es muss eigentlich Detective Constable Day heißen. Also, wenn Sie mir die Ausdrucke geben könnten«, sagte sie, »zusammen mit weiteren Unterlagen, Bankauszügen und dergleichen. Unter Umständen müssten wir auch seinen Computer mitnehmen, um uns die Festplatte genauer anzusehen.«
»Selbstverfreilich«, sagte er. Sein Schreibtischtelefon klingelte und – »wenn Sie mich kurz entschuldigen wollen?« – er nahm ab. »Er ist da? Ach herrje. Na gut, sagen Sie ihm, er soll eben kurz am Empfang auf mich warten. Ich stehe dann gleich zur Verfügung.« Er legte auf. »Das«, sagte er zu Daisy, »ist wohl das, was man in Polizeikreisen als einen glücklichen Zufall betrachtet.«
Sie hob eine Augenbraue.
»Das war der erwähnte Charles Nancy selbst, er will mich sprechen. Sollen wir ihn hereinbitten? Sie können, wenn nötig, mein Büro als Verhörzimmer benutzen. Und ich wette, ich hätte sogar auch einen Kassettenrekorder, den ich Ihnen leihen könnte.«
Daisy sagte: »Das wird nicht nötig sein. Ich muss mich als Erstes durch den ganzen Papierkram kämpfen.«
»Richtig, richtig«, sagte er. »Wie dumm von mir. Ähm, möchten Sie … möchten Sie ihn sich mal ansehen?«
»Ich kann mir nicht denken, welchen Nutzen das haben sollte«, sagte Daisy.
»Oh, ich würde ihm nicht sagen, dass Sie gegen ihn ermitteln«, versicherte Grahame Coats. »Anderenfalls hätte
er sich ja an die Costa del Criminale verdrückt, bevor wir auch nur Primafaciebeweis sagen könnten. Ich glaube, ehrlich gesagt, von mir behaupten zu dürfen, dass ich ein ausgeprägtes Verständnis für die Probleme moderner Polizeiarbeit habe.«
Daisy ertappte sich bei dem Gedanken, dass niemand, der diesem Mann Geld stahl, ein ganz und gar schlechter Mensch sein könne, was natürlich, das war ihr klar, eine absolut unzulässige Einstellung für eine Polizeibeamtin war.
»Ich begleite Sie hinaus«, sagte er zu ihr.
Im Wartezimmer saß ein Mann. Er sah aus, als habe er in der Kleidung, die er trug, geschlafen. Er war unrasiert und machte einen etwas verwirrten Eindruck. Graham Coats stieß Daisy an und zeigte mit dem Kopf auf den Mann. Laut sagte er: »Charles, meine Güte, was ist Ihnen denn widerfahren? Sie sehen furchtbar aus.«
Fat Charlie blickte ihn aus trüben Augen an. »Bin letzte Nacht nicht nach Hause gekommen«, sagte er. »Bisschen was schiefgelaufen mit dem Taxi.«
»Charles«, sagte Grahame Coats, »ich möchte Ihnen Kriminalmeisterin Day von der Londoner Polizei vorstellen. Sie ist in einer reinen Routinesache hier.«
Fat Charlie bemerkte, dass tatsächlich noch jemand anders anwesend war. Er richtete seinen Blick aus und sah die
Kleidung der Person, die an eine Uniform erinnerte oder es vielleicht sogar war. Dann sah er das Gesicht. »Ah«, sagte er.
»Guten Morgen«, sagte Daisy. Das war es, was sie laut sagte. Im Stillen wiederholte sie nur immer wieder: achdu-scheiße achduscheiße achduscheße.
»Freut mich«, sagte Fat Charlie. In seiner Verwirrung tat er etwas, was er noch nie zuvor getan hatte: Er stellte sich eine beamtete Person ohne Kleider vor und stellte fest, dass seine Fantasie ihm eine recht genaue Wiedergabe der jungen Dame lieferte, neben der er am Morgen nach der Totenfeier für seinen Vater aufgewacht war. Die seriöse Kleidung ließ sie ein wenig älter wirken, strenger und auch viel furchterregender, aber sie war es, kein Zweifel.
Wie alle empfindsamen Wesen besaß Fat Charlie einen Verrücktheitsquotienten. Seit einigen Tagen schon bewegte sich die Nadel im roten Bereich und schlug mitunter heftig gegen den Begrenzungsstift. Jetzt gab der Zähler den Geist auf. Ab sofort, vermutete Fat Charlie, würde ihn nichts mehr überraschen können. Ihn konnte man nicht mehr aus der Fassung bringen. Damit war er durch.
Natürlich war das ein Irrtum.
Fat Charlie blickte Daisy nach, dann folgte er Grahame Coats in dessen Büro.
Grahame Coats machte die Tür fest zu. Dann lehnte er seinen Hintern gegen die Schreibtischkante und lächelte wie ein Wiesel, das gerade entdeckt hat, dass es versehentlich über Nacht in einen voll bestückten Hühnerstall eingeschlossen worden ist.
»Lassen Sie uns ganz unverblümt sprechen«, sagte er.
»Karten auf den Tisch. Kein um den heißen Brei Herumreden. Nehmen wir«, präzisierte er, »kein Blatt vor den Mund.«
»In Ordnung«, sagte Fat Charlie. »Machen wir. Sie sagten, Sie hätten etwas für mich zum Unterschreiben?«
»Diese Aussage hat keine Gültigkeit mehr. Streichen Sie sie aus Ihrem Gedächtnis. Nein, lassen Sie uns über etwas sprechen, auf das Sie mich vor einigen Tagen aufmerksam gemacht haben. Sie wiesen mich auf gewisse unorthodoxe Transaktionen hin, die in diesem unseren Haus vorgefallen seien.«
»Tatsächlich?«
»Wie heißt es doch so schön, Charles: Wie du mir, so ich dir. Mein erster Impuls war natürlich, eine Untersuchung zu veranlassen. Daher der Besuch von Kriminalmeisterin Day heute Morgen. Und was ich herausgefunden habe, wird Sie, nehme ich an, nicht von den Füßen hauen.«
»Nicht?«
»Gewiss nicht. Es gibt, wie Sie ganz richtig sagten, eindeutige Hinweise auf finanzielle Unregelmäßigkeiten, Charles. Aber ach, es gibt nur eine Richtung, in die der launische Finger des Verdachts unbeirrbar zeigt.«
»Ja?«
»Ja.«
Fat Charlie war vollkommen ratlos. »In welche denn?« Grahame Coats versuchte besorgt dreinzublicken oder
jedenfalls so auszusehen, als versuche er besorgt dreinzublicken, und bekam auf diese Weise einen Gesichtsausdruck zustande, der bei Babys immer untrügliches Anzeichen dafür ist, dass sie dringend ein Bäuerchen machen müssten. »In Ihre, Charles. Die Polizei verdächtigt Sie.«
»Ja«, sagte Fat Charlie. »War ja klar. Es ist halt einer von diesen Tagen.«
Und er ging nach Hause.
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SPIDER MACHTE die Haustür auf. Es hatte zu regnen begonnen, und Fat Charlie stand nass und zerzaust vor ihm.
»Aha«, sagte Fat Charlie. »Darf ich also tatsächlich wieder nach Hause, ja?«
»Wer wäre ich, dich daran zu hindern«, sagte Spider.
»Es ist ja schließlich dein Zuhause. Wo warst du die ganze Nacht?«
»Du weißt ganz genau, wo ich war. Ich habe es nicht geschafft, nach Hause zu kommen. Keine Ahnung, was für ein Zaubertrick das war, den du dafür benutzt hast.«
»Das war kein Zaubertrick«, sagte Spider gekränkt. »Es war ein Wunder.«
Fat Charlie drängte an ihm vorbei und stampfte die Treppe hinauf. Er ging ins Bad, steckte den Stöpsel ein und drehte den Wasserhahn auf. Er lehnte sich in den Flur hinaus. »Ist mir egal, wie du es nennst. Du machst es bei mir in der Wohnung, und du hast mich letzte Nacht daran gehindert, nach Hause zu kommen.«
Er zog die Sachen von vorgestern aus. Dann steckte er noch einmal den Kopf durch die Tür. »Und die Polizei ermittelt gegen mich im Büro. Hast du Grahame Coats erzählt, dass es da finanzielle Unregelmäßigkeiten gebe?«
»Selbstverständlich«, sagte Spider.
»Hah! Und das Ergebnis ist, dass er jetzt mich im Verdacht hat, na toll.«
»Oh, das glaube ich nicht«, sagte Spider.
»Woraus man sieht, dass du eben doch nicht den großen Durchblick hast«, sagte Fat Charlie. »Ich hab mit ihm gesprochen. Die Polizei ist im Spiel. Und dann die Sache mit Rosie. Und du und ich, wir werden uns ausführlich über Rosie unterhalten müssen, wenn ich aus dem Bad komme. Aber erst einmal gehe ich in die Badewanne. Ich bin die ganze Nacht durch die Gegend gelaufen. Geschlafen habe ich nur ein bisschen auf dem Rücksitz eines Taxis. Als ich wieder aufgewacht bin, war es fünf Uhr morgens, und mein Taxifahrer war dabei, sich in Travis Bickle zu verwandeln. Er führte Selbstgespräche. Ich hab ihm gesagt, er solle es ruhig aufgeben, nach Maxwell Gardens zu suchen, denn es sei offensichtlich keine gute Maxwell-Gardens-Nacht, und irgendwann hat er das auch eingesehen, also sind wir frühstücken gegangen in so einem Lokal, wo die Taxifahrer immer frühstücken. Eier und Bohnen, Würstchen und Toast und einen Tee, in dem der Löffel stehen konnte. Als er den anderen Taxifahrern erzählt hat, dass er die ganze Nacht rumgefahren sei und nach Maxwell Gardens gesucht hätte, tja, da dachte ich, dass es gleich Blutvergießen geben würde. War dann doch nicht so. Aber für einen Moment sah es echt so aus.«
Fat Charlie unterbrach sich, um Luft zu holen. Spider blickte schuldbewusst drein.
»Hinterher«, sagte Fat Charlie. »Nach meinem Bad.« Er machte die Badezimmertür zu.
Er stieg in die Badewanne.
Er machte ein wimmerndes Geräusch. Er stieg aus der Badewanne.
Er drehte den Wasserhahn ab.
Er wickelte sich ein Handtuch um die Taille und öffnete die Badezimmertür. »Kein heißes Wasser«, sagte er ruhig, viel zu ruhig. »Hast du irgendeine Ahnung, warum wir kein heißes Wasser haben?«
Spider stand noch im Flur. Er hatte sich nicht von der Stelle gerührt. »Mein Warmwasserbecken«, sagte er.
»‘tschuldige.«
Fat Charlie sagte: »Na, wenigstens hat Rosie nicht, ich meine, sie würde nicht …« Und dann sah er den Ausdruck auf Spiders Gesicht.
Fat Charlie sagte: »Ich will, dass du hier verschwindest. Aus meinem Leben. Aus Rosies Leben. Endgültig.«
»Mir gefällt es hier«, sagte Spider.
»Du ruinierst mir mein Scheißleben.«
»Pech.« Spider ging durch den Flur und öffnete die Tür zu Fat Charlies Gästezimmer. Goldenes tropisches Sonnenlicht ergoss sich einen Augenblick lang in den Flur, dann fiel die Tür zu.
Fat Charlie wusch sich die Haare mit kaltem Wasser. Er putzte sich die Zähne. Er wühlte in seinem Wäschekorb, bis er eine Jeans und ein T-Shirt fand, die, einfach dadurch, dass sie ganz unten gelegen hatten, praktisch wieder sauber geworden waren. Er zog sie an, dazu einen lila Pullover mit Teddybärmuster, den ihm seine Mutter mal geschenkt hatte.
Er hatte ihn nie getragen, war aber irgendwie nicht dazu gekommen, ihn wegzugeben.
Er ging zum anderen Flurende.
Das Boom-Chacka-Boom von Bass und Schlagzeug drang durch die Tür.
Fat Charlie rüttelte am Türknopf. Doch der bewegte sich nicht. »Wenn du diese Tür nicht aufmachst«, sagte er, »trete ich sie ein.«
Die Tür ging ohne Vorwarnung auf, und Fat Charlie stolperte vorwärts, hinein in die leere Abstellkammer am Ende des Flurs. Der Blick aus dem Fenster fiel auf die Bückseite des Nachbarhauses, jedenfalls soweit man überhaupt etwas erkennen konnte bei dem Regen, der auf die Glasscheibe peitschte.
Dennoch spielte irgendwo, nur eine dünne Wand entfernt, eine viel zu laut eingestellte Stereoanlage: Die ganze Abstellkammer vibrierte im Boom-Chacka-Boom-Groove.
»Okay«, sagte Fat Charlie im Plauderton. »Dir ist natürlich klar, dass das Krieg bedeutet.« Es war der traditionelle Schlachtruf des Kaninchens, dem man allzu übel mitgespielt hat. In einigen Teilen der Welt glauben die Menschen, dass Anansi ein listig-verschlagenes Kaninchen war. Sie haben natürlich unrecht, er war eine Spinne. Man sollte meinen, dass diese beiden Geschöpfe nicht so schwer zu unterscheiden seien, und doch werden sie häufiger verwechselt, als man glauben würde.
Fat Charlie ging in sein Schlafzimmer. Er holte seinen Reisepass aus der Nachttischschublade. Seine Brieftasche fand er im Badezimmer wieder.
Er ging im Regen bis zur Hauptstraße, wo er sich ein Taxi winkte.
»Wohin?«
»Heathrow«, sagte Fat Charlie.
»Alles klar«, sagte der Taxifahrer. »Welches Terminal?«
»Keine Ahnung«, sagte Fat Charlie, der wusste, dass er es eigentlich hätte wissen müssen. Der letzte Flug lag schließlich erst ein paar Tage zurück. »Von wo starten sie nach Florida?«
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GRAHAME COATS hatte seinen Abgang von der Grahame-Coats-Agentur zu planen begonnen, als John Major noch Premierminister war. Denn nichts Gutes hält ewig. Früher oder später, wie Grahame Coats selbst Ihnen mit Freuden versichert haben würde, wird Ihre Gans, selbst wenn sie gewohnheitsmäßig goldene Eier legt, im Kochtopf landen. Zwar war seine Planung ausgefeilt man wusste ja nie, ob man nicht plötzlich Hals über Kopf die Zelte abbrechen musste, und er nahm durchaus zur Kenntnis, dass die Ereignisse, wie graue Wolken am Horizont, sich ballten, aber dennoch wollte er den Moment des Aufbruchs so lange aufschieben, bis es schlechterdings nicht mehr ging.
Wichtig war, das hatte er sich seit Langem zurechtgelegt, nicht einfach wegzugehen, sondern sich gewissermaßen in Luft aufzulösen, spurlos zu verschwinden.
In dem geheimen Safe in seinem Büro – ein begehbarer Safe, auf den er außerordentlich stolz war, auf einem Regal, das er selbst aufgebaut hatte und das er kürzlich neu hatte aufstellen müssen, nachdem es zusammengekracht war, befand sich ein Lederbeautycase, das zwei Reisepässe enthielt, einer auf den Namen Basil Finnegan, der andere auf den Namen Roger Bronstein ausgestellt. Beide Männer waren, ebenso wie Grahame Coats selbst, vor etwa fünfzig Jahren geboren worden, jedoch in ihrem ersten Lebensjahr gestorben. Das Passfoto in beiden Reisepässen zeigte Grahame Coats. Die Tasche enthielt ferner zwei Brieftaschen, jeweils mit einem Satz Kreditkarten und Ausweispapieren, auf die Namen der beiden Reisepassinhaber ausgestattet. Beide Namen waren Zeichnungsberechtigte für die Fließkonten auf den Cayman-Inseln, von denen ihrerseits Beträge auf andere Konten auf den Britischen Jungferninseln, in der Schweiz und Liechtenstein weiterflossen.
Grahame Coats hatte geplant, seinen endgültigen Abschied an seinem fünfzigsten Geburtstag zu nehmen, in etwas mehr als einem Jahr, und nun brachte ihn die Sache mit Fat Charlie ins Grübeln.
Er rechnete im Grunde nicht damit, dass Fat Charlie verhaftet oder festgesetzt würde, wenn er auch an beiden Szenarien, so sie denn einträten, nicht allzu viel auszusetzen hätte. Er wünschte ihn sich eingeschüchtert, diskreditiert, aus dem Weg geräumt.
Es bereitete Grahame Coats echte Freude, die Klienten der Grahame-Coats-Agentur zu melken, und er machte es gut. Er war angenehm überrascht gewesen, festzustellen, dass die von ihm repräsentierten Prominenten und Künstler, vorausgesetzt, er wählte sie mit Bedacht aus, sehr schlecht mit Geld umgehen konnten und ganz erleichtert waren, wenn sie jemanden hatten, der sie vertrat und ihre finanziellen Angelegenheiten regelte, sodass sie sich um nichts kümmern und sich keine Sorgen machen mussten. Und sollten Auszüge und Schecks mitunter mit reichlicher Verspätung eintreffen oder ganz und gar nicht so ausfallen, wie der Kunde es erwartet hatte, oder wenn es nicht identifizierte Abbuchungen vom Konto des Kunden gab, nun, dann brauchte man sich nur die hohe personelle Fluktuation in der Grahame-Coats-Agentur, und in Sonderheit in der Buchhaltung, vor Augen zu führen, und dann gab es nichts, was man nicht der Inkompetenz eines früheren Angestellten anlasten oder, sehr viel seltener, mit einer Kiste Champagner und einem großzügig bemessenen Entschuldigungsscheck ausbügeln konnte.
Nicht, dass die Leute Grahame Coats gemocht oder ihm vertraut hätten. Selbst diejenigen, die er repräsentierte, hielten ihn für ein Wiesel. Aber sie glaubten, er sei ihr Wiesel, und darin täuschten sie sich.
Grahame Coats war sein eigenes Wiesel.
Das Telefon auf seinem Schreibtisch klingelte, er nahm den Hörer ab. »Ja?«
»Mister Coats? Maeve Livingstone ist am Telefon. Ich weiß, Sie hatten gesagt, ich solle sie zu Fat Charlie durchstellen, aber der hat diese Woche frei, und jetzt wusste ich nicht, was ich sagen soll. Soll ich ihr sagen, dass Sie außer Haus sind?«
Grahame Coats überlegte. Bevor ein plötzlicher Herzinfarkt ihn dahingerafft hatte, war Morris Livingstone, einst der beliebteste kleingewachsene Yorkshire-Komiker des Landes, Star in Fernsehserien wie Hinten und an den Seiten kurz und seiner eigenen Samstagabend-Varietegameshow Morris Livingstone, nehme ich an gewesen. In den 80ern hatte er sogar eine Top-Ten-Single mit dem Novelty-Song »It’s nice Out (But Put It Away)« gehabt. Ein liebenswürdiger, unkomplizierter Mensch, hatte er nicht nur seine sämtlichen finanziellen Angelegenheiten in die Obhut der Grahame-Coats-Agentur gegeben, sondern er hatte auch, auf Grahame Coats Vorschlag hin, Grahame Coats selbst zum Treuhänder seines Nachlasses bestellt.
Es wäre geradezu verbrecherisch gewesen, einer solchen Versuchung nicht nachzugeben.
Und dann war da noch Maeve Livingstone. Es darf festgehalten werden, dass Maeve Livingstone, ohne es zu wissen, seit etlichen Jahren tragende Rollen in einer ganzen Reihe von Grahame Coats’ kostbarsten und geheimsten Fantasien spielte.
Grahame Coats sagte: »Bitte. Stellen Sie sie durch«, und dann, die Fürsorglichkeit in Person: »Maeve, wie schon, dass Sie sich melden. Wie geht es Ihnen?«
»Ich weiß nicht genau«, sagte sie.
Maeve Livingstone war Tänzerin gewesen, als sie Morris kennenlernte, und hatte den kleinen Mann stets um einiges überragt. Sie hatten einander angebetet.
»Nun, erzählen Sie mir, was los ist.«
»Ich habe vor ein paar Tagen schon mit Charles gesprochen. Weil ich mich gefragt hatte, na ja, meine Bank hatte sich gefragt, wegen dem Geld aus Morris’ Nachlass. Es hieß mal, dass wir inzwischen einen Teil davon zu sehen bekommen würden.«
»Maeve«, sagte Grahame Coats mit der Stimme, die er bei sich als ›dunkle Samtstimme‹ führte, eine Stimme, auf die die Frauen, wie er glaubte, ansprachen, »das Problem ist nicht, dass das Geld nicht da ist – das ist lediglich eine Sache der Liquidität. Morris hat, wie ich Ihnen schon sagte, gegen Ende seines Lebens einige nicht so glückliche Investitionen getätigt, und obwohl er, auf meinen Rat hin, sein Geld auch in ein paar solide Sachen gesteckt hat, brauchen wir jetzt etwas Zeit, damit diese guten Investitionen reifen können: Wenn wir uns jetzt sofort rausziehen, dann verlieren wir fast alles. Aber gemach, sorgen Sie sich nicht. Ein guter Kunde ist uns alles wert. Ich werde Ihnen einen Scheck auf mein eigenes Konto ausstellen, damit Sie flüssig bleiben und es an nichts fehlt. Wie viel braucht Ihre Bank denn?«
»Der Filialleiter sagt, er muss jetzt bald die Schecks platzen lassen«, sagte sie. »Und die BBC sagt, sie hätten Geld für die DVD-Veröffentlichungen der alten Shows überwiesen. Das liegt doch aber nicht fest, oder?«
»Das hat die BBC gesagt? Nun, tatsächlich haben wir sie gedrängt, damit endlich mal etwas kommt. Aber ich will nicht die ganze Schuld bei BBC Worldwide suchen. Unsere Buchhalterin ist schwanger und dadurch geht alles ein bisschen durcheinander. Und Charles Nancy, mit dem Sie gesprochen haben, steht auch etwas neben der Spur sein Vater ist gestorben, und er war längere Zeit gar nicht im Lande …«
»Als wir uns das letzte Mal gesprochen haben«, warf sie ein, »wollten Sie gerade ein neues Computersystem installieren.«
»In der Tat, und bitte, lassen Sie uns gar nicht erst mit dem Thema Buchhaltungssoftware anfangen. Wie sagt man doch gleich irren ist menschlich, aber um, äh, ein richtiges Chaos anzurichten, braucht man einen Computer. So ungefähr. Ich werde mich mit aller Kraft dahinterklemmen; wenn’s gar nicht anders geht, per Hand, auf die altmodische Tour, und dann wird Ihr Geld den Weg zu Ihnen schon finden. Morris hätte es zweifellos so gewollt.«
»Mein Filialleiter sagt, ich bräuchte auf der Stelle zehntausend Pfund, damit sie keine Schecks platzen lassen müssen.«
»Zehntausend Pfund gehören Ihnen. Ich stelle in diesem Augenblick einen Scheck darüber aus.« Er malte einen Kreis auf seinem Notizblock, mit einem Strich, der oben abzweigte. Es sah ein bisschen wie ein Apfel aus.
»Ich bin Ihnen sehr dankbar«, sagte Maeve, und Grahame Coats grinste selbstzufrieden. »Hoffentlich werde ich Ihnen nicht langsam lästig.«
»Aber nicht doch«, sagte Grahame Coats. »Dafür sind wir doch da.«
Er legte den Hörer auf. Das Komische an der Sache war in Grahame Coats’ Augen, dass die von Morris verkörperte Kunstfigur immer die eines nüchtern handfesten YorkshireMannes gewesen war, der stolz darauf war, sich niemals etwas vormachen zu lassen und über den Verbleib jedes einzelnen Pennies genau Bescheid zu wissen.
Es war ein schönes Spiel gewesen, dachte Grahame Coats, und er fügte dem Apfel zwei Augen hinzu, dann noch ein Paar Ohren. Jetzt sah es, befand er, mehr oder weniger wie eine Katze aus. Bald schon würde es Zeit werden, das Schröpfen schwer zufriedenzustellender Prominenter gegen ein Leben einzutauschen, das aus Sonnenschein, Swimmingpools, gutem Essen, gutem Wein und, falls möglich, sehr viel oralem Sex bestand. Die besten Dinge im Leben, davon war Grahame Coats überzeugt, konnte man allesamt mit Geld kaufen.
Er malte der Katze ein Maul und füllte dieses mit scharfen Zähnen aus, sodass es jetzt ein bisschen wie ein Berglöwe aussah, und während er zeichnete, begann er, mit einer recht dünnen Tenorstimme, zu singen:
Mein Vater, als ich jung war, sagte ständig: hör zu
Das Wetter ist prächtig, geh spielen, hörst du?
Doch jetzt bin ich älter und die Damen raunen mir zu: Ist ja schön draußen, aber lass mich in Ruh …
Morris Livingstone hatte Grahame Coats’ Penthouse-Wohnung an der Copacabana und den Bau des Swimmingpools auf Saint Andrews mit seinem Geld bezahlt, und man sollte nicht glauben, dass Grahame Coats dafür nicht dankbar gewesen wäre. ›Ist ja schön draußen, aber lass mich in Ruuuuh!«
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SPIDER HATTE ein komisches Gefühl.
Irgendetwas war im Busch: Das Gefühl breitete sich wie ein Nebel in seinem Leben aus, und es versaute ihm den Tag. Er konnte es nicht näher bestimmen, aber es gefiel ihm ganz und gar nicht.
Und falls es etwas gab, was er definitiv nicht empfand, dann waren es Schuldgefühle. So etwas kam in seinem Gefühlsleben einfach nicht vor. Er fühlte sich toll. Spider fühlte sich cool. Er fühlte sich nicht schuldig. Er hätte sich nicht einmal schuldig gefühlt, wenn man ihn auf frischer Tat bei einem Banküberfall erwischt hätte.
Und dennoch, wo er auch hinfühlte, waberte dieses leichte Unbehagen.
Bisher hatte Spider geglaubt, dass Götter anders seien:
Sie hätten kein Gewissen und bräuchten auch keins. Die Beziehung eines Gottes zur Welt, selbst einer Welt, auf der er wandelte, war ähnlich gefühlsintensiv wie die eines Spielers, der das Computerspiel, in dem er sich bewegt, gut kennt, und der zudem mit einem kompletten Satz von Schummelcodes ausgestattet ist.
Spider sah darauf, dass er immer seinen Spaß hatte. Das war die Hauptsache. So etwas wie Schuld hätte er nicht einmal erkennen können, wenn er einen illustrierten Schuldführer besessen hätte, mit Farbfotos und anschaulicher Darstellung aller Bestandteile. Es war nicht so, dass er vollkommen verantwortungslos gewesen wäre, eher so, dass er etwas anderes vorgehabt hatte an dem Tag, als die Verantwortung ausgeteilt wurde. Aber etwas hatte sich jetzt verändert – in seinem Innern oder draußen, da war er sich nicht sicher – und es machte ihm zu schaffen. Er goss sich noch etwas zu trinken ein. Er winkte mit der Hand und machte die Musik lauter. Er wechselte Miles Davis gegen James Brown aus. Es wurde trotzdem nicht besser.
Er lag in der Hängematte, im tropischen Sonnenschein, lauschte der Musik, wiegte sich in dem Gefühl, dass es extrem cool war, er zu sein … und zum ersten Mal war sogar das irgendwie nicht ausreichend.
Er stieg aus der Hängematte und ging zur Tür. »Fat Charlie?«
Es kam keine Antwort. Die Wohnung fühlte sich leer an. Draußen vor den Fenstern war es ein grauer Tag, mit Regen. Spider gefiel der Regen. Er war irgendwie passend.
Schrill und süßlich klingelte das Telefon. Rosie sagte: »Bist du’s?«
»Hallo, Rosie.«
»Letzte Nacht«, sagte sie. Und dann sagte sie erst mal gar nichts mehr. Anschließend sagte sie: »War es für dich genauso schön wie für mich?«
»Ich weiß nicht«, sagte Spider. »Also, für mich war es ziemlich wunderbar. Das heißt, die Antwort wäre wohl ja.«
»Mmm«, sagte sie. Sie sagten nichts.
»Charlie?«, sagte Rosie.
»Uh-hnh?«
»Ich finde es sogar schön, nichts zu sagen, einfach nur zu wissen, dass du am anderen Ende der Leitung bist.«
»Ich auch«, sagte Spider.
Sie schwelgten noch etwas weiter in dem Gefühl, nichts zu sagen, kosteten es aus, verliehen ihm Dauer.
»Möchtest du heute Abend zu mir kommen?«, fragte Rosie. »Meine Mitbewohnerinnen sind in den Cairngorms.«
»Das«, sagte Spider, »könnte ein Kandidat für den schönsten Satz sein, den unsere Sprache bilden kann. Meine Mitbewohnerinnen sind in den Cairngorms. Reine Poesie.«
Sie kicherte. »Dussel. Ähm. Bringst du deine Zahnbürste mit…?«
»Oh. Oh. Okay.«
Und nach einigen Minuten des hin- und hergeworfenen »leg du auf« und »nein, leg du auf«, das einem Pärchen von hormonell aufgeputschten Fünfzehnjährigen alle Ehre gemacht hätte, wurden die Hörer schließlich aufgelegt.
Spider lächelte wie ein Heiliger. Die Welt, in Anbetracht der Tatsache, dass Rosie in ihr lebte, war schon die beste aller möglichen Welten. Der Nebel hatte sich gelichtet, die Welt hatte sich entdüstert.
Spider kam nicht einmal auf die Idee, sich zu fragen, wohin Fat Charlie gegangen war. Warum sollte er sich um solche Nebensächlichkeiten Gedanken machen? Rosies Mitbewohnerinnen waren in den Cairngorms, und was war heute Abend? Na, heute Abend würde er seine Zahnbürste mitbringen.
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FAT CHARLIES Körper befand sich in einem Flugzeug nach Florida; er war eingequetscht auf einem Sitz in einer Fünferreihe, und er schlief fest. Das war auch gut so: Die Toiletten im hinteren Teil waren schon kurz nach dem Start ausgefallen, und obgleich die Flugbegleiter »Außer Betrieb«-Schilder an die Türen gehängt hatten, war damit noch nichts gegen den Geruch ausgerichtet, der sich langsam im hinteren Bereich des Flugzeugs ausbreitete wie verdünntes Tränengas. Babys schrien, Erwachsene murrten und Kinder greinten. Eine Gruppe von Reisenden, auf dem Weg nach Disneyworld, war der Ansicht, dass ihr Urlaub in dem Moment begann, in dem sie das Flugzeug bestiegen, und so begannen sie, kaum hatten sie ihre Plätze eingenommen, gemeinsam zu singen. Sie sangen »Bibbidi-Babbidi-Bu« und »Das Superste ist an den Tiggern« und »Unter dem Meer« und »Heiho heiho, wir sind vergnügt und froh« und sogar, offenbar in dem Glauben, auch dies sei ein Disney-Song, »Nun ziehn wir los, zum Zauberer von Oz«.
Auch musste man, als das Flugzeug bereits in der Luft war, feststellen, dass auf Grund einer Verwirrung im Catering-Service keine Mittagessen für die Touristenklasse an Bord genommen worden waren. Stattdessen standen lediglich Frühstücksportionen zur Verfügung, was zur Folge hatte, dass jedem Passagier eine Packung Cornflakes plus eine Banane serviert wurde, die er allerdings mit Plastikmesser und -gabel essen musste, da es unglücklicherweise keine Löffel gab, was andererseits vielleicht gar nicht so schlimm war, weil die Milch zu den Cornflakes bei Weitem nicht für alle reichte.
Der Flug war die Hölle, und Fat Charlie verschlief ihn von Anfang bis Ende.
In seinem Traum befand Fat Charlie sich in einem riesigen Saal, und er trug einen Stresemann. Neben ihm saß Rosie in einem weißen Hochzeitskleid und einen Platz weiter ihre Mutter, die, etwas befremdlich, ebenfalls ein Hochzeitskleid trug, nur dass dieses mit Staub und Spinnweben bedeckt war.
Weit entfernt am Horizont, der den Saal auf der anderen Seite begrenzte, wurden Gewehrschüsse abgegeben und weiße Fahnen geschwenkt.
Das sind nur die Leute vom Tisch H, sagte Rosies Mutter.
Achtet gar nicht auf sie.
Fat Charlie wandte sich zu Rosie. Sie sah ihn mit ihrem weichen, süßen Lächeln an, leckte sich dann über die Lippen.
Torte, sagte Rosie in seinem Traum.
Das war das Signal für das Orchester, mit dem Spielen zu beginnen. Es war eine New-Orleans-Jazzkapelle, und sie spielte zuerst einmal einen Trauermarsch.
Die Assistentin des Küchenchefs war eine Polizeibeamtin. Sie hielt ein Paar Handschellen in der Hand. Der Küchenchef rollte die Torte aufs Podium.
Jetzt, sagte Rosie im Traum zu Fat Charlie. Schneide die Torte an.
Die Leute am Tisch R – die keine richtigen Leute waren, sondern Zeichentrickmäuse und ratten und hoftiere, aber in Menschengröße – waren in Feierstimmung und begannen Lieder aus Disneyfilmen zu singen. Von Fat Charlie, das war ihm klar, wurde erwartet, dass er mitsang. Selbst im Schlaf fühlte er die Panik aufsteigen bei der bloßen Vorstellung, er müsse vor allen Leuten singen; seine Glieder wurden taub, seine Lippen begannen zu prickeln.
Ich kann nicht mit euch singen. Verzweifelt suchte er nach einer guten Ausrede. Ich muss die Torte anschneiden.
Bei diesen Worten legte sich Schweigen über den Saal. Und in dieses Schweigen hinein trat ein weiterer Küchenchef, der einen weiteren kleinen Servierwagen vor sich herschob. Der Küchenchef trug das Gesicht von Grahame Coats, und auf dem Servierwagen befand sich eine extravagante weiße Hochzeitstorte, ein reich verziertes, in mehreren Lagen übereinander getürmtes Naschwerk. Eine winzige Braut und ein winziger Bräutigam balancierten auf der obersten und schmälsten Lage, wie zwei Menschen, die sich große Mühe gaben, nicht von dem mit Zuckerguss überzogenen ChryslerGebäude zufallen.
Rosies Mutter langte unter den Tisch und brachte ein langes Messer – fast eine Machete – mit Holzgriff und rostiger Klinge zum Vorschein. Sie reichte es Rosie, die nach Fat Charlies Hand griff, um sie über ihre eigene zu legen, und gemeinsam drückten sie dann das rostige Messer, genau zwischen Bräutigam und Braut ansetzend, in den dicken weißen Zuckerguss auf der obersten Tortenlage. Zunächst widerstand die Torte dem Messer, und Fat Charlie drückte kräftiger, legte sein ganzes Gewicht hinein. Er spürte, wie die Torte langsam nachgab. Und drückte noch kräftiger.
Die Klinge schnitt durch die oberste Schicht der Hochzeitstorte. Sie glitt durch Sahne, Creme und Teig, durch alle Schichten und Lagen hindurch, und während sie immer weiter vordrang, klaffte die Torte auf…
In seinem Traum stellte Fat Charlie sich vor, dass die Torte mit schwarzen Perlen gefüllt war, Perlen aus schwarzem Glas oder geschliffenem Gagat, und dann, als sie aus der Torte purzelten, erkannte er, dass die Perlen Beine hatten, jede Perle acht Stück, und sie kamen aus dem Innern der Torte heraus wie eine schwarze Welle. Die Spinnen ergossen sich über das weiße Tischtuch und bedeckten es ganz; sie bedeckten Rosies Mutter und auch Rosie selbst, machten ihre weißen Kleider schwarz wie Ebenholz; dann, als würden sie von einer überlegenen und bösartigen Intelligenz gelenkt, strömten sie zu hunderten auf Fat Charlie zu. Er wollte weglaufen, aber seine Beine verfingen sich in irgendetwas Gummiartigem, und er stürzte zu Boden.
Jetzt fielen sie über ihn her, ihre winzigen Beine krabbelten über seine nackte Haut; er versuchte aufzustehen, aber er versank in Spinnen.
Fat Charlie wollte schreien, aber sein Mund war voller Spinnen. Sie bedeckten seine Augen, und die Welt verdunkelte sich …
Fat Charlie öffnete die Augen und sah nichts als Schwärze, und er schrie und schrie und schrie. Dann erkannte er, dass die Lichter ausgeschaltet und die Fensterjalousien heruntergezogen waren, weil die anderen Passagiere einen Film sahen.
Es war schon bis hierher ein Höllenflug gewesen. Und Fat Charlie hatte ihn noch ein Stückchen unangenehmer für seine Mitreisenden gemacht.
Er erhob sich und versuchte auf den Gang hinaus zu gelangen, stolperte dabei über jeden, an dem er vorbeikam, und als er es fast geschafft hatte, richtete er sich auf und schlug mit der Stirn gegen eins der oberen Gepäckfächer, worauf die Klappe aufsprang und das dahinterliegende Handgepäck ihm auf den Kopf fiel.
Einige in der Nähe sitzende Passagiere, die das Ganze beobachtet hatten, lachten. Es war eine elegante Slapstick-Nummer, und sie trug ganz erheblich dazu bei, die Stimmung zu verbessern.