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IN DEM ES
HAUPTSÄCHLICH
DARUM GEHT,
WAS NACH EINER
BEERDIGUNG
GESCHIEHT
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FAT CHARLIE hastete keuchend durch den Ehrengarten der Letzten Ruhe. Er blinzelte in die floridianische Sonne. Schwitzflecken breiteten sich auf seinem Anzug aus, angefangen bei den Achseln und dem Brustkorb. Schweiß begann ihm beim Laufen übers Gesicht zu strömen.
Der Ehrengarten der Letzten Ruhe sah tatsächlich aus wie ein Garten, ein sehr seltsamer Garten allerdings, in dem alle Blumen künstlich waren und aus Metallvasen herauswuchsen, die aus in den Boden eingelassenen Metalltafeln ragten. Fat Charlie rannte an einem Schild vorbei, das die Aufschrift trug: »GRATIS-Grabstätte für alle ehrenhaft entlassenen Veteranen!« Er rannte durch Babyland, wo sich quietschbunte Windmühlen und durchnässte rosablaue Teddybären den Kunstblumen auf dem Floridarasen zugesellten. Ein vermodernder Winnie der Pu starrte matt in den blauen Himmel.
Fat Charlie konnte jetzt die Trauergesellschaft sehen und wechselte die Laufrichtung, um einen geeigneten Weg dorthin zu finden. Etwa dreißig Personen, vielleicht auch mehr, umstanden das Grab. Die Frauen trugen dunkle Kleider und große schwarze, mit ebensolcher Spitze geschmückte Hüte, die wie fantastische Blumen aussahen. Die Männer trugen Anzüge ohne Schwitzflecken. Die Kinder wirkten ernst und feierlich. Fat Charlie verlangsamte sein Tempo zu einem respektvollen Schritt, versuchte sich zu beeilen, ohne durch schnelle Bewegungen erkennen zu lassen, dass er in Eile war, und als er die Trauergruppe erreicht hatte, versuchte er sich in die vorderen Reihen zu schlängeln, ohne allzu viel Aufmerksamkeit zu erregen. Angesichts dessen, dass er mittlerweile schweißgebadet war, keuchte wie ein Walross im Hochgebirge und im Vorbeigehen auf mehrere Füße trat, war dieser Versuch zum Scheitern verurteilt.
Es gab feindselige Blicke, doch Fat Charlie tat so, als würde er sie nicht bemerken. Man sang ein Lied. das Fat Charlie nicht kannte. Er wiegte den Kopf im Takt des Liedes und bewegte auch die Lippen auf eine Art, die für den Beobachter zumindest nicht ausschloss. dass er sich aktiv, wenn auch sotto voce, am Gesang beteiligte. Dabei nutzte er die Gelegenheit, hinunter auf den Sarg zu blicken. Mit Befriedigung nahm er zur Kenntnis, dass dieser verschlossen war.
Der Sarg war eine prachtvolle Angelegenheit, gefertigt allem Anschein nach aus extra strapazierfähigem dunkelgraublauem Armierungsstahl. Im Falle der glorreichen Auferstehung, dachte Fat Charlie, wenn Gabriel in seine mächtige Trompete bliese und die Toten ihren Särgen entstiegen, würde sein Vater in seinem Grab feststecken, würde vergeblich gegen den Sargdeckel schlagen und sich wünschen, er wäre mit einer Brechstange, wenn nicht einem Autogenschweißbrenner als Grabbeigabe beerdigt worden.
Ein letztes, zuliefst melodisches Halleluja verklang. In der anschließenden Stille konnte Fat Charlie jemand am anderen Ende des Ehrengartens rufen hören, nahe der Stelle, wo er diesen betreten hatte.
Der Prediger sagte: »Also, hat irgendjemand etwas auf dem Herzen, das er zum Angedenken an den guten Menschen sagen möchte, den wir hier zur Ruhe betten?«
Mehrere der Personen, die am nächsten zum Grab standen, legten eine Miene auf, die erkennen ließ, dass sie in der Tat die Absicht hatten, etwas zu sagen. Aber Fat Charlie wusste, dass dies ein Moment war, in dem es hieß: Jetzt oder nie. Du musst deinen Frieden machen mit deinem Vater, weißt, du. Genau.
Tief Luft holend, trat er einen Schritt vor, sodass er direkt am Rand des Grabes stand, und sagte: »Ähm. Entschuldigung. Ja. Ich glaube, ich hätte etwas zu sagen.«
Das ferne Rufen wurde lauter. Einige der Trauergäste blickten sich um, um festzustellen, wo es herkam. Die anderen starrten Fat Charlie an.
»Ich hatte zu meinem Väter niemals das, was man eine enge Beziehung nennen würde«, sagte Fat Charlie. »Wir wussten vermutlich nicht, wie das geht. Zwanzig Jahre lang habe ich nicht zu seinem Leben gehört und er nicht zu meinem. Es gibt vieles, das zu vergeben schwerfällt, doch dann steht man eines Tages da und hat keine Familie mehr.« Er wischte sich mit der Hand über die Stirn. »Ich glaube nicht, dass ich in meinem ganzen Leben auch nur einmal ›ich liebe dich, Dad‹ gesagt habe. Sie alle, Sie haben ihn wahrscheinlich besser gekannt als ich. Einige von Ihnen haben ihn vielleicht geliebt. Sie waren ein Teil seines Lebens und ich war es nicht. Daher schäme ich mich nicht vor Ihnen, es zu sagen. Es zum ersten Mal seit mindestens zwanzig Jahren zu sagen.« Er blickte auf den unüberwindlichen Metallsargdeckel. »Ich liebe dich«, sagte er. »Und ich werde dich nie vergessen.«
Jetzt wurde das Rufen sogar noch lauter, und inzwischen war es laut genug und auch deutlich genug, dass in der Stille, die auf Fat Charlies Erklärung folgte, jeder verstehen konnte, was da quer durch den Ehrengarten gebrüllt wurde:
»Fat Charlie! Hör auf, diese Leute da zu belästigen, und mach, dass du herkommst, aber sofort!«
Fat Charlie starrte auf das Meer unvertrauter Gesichter, auf denen ein brodelnder Eintopf aus Schock, Verwirrung, Wut und Schrecken sich Ausdruck verschaffte; mit brennenden Ohren erkannte er die Wahrheit.
»Ah. Tut mir leid. Falsche Beerdigung«, sagte er.
Ein kleiner Junge mit großen Ohren und einem sehr breiten Lächeln sagte stolz zu ihm: »Das war meine Oma.«
Unter weitgehend unzusammenhängend hervorgepressten Entschuldigungen trat Fat Charlie den Rückzug an. mitten durch die kleine Versammlung hindurch. Er wollte, dass die Welt sofort unterginge. Er wusste, dass es nicht seines Vaters Schuld war, aber er wusste auch, dass sein Vater sich kaputtgelacht hätte.
Auf dem Weg stand, die Hände in die Hüften gestemmt, eine korpulente Frau mit grauen Haaren und zornigem Gesicht. Fat Charlie ging auf sie zu, als müsse er ein Minenfeld durchqueren, plötzlich wieder neun Jahre all und wieder mal in bösen Schwierigkeiten.
»Hast mich nich’ schreien hören?«, fragte sie. »Bist glatt an mir vorbeigelaufen. Musstest dich unbedingt blamieren!« So wie sie blamieren aussprach, wurde es mit P geschrieben. »Gottesdienst und alles haste verpasst. Aber da ist noch eine Schaufel voll Erde, die auf dich wartet.«
Mrs. Higgler hatte sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten kaum verändert: Sie war ein bisschen dicker geworden, ein bisschen grauer. Die Lippen fest zusammengepresst, führte sie ihn über einen der vielen Wege des Ehrenparks. Fat Charlie argwöhnte, dass er nicht den bestmöglichen ersten Eindruck gemacht hatte. Sie ging voraus, und er folgte beschämt.
Eine Eidechse katapultierte sich auf einer der Streben des Metallzaunes am Rande des Gartens aufwärts, machte es sich dann oben auf einem Dorn bequem und tat sich an der dicken floridianischen Luft gütlich. Die Sonne war hinter einer Wolke verschwunden, dennoch wurde der Nachmittag eher noch heißer. Die Eidechse blies ihren Hals zu einem leuchtend orangen Ballon auf.
Zwei langbeinige Kraniche, die er bislang für Zierobjekte gehalten hatte, blickten auf, als er sie passierte. Einer von ihnen stieß den Kopf nach unten, und als er ihn wieder hob, baumelte ein großer Frosch in seinem Schnabel. In einer Folge von Schluckbewegungen versuchte er sich die wüst zappelnde Beute einzuverleiben.
»Nun komm«, sagte Mrs. Higgler. »Trödel nich’ rum. Schlimm genug, dass du die Beerdigung deines eigenen Vaters verpasst.«
Fat Charlie unterdrückte den Impuls zu erwähnen, dass er an diesem Tag bereits sechstausend Kilometer weit geflogen sei, dass er sich ferner ein Auto gemietet, um von Orlando aus weiterzufahren, und dann auch noch die falsche Abfahrt erwischt habe, und wessen Idee sei es eigentlich gewesen, einen Garten der Letzten Ruhe gleich neben einen Wal-Mart ganz am Rande der Stadt zu zwängen? Sie gingen immer weiter, vorbei an einem großen Betongebäude, das nach Formaldehyd roch, bis sie zu einem offenen Grab gelangten, das sich am äußersten Rand des Parks befand. Dahinter gab es nichts mehr als einen hoben Zaun, und hinter diesem begann ein Gelände mit wild wachsenden Bäumen, Palmen und Grünzeug. Im Grab lag ein bescheidener Holzsarg. Auf ihm häuften sich bereits mehrere kleine Hügel mit Erde. Neben dem Grab befand sich ein größerer Haufen dieser Erde und eine Schaufel.
Mrs. Higgler nahm die Schaufel und drückte sie Fat Charlie in die Hand.
»Es war ein schöner Gottesdienst«, sagte sie. »Ein paar alte Trinkkumpanen von deinem Daddy waren da und alle Damen aus unserer Straße. Wir sind immer in Kontakt geblieben, selbst als er umgezogen ist, ein Stück weiter die Straße runter. Es hätte ihm gefallen. Noch mehr gefallen hätt’s ihm natürlich, wenn du hier gewesen wärst.« Sie schüttelte den Kopf. »So, jetzt schaufel«, sagte sie. »Und wenn du was zum Abschied zu sagen hast, dann sag es, während du beim Schaufeln bist.«
»Ich dachte, man müsste nur ein oder zwei Schaufel voll machen«, sagte Fat Charlie. »Symbolisch, um seinen guten Willen zu zeigen.«
»Ich hab dem Mann dreißig Dollar gegeben, damit er weggeht«, sagte Mrs. Higgler. »Hab ihm gesagt, der Sohn des Verstorbenen kommt extra ganz aus England angeflogen, und er will tun, was seinem Vater gebührt. Also tu, was recht ist. Nicht nur ›guten Willen zeigen‹.«
»Ja«, sagte Fat Charlie. »Natürlich. Verstehe.« Er zog sein Anzugsakko aus und hängte es über den Zaun. Er lockerte seine Krawatte, zog sie sich über den Kopf und steckte sie in die Sakkolasche. Dann schaufelte er die schwarze Erde in das offene Grab, in der floridianischen Luft, die die Konsistenz einer sämigen Suppe aufwies.
Nach einiger Zeil setzte eine Art Regen ein, soll heißen, es war die Sorte Regen, die sich nie recht entscheiden kann, ob sie nun tatsächlich loslegt oder nicht. Beim Autofahren hätte man nicht gewusst, ob man die Scheibenwischer betätigen soll. Beim Erdeschaufeln wurde man davon einfach nur noch nasser, schwitzte noch mehr, fühlte sich noch unwohler. Fat Charlie schaufelte immer weiter, und Mrs. Higgler stand daneben, die Arme über dem gewaltigen Busen verschränkt, und sah ihm zu, wie er das Loch auffüllte, während der Beinaheregen ihr schwarzes Kleid und den Strohhut mit der schwarzen Seidenrose einfeuchtete.
Aus der Erde wurde Schlamm, und der wurde tendenziell immer schwerer.
Eine Ewigkeit, und zumal eine überaus ungemütliche Ewigkeit, schien vergangen zu sein, als Fat Charlie die letzte Schaufel voll Erde festklopfte.
Mrs. Higgler trat zu ihm. Sie nahm sein Sakko vom Zaun und reichte es ihm.
»Du bist bis auf die Haut durchnässt und starrst vor Dreck und Schweiß, aber du bist erwachsen geworden. Willkommen zu Hause, Fat Charlie«, sagte sie, und lächelnd drückte sie ihn an ihre mächtige Brust.
»Ich weine gar nicht«, sagte Fat Charlie.
»Still jetzt«, sagte Mrs. Higgler.
»Das ist der Regen auf meinem Gesicht«, sagte Fat Charlie.
Mrs. Higgler sagte gar nichts. Sie hielt ihn einfach nur fest und wiegte sich dabei hin und her, und nach einer Weile sagte Fat Charlie: »Ist gut. Mir geht’s jetzt besser.«
»Es gibt noch was zu essen bei mir zu Hause«, sagte Mrs. Higgler. »Gehen wir, damit du was in den Magen kriegst.«
Auf dem Parkplatz wischte er sich den Schlamm von den Schuhen, dann stieg er in sein Mietauto und folgte Mrs. Higglers kastanienbraunen Kombi durch Straßen, die vor zwanzig Jahren noch nicht existiert hatten. Mrs. Higgler fuhr wie jemand, der soeben einen riesigen und dringend benötigten Becher Kaffee entdeckt hat und dessen vordringlichste Aufgabe jetzt darin bestand, so viel wie möglich von dem Kaffee zu trinken und gleichzeitig so schnell wie möglich zu fahren. Fat Charlie fuhr immer hinterher, blieb dran, so gut er konnte, von Ampel zu Ampel hetzend, während er versuchte, ansatzweise herauszufinden, wo sie eigentlich waren.
Dann bogen sie in eine Straße, und Stück für Stück dämmerte ihm, dass er sie kannte. Dies war die Straße, in der er als Junge gewohnt hatte. Sogar die Häuser sahen mehr oder weniger noch so aus wie früher, wenn auch die meisten von ihnen sich eindrucksvolle Drahtgeflechtzäune um die Vorgärten zugelegt hatten.
Es parkten bereits mehrere Autos vor Mrs. Higglers Haus. Er hielt hinter einem ältlichen grauen Ford. Mrs. Higgler schritt zur Haustür, öffnete sie mit ihrem Schlüssel.
Fat Charlie blickte an sich hinunter, schlammbespritzt und schweißdurchnässt, wie er war. »So kann ich nicht reingehen«, sagte er.
»Hab schon Schlimmeres gesehen«, sagte Mrs. Higgler.
Dann schnüffelte sie kurz. »Pass auf, du gehst da rein, gehst direkt durch ins Badezimmer, da kannst du dir die Hände und das Gesicht waschen, machst dich sauber, und wenn du fertig bist, findest du uns alle in der Küche.«
Er ging ins Bad. Alles roch nach Jasmin. Er zog sein schmutziges Hemd aus, wusch sich in dem winzigen Waschbecken Gesicht und Hände mit nach Jasmin duftender Seife. Er nahm einen Waschlappen, wischte sich damit die Brust ab und rieb an den gröbsten Schlammspritzern auf seiner Hose herum. Er besah sich das Hemd, das heute Morgen, als er es angezogen hatte, strahlend weiß gewesen war, sich nun aber in einem ausgesucht schmuddeligen Braun präsentierte, und er beschloss, es nicht wieder anzuziehen. Er hatte noch andere Hemden in der Reisetasche, auf dem Rücksitz des Mietwagens. Er würde noch mal kurz aus dem Haus schlüpfen, ein sauberes Hemd anziehen und dann den Leuten in der Küche gegenübertreten.
Er entriegelte die Badezimmertür und öffnete sie.
Vier ältere Damen standen im Flur und starrten ihn an.
Er kannte sie. Er kannte sie alle.
»Was willste denn jetzt?«, fragte Mrs. Higgler.
»Hemd wechseln«, sagte Fat Charlie. »Hemd im Auto. Ja. Gleich wieder da.«
Er reckte das Kinn nach oben und schritt durch den Flur
zur Haustür und nach draußen.
»Was für ne Sprache war das, die er gesprochen hat?«, fragte die kleine Mrs. Dunwiddy laut in seinem Bücken.
»So was sieht man auch nicht alle Tage«, sagte Mrs. Bustamonte, obwohl, wenn es hier, an Floridas Treasure Coast, eines gab, was man garantiert jeden Tag zu sehen bekam, dann waren es Männer mit nackten Oberkörpern, wenn auch in der Regel ohne schlammbespritzte Anzughosen.
Fat Charlie wechselte sein Hemd neben dem Auto, dann ging er ins Haus zurück. Die vier Damen waren in der Küche, eifrig damit beschäftigt, Tupperware-Behälter mit Esswaren zu füllen, die offenbar bis eben noch Teil eines festlichen Büffets gewesen waren.
Mrs. Higgler war älter als Mrs. Bustamonte, und beide waren sie älter als Mrs. Noles, und keine war älter als Mrs. Dunwiddy. Mrs. Dunwiddy war alt, und das sah man ihr auch an. Wahrscheinlich gab es geologische Zeitalter, die jünger waren als Mrs. Dunwiddy.
Als Junge hatte Fat Charlie sich Mrs. Dunwiddy immer in Äquatorialafrika vorgestellt, wie sie mit ihrer dicken Brille missbilligend auf die seit Neuestem aufrecht gehenden Hominiden geblickt hatte. »Bleib aus meinem Vorgarten raus«, fuhr sie dann ein kürzlich herausgebildetes und noch reichlich unsicheres Exemplar des Homo habilis an,
»sonst gibt’s was auf die Ohren, das kann ich dir sagen.«
Mrs. Dunwiddy roch nach Veilchenwasser, und unter den Veilchen roch sie nach wirklich sehr alter Frau. Sie war eine winzige alte Dame, deren Blick bei Bedarf jedes Gewitter an Grimmigkeit übertraf, und Fat Charlie, der vor zwanzig Jahren, als er einmal einen versprungenen Tennisball aus ihrem Garten holen wollte, eins ihrer Zierobjekte kaputtgemacht hatte, fürchtete sich noch immer vor ihr.
Gegenwärtig aß Mrs. Dunwiddy mit den Fingern Reste vom Ziegencurry aus einer kleinen Tupperschüssel. »Zu schade zum Wegschmeißen«, sagte sie und ließ die Knochenstückchen auf eine Porzellanuntertasse fallen.
»Zeit für dich, was zu essen, Fat Charlie?«, fragte Miss Noles.
»Ich brauche nichts«, sagte Fat Charlie. »Ehrlich.«
Vier Augenpaare starrten ihn durch vier Brillen vorwurfsvoll an. »Bringt doch nichts, wenn du vor Trauer verhungerst.« Mrs. Dunwiddy leckte ihre Fingerspitzen ab und schnappte sich noch ein fettiges braunes Stück Ziege.
»Tu ich nicht. Ich hab jetzt nur keinen Hunger. Das ist alles.«
»Vom Kummer wirste schrumpfen, bis du nur noch Haut und Knochen bist«, sagte Miss Noles mit düsterer Begeisterung.
»Das glaube ich nicht.«
»Ich mach dir einen Teller zurecht am Tisch da drüben«, sagte Mrs. Higgler. »Geh und setz dich hin. Ich will kein Wort mehr hören. Es ist noch von allem da, brauchst dir also darüber keine Gedanken zu machen.«
Fat Charlie setzte sich auf den Platz, den sie ihm zugewiesen hatte, und innerhalb von Sekunden stand vor ihm ein Teller, auf dem sich gedünstete Erbsen mit Reis, Süßkartoffelpudding, geräuchertes Schweinefleisch, Ziegencurry, Hühnercurry, gebratene Kochbananen und ein eingelegter Kuhfuß stapelten. Fat Charlie spürte schon das Sodbrennen, obwohl er noch keinen Bissen genommen hatte.
»Wo sind all die andern?«, fragte er.
»Die Trinkkumpane von deinem Daddy sind was trinken gegangen. Danach wollen sie mit dem Boot raus zum Angeln, ihm zu Ehren.« Mrs. Higgler schüttete den Restkaffee aus ihrem eimergroßen Reisebecher in die Spüle und ersetzte ihn durch den dampfenden Inhalt einer frisch aufgesetzten Kaffeekanne.
Mrs. Dunwiddy leckte sich mit ihrer kleinen purpurroten Zunge die Finger sauber, dann schlurfte sie zu Fat Charlie hinüber, der sein Essen noch immer nicht angerührt hatte.
Als kleiner Junge hatte er ernsthaft geglaubt, dass Mrs. Dunwiddy eine Hexe sei. Keine gute Hexe, sondern mehr so eine, die die braven Kinder in den Ofen stoßen mussten, um ihr zu entkommen. Heute sah er sie zum ersten Mal seit zwanzig Jahren wieder, und noch immer musste er gegen den inneren Drang ankämpfen, sich kreischend unter dem Tisch zu verstecken.
»Hab ‘ne Menge Leute sterben sehen«, sagte Mrs. Dunwiddy »Zu meiner Zeit. Werd nur alt genug, dann wirst es selber erleben. Jeder stirbt irgendwann, musst ihm nur Zeit lassen.« Sie machte eine Pause. »Trotzdem. Hätte nie gedacht, dass es deinen Daddy erwischen würde.« Und sie schüttelte den Kopf.
»Wie war er?«, fragte Fat Charlie. »Als er jung war?« Mrs. Dunwiddv sah ihn durch ihre dicke, sehr dicke Brille an, ihre Lippen schürzten sich, und sie schüttelte den Kopf. »War vor meiner Zeit«, war alles, was sie antwortete. »Iss deinen Kuhfuß.«
Fat Charlie seufzte, und dann begann er zu essen.
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ES WAR später Nachmittag, und sie waren allein im Haus.
»Wo willste heut übernachten?«, fragte Mrs. Higgler.
»Ich dachte, ich nehme mir ein Motelzimmer«, sagte Fat Charlie.
»Obwohl du hier ein tadelloses Zimmer zum Schlafen hättest? Und ein tadelloses Haus die Straße runter? Du hast es dir noch nicht mal angeguckt. Wenn du mich fragst, dein Vater hätte sich gewünscht, dass du dort übernachtest.«
»Ich wäre lieber für mich. Und ich glaube, es käme mir nicht richtig vor, wenn ich im Haus meines Dads schlafen würde.«
»Na ja, ist nicht mein Geld, das zum Fenster rausgeht«, sagte Mrs. Higgler. »Du musst sowieso noch entscheiden, was mit dem Haus von deinem Vater passieren soll. Und mit all seinen Sachen.«
»Das ist mir egal«, sagte Fat Charlie. »Von mir aus können wir einen Flohmarkt veranstalten. Bei eBay verkaufen.
Oder alles zur Müllkippe bringen.«
»Na, was ist denn das für eine Einstellung?« Sie wühlte in einer Küchenschublade, der sie schließlich einen Haustürschlüssel mit einem großen Pappschild daran entnahm.
»Er hat mir einen Ersatzschlüssel gegeben, als er weggezogen ist«, sagte sie. »Für den Fall, dass er seinen verliert oder von innen stecken lässt oder so. Er hat immer gesagt, er könnte glatt seinen Kopf vergessen, wenn der nicht am Hals befestigt war. Als er das Haus nebenan verkauft hat, hat er zu mir gesagt, keine Sorge, Callyann, hat er gesagt, ich geh nicht weit fort. Er hatte in dem Haus gewohnt, so lange ich zurückdenken kann, aber jetzt fand er, es war ihm zu groß geworden und er musste umziehen …«, und in einem fort sprechend führte sie ihn nach draußen und fuhr ihn mit dem kastanienbraunen Kombi durch mehrere Straßen, bis sie zu einem einstöckigen Holzhaus gelangten.
Sie schloss die Haustür auf und sie gingen hinein.
Der Geruch war vertraut: leicht süßlich, als seien bei der letzten, aber schon lange zurückliegenden Benutzung der Küche Schokoladenkekse gebacken worden. Es war zu heiß hier drinnen. Mrs. Higgler ging voraus in ein kleines Wohnzimmer, wo sie eine ans Fenster montierte Klimaanlage einschaltete. Diese begann zu rattern und zu vibrieren, sie roch nach nassem Schäferhund und wälzte die warme Luft um.
Bücherstapel lagen rund um das klapprige Sofa, das Fat Charlie noch aus seiner Kindheit kannte, und es gab einige gerahmte Fotos: eins, in Schwarzweiß, von Fat Charlies Mutter, als sie jung war, in einem funkelnden Kleid, die schwarzglänzenden Haare hochgesteckt; daneben ein Foto von Fat Charlie selbst, im Alter von vielleicht fünf oder sechs Jahren, neben einer Spiegeltür stehend, sodass es auf den ersten Blick aussah, als würden einem zwei kleine Fat Charlies mit großem Ernst, entgegenstarren.
Fat Charlie nahm das zuoberst liegende Buch von einem der Stapel. Es war ein Buch über italienische Architektur.
»Hat er sich für Architektur interessiert?«
»O ja. Brennend.«
»Das wusste ich gar nicht.«
Fat Charlie schlug das Buch auf und sah den Namen seines Vaters säuberlich auf die erste Seite geschrieben. Er schlug das Buch wieder zu.
»Ich hab ihn überhaupt nicht gekannt«, sagte Fat Charlie. »Jedenfalls nicht richtig.«
»Es war nie leicht, ihn richtig zu kennen«, sagte Mrs. Higgler. »Ich kannte ihn, wie lange, fast sechzig Jahre? Und ich kann nicht sagen, dass ich ihn gekannt hätte.«
»Sie müssen ihn doch schon gekannt haben, als er noch ein Junge war.«
Mrs. Higgler zögerte. Sie schien in ihrer Erinnerung zu suchen. Dann sagte sie, ganz leise: »Ich hab ihn schon gekannt, als ich noch ein Mädchen war.«
Fat Charlie hielt es für angeraten, das Thema zu wechseln, und so zeigte er auf das Foto seiner Mutter. »Er hat Mamas Bild da stehen«, sagte er.
Mrs. Higgler schlürfte ein wenig von ihrem Kaffee.
»Das hamse auf einem Schiff gemacht«, sagte sie. »Noch bevor du geboren wurdest. Eins von diesen Schiffen, wo man drauf zu Abend isst, und dann fahren sie drei Meilen raus, aus den Hoheitsgewässern raus, da kann man dann Glücksspiel machen. Danach geht’s wieder an Land. Ich weiß nicht, ob sie diese Schiffe noch immer laufen haben. Deine Mutter meinte, das war das erste Mal gewesen, dass sie Steak gegessen hat.«
Fat Charlie versuchte sich vorzustellen, wie seine Eltern gewesen sein mochten vor seiner Geburt.
»Er ist immer ein gut aussehender Mann gewesen«, sann Mrs. Higgler, als würde sie seine Gedanken lesen. »Bis ganz zuletzt. Ein Lächeln hatte er, da ging es den Frauen durch und durch. Und er war immer so gut gekleidet. Alle Damen haben ihn geliebt.«
Fat. Charlie kannte die Antwort schon, bevor er die Frage stellte. »Haben Sie …?«
»Na, was ist denn das für eine Frage an eine ehrbare Witwe?« Sie trank einen Schluck Kaffee. Fat Charlie wartete auf die Antwort. Sie sagte: »Ich habe ihn geküsst. Vor langer, langer Zeit, noch bevor er deine Mutter kennengelernt hat. Er war ein guter, ein großartiger Küsser. Ich hab gehofft, dass er sich melden und mich wieder zum Tanzen ausführen würde, aber stattdessen ist er verschwunden. Wie lange war er weg, ein Jahr? Zwei Jahre? Und als er endlich zurückkam, war ich mit Mr. Higgler verheiratet, und er hat deine Mutter mitgebracht. Draußen auf den Inseln ist er ihr begegnet.«
»Waren Sie sauer?«
»Ich war eine verheiratete Frau.« Ein weiterer Schluck Kaffee. »Und man konnte ihn nicht hassen. Konnte ihm nicht mal richtig böse sein. Und dann, wie er sie angesehen hat verdammt, wenn er mich je so angesehen hätte, hätte ich glücklich sterben können. Und bei ihrer Hochzeit, wusstest du das, dass ich da die verheiratete Brautführerin deiner Mutter war?«
»Nein, das wusste ich nicht.«
Die Klimaanlage begann jetzt kalte Luft hervorzukeuchen. Sie roch immer noch nach nassem Schäferhund.
Er fragte: »Glauben Sie, dass sie glücklich waren?«
»Am Anfang.« Sie hob ihren riesigen Thermobecher. schien einen Schluck Kaffee nehmen zu wollen, besann sich dann aber anders. »Am Anfang. Aber nicht einmal sie konnte seine Aufmerksamkeit lange fesseln. Er hatte so viel zu tun. Er war sehr beschäftigt, dein Vater.«
Fat Charlie versuchte zu erkennen, ob Mrs. Higgler einen Witz gemacht hatte oder nicht. Er fand keinen Anhaltspunkt. Lächeln tat sie jedenfalls nicht.
»So viel zu tun? Was denn? Im Boot sitzen und angeln? Domino auf der Veranda spielen? Auf die unvermeidliche Erfindung des Karaoke warten? Er war nicht die Spur beschäftigt. Ich wüsste nicht, dass er mal einen ganzen Tag gearbeitet hätte in der ganzen Zeit, in der ich ihn erlebt habe.«
»So solltest du nicht über deinen Vater reden!«
»Na ja, ist doch aber wahr. Er war ein Taugenichts. Fin saumäßiger Ehemann und ein saumäßiger Vater.«
»Natürlich war er das!«, sagte Mrs. Higgler ungestüm.
»Aber du kannst ihn nicht nach normalen Maßstäben beurteilen. Du darfst nicht vergessen, Fat Charlie, dass dein Vater ein Gott war.«
»Ein Gott unter den Menschen?«
»Nein. Einfach ein Gott.« Sie sagte es ohne besonderen Nachdruck, so ausdruckslos und normal, als hätte sie gesagt: »Er war Diabetiker« oder auch: »Er war schwarz«.
Fat Charlie wollte einen Witz darüber machen, aber da war so ein bestimmter Ausdruck in Mrs. Higglers Augen, und plötzlich wollte ihm nichts Witziges mehr einfallen. Also sagte er sanft: »Er war kein Gott. Götter sind etwas Besonderes. Was Mythisches. Sic vollbringen Wunder und so.«
»Genau«, sagte Mrs. Higgler. »Wir hätten es dir nicht gesagt, solange er noch lebte, aber jetzt, wo er von uns gegangen ist, kann es wohl nicht mehr schaden.«
»Er war kein Gott. Er war mein Vater.«
»Man kann beides sein«, sagte sie. »Das kommt vor.«
Es war, als würde man mit einer geistesgestörten Person diskutieren, dachte Fat Charlie. Er wusste ganz genau, dass er einfach den Mund halten sollte, aber der Mund redete einfach weiter. Gerade eben sagte er: »Hören Sie. Wäre mein Vater ein Gott gewesen, hätte er göttliche Kräfte haben müssen.«
»Hatte er ja. Nicht, dass er je viel damit angestellt hätte, nein, das nicht. Aber er ist alt geworden. Überhaupt, was glaubst du, wie er damit durchgekommen ist, nicht zu arbeiten? Immer wenn er Geld brauchte, hat er in der Lotterie gespielt oder ist nach Hallendale gefahren, um auf Hunde oder Pferde zu wetten. Hat nie so viel gewonnen, dass er Aufmerksamkeit erregte. Aber grade genug, um über die Runden zu kommen.«
Fat Charlie hatte in seinem ganzen Leben noch nichts gewonnen. Nicht eine müde Mark. Bei den diversen Sportwetten, die bei ihm im Büro veranstaltet wurden, konnte er sich, wenn er denn überhaupt mal mitspielte, stets darauf verlassen, dass sein Pferd gar nicht erst aus der Startbox kam oder dass sein Fußballteam in irgendeine Liga absteigen musste, von der man noch nie gehört hatte, irgendwo in den allertiefsten Niederungen des organisierten Sports. Es tat richtig weh.
»Wenn mein Dad ein Gott war – eine Annahme wohlgemerkt, auf die ich mich gar nicht erst einlasse, warum bin dann ich nicht auch ein Gott? Ich meine, Sie behaupten, dass ich der Sohn eines Gottes bin, nicht wahr?«
»Natürlich.«
»Na ja, also, warum kann ich dann nicht bei Pferdewetten gewinnen oder magische Dinge anstellen und so weiter?«
Sie rümpfte die Nase. »All diese Gottsachen hat dein Bruder geerbt.«
Fat Charlie sah, dass sie lächelte. Er atmete aus. Dann war es also doch alles nur ein Witz.
»Ach, wissen Sie, Mrs. Higgler, ich habe gar keinen Bruder.«
»Natürlich hast du einen. Da auf dem Foto, das seid ihr beide doch, du und er.«
Obwohl er wusste, was darauf zu sehen war, warf Fat Charlie noch einen Blick auf die Fotografie. Tatsächlich, sie war verrückt. Völlig durchgeknallt. »Mrs. Higgler«, sagte er so sanft wie möglich. »Das bin ich. Nur ich, als Kind. Das ist eine Spiegeltür. Und ich steh daneben. Das bin ich und mein Spiegelbild.«
»Du bist es, und auch dein Bruder.«
»Ich habe nie einen Bruder gehabt.«
»Doch, sicher. Vermissen tu ich ihn nicht, muss ich sagen. Du warst immer der Brave, weißt du. Er war ‘ne ganz schöne Nervensäge, als er noch hier war.« Und bevor Fat Charlie etwas dazu sagen konnte, fügte sie hinzu: »Er ist weggegangen, als du noch ein kleiner Junge warst.«
Fat Charlie beugte sich vor. Er legte seine große Hand auf Mrs. Higglers knochige Hand, diejenige, die nicht mit dem Kaffeebecher verwachsen war. »Das ist nicht wahr«, sagte er.
»Louella Dunwiddy hat ihn vertrieben«, sagte sie. »Er hatte Angst vor ihr. Aber von Zeit zu Zeit ist er trotzdem noch mal zurückgekommen. Er konnte reizend sein, wenn er wollte.« Sie trank ihren Kaffee aus.
»Ich habe mir immer einen Bruder gewünscht«, sagte Fat Charlie. »Jemanden zum Spielen.«
Mrs. Higgler erhob sich. »So, dieses Haus wird sich nicht von allein aufräumen«, sagte sie. »Ich hab Müllbeutel im Auto. Ich schätze, wir werden eine Menge Müllbeutel brauchen.«
»Ja«, sagte Fat Charlie.
Er übernachtete in einem Motel. Am nächsten Morgen trafen er und Mrs. Higgler sich im Haus seines Vaters, und sie packten allerlei Plunder in große schwarze Müllbeutel. Sie stellten Beutel mit Gegenständen zusammen, die für wohltätige Zwecke gespendet werden sollten. Sie füllten auch eine Kiste mit Dingen, die Fat Charlie zur Erinnerung behalten wollte, überwiegend Bilder aus seiner Kindheil und aus der Zeit vor seiner Geburt.
Es gab auch noch einen alten Schrankkoffer, der wie eine kleine Piratenschatztruhe aussah, in dem sich aber nur Dokumente und alte Papiere befanden. Fat Charlie setzte sich auf die Erde und sah sie durch. Mrs. Higgler kam mit einem weiteren Beutel voller mottenzerfressener Kleidungsstücke aus dem Schlafzimmer.
»Das war dein Bruder, der ihm den Schrankkoffer geschenkt hat«, sagte Mrs. Higgler aus heiterem Himmel. Es war das erste Mal heute, dass sie auf die Hirngespinste des gestrigen Abends zurückkam.
»Ich wünschte, ich hätte einen Bruder gehabt«, sagte Fat Charlie, und er merkte gar nicht, dass er es laut ausgesprochen hatte, bis Mrs. Higgler sagte: »Ich habe es dir doch gesagt. Du hast einen Bruder.«
»Also«, sagte er. »Wo würde ich diesen meinen sagenhaften Bruder denn finden?« Später sollte er sich fragen, warum er ihr diese Frage gestellt hatte. Um sie bei Laune zu halten? Sich über sie lustig zu machen? Musste er einfach nur irgendetwas sagen, um kein betretenes Schweigen entstehen zu lassen? Aus welchem Grund auch immer, er sprach es aus. Und sie kaute nickend auf ihrer Unterlippe.
»Du musst es wissen. Es ist dein Erbe. Deine Blutlinie.«
Sie ging auf ihn zu und krümmte den Zeigefinger. Fat Charlie beugte sich hinunter. Die Lippen der Alten wischten an seinem Ohr entlang, als sie flüsterte: »… ihn brauchst … sag’s einer …«
»Was?«
»Ich sagte«, sagte sie in ihrer normalen Stimme, »wenn du ihn brauchst, sag es einer Spinne. Dann kommt er angeflitzt.«
»Ich soll es einer Spinne sagen?«
»Hab ich grad gesagt. Glaubst du, ich rede hier nur für meine Gesundheit? Damit meine Lunge nicht einrostet?
Noch nie davon gehört, dass Leute mit den Bienen sprechen? Als ich noch ein Mädchen war in Saint Andrews, bevor meine Familie hierher gezogen ist, da ist man immer zu den Bienen gegangen, um ihnen all die guten Neuigkeiten zu erzählen. Ja ja, und das hier ist das Gleiche. Sprich mit der Spinne. So hab ich früher auch immer deinem Vater Nachrichten zukommen lassen, wenn er mal wieder verschwunden war.«
»…Aha.«
»Sag nicht auf diese Art ›Aha‹ zu mir.«
»Auf welche Art?«
»Als war ich eine verrückte alte Frau, die nicht alle Tassen im Schrank hat. Glaubst du. ich weiß nicht, wo’s langgeht?«
»Ähm. Doch, das glaube ich bestimmt. Ehrlich.«
Mrs. Higgler war nicht beschwichtigt. Sie war alles andere als vergnügt. Sie nahm ihren Kaffeebecher vorn Tisch und hielt ihn in den Händen, machte dazu ein Gesicht, aus dem reine Missbilligung sprach. Fat Charlie war jetzt zu weit gegangen, und Airs. Higgler war entschlossen, ihm das unmissverständlich klarzumachen.
»Ich muss das hier nicht machen, weißt du«, sagte sie.
»Ich muss dir nicht helfen. Ich mach das nur wegen deinem Vater, er war was Besonderes, und wegen deiner Mutter, das war eine feine Frau. Ich erzähl dir große Sachen. Ich erzähl dir wichtige Sachen. Du solltest mir zuhören. Du solltest mir glauben.«
»Ich glaube Ihnen«, sagte Fat Charlie so überzeugungskräftig, wie er es vermochte.
»Jetzt willst du nur einer allen Frau erzählen, was sie hören will.«
»Nein«, log er. »Gar nicht. Ehrlich nicht.« Seine Worte trieften vor Aufrichtigkeit und Wahrheit. Er war tausend Meilen von zu Hause weg, im Haus seines verstorbenen Vaters, zusammen mit einer verrückten alten Frau, die am Rande eines Schlaganfalls zu stehen schien. Notfalls, wenn das zu ihrer Beruhigung beigetragen hätte, hätte er ihr auch bestätigt, dass der Mond irgendeine außergewöhnliche tropische Frucht sei, und er hätte es nach besten Kräften auch geglaubt.
Sie rümpfte die Nase.
»Das ist doch das Problem mit euch jungen Leuten«, sagte sie. »Nur weil ihr noch nicht so lange hier seid, glaubt ihr, dass ihr alles wisst. Ich hab in meinem Leben schon mehr vergessen, als ihr je wissen werdet. Du weißt überhaupt nichts über deinen Vater, und du weißt überhaupt nichts über deine Familie. Ich erzähl dir, dass dein Vater ein Gott, ist, und du fragst nicht mal, was denn für ein Gott.«
Fat Charlie versuchte sich an ein paar Namen von Göttern zu erinnern. »Zeus?«, bot er an.
Mrs. Higgler machte ein Geräusch wie ein Kessel, der das Kochen unterdrücken will. Woraus Fat Charlie mit einiger Sicherheit schloss, dass Zeus die falsche Antwort gewesen war. »Amor?«
Sie machte ein weiteres Geräusch, das als eine Art Prusten begann und sich zu einem Kichern entwickelte. »Kann mir deinen Dad richtig ausmalen, wie er nichts als so eine flauschige Windel trägt und dazu Pfeil und Bogen.« Sie kicherte noch ein bisschen. Dann nahm sie einen Schluck Kaffee.
»Damals, als er ein Gott war«, sagte sie. »In den alten Zeiten, da hat man ihn Anansi genannt.«
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NUN, WAHRSCHEINLICH kennen Sie einige Geschichten über Anansi; wahrscheinlich gibt es auf der ganzen Welt niemanden, der noch nie eine Anansi-Geschichte gehört hätte.
Anansi war eine Spinne, damals, als die Welt noch jung war und alle Geschichten zum ersten Mal erzählt wurden. Er ist immer wieder in Schwierigkeiten geraten, und er ist aus diesen Schwierigkeiten auch immer wieder herausgekommen. Die Onkel-Remus-Erzählung von Bruder Hase und dem Teerbaby? Das war ursprünglich Anansis Geschichte. Manche Leute glauben, dass er ein Hase war. Er war aber kein Hase. Er war eine Spinne.
Erzählungen über Anansi gibt es, seit die Menschen sich Geschichten erzählen. In Afrika, wo alles begann, erzählten die Menschen, noch bevor sie anfingen, Löwen und Bären auf Höhlenwände zu malen, schon Geschichten über Affen und Löwen und Büffel: große Traumgeschichten. Die Menschen hatten schon immer diese Neigung. Es war ihre Art, sich die Welt zu erklären. Alles, was lief oder kroch, was durch die Luft schwang oder sich über den Boden schlängelte, kam in diesen Geschichten vor, und die unterschiedlichen Volksstämme verehrten unterschiedliche Geschöpfe.
Löwe war der König der Tiere, damals schon, und Gazelle die flinkste zu Fuß, Affe war der Närrischste und Tiger der Schrecklichste, aber es waren nicht die Geschichten über sie, die die Leute hören wollten.
Anansi gab den Geschichten seinen Namen. Jede Geschichte ist Anansis Geschichte. Zuerst, bevor sie Anansis Geschichten wurden, gehörten sie alle Tiger (das ist der Name, mit dem die Menschen auf den Inseln die großen Katzen bezeichnen), und da waren die Erzählungen dunkel und böse, voller Leid und Schmerz, und keine von ihnen ging gut aus. Aber das ist lange her. Heutzutage gehören die Geschichten Anansi.
Wo wir gerade auf einer Beerdigung waren, will ich Ihnen eine Geschichte von Anansi aus der Zeit erzählen, als seine Großmutter starb. (Nein, keinen Schreck kriegen: Sie war schon sehr alt und verschied friedlich im Schlaf. So was kommt vor! Sie starb weit entfernt von zu Hause, und Anansi geht deshalb also mit seinem Handkarren über die Inseln, um den Leichnam seiner Großmutter zu holen, er legt ihn auf den Handkarren und schiebt ihn nach Hause. Er will sie neben dem Banyanbaum hinter seiner Hütte begraben, nicht wahr.
Irgendwann, nachdem er den Karren mit dem Leichnam seiner Großmutter schon den ganzen Morgen geschoben hat, kommt er durch einen Ort, und er denkt: Ich brauch einen Whisky. Also geht er in den Laden, denn es gibt da einen Laden in dem Dorf, einen Laden, in dem man alles kaufen kann und dessen Besitzer ein ziemlicher Hitzkopf ist. Anansi geht rein und trinkt einen Whisky. Dann trinkt er noch einen Whisky und denkt: Diesem Burschen werd ich mal einen Streich spielen. Also sagt er zu dem Ladenbesitzer: Gehnse doch mal raus zu meiner Großmutter, die auf dem Karren schläft, und bringense ihr auch einen Whisky. Kann sein, dass Sie sie aufwecken müssen, sie hat einen gesunden Schlaf.
Der Ladenbesitzer geht also mit der Flasche raus zu dem Karren, und er sagt zu der alten Dame auf dem Karren:
»He, hier ist Ihr Whisky«, aber die alte Dame antwortet natürlich nicht. Und der Ladenbesitzer wird wütend und immer wütender, weil er eben so ein Hitzkopf ist, er sagt: Steh auf, Alte, komm hoch und trink deinen Whisky, aber die alte Frau reagiert einfach nicht. Aber dann tut sie etwas, was die Toten manchmal tun, wenn es heiß wird: Sie lässt einen fahren, richtig laut. Tja, und das macht den Ladenbesitzer so richtig wütend, dass diese alte Frau ihn anfurzt, und deshalb schlägt er sie, schlägt sie gleich noch mal und noch mal, bis sie vom Karren fällt und auf die Erde purzelt.
Jetzt kommt Anansi rausgelaufen und fangt an zu schreien und zu wehklagen, oh, meine Großmutter, sie ist tot.
sieh nur, was du getan hast! Mörder! Unhold! Und der Ladenbesitzer ist erschrocken und er sagt zu Anansi: Sag’s niemandem weiter, was ich getan hab, und er gibt Anansi fünf volle Flaschen Whisky und dazu einen Beutel Gold und einen Sack voll Kochbananen, Ananas und Mangos, damit er bloß still ist und schnell abhaut.
Er glaubt nämlich, dass er Anansis Großmutter getötet hat, nicht wahr.
Anansi schiebt also seinen Handkarren nach Hause, und dort begräbt er seine Großmutter unter dem Banyanbaum.
Am nächsten Tag kommt Tiger an Anansis Haus vorbei und er riecht, dass es da was zu essen gibt. Also lädt er sich selbst ein, mal reinzuschauen, und wer sagt’s denn, da ist Anansi und veranstaltet ein Festessen, und weil Anansi nichts anderes übrig bleibt, bittet er Tiger, sich zu ihnen zu setzen und mitzuessen.
Tiger sagt: Bruder Anansi, wo haste denn all das gute Essen her, und komm nicht auf die Idee, mich anzulügen! Und wo hast du die ganzen Whiskyflaschen her und diesen großen Beutel voller Goldstücke? Wenn du mich anlügst, schlitz ich dir die Kehle auf.
Da sagt Anansi: Ich kann dich nicht anlügen, Bruder Tiger. Ich hab das alles gekriegt dafür, dass ich meine tote Großmutter auf einem Handkarren ins Dorf gefahren hab. Der Ladenbesitzer dort, der hat mir all die guten Sachen gegeben, weil ich ihm meine tote Großmutter gebracht hab.
Nun ist es so. dass Tiger keine lebende Großmutter mehr hatte, aber seine Frau, die hatte noch eine Mutter, also geht er nach Hause und ruft die Mutter seiner Frau nach draußen, er sagt, Großmutter, komm mal raus, du und ich. wir müssen uns mal unterhalten. Und sie kommt raus und guckt sich um und sagt, ja, was ist denn? Na ja, Tiger bringt sie also um, obwohl seine Frau sie liebt und alles, und er packt ihre Leiche auf einen Handkarren.
Dann schiebt er den Handkarren zum Dorf, die tote Schwiegermutter obendrauf. Wer will eine Leiche haben?, ruft er. Wer will ‘ne tote Großmutter? Aber die Leute hatten nur Spott übrig für ihn, sie lachten ihn aus und machten sich lustig, und als sie merkten, dass er es ernst meinte und nicht einfach wieder verschwinden wollte, da bewarfen sie ihn so lange mit faulem Obst, bis er die Flucht ergriff.
Es war nicht das erste Mal, dass Tiger von Anansi reingelegt worden war, und es sollte auch nicht das letzte Mal sein. Tigers Frau ließ ihn nie vergessen, dass er ihre Mutter umgebracht hatte. Es gibt Tage, da wünscht sich Tiger, er wäre nie geboren worden.
Das ist eine Anansi-Geschichte.
Klar, alle Geschichten sind Anansi-Geschichten. Auch diese hier.
In den alten Zeiten wollten alle Tiere, dass die Geschichten nach ihnen benannt würden, ganz früher, als die Lieder noch gesungen wurden, die die Welt erschufen, damals, als sie noch den Himmel und den Regenbogen und das Meer ersangen. Es war in dieser Zeit, als Tiere nicht nur Tiere, sondern auch Menschen waren, dass Anansi, die Spinne, sie alle, vor allem aber Tiger, austrickste, weil er alle Geschichten nach sich benannt haben wollte.
Geschichten sind wie Spinnen, mit all ihren langen Beinen, und Geschichten sind auch wie Spinnennetze, in die der Mensch sich hoffnungslos verfängt, aber sie sehen so hübsch aus, wenn man sie im Morgentau unter einem Blatt erblickt, und wie elegant sie sich miteinander verweben, jedes mit jedem!
Wie war das? Sie wollen wissen, ob Anansi wie eine Spinne aussah? Logisch tat er das, außer wenn er wie ein Mensch aussah.
Nein, er hat nie die Gestalt gewechselt. Es hängt nur davon ab, wie man die Geschichte erzählt. Das ist alles.