KAPITEL DREI

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IN DEM ES

ZU EINEM

FAMILIENTREFFEN

KOMMT

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FAT CHARLIE flog heim nach England. nach Hause, jedenfalls soweit man bei ihm von einem Zuhause sprechen konnte.

Rosie erwartete ihn, als er mit seinem kleinen Koffer und einem großen verschnürten Pappkarton aus der Zollabfertigung kam. Sie nahm ihn fest in die Arme. »Wie war es?«, fragte sie.

Er zuckte die Achseln. »Hätte schlimmer sein können.«

»Na ja«, sagte sie, »wenigstens musst du dir keine Sorgen mehr machen, dass er zur Hochzeit kommt und dich in Verlegenheit stürzt.«

»So kann man es sehen.«

»Meine Mutter sagt, wir sollten die Hochzeit für ein paar Monate aussetzen, als Zeichen des Respekts.«

»Deine Mutter möchte nur, dass wir die Hochzeit aussetzen, Punkt.«

»Unsinn. Sie findet, dass du eine ziemlich gute Partie bist.«

»Deine Mutter würde nicht mal eine Kombination aus Brad Pitt, Bill Gates und Prinz William als gute Partie bezeichnen. Es gibt, auf der ganzen Welt niemanden, der es wert wäre, ihr Schwiegersohn zu sein.«

»Sie mag dich«, sagte Rosie pflichtschuldig und wenig überzeugend.

Rosies Mutter mochte Fat Charlie nicht, und alle wussten es. Rosies Mutter war ein nervöses Ausbund von kaum reflektierten Vorurteilen, Ängsten und Animositäten. Sie lebte in einer großartigen Wohnung in der Wimpole Street, aber in ihrem riesigen Kühlschrank gab es nichts als Roggenkräcker und eine Batterie von Flaschen voll Wasser mit Vitaminzusatz. Wachsobst lag in Schüsseln auf diversen altehrwürdigen Anrichten und wurde zweimal in der Woche abgestaubt.

Anlässlich seines Antrittsbesuchs bei Rosies Mutter hatte Fat Charlie in einen der Wachsäpfel gebissen. Er war extrem nervös gewesen, nervös genug, um einen Apfel in die Hand zu nehmen, einen extrem realistischen Apfel, muss man zu seiner Entschuldigung sagen, und hineinzubeißen. Rosie hatte ihm verzweifelt Zeichen gegeben. Fat Charlie spuckte sich den Wachsbrocken in die Hand und erwog, so zu tun, als möge er Wachsobst schrecklich gern, oder als habe er die ganze Zeit gewusst, worum es sich handele, und nur lustig sein wollen; Rosies Mutter jedoch hob nur die Augenbrauen, nahm ihm die Überreste des Apfels aus der Hand, und mit einem knappen Hinweis darauf, wie viel echtes Wachsobst heutzutage koste, wenn man es denn überhaupt noch finde, warf sie das ruinierte Stück in den Mülleimer. Fat Charlie saß den Rest des Nachmittags auf dem Sofa und hatte einen Geschmack wie Kerzenwachs im Mund, während Rosies Mutter ihn streng im Auge behielt, um sicherzugehen, dass er keine weiteren Versuche unternahm, ihr kostbares Wachsobst aufzuessen oder etwa das Bein eines Chippendale-Stuhls anzuknabbern.

Große Farbfotos in Silberrahmen standen auf einer der Anrichten in der Wohnung von Rosies Mutier: Fotos von Rosie als kleines Mädchen sowie von Rosies Mutter und Vater, und Fat Charlie hatte sie eingehend betrachtet, um Anhaltspunkte zur Erklärung des Rätsels zu finden, das Rosie für ihn darstellte. Ihr Vater, gestorben, als Rosie fünfzehn war, war ein gewichtiger Mann gewesen. Als Koch hatte er angefangen, war Küchenchef geworden, dann Gastronom. Er war stets perfekt gekleidet, so als sei er vor jeder Aufnahme von der Kostümabteilung extra ausstaffiert worden, massig und lächelnd, den Arm immer angewinkelt, damit Rosies Mutter sich einhaken konnte.

»Er war ein unglaublicher Koch«, sagte Rosie. Auf den Fotos sah Rosies Mutter üppig und fröhlich aus. Jetzt, zwölf Jahre später, ähnelte sie einer magersüchtigen Eartha Kitt, und Fat Charlie hatte sie noch kein einziges Mal lächeln sehen.

»Kocht deine Mutter sich je etwas zu essen?«

»Ich weiß nicht. Ich hab sie noch nie kochen sehen.«

»Was isst sie denn? Ich mein, sie kann doch nicht von Kräckern und Wasser leben.«

Rosie sagte: »Ich glaube, sie lässt sich Sachen liefern.« Fat Charlie hielt es für durchaus möglich, wenn nicht wahrscheinlich, dass Rosies Mutter nachts in Fledermausgestalt ausflog, um das Blut von schlafenden Unschuldigen zu saugen. Einmal hatte er Rosie diese These vorgetragen, aber sie war nicht imstande gewesen, den Humor zu würdigen, der darin steckte.

Rosies Mutter hatte zu Rosie gesagt, sie sei sich sicher, dass Fat Charlie sie nur um des Geldes willen heirate.

»Welches Geld?«, fragte Rosie.

Rosies Mutter deutete mit einer allgemeinen Geste auf die Wohnung, inklusive des Wachsobstes, der Antiquitätenmöbel sowie der Gemälde an den Wänden, und schürzte die Lippen.

»Aber das gehört doch alles dir«, sagte Rosie, die von dem Gehalt lebte, das sie für ihre Tätigkeit bei einer Londoner Wohltätigkeitsorganisation erhielt – und dieses Gehalt war nicht üppig bemessen, weshalb Rosie ergänzend auf das ihr vom Vater testamentarisch hinterlassene Geld zurückgegriffen hatte. Das hatte für eine kleine Wohnung, die sich Rosie mit einer beachtlichen Reihe aufeinander folgender Australierinnen und Neuseeländerinnen teilte, und einen gebrauchten VW-Golf gereicht.

»Ich werd nicht ewig leben«, sagte ihre Mutter naserümpfend, in einem Ton, der durchklingen ließ, dass sie die feste Absicht habe, eben dies zu tun und dabei immer dünner und härter – steinartiger zu werden, immer weniger zu essen, bis sie in der Lage sei, nur noch von Luft, Wachsobst und Bosheit zu leben.

Rosie, die Fat Charlie von Heathrow nach Hause fuhr, beschloss, dass es Zeit für einen Themenwechsel sei. Sie sagte: »Ich habe kein Wasser in der Wohnung. Überall im Haus ist das Wasser abgestellt.«

»Wie kommt das denn?«

»Mrs. Klinger aus dem Erdgeschoss meint, es sei irgendwo etwas undicht.«

»Wahrscheinlich Mrs. Klinger selbst.«

»Charlie. Ich hab also überlegt, könnte ich heute Abend bei dir ein Bad nehmen?«

»Soll ich dir den Rücken einseifen?«

»Charlie.«

»Klar. Kein Thema.«

Rosie starrte auf das Heck des Autos vor ihnen, dann nahm sie die Hand vom Schalthebel und drückte Fat Charlies sehr viel größere Hand. »Nicht mehr lange, dann sind wir verheiratet«, sagte sie.

»Ich weiß«, sagte Fat Charlie.

»Nun, ich meinte«, sagte sie. »Dann wird noch viel Zeit für all das sein, nicht wahr?«

»Viel Zeit«, sagte Fat Charlie.

»Weißt du, was meine Mutter einmal gesagt hat?«, fragte Rosie.

»Ah. Irgendwas in der Richtung, dass es höchste Zeit sei, den Galgen wieder einzuführen?«

»Nein. Sie hat gesagt, wenn ein frisch verheiratetes Paar im ersten Ehejahr jedes Mal, wenn es miteinander schläft, eine Münze in einen Krug steckt, und dann in den folgenden Jahren jedes Mal, wenn es miteinander schläft, eine Münze wieder aus dem Krug herausholt, dann wird der Krug niemals leer.«

»Und das bedeutet was …?«

»Na ja«, sagte sie. »Es ist interessant, oder? Ich werde heute Abend um acht mit meiner Gummiente zu dir kommen. Wie sieht’s bei dir mit Handtüchern aus?«

»Ähm …«

»Ich bring mein eigenes Handtuch mit.«

Fat Charlie glaubte nicht, dass die Welt untergehen würde, wenn die eine oder andere Münze schon mal in den Krug fiele, bevor sie den Bund schlossen und die Hochzeitstorte anschnitten, aber Rosie hatte in dieser Sache ihre eigenen, sehr bestimmten Ansichten, und damit war diese Sache gegessen. Der Krug blieb bis auf Weiteres vollkommen leer.


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WENN MAN nach kurzem Auslandsaufenthalt frühmorgens wieder in London eintrifft, dann, so erkannte Fat Charlie, als er nach Hause kam, stellt sich das Problem, dass mit dem Rest des Tages im Grunde wenig anzufangen ist.

Fat Charlie war jemand, der den Müßiggang scheute. Auf dem Sofa liegen und Countdown gucken, das betrachtete er als unliebsame Erinnerung an Zeiten der Arbeitslosigkeit. Er beschloss, dass es das Vernünftigste sei, einen Tag früher als vorgesehen an seinen Schreibtisch zurückzukehren. In den Aldwich-Büroräumen der Grahame-Coats-Agentur, ganz oben im fünften Stock, würde er sich das Gefühl verschaffen können, auf dem Laufenden zu sein. Es würde interessante Unterhaltungen mit den Kollegen in der Teestube geben. Die ganze Fülle des Lebens würde sich vor ihm entfallen, erhaben in ihrer Bildlichkeit, unnachgiebig und nicht lockerlassend in ihrer Emsigkeit. Die anderen würden sich freuen, ihn zu sehen.

»Sie kommen doch erst morgen wieder«, sagte Annie, die Empfangssekretärin, als Fat Charlie hereinspaziert kam.

»Ich habe allen gesagt, dass Sie erst morgen wieder da sind. Denen, die angerufen haben.« Sie schien nicht grad begeistert.

»Konnte es einfach nicht mehr aushalten«, sagte Fat Charlie.

»Offensichtlich«, sagte sie naserümpfend. »Sie sollten Maeve Livingstone zurückrufen. Sie hat jeden Tag hier angerufen.«

»Ich dachte, sie sei eine von Grahame Coats’ Leuten.«

»Tja, er möchte, dass Sic mit ihr reden. Moment.« Sie griff zum Telefon.

Grahame Coats gab’s nur als ganzen Namen. Nicht Mister Coats. Und auf keinen Fall Grahame. Es war seine Agentur, deren Zweck darin bestand, allerlei Leute zu repräsentieren und einen gewissen Prozentsatz dessen einzubehalten, was sie mit dem Recht, sie repräsentieren zu dürfen, verdiente.

Fat Charlie ging in sein Büro, einen winzigen Raum, den er sich mit einer Reihe von Aktenregalen teilte. Ein gelber Haftnotizzettel mit der Aufschrift »Kommen Sie in mein Büro. GC« klebte auf seinem Computerbildschirm, also ging er gleich weiter den Flur hinunter zu Grahame Coats’ riesigem Bürozimmer. Die Tür war zu. Er klopfte und dann, nicht sicher, ob er jemanden antworten gehört hatte, öffnete er die Tür und steckte den Kopf ins Zimmer.

Es war leer. Niemand da. »Ähm, hallo?«, sagte Fat Charlie, nicht allzu laut. Es kam keine Antwort. Es war allerdings eine gewisse Unordnung im Zimmer zu verzeichnen: Der Bücherschrank stand in einem ungewöhnlichen Winkel von der Wand ab, und von dahinter war ein dumpf knallendes Geräusch zu hören, als würde dort gehämmert oder Ähnliches.

Er schloss die Tür so leise wie möglich und ging zu seinem Schreibtisch zurück.

Sein Telefon klingelte. Er nahm ab.

»Grahame Coats hier. Kommen Sie in mein Büro.« Diesmal saß Grahame Coats an seinem Schreibtisch, und der Bücherschrank stand gerade und flach an der Wand. Grahame Coats forderte Fat Charlie nicht auf, sich zu setzen. Er war ein Mann mittleren Alters mit äußerst blondem, sich lichtendem Haar. Wer beim Anblick von Grahame Coats unwillkürlich an ein Albinofrettchen im teuren Anzug denken musste, befand sich in guter oder jedenfalls zahlreicher Gesellschaft.

»Sie sind, wie ich sehe, wieder bei uns«, sagte Grahame Coats. »Sozusagen.«

»Ja«, sagte Fat Charlie. Und dann, da Grahame Coats nicht übermäßig erfreut über seine vorzeitige Rückkehr schien, fügte er hinzu: »Entschuldigung.«

Grahame Coats presste die Lippen aufeinander, studierte kurz ein Schriftstück, das vor ihm auf dem Schreibtisch lag, sah dann wieder auf. »Ich hatte das so verstanden, dass Sie tatsächlich nicht vor morgen wieder hier sein würden. Sind wir wohl ein bisschen früh dran, wie?«

»Wir, ich mein, ich – bin heute Morgen zurückgekommen. Aus Florida. Ich dachte, ich schau mal rein. Viel zu tun. Guten Willen zeigen. Wenn es recht ist.«

»Selbstverfreilich«, sagte Grahame Coats. Mit dieser Wendung einer Kreuzung der Worte »selbstverständlich« und »freilich« konnte Grahame Coats Fat Charlie zuverlässig auf die Nerven gehen. »Ist ja Ihre Beerdigung.«

»Eigentlich die meines Vaters.«

Eine frettchenhafte Halsverrenkung. »Sie nehmen immer noch einen Ihrer Krankentage in Anspruch.«

»Richtig.«

»Maeve Livingstone. Besorgte Witwe von Morris. Braucht Zuspruch. Schöne Worte und Versprechungen.

Rom wurde nicht an einem Tag erbaut. Das eigentliche Geschäft, Morris Livingstones Nachlass zu ordnen und ihr Geld zukommen zu lassen, geht unvermindert weiter. Ruft mich praktisch jeden Tag an, soll ihr das Händchen halten. Unterdessen übergebe ich die Aufgabe an Sie.«

»Alles klar«, sagte Fat Charlie. »Also, ähm. Keine Ruhe für die Schuldigen.«

»Dem Fleißigen lacht das Glück«, sagte Grahame Coats, mit dem Finger drohend.

»Sich regen bringt Segen?«, legte Fat Charlie nach.

»Legen Sie sich ins Zeug«, fasste Grahame Coats zusammen. »Tja, war nett, mit Ihnen zu plaudern. Aber wir haben beide viel zu tun.«

Irgendetwas an Grahame Coats Wesen und Erscheinung veranlasste Fat Charlie jedes Mal, (a) in abgegriffenen Wendungen zu sprechen und (b) von großen schwarzen Hubschraubern zu träumen, die zunächst das Feuer auf die Büroräume der Grahame-Coats-Agentur eröffneten und sie dann mit Eimern voll brennendem Napalm bombardierten. In diesen Tagträumen hielt Fat Charlie sich nicht im Büro auf. Vielmehr saß er auf einem Stuhl vor einem kleinen Cafe auf der anderen Seite der Aldwych Street, schlürfte seinen Eiskaffee und applaudierte hin und wieder einem besonders gelungenen Wurf mit dem Napalmeimer.

Daraus mögen Sie den Schluss ziehen, dass es nicht viel über Fat Charlies Beschäftigung zu erfahren gibt, was über die Tatsache hinausgeht, dass er darin unglücklich war, und im Wesentlichen lägen Sie damit richtig. Fat Charlie war im Umgang mit Zahlen geschickt genug, dass er stets damit rechnen konnte, eine Anstellung zu finden, legte aber im Umgang mit Leuten ein Ungeschick an den Tag, das ihm nicht erlaubte, seine beruflichen Leistungen ins rechte Licht zu stellen. Ringsherum sah Fat Charlie, wie die Leute unermüdlich bis zur Stufe ihrer Inkompetenz aufstiegen, während er in Einsteigerpositionen verharrte und wesentliche Aufgaben erfüllte bis zu dem Tag, da er in die Reihen der Arbeitslosen zurückkehren und wieder anfangen würde, tagsüber vor dem Fernseher zu sitzen. Er war nie lange ohne Arbeit, aber in den letzten zehn Jahren war es einige Male zu oft vorgekommen, als dass Fat Charlie sich in egal welcher Anstellung noch übermäßig sicher fühlte. Er nahm das Ganze allerdings nicht persönlich.

Er rief Maeve Livingstone an, Witwe von Morris Livingstone, einstmals der berühmteste kleinwüchsige Yorkshire-Komiker in Großbritannien und ein langjähriger Klient der Grahame-Coats-Agentur. »Hallo«, sagte er.

»Hier ist Charles Nancy aus der Buchhaltung der GrahameCoats-Agentur.«

»Oh«, sagte eine Frauenstimme am anderen Ende der Leitung. »Ich dachte, Grahame würde sich selbst bei mir melden.«

»Er ist momentan ziemlich beschäftigt. Daher hat er, äh, es delegiert«, sagte Fat Charlie. »An mich. Also. Kann ich etwas für Sie tun?«

»Ich bin mir nicht sicher. Ich habe mich doch gefragt nun ja, der Filialleiter der Rank hat sich gefragt –, wann der Rest des Geldes aus Morris’ Erbmasse wohl eingeht. Grahame Coats hat mir erklärt, als wir uns das letzte Mal unterhielten, na, ich glaube jedenfalls, dass es das letzte Mal war –, dass es angelegt wäre, ich meine, ich verstehe ja, dass diese Dinge Zeit brauchen – er meinte, anderenfalls könnte ich eine Menge Geld verlieren …«

»Tja«, sagte Fat Charlie, »ich weiß, dass er daran arbeitet. Aber diese Dinge benötigen tatsächlich ihre Zeit.«

»Ja«, sagte sie. »Das tun sie wohl. Ich hab bei der BBC angerufen, und mir wurde gesagt, dass sie schon mehrere Zahlungen seit Morris’ Tod gemacht hätten. Nicht wahr, die haben ja jetzt die ganze Serie Morris Livingstone, I Presume auf DVD veröffentlicht? Und zu Weihnachten wollen sie beide Staffeln von Short Back and Sides herausbringen.«

»Das wusste ich nicht«, gestand Fat Charlie. »Aber Grahame Coats weiß es bestimmt. Bei solchen Sachen ist er immer voll auf dem Laufenden.«

»Ich musste mir die DVD selbst kaufen«, sagte sie wehmütig. »Aber da ist noch mal alles wieder lebendig geworden. Der Duft von Fettschminke, die Bühnenluft … Da fängt man doch an, das Rampenlicht zu vermissen, das kann ich Ihnen verraten, ohne dass es was kostet. So habe ich Morris kennengelernt, wissen Sie. Ich war Tänzerin. Ich hatte meine eigene Karriere.«

Fat Charlie versicherte, er werde Grahame Coats davon unterrichten, dass ihr Filialleiter ein wenig besorgt sei, und verabschiedete sich dann.

Er fragte sich, wie um alles in der Welt man sich nach dem Rampenlicht sehnen konnte.

In Fat Charlies schlimmsten Albträumen strahlte ein Scheinwerferlicht aus dunklem Himmel auf eine große Bühne hernieder, auf der auch er sich befand, und unsichtbare Gestalten versuchten ihn zu zwingen, in dieses Rampenlicht zu treten und zu singen. Und ganz gleich, wie weit oder wie schnell er weglief oder wie gut er sich versteckte, immer fanden sie ihn und schleiften ihn zurück auf die Bühne, wo er sich einem Dutzend erwartungsvoller Gesichter ausgesetzt sah. Er erwachte jedes Mal, bevor er tatsächlich anfangen musste zu singen, schweißgebadet und zitternd, und das Herz klopfte wie wild.

Ein Bürotag verging. Fat Charlie arbeitete seit fast zwei Jahren in der Agentur. Er war schon länger dort als alle anderen, ausgenommen Grahame Coats selbst, denn die personelle Fluktuation bei der Grahame-Coats-Agentur war tendenziell hoch. Und dennoch: Niemand hatte sich gefreut, ihn zu sehen.

Manchmal saß Fat Charlie an seinem Schreibtisch und starrte aus dem Fenster, während der lieblose graue Regen gegen die Scheibe prasselte, und er malte sich aus, irgendwo an einem tropischen Strand zu sein, wo die Brandung aus einem unfassbar blauen Meer auf einen unfassbar gelben Strand schlug. Oft fragte Fat Charlie sich, ob die Leute am Strand, die da in seiner Fantasie die weißen Wellenfinger beobachteten, wie sie sich Richtung Küste wanden, und den Tropenvögeln lauschten, wie sie in den Palmen zwitscherten, ob diese Leute jemals davon träumten, in England zu sein, im Regen, in einem schrankgroßen Bürozimmer im fünften Stock, in sicherer Entfernung von der Ödnis des reinen goldenen Sandes und der höllischen Langeweile eines Tages, der so vollkommen ist, dass nicht einmal ein cremiger Drink mit etwas zu viel Rum und einem roten Papierschirm obendrauf auch nur die geringste Abhilfe schaffen kann. Und gleich fühlte er sich getröstet.

Auf dem Weg nach Hause machte er halt, um beim Spirituosenhändler eine Flasche deutschen Weißwein und im kleinen Supermarkt nebenan eine mit Patschuli parfümierte Kerze zu kaufen. Aus der nahen Pizzeria holte er sich außerdem eine Pizza.

Rosie rief um 19:30 Uhr aus ihrem Jogakurs an, um ihm mitzuteilen, dass sie sich ein wenig verspäten werde, dann um 20:00 Uhr aus ihrem Auto, um durchzugeben, dass sie im Verkehr feststecke, und noch einmal um 21:15 Uhr, um ihn zu informieren, dass sie jetzt schon ganz in der Nähe sei. Inzwischen hatte Fat Charlie den Weißwein auf eigene Faust fast schon geleert und von der Pizza nicht mehr als eine trübe kleine Scheibe übrig gelassen.

Später fragte er sich, ob es der Wein gewesen war, der ihn veranlasst hatte, es zu sagen.

Rosie erschien um 21:20 Uhr mit ihren Handtüchern und einer Einkaufstüte von Tesco’s, in der sie diverse Shampoos, Seife und einen großen Topf Haarmayonnaise trug.

Entschieden, aber fröhlich sagte sie nein zu einem Gläschen Weißwein und dem Stück Pizza. Sie hatte, wie sie erläuterte, bereits im Stau gegessen. Sie hatte sich etwas ins Auto bestellt. Also saß Fat Charlie in der Küche, führte sich das letzte Glas Weißwein zu Gemüte und pflückte den Käse und die Peperoni von der erkalteten Pizza, während Rosie ins Bad ging, um Wasser in die Wanne laufen zu lassen, und dann, plötzlich und ziemlich laut, zu schreien begann.

Fat Charlie erreichte das Badezimmer, bevor der erste Schrei ganz verklungen war und noch während Rosie ihre Lunge füllte, um den zweiten anzustimmen. Er war überzeugt, sie blutüberströmt vorzufinden. Zu seiner Überraschung und Erleichterung war aber kein Blut zu sehen. Sie trug einen blauen BH und Höschen und deutete in die Badewanne, in deren Mitte eine fette braune Gartenspinne saß.

»Tut mir leid«, heulte sie. »Ich war so überrascht.«

»Das ist normal«, sagte Fat Charlie. »Ich spül sie einfach weg.«

»Untersteh dich«, sagte Rosie heftig. »Es ist ein lebendes Wesen. Bring sie nach draußen.«

»Alles klar«, sagte Fat Charlie.

»Ich warte in der Küche«, sagte sie. »Sag Bescheid, wenn alles vorbei ist.«

Wenn man eine ganze Flasche Weißwein getrunken hat, stellt die Aufgabe, eine tendenziell unruhige Spinne mit lediglich einer alten Geburtstagskarte als Hilfsmittel in ein durchsichtiges Plastikglas zu bugsieren, eine größere Herausforderung an die Hand-Auge-Koordination dar, als es zu anderen Zeiten der Fall wäre; in keiner Weise erleichtert wird einem diese Aufgabe zudem durch halb entkleidete Verlobte, die sich am Rande einer Hysterie bewegen und, entgegen ihrer Ankündigung, sie würden in der Küche warten, sich einem ständig über die Schulter beugen und gute Ratschläge erteilen.

Trotz aller Hilfe hatte er die Spinne nach einiger Zeit glücklich im Glas gefangen, dessen Öffnung luftdicht mit einer Karte von einem alten Schulfreund verschlossen war, die ihm verkündete: Man ist nur so alt, wie man sich fühlt (und dies auf der anderen Seite humoristisch steigerte mit der Bemerkung: Also hör auf, an dir rumzufühlen, du sexbesessener Schwerenöter – Alles Gute zum Geburtstag).


Er trug die Spinne die Treppe hinunter und durch die Haustür in den winzigen Vorgarten, der aus einer Hecke, in die hinein man sich übergeben konnte, und aus mehreren großen Steinplatten bestand, zwischen denen das Gras hervorschoss. Er hob das Glas hoch. Im gelben Natriumlicht schimmerte die Spinne schwarz. Es kam ihm so vor, als würde sie ihn anstarren.

»Tut mir leid, das alles«, sagte er zu der Spinne, und da der Weißwein behaglich in seinem Innern schwappte, sagte er es laut.

Er stellte die Karte samt Glas auf einer gesprungenen Steinplatte ab, hob das Glas hoch und wartete darauf, dass die Spinne davonflitzte. Stattdessen blieb sie bewegungslos sitzen, genau auf dem Gesicht des fröhlichen Cartoon-Teddybären auf der Geburtstagskarte. Mann und Spinne musterten einander.

Etwas, das Mrs. Higgler gesagt halte, fiel ihm wieder ein, und die Worte waren aus dem Mund heraus, bevor er ihnen Einhalt gebieten konnte. Vielleicht war es der Teufel in ihm. Wahrscheinlich aber der Alkohol.

»Falls du meinen Bruder siehst«, sagte Fat Charlie zu der Spinne, »sag ihm doch, er könnte ruhig mal vorbeischauen und guten Tag sagen.«

Die Spinne hielt weiter die Stellung, hob nur eins ihrer Beine, als müsse sie über den Vorschlag nachdenken, dann aber flitzte sie über die Steinplatten zur Hecke und war verschwunden.


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ROSIE NAHM IHR Bad, anschließend gab sie Fat Charlie einen dicken Schmatzer auf die Wange und fuhr nach Hause.

Fat Charlie schaltete den Fernseher ein, stellte aber bald fest, dass er im Begriff war, einzuschlafen, also schaltete er den Apparat wieder aus und ging zu Bett, wo er einen so lebendigen und sonderbaren Traum hatte, dass er sich sein Leben lang daran erinnern sollte.

Dass es ein Traum ist, was einem widerfährt, erkennt man zum Beispiel daran, dass es irgendwo stattfindet, wo man im richtigen Leben nie gewesen ist. Fat Charlie war noch nie in Kalifornien gewesen. Und noch nie in Beverly Hills. Allerdings hatte er das alles schon gesehen, in Filmen und im Fernsehen, sodass ihn ein angenehm erregendes Gefühl des Wiedererkennens ergriff. Eine Party war im Gange.

Die Lichter von Los Angeles schimmerten und funkelten von unterhalb.

Die Leute auf der Party schienen sich säuberlich aufzuteilen in solche, die Silberteller voller wunderbarer Kanapees umhertrugen, und solche, die sich etwas von den Silbertellern herunterpflückten oder aber das Angebot ausschlugen. Die Gruppe der Gefütterten bewegte sich schwatzend, lächelnd, plaudernd durch das riesige Haus, jeder einzelne sich seiner oder ihrer relativen Wichtigkeit in der Welt Hollywoods ebenso gewiss, wie es die Höflinge am Kaiserhof im alten Japan gewesen waren – und genau wie am alten japanischen Hof war ein jeder davon überzeugt, dass er, wenn er nur noch eine weitere Leiterstufe erklimmen könnte, vollkommen sicher wäre. Da waren Schauspieler, die sich wünschten, ein Star zu sein, Stars, die gerne unabhängiger Produzent gewesen wären, unabhängige Produzenten, die sich nach der Sicherheit eines Studiojobs sehnten, Regisseure, die auch Stars sein wollten, Studiobosse, die lieber Boss eines anderen, weniger auf der Kippe stehenden Studios gewesen wären, Studiorechtsanwälte, die sich wünschten, um ihrer selbst willen gemocht zu werden, oder, falls das zu viel verlangt war, jedenfalls gemocht zu werden.

In seinem Traum konnte Fat Charlie sich von innen und zugleich von außen sehen, und er war nicht er selbst. In seinen üblichen Träumen war es in der Regel so, dass Fat Charlie zum Beispiel zu einer Prüfung in doppelter Buchführung antrat, auf die er sich, warum auch immer, nicht vorbereitet hatte, und die Umstände waren mit tödlicher Sicherheit so beschaffen, dass er, wenn er sich endlich von seinem Tisch erhob, feststellen musste, dass er beim Ankleiden am Morgen es irgendwie versäumt hatte, sich auch unterhalb der Taille zu bedecken. In seinen Träumen war Fat Charlie er selbst, nur ungeschickter.

Anders in diesem Traum.

In diesem Traum war Fat Charlie cool, cooler als cool. Er war clever, er war elegant, er war hip, er war die einzige Person ohne Silbertablett, die keine Einladung zu der Party erhalten hatte. Und er hatte (nicht zuletzt dies war ein Quell der Verblüffung für den schlafenden Fat Charlie, der sich nichts Peinlicheres ausmalen konnte, als irgendwo ohne Einladung angetroffen zu werden) einen Heidenspaß.

Er erzählte jedem, der ihn fragte, eine andere Geschichte darüber, wer er war und warum er hier war. Nach einer halben Stunde waren die meisten Partygäste überzeugt, dass er der Vertreter einer ausländischen Investmentgesellschaft sei, offensichtlich mit dem Vorhaben, eines der Studios zu kaufen, und nach einer weiteren halben Stunde war allgemein bekannt, dass er ein Angebot für Paramount abgeben würde.

Sein Lachen war rau und ansteckend, und, kein Zweifel, er schien sich besser zu amüsieren als alle anderen Partygäste. Er wies den Barkeeper in die Zubereitung eines Cocktails ein, den er als »Doppelbödigen« bezeichnete und der, obwohl er offenbar auf der Basis von Champagner gemixt wurde, seiner Erläuterung nach ein wissenschaftlich gesehen tatsächlich nichtalkoholisches Getränk war. Ein Spritzer von diesem und ein Spritzer von jenem wurde ihm hinzugefügt, bis es eine lebhaft purpurrote Farbe annahm, und dann teilte er es an alle Gäste aus, drückte jedem ein Glas in die Hand, mit so viel Freude und Begeisterung, dass selbst die Leute, die bislang nur misstrauisch an ihrem Sprudelwasser genippt hatten, als könne es jeden Augenblick explodieren, den purpurroten Cocktail mit Vergnügen hinunterstürzten.

Und dann, wie es die Logik von Träumen so mit sich bringt, führte er sie alle zum Pool und kündigte an, er werde sie den Trick des Auf-dem-Wasser-Wandelns lehren. Es sei dies eine reine Sache des Zutrauens, erklärte er, eine Sache der Einstellung, des Wollens und des Gewusst-wie. Und die Leute auf der Party gewannen den Eindruck, dass es großartig wäre, den Auf-dem-Wasser-wandeln-Trick zu beherrschen, etwas, das im Grunde seit jeher in ihnen steckte, tief in ihrem Innern, das sie nur vergessen hatten, aber dieser Mann würde ihnen die Technik schon wieder beibringen.

Zieht die Schuhe aus, sagte er zu ihnen, und so zogen sie denn ihre Schuhe aus, Sergio Bossis und Christian Louboutins und Bene Caovillas, Seite an Seite abgestellt mit Nikes und Doc Martens und anonymen Agentenschuhen aus schwarzem Leder, und er führte sie in einer Art Polonaise um den Swimmingpool herum und dann aufs Wasser. Das Wasser fühlte sich kühl an, und es zitterte wie Wackelpudding unter ihren Füßen; einige Frauen, aber auch mehrere Männer mussten kichern, und ein paar von den jüngeren Agenten begannen auf der Wasseroberfläche herumzuspringen wie Kinder in einer Hüpfburg. Weit unter ihnen leuchteten die Lichter von Los Angeles durch den Smog, wie ferne Galaxien.

Bald schon war jeder Quadratzentimeter des Pools von Partygästen besetzt sie standen, tanzten, wackelten oder hüpften auf dem Wasser. Der Andrang war so gewaltig, dass der hippe Typ, der Charlie-in-seinem-Traum, auf die Betonumrandung zurückstieg und sich ein rundes Stück Falafel-Sashimi von einem Silberteller nahm.

Eine Spinne fiel von einer Jasminpflanze auf die Schulter des Hipsters. Sie flitzte über den Arm hinunter auf seine offene Hand, wo er sie mit einem erfreuten Heyyy begrüßte.

Es folgte eine kurze Stille, als lausche er irgendwelchen Worten, die die Spinne sprach, Worte, die nur er hören konnte, und dann sagte er: Bittet, so wird euch gegeben. Ist es nicht so?

Er setzte die Spinne behutsam auf ein Jasminblatt.

Und genau in diesem Augenblick erinnerte sich jeder Einzelne, der auf der Wasseroberfläche stand, daran, dass Wasser etwas Flüssiges, ganz und gar nicht Festes ist und es gute Gründe dafür gibt, dass man normalerweise nicht darauf herumspaziert, geschweige denn tanzt oder gar hüpft: Weil es nämlich unmöglich ist.

Sie waren die Macher und die großen Maxen der Traumindustrie, diese Leute, und plötzlich zappelten sie, in voller Montur, in bis zu drei Meter tiefem Wasser, nass, japsend und verängstigt.

Der Hipster aber spazierte ganz lässig quer über den Pool, setzte den Fuß mal auf einen Kopf, mal auf eine Hand der im Wasser schwimmenden Leute, und nicht einmal verlor er dabei das Gleichgewicht. Dann, als er die andere Seite erreicht hatte, wo hinter dem Pool ein steiler Abhang ins Tal fiel, nahm er einen kurzen Anlauf und tauchte kopfüber hinein in die nächtlichen Lichter von Los Angeles, die ihn schimmernd verschluckten wie ein Ozean.

Währenddessen krabbelten die Leute aus dem Pool, wütend, erregt, verwirrt, klatschnass und, in manchen Fällen, halb ertrunken.

Es war früher Morgen in Südlondon. Das Licht war blaugrau.

Fat Charlie stieg, von seinem Traum beunruhigt, aus dem Bett und ging zum Fenster. Die Vorhänge waren offen. Er konnte das erste Schimmern des Sonnenaufgangs sehen, das gewaltige Blutorange der Morgensonne, umgeben von grauen Wolken mit einem Stich ins Scharlachrote. Es war ein Himmel von der Art, wie er selbst in dem prosaischsten Menschen das tief verborgene Bedürfnis weckt, sich der Ölmalerei zuzuwenden.

Fat Charlie betrachtete den Sonnenaufgang. Morgenrot, dachte er, »Schlechtwetterbot«.

Sein Traum war so sonderbar gewesen. Eine Party in Hollywood. Das Geheimnis des Auf-dem-Wasser-Wandelns. Und dieser Mann, der er war und doch nicht er

Fat Charlie begriff, dass er den Mann aus seinem Traum von irgendwoher kannte, und er begriff ebenfalls, dass ihn dies, wenn er nichts dagegen tat, den ganzen Tag lang irritieren würde, wie ein zwischen zwei Zähnen abgerissenes Stück Zahnseide oder die Frage, was jetzt eigentlich genau der Unterschied zwischen verdorben und verderbt ist, so würde es sich in seinen Gedanken breitmachen, unaufhörlich an ihm nagen und ihm auf die Nerven gehen.

Er starrte aus dem Fenster.

Es war kaum sechs Uhr morgens, und die Welt war still. Am Ende der Straße versuchte ein früher Hundegassiführer seinen Spitz dazu zu bewegen, sein Geschäft zu verrichten. Ein Postbote zuckelte zwischen den Häusern und seinem roten Lieferwagen hin und her. Und dann bewegte sich etwas auf dem Bürgersteig vor seinem Haus, und Fat Charlie blickte hinunter.

Ein Mann stand neben der Hecke. Als er erkannte, dass Fat Charlie, im Pyjama, zu ihm hinsah, grinste er und winkle mit der Hand. Ein Moment des Erkennens, der Fat Charlie im Innersten erbeben ließ: sowohl das Grinsen als auch das Winken waren ihm vertraut, obwohl er zunächst nicht sagen konnte, woher. Teile des Traums trieben sich noch in Fat Charlies Kopf herum und bereiteten ihm Unbehagen, gaben der Welt etwas Unwirkliches. Er rieb sich die Augen, und dann war die Person neben der Hecke verschwunden. Fat Charlie hoffte, dass der Mann weitergegangen war, die Straße entlang in die Überreste des Morgennebels hinein, und alles wieder mitgenommen hatte, was er an Peinlichkeiten, Ärgernissen und Verrücktheiten angeschleppt haben mochte.

Und dann klingelte es an der Tür.

Fat Charlie zog seinen Morgenmantel über und ging nach unten.

Noch nie, in seinem ganzen Leben nicht, hatte er vor dem Öffnen der Tür die Sicherheitskette vorgelegt, aber diesmal steckte er, bevor er den Türgriff drehte, den Kettenkopf in die vorgesehene Schiene, und zog anschließend die Haustür etwa fünfzehn Zentimeter weit auf.

»Guten Morgen?«, sagte er vorsichtig.

Das Lächeln, das durch den Türspalt drang, hatte ein ganzes Dorf beleuchten können.

»Du hast mich gerufen, ich bin gekommen«, sagte der Fremde. »Also. Machst du mir jetzt die Tür auf, Fat Charlie?«

»Wer sind Sie?« Noch während er die Frage aussprach, fiel ihm ein, wo er den Mann schon mal gesehen hatte: bei der Beerdigung seiner Mutter, in der kleinen Kapelle des Krematoriums. Schon damals war ihm dieses Lächeln aufgefallen. Und er wusste die Antwort schon, bevor der Mann sie aussprach.

»Ich bin dein Bruder«, sagte der Mann.

Fat Charlie schloss die Tür. Er zog die Sicherheitskette ab und machte die Tür ganz auf. Der Mann war noch da.

Fat Charlie war sich nicht völlig sicher, wie man einen möglicherweise imaginären Bruder begrüßt, an dessen Existenz man bisher nicht geglaubt hat. Und so standen sie also da, der eine auf der einen, der andere auf der anderen Seite der Tür, bis sein Bruder sagte: »Du kannst mich Spider nennen. Hast du vor, mich hineinzubitten?«

»Ja. Doch. Natürlich. Bitte. Komm rein.« Fat. Charlie führte den Mann nach oben.

Mitunter geschehen unmögliche Dinge, Dinge, die gar nicht geschehen können. Wenn sie dann doch geschehen, versuchen die meisten Leute irgendwie damit klarzukommen. Heute werden, wie an jedem Tag, etwa fünftausend Menschen auf diesem Planeten etwas erleben, dessen Wahrscheinlichkeit bei ungefähr eins zu einer Million liegt, und kein einziger von ihnen wird sich weigern, dem zu trauen, was seine Sinne ihm mitteilen. Die meisten werden, in ihrer jeweiligen Landessprache, so etwas sagen wie »Ist schon eine komische Welt, wie?« und danach einfach weitermachen. Während also ein Teil von Fat Charlie noch um logische, vernünftige, zurechnungsfähige Erklärungen für das, was hier vorging, rang, war er andererseits doch schon im Begriff, sich an die Vorstellung zu gewöhnen, dass hinter ihm auf der Treppe ein Bruder ging, von dem er bislang nichts gewusst hatte.

Sie gelangten zur Küche und blieben dort stehen.

»Möchtest du eine Tasse Tee?«

»Hast du auch Kaffee?«

»Nur Pulver, fürchte ich.«

»Das ist völlig in Ordnung.«

Fat Charlie setzte den Kessel auf. »Kommst du von weit her?«, fragte er.

»Los Angeles.«

»Wie war der Flug?«

Der Mann setzte sich an den Küchentisch. Er zuckte die Achseln. Es war ein Achselzucken, das alles und nichts bedeuten konnte.

»Ähm. Hast du vor, länger zu bleiben?«

»Darüber hab ich noch nicht groß nachgedacht.« Der Mann Spider sah sich in Fat Charlies Küche um, als sei er zuvor noch nie in einer Küche gewesen.

»Wie trinkst du deinen Kaffee?«

»Schwarz wie die Nacht, süß wie die Sünde.«

Fat Charlie stellte den Becher vor ihm ab. reichte ihm eine Zuckerschüssel. »Bedien dich.«

Während Spider sich einen Löffel Zucker nach dem anderen in seinen Kaffee schaufelte, setzte Fat Charlie sich ans gegenüberliegende Tischende und starrte ihn an.

Es bestand eine gewisse Familienähnlichkeit zwischen den beiden Männern. Das war unbezweifelbar, erklärte aber, für sich genommen, noch nicht das starke Gefühl der Vertrautheit, das Fat Charlie beim Anblick von Spider empfand. Sein Bruder sah so aus, wie Fat Charlie sich selbst gern sah, in seiner Vorstellung, unbeeinflusst von dem immer etwas enttäuschenden Bild, das der Bursche abgab, den er mit monotoner Regelmäßigkeit im Badezimmerspiegel erblickte. Spider war größer, schlanker und cooler. Er trug eine schwarze und scharlachrote Lederjacke sowie schwarze enge Lederhosen, und er trug sie mit großer Selbstverständlichkeit. Fat Charlie versuchte sich zu erinnern, ob es das war, was auch der Hipster in seinem Traum getragen hatte. Es war etwas Überlebensgroßes an ihm: die bloße Tatsache, dass er diesem Mann am selben Tisch gegenübersaß, bewirkte, dass Fat Charlie sich linkisch, unzulänglich und ein bisschen lächerlich fühlte. Spiders Kleidung an sich war nicht das Entscheidende, sondern das Wissen darum, dass er, Fat Charlie, dergleichen nie anziehen könnte, ohne dass es wie eine peinliche Travestie wirken würde. Es war auch nicht die Art, wie Spider lächelte – lässig, vergnügt –, sondern die kalte, unabweisbare Gewissheit, dass er, Fat Charlie, bis in alle Ewigkeit vor dem Spiegel üben konnte und dennoch nicht ein einziges Lächeln hinbekommen würde, das auch nur halb so charmant, weitläufig oder augenzwinkernd anmutig daherkäme.

»Du warst bei Mamas Einäscherung«, sagte Fat Charlie.

»Ich hab erwogen, nach dem Gottesdienst zu dir zu kommen und zu reden«, sagte Spider. »Ich war mir nur nicht sicher, ob das so angebracht gewesen wäre.«

»Ich wünschte, du hättest es gemacht.« Fat Charlie fiel etwas ein. »Ich hätte gedacht, du würdest auch zu Dads Beerdigung kommen.«

Spider sagte: »Was?«

»Seine Beerdigung. Sie war in Florida. Vor ein paar Tagen.«

Spider schüttelte den Kopf. »Er ist nicht tot«, sagte er.

»Wenn er tot wäre, wüsst ich das, da bin ich ziemlich sicher.«

»Er ist tot. Ich habe ihn begraben. Ja ja, also, ich hab das Grab vollgeschaufelt. Frag Mrs. Higgler.« Spider sagte: »Wie ist er gestorben?«

»Herzversagen.«

»Das heißt gar nichts. Das heißt nur, dass er gestorben ist.«

»Ah. ja. Ist er ja auch.«

Spider hatte aufgehört zu lächeln. Jetzt starrte er in seinen Kaffee, als hege er die Vermutung, dort sei die Antwort auf so manche Frage zu finden. »Ich sollte das nachprüfen«, sagte Spider. »Es ist nicht so, dass ich dir nicht glauben würde. Aber wenn es um deinen alten Herrn geht, ist auf nichts Verlass. Selbst wenn dein alter Herr mein alter Herr ist.« Und er verzog das Gesicht. Fat Charlie wusste, was diese Grimasse bedeutete. Er hatte sie, jedenfalls innerlich, oft genug selbst geschnitten, wenn die Rede auf seinen Vater kam. »Wohnt sie immer noch im selben Haus? Nebenan von dem, wo wir aufgewachsen sind?«

»Mrs. Higgler? Ja, die ist noch da.«

»Du hättest nicht unter Umständen irgendetwas von dort? Ein Bild? Ein Foto vielleicht?«

»Ich habe einen ganzen Karton von dort mitgebracht.« Fat Charlie hatte den großen Pappkarton bisher nicht geöffnet. Er stand noch im Flur. Jetzt trug er ihn in die Küche und stellte ihn auf den Tisch. Er nahm ein Küchenmesser und zerschnitt das um den Karton gewickelte Paketklebeband. Spider langte mit seinen dünnen Fingern hinein und durchblätterte die Fotos wie ein Deck Spielkarten, bis er eins von ihrer Mutter und Mrs. Higgler herauszog, das sie auf Mrs. Higglers Veranda sitzend zeigte, vor fünfundzwanzig Jahren.

»Gibt es diese Veranda noch?«

Fat Charlie versuchte sich zu besinnen. »Ich glaube schon«, sagte er.

Später konnte er sich nicht erinnern, ob das Foto ganz groß oder Spider ganz klein geworden war. Er hätte schwören mögen, dass weder das eine noch das andere tatsächlich geschehen war; andererseits ließ sich nicht bestreiten, dass Spider in das Foto hineingegangen war und dieses geschimmert und sich gekräuselt und ihn schließlich verschluckt hatte.

Fat Charlie rieb sich die Augen. Es war sechs Uhr morgens, und er saß allein in der Küche. Auf dem Tisch stand ein Karton voller Fotos und Papiere, zusammen mit einem leeren Becher, den er in die Spüle stellte. Er ging durch den Flur zu seinem Schlafzimmer, legte sich ins Bett und schlief, bis um 7:15 Uhr der Wecker klingelte.

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