KAPITEL ELF

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IN DEM

ROSIE LERNT,

FREMDEN ETWAS ABZUSCHLAGEN,

UND

FAT CHARLIE

EINE LIMONE ERWIRBT

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FAT CHARLIE stand vor dem Grab seines Vaters. »Bist du da drin?«, fragte er laut. »Wenn ja, komm heraus. Ich muss mit dir reden.«

Er trat näher an die Grabblumen heran und blickte nach unten. Er wusste nicht genau, was er erwartete eine Hand, die plötzlich durch die Erde kam und nach seinem Bein griff vielleicht – aber es schien sich nichts dergleichen abzuzeichnen.

Er war sich so sicher gewesen.

Als Fat Charlie zum Ausgang des Gartens der Letzten Ruhe ging, kam er sich ziemlich blöd vor, wie der Kandidat einer Quizshow, der gerade den Fehler begangen hat, seine eine Million Dollar darauf zu setzen, dass der Mississippi länger ist als der Amazonas. Er hätte es wissen müssen. Sein Vater war tot, mausetot, und er hatte Spiders Geld verbraten, für nichts und wieder nichts. Bei den Windmühlen von Babyland setzte er sich hin, um ein bisschen zu weinen, und die schimmelnden Spielzeuge wirkten noch trauriger und einsamer, als er sie in Erinnerung hatte.

Sie wartete auf dem Parkplatz auf ihn, lehnte, eine Zigarette rauchend, an ihrem Auto. Sie sah verlegen aus.

»Hallo, Mrs. Bustamonte«, sagte Fat Charlie.

Sie nahm einen letzten Zug von der Zigarette, warf sie dann auf den Asphalt und trat sie mit ihrem flachen Schuhabsatz aus. Sie trug Schwarz. Sie wirkte müde. »Hallo, Charles.«

»Ich glaube, wenn ich hier jemanden erwartet hätte, dann wäre es Mrs. Higgler gewesen. Oder Mrs. Dunwiddy.«

»Callyanne ist weggefahren. Mrs. Dunwiddy schickt mich. Sie möchte dich sehen.«

Es ist wie bei der Mafia, dachte Fat Charlie. Eine postklimakterische Mafia. »Sie wird mir ein Angebot machen, das ich nicht ablehnen kann?«

»Das bezweifle ich. Es geht ihr nicht gut.«

»Oh.«

Er stieg in sein Mietauto, folgte Mrs. Bustamontes Camry durch die Straßen von Florida. Er war sich so sicher gewesen, was seinen Vater betraf. Sicher, dass er ihn lebend vorfinden würde. Sicher, dass er helfen würde …

Sie parkten vor Mrs. Dunwiddys Haus. Fat Charlie betrachtete den Vorgarten, die ausgeblichenen Plastikflamingos, die Zwerge und die mit roten Spiegeln besetzte, auf einen Betonsockel gebettete Rosenkugel, die an einen riesigen Christbaumschmuck erinnerte. Er ging auf die Kugel zu, es war genau so eine wie die, die er als Junge zerbrochen hatte, und er sah sein verzerrtes Spiegelbild, das aus ihr zurückstarrte.

»Wofür hat sie die?«, fragte er.

»Für nichts Bestimmtes. Sie hat ihr einfach gefallen.«

Im Haus hing der Veilchengeruch dick und süßlich. Fat Charlies Großtante Alanna hatte immer ein Röhrchen mit Veilchenbonbons in der Handtasche gehabt, aber selbst als stämmiges Kind, das hinter allem Süßen her war, mochte Fat Charlie sie nur essen, wenn es gar nichts anderes gab.

Dieses Haus roch genau so, wie jene Bonbons geschmeckt hatten. Fat Charlie hatte seit zwanzig Jahren nicht mehr an Veilchenbonbons gedacht. Er fragte sich, ob sie noch hergestellt wurden. Er fragte sich ferner, warum sie überhaupt jemals hergestellt worden waren …

»Sie ist da hinten, am Ende vom Flur«, sagte Mrs. Bustamonte, blieb stehen und zeigte in die Richtung. Fat Charlie ging in Mrs. Dunwiddys Schlafzimmer.

Es war kein großes Bett, aber Mrs. Dunwiddy lag darin wie eine überdimensionierte Puppe. Sie hatte ihre Brille auf, und darüber etwas, das Fat Charlie als die erste Nachtmütze identifizierte, die er in seinem Leben zu sehen bekam, eine schon etwas vergilbte Angelegenheit mit der Ausstrahlung eines Teewärrners, allerdings mit Spitzen besetzt. Sie saß, den Mund offen, gegen einen Berg von Kissen gelehnt und schnarchte leise, als er das Zimmer betrat.

Er hüstelte diskret.

Mrs. Dunwiddys Kopf zuckte hoch, sie schlug die Augen auf und starrte ihn an. Sie zeigte auf den Nachttisch neben dem Bett, worauf Fat Charlie das Glas mit Wasser aufnahm, das dort stand, und es ihr reichte. Sie hielt es mit beiden änden, wie ein Eichhörnchen eine Nuss hält, und nahm einen ausgiebigen Schluck, bevor sie es ihm zurückgab.

»Mein Mund wird immer so trocken«, sagte sie. »Weißt du, wie alt ich bin?«

»Ähm.« Es gab darauf, das war wohl klar, keine richtige Antwort. »Nein.«

»Hunnertvier.«

»Das ist erstaunlich. Sie sind noch so fit. Ich mein, das ist wirklich unglaublich …«

»Halt den Mund, Fat Charlie.«

»‘tschuldigung.«

»Und brauchst auch nicht ›Entschuldigung‹ zu sagen, wie ein Hund, der ausgeschimpft wird, weil er auf den Küchenboden gemacht hat. Heb den Kopf hoch. Guck der Welt in die Augen. Hörst du?«

»Ja. ‘tschuldigung. Ich mein, ist gut.«

Sie seufzte. »Die wollen mich ins Krankenhaus bringen. Ich sag ihnen, wenn man hunnertvier geworden ist, sag ich, dann hat man sich das Recht erworben, in seinem eigenen Bett zu sterben. Ich hab Babys gemacht in diesem Bett, ist schon lange her, und ich hab Babys geboren in diesem Bett, und es fällt mir überhaupt nicht ein, irgendwo anders zu sterben. Und noch was …« Sie hielt inne, machte die Augen zu, holte langsam und tief Luft. Gerade als Fat Charlie zu der Überzeugung gelangt war, sie sei eingeschlafen, öffneten die Augen sich wieder, und sie sagte:

»Fat Charlie, wenn dich mal jemand fragt, ob du hundertvier Jahre alt werden willst, sag nein. Tut alles weh. Alles. Bei mir tut’s an Stellen weh, die sind noch gar nicht entdeckt worden.«

»Ich werde es mir merken.«

»Keine Widerrede jetzt.«

Fat Charlie sah die kleine Frau in ihrem weißen Holzbett an. »Soll ich mich entschuldigen?«, fragte er.

Mrs. Dunwiddy sah schuldbewusst zur Seite. »Ich hab dir unrecht getan«, sagte sie. »Vor langer Zeit, da hab ich dir unrecht getan.«

»Ich weiß«, sagte Fat Charlie.

Mrs. Dunwiddy mochte im Sterben liegen, aber sie war noch immer imstande, Fat Charlie einen Blick zuzuwerfen, der jedes Kind unter fünf veranlassen würde, nach seiner Mutter zu schreien. »Was soll das heißen, du weißt?«

Fat Charlie sagte: »Ich habe es mir zusammengereimt. Wahrscheinlich nicht alles, aber einiges. Ich bin nicht dumm.«

Durch ihre dicken Brillengläser musterte sie ihn kalt, dann sagte sie: »Nein. Du nicht. Das ist wahr.«

Sie streckte ihre knotige Hand aus. »Gib mir noch mal das Glas.« Sie trank, nahm das Wasser mit ihrer kleinen, purpurroten Zunge auf. »Gut, dass du heute hier bist. Morgen ist das ganze Haus voll mit jammernden Enkelkindern und Urenkelkindern, die mich überreden wollen, dass ich ins Krankenhaus geh zum Sterben. Und lieb Kind versuchen sie sich zu machen, damit ich ihnen Sachen schenke. Aber die kennen mich nicht. Hab alle meine Kinder überlebt. Alle miteinander.«

Fat Charlie sagte: »Wollen Sie darüber reden, was Sie damals mit mir gemacht haben?«

»Du hättest meine Spiegelkugel im Garten nicht kaputt machen sollen.«

»Sicherlich nicht.«

Er erinnerte sich, so wie man sich halt an Ereignisse aus der Kindheit erinnert: Man kann nicht mehr unterscheiden,

was echte Erinnerung und was bloße Erinnerung an die Erinnerung ist. Er erinnerte sich, wie er dem Tennisball bis in Mrs. Dunwiddys Garten gefolgt war, und dann, wo er schon einmal da war, probeweise ihre Spiegelkugel in die Hand genommen hatte, um sein Gesicht darin zu sehen, riesig und verzerrt; wie sie ihm dann entglitten war und er mit angesehen hatte, wie sie in tausend winzige Scherben zersprang. Er erinnerte sich an die kräftigen alten Finger, die ihn am Ohr packten, ihn aus ihrem Garten und in ihr Haus zerrten …

»Sie haben Spider weggeschickt«, sagte er. »Nicht wahr?«

Ihr Gesicht war versteinert, erinnerte an eine mechanische Bulldogge. Sie nickte. »Hab einen Bann gesprochen«, sagte sie. »Hat aber anders funktioniert, als ich wollte. Haben damals alle ein bisschen was von Magie verstanden. Hatten ja noch nicht all diese DVDs und Handys und Mikrowellen, haben aber trotzdem ‘ne Menge gewusst. Ich wollte nichts weiter, als dir ne Lektion erteilen. Du warst so von dir eingenommen, nur Unsinn im Kopf und immer Widerworte gegeben. Also hab ich Spider aus dir rausgezogen, damit du deine Lektion lernst.«

Fat Charlie hörte die Worte, doch sie ergaben keinen Sinn. »Sie haben ihn rausgezogen?«

»Hab ihn von dir abgetrennt. Die ganze Durchtriebenheit. Die ganze Boshaftigkeit. Den ganzen Übermut. Alles das.« Sie seufzte. »Mein Fehler. Hat mir keiner gesagt, dass wenn man Magie anwendet bei einem … bei Leuten wie deinem Daddy und seiner Linie, dass dann alles verstärkt wird. Alles wird größer.« Noch ein Schluck Wasser.

»Deine Mutter konnt’s nicht fassen. Hat’s nicht glauben wollen. Aber dieser Spider, der war schlimmer als du. Dein Vater hat nie was drüber gesagt, bis ich Spider dann vertrieben hab. Und sogar da hat er zu mir nur gesagt, dass wenn du das nicht geradebiegen kannst, dann bist du nicht sein Sohn.«

Er wollte ihr widersprechen, wollte ihr klarmachen, was für ein Blödsinn das war und dass Spider kein Teil von ihm sei, nicht mehr als er, Fat Charlie, Teil des Meeres oder der Dunkelheit sei. Stattdessen sagte er. »Wo ist die Feder?«

»Was für ‘ne Feder meinst du?«

»Als ich von jenem Ort zurückgekehrt bin. Dem Ort mit den Klippen und Höhlen. Da hatte ich eine Feder in der Hand. Was haben Sie damit gemacht?«

»Daran kann ich mich nicht erinnern«, sagte sie. »Ich bin eine alte Frau. Ich bin hunnertvier.« Fat Charlie sagte: »Wo ist sie?«

»Hab’s vergessen.«

»Bitte sagen Sie’s mir.«

»Ich hab sie nicht.«

»Wer hat sie denn?«

»Callyanne.«

»Mrs. Higgler?«

Sie beugte sich vertraulich näher. »Die andern beiden, das sind nur Mädchen. Flatterhaft und leichtsinnig.«

»Ich habe Mrs. Higgler angerufen, bevor ich rübergekommen bin. Und bevor ich zum Friedhof gefahren bin, hab ich bei ihrem Haus vorbeigeschaut. Mrs. Bustamonte sagt, sie sei weggefahren.«

Mrs. Dunwiddy schwankte leicht von einer Bettseite zur anderen, als würde sie sich in den Schlaf wiegen. Sie sagte:

»Ich werd nicht mehr lange hier sein. Hab aufgehört, feste Nahrung zu essen, nachdem du letztes Mal wieder weggefahren bist. Bin fertig. Nur Wasser. Manche Frauen sagen, dass sie deinen Vater lieben, aber ich kenn ihn schon viel länger. Früher, wie ich mein Aussehen noch hatte, da ist er mit mir tanzen gegangen. Hat mich abgeholt, und dann hat er mich rumgeschwenkt. War damals schon ein alter Mann, aber er hat einem jungen Mädchen immer das Gefühl gegeben, dass sie was Besonderes ist. Fühlst dich nicht …« Sie hielt inne, nahm noch einen Schluck Wasser. Ihre Hände zitterten. Fat Charlie nahm ihr das leere Glas ab. »Hunnertvier«, sagte sie. »Und tagsüber nie im Bett außer bei der Niederkunft. Und jetzt geht’s zu Ende.«

»Ich bin sicher, Sie werden noch hundertfünf«, sagte Fat Charlie mit Unbehagen.

»Sag nicht so was!«, sagte sie. Sie schien erschrocken.

»Lass es! Deine Familie hat schon genug angerichtet. Lass die Dinge, wie sie sind.«

»Ich bin nicht wie mein Dad«, sagte Fat Charlie. »Ich kann nicht zaubern. Spider hat diese ganze Seite der Familie übernommen, wissen Sie nicht mehr?«

Sie schien nicht zuzuhören. Sie sagte: »Wenn wir tanzen gegangen sind, lange vorm Zweiten Weltkrieg, dann hat dein Daddy mit dem Orchesterchef gesprochen, und oft haben sie ihn auf die Bühne gebeten, um zu singen. Die Leute haben alle gelacht und gejubelt. So hat er Sachen ins Rollen gebracht. Durch Singen.«

»Wo ist Mrs. Higgler?«

»Heimgefahren.«

»Ihr Haus ist leer. Das Auto ist nicht da.«

»Heimgefahren.«

»Äh … Sie meinen, sie ist gestorben?«

Die alte Frau auf den weißen Laken keuchte und schnappte nach Luft. Sie schien unfähig zu sprechen. Sie machte ihm Zeichen.

Fat Charlie sagte: »Soll ich Hilfe holen?«

Sie nickte, und während er nach Mrs. Bustamonte Ausschau hielt, keuchte, würgte und hechelte sie weiter. Mrs. Bustamonte saß in der Küche und verfolgte die Sendung Oprah auf einem sehr kleinen tragbaren Fernsehgerät. »Sie verlangt nach Ihnen«, sagte er.

Mrs. Bustamonte ging Richtung Schlafzimmer. Kurz darauf kam sie mit dem leeren Wasserkrug zurück. »Was haste bloß zu ihr gesagt, um Gottes willen?«

»Hatte sie einen Anfall oder was?«

Mrs. Bustamonte sah ihn schräg an. »Nein, Charles. Sie hat über dich gelacht. Sie meint, du machst ihr Spaß.«

»Oh. Sie sagte, Mrs. Higgler sei heimgegangen. Und ich habe gefragt, ob das heißen solle, dass sie gestorben ist.«

Mrs. Bustamonte lächelte. »Saint Andrews«, sagte sie.

»Callyanne ist zurück nach Saint Andrews gegangen.« Sie füllte den Krug aus dem Wasserhahn auf.

Fat Charlie sagte: »Als das alles anfing, dachte ich, dass ich gegen Spider stehe, und ihr vier seid auf meiner Seite. Jetzt wurde Spider entführt, und plötzlich stehe ich hier und ihr vier auf der anderen Seite.«

Sie drehte den Wasserhahn ab und sah ihn missmutig an.

»Ich glaube niemandem mehr«, sagte Fat Charlie. »Mrs. Dunwiddy tut wahrscheinlich nur so, als wäre sie krank.

Sobald ich hier weg bin, springt sie wahrscheinlich aus dem Bett und tanzt Charleston durchs Schlafzimmer.«

»Sie isst nichts mehr. Sie sagt, es fühlt sich nicht gut an innen drin. Will nichts zu sich nehmen. Nur Wasser.«

»Wo in Saint Andrews ist sie?«, fragte Fat Charlie.

»Geh einfach«, sagte Mrs. Bustamonte. »Deine Familie, ihr habt genug Unheil hier angerichtet.«

Fat Charlie schien noch etwas sagen zu wollen, tat es dann doch nicht und verließ das Haus ohne ein weiteres Wort.

Mrs. Bustamonte trug den Wasserkrug ins Schlafzimmer, wo Mrs. Dunwiddy still auf ihrem Bett lag.

»Nancys Sohn hasst uns«, sagte Mrs. Bustamonte. »Was hast du ihm eigentlich erzählt?«

Mrs. Dunwiddy sagte nichts. Mrs. Bustamonte lauschte, und als sie sich davon überzeugt hatte, dass die Altere noch atmete, nahm sie ihr die dicke Brille von der Nase und legte sie auf den Nachttisch, dann zog sie das Laken hoch, bis es Mrs. Dunwiddys Schultern bedeckte.

Danach wartete sie einfach auf das Ende.


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FAT CHARLIE fuhr weg, ohne sich ganz sicher zu sein, wo er hinwollte. Er hatte zum dritten Mal in zwei Wochen den Atlantik überquert, und das Geld, das Spider ihm gegeben hatte, war fast aufgebraucht. Er saß allein im Auto, und da er allein war, begann er zu summen.

Er fuhr gerade an einer Ansammlung von jamaikanischen Restaurants vorbei, als ihm ein Schild in einem Ladenfenster ins Auge fiel: Billig auf die Inseln. Er hielt an und betrat den Laden.

»Wir vom Eins-A-Reisebüro sehen unsere Aufgabe darin, Ihnen in allen Fragen des Reisens ein Freund und Helfer zu sein«, begrüßte ihn ein Mann in jenem gedämpften und entschuldigenden Tonfall, den Ärzte normalerweise für die Mitteilung reservieren, dass die in Frage stehende Gliedmaße leider entfernt werden müsse.

»Ah. Ja. Danke. Ah. Wie komme ich am billigsten nach Saint Andrews?«

»Planen Sie eine Urlaubsreise?«

»Eigentlich nicht. Ich möchte nur für einen Tag hin. Vielleicht auch zwei.«

»Reiseantritt soll wann sein?«

»Heute Nachmittag.«

»Aha, das soll zweifellos ein Scherz sein.«

»Keineswegs.«

Es wurde kummervoll auf einen Computerbildschirm gestarrt. Eine Tastatur wurde bearbeitet. »Es sieht nicht so aus, als gäbe es irgendetwas für unter zwölfhundert Dollar.«

»Oh.« Fat Charlie sank in sich zusammen.

Weiteres Tastaturklacken. Der Mann rümpfte die Nase.

»Das kann ja wohl nicht stimmen.« Dann sagte er: »Moment mal.« Ein Telefonanruf. »Ist dieser Preis noch gültig?« Er kritzelte ein paar Zahlen auf einen Notizblock. Er sah Fat Charlie an. »Wenn Sie für eine Woche fahren können und im Dolphin Hotel wohnen, kann ich Ihnen eine Woche Urlaub für fünfhundert Dollar verkaufen, Mahlzeiten im Hotel inklusive. Für den Flug wird Ihnen nur die Flughafensteuer berechnet.«

Fat Charlie blinzelte. »Gibt es irgendeinen Haken an der Sache?«

»Das ist eine Werbemaßnahme für den Inseltourismus. Hat irgendwas mit dem Musikfestival zu tun. Ich dachte, das sei längst vorbei. Aber na ja, von nichts kommt nichts, wie es heißt. Und wenn Sie irgendwo anders essen wollen, kostet es extra.«

Fat Charlie übergab dem Mann fünf zerknitterte Hundertdollarscheine.


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DAISY FÜHLTE sich allmählich wie die Sorte Cop, die man nur im Kino zu sehen bekommt: abgebrüht, hartgesotten, jederzeit bereit, die Regeln zu missachten; die Sorte Cop, die von einem wissen möchte, ob man sich hier aufspielen oder klugerweise mit ihm zusammenarbeiten wolle; und vor allem aber die Sorte Cop, die sagt: »Ich werde langsam zu alt für diesen Scheiß.« Sie war sechsundzwanzig, und sie hätte den Leuten am liebsten gesagt, dass sie zu alt sei für diesen Scheiß. Es war ihr durchaus bewusst, wie albern das war, ja, sicher doch.

In diesem Moment stand sie in Hauptkommissar Camberwells Büro und sagte: »Ja, Sir, Saint Andrews.«

»Bin mal vor Jahren im Urlaub dort gewesen, mit der ehemaligen Mrs. Camberwell. Sehr angenehmes Plätzchen. Rumkuchen.«

»Das klingt, als wär’s derselbe Ort, Sir. Die Bilder der Überwachungskameras in Gatwick, das ist eindeutig er. Reist unter dem Namen Bronstein. Roger Bronstein fliegt nach Miami, steigt um und nimmt einen Flug nach Saint Andrews.«

»Sie sind sicher, dass er es ist?«

»Ganz sicher.«

»Tja«, sagte Camberwell, »da gucken wir dumm aus der Wäsche, nicht wahr? Kein Auslieferungsabkommen.«

»Es muss doch irgendwas geben, was wir tun können.«

»Hm. Wir können seine restlichen Konten einfrieren und uns seine Vermögenswerte schnappen, und das werden wir auch tun, aber es wird uns so viel nützen wie ein wasserlöslicher Regenschirm, weil er jede Menge Geld da gebunkert haben wird, wo wir’s nicht finden können oder wo wir

nicht rankommen.«

Daisy sagte: »Aber das ist ein gemeiner Schwindel.«

Er sah sie an, als wisse er nicht genau, was er von dem halten solle, was er sah. »Wir sind hier nicht beim Fangen spielen im Kindergarten. Wenn sie sich an die Regeln halten würden, wären sie auf unserer Seite. Falls er zurückkommt, verhaften wir ihn.« Er zerdrückte einen kleinen Plastilinmann und formte ihn zu einem Plastilinball, den er alsdann zwischen den Handflächen plattwalzte. »Früher«, sagte er, »konnte man in einer Kirche Zuflucht nehmen.

Wenn du dich in einem Gotteshaus aufhieltest, konnte das Gesetz dir nichts anhaben. Selbst wenn du einen Mord begangen hattest. Natürlich war dein gesellschaftliches Leben ziemlich eingeschränkt. Okay.«

Er sah sie an, als erwarte er, dass sie sich jetzt verabschiede. Sie sagte: »Er hat Maeve Livingstone umgebracht.

Er hat seine Kunden jahrelang nach Strich und Faden betrogen.«

»Ja und?«

»Wir sollten ihn vor Gericht bringen.«

»Nehmen Sie’s nicht so schwer«, sagte er.

Daisy dachte: Ich werde allmählich zu alt für diesen Scheiß. Sie hielt aber den Mund, und so schwirrten die Worte nur unablässig in ihrem Kopf herum.

»Nehmen Sie’s nicht so schwer«, wiederholte er. Er faltete die Plastilinplatte zu einem grob umrissenen Würfel zusammen, den er zwischen Daumen und Zeigefinger klemmte und gnadenlos malträtierte. »Ich lass mich von diesen Dingen nicht aus der Fassung bringen. Betrachten Sie’s einfach so, als seien Sie Verkehrspolizist. Grahame Coats ist nur ein Auto, das auf einer doppelten gelben Linie geparkt hat, aber weggefahren ist, bevor sie ihm einen Strafzettel verpassen konnten. Ja?«

»Sicher«, sagte Daisy. »Natürlich. Entschuldigen Sie.«

»Genau«, sagte er.

Sie kehrte zu ihrem Schreibtisch zurück, rief die interne Website der Polizei auf und verbrachte ein paar Stunden damit, ihre Optionen zu studieren. Schließlich fuhr sie nach Hause. Carol guckte Coronation Street und aß dazu ein Chicken Korma aus der Mikrowelle.

»Ich nehme mir frei«, sagte Daisy. »Ich fahre in Urlaub.«

»Du hast doch gar keinen Urlaub mehr«, gab Carol vernünftigerweise zu bedenken.

»Was ein Jammer«, sagte Daisy. »Ich bin einfach zu alt für diesen Scheiß.«

»Oh. Wo willst du denn hin?«

»Ich werde einen Gauner jagen.«


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FAT CHARLIE war angetan von Caribbeair. es mochte sich um eine internationale Fluggesellschaft handeln, aber sie hatte den Charme eines lokalen Busunternehmens. Die Stewardess redete ihn mit »Darlin« an und teilte ihm mit, er könne sich egalwo hinsetzen, wo es ihm gefiele.

Er suchte sich drei Sitze aus, legte sich lang und schlief ein. In seinem Traum wandelte Fat Charlie unter kupferfarbenem Himmel, und die Welt war still und unbewegt. Er ging auf einen Vogel zu, größer als eine ganze Stadt, die Augen lodernd, der Schnabel aufgerissen, und Fat Charlie spazierte in den Schnabel hinein und hinunter in den Schlund des Geschöpfes.

Dann, wie es in Träumen so zugeht, war er in einem Zimmer, dessen Wände mit Federn bedeckt waren und mit Augen, rund wie Eulenaugen, die nicht blinzelten.

Spider war in der Mitte des Zimmers, die Beine und Arme ausgestreckt. Er wurde von Ketten gehalten, die aus Knochen gemacht waren, wie die Knochen eines Hühnergenicks, und sie gingen von allen vier Ecken des Raums aus und hielten ihn straff gespannt, wie eine Fliege im Spinnennetz.

Oh, sagte Spider. Du bist es.

Ja, sagte Fat Charlie in seinem Traum.

Die Knochenketten zogen und zerrten an Spiders Fleisch, und Fat Charlie sah den Schmerz in seinem Gesicht.

Tja, sagte Fat Charlie. Ich nehme an, es könnte schlimmer sein.

Ich glaube, das ist es noch nicht, sagte sein Bruder. Ich glaube, sie hat noch etwas mit mir vor. Mit uns beiden. Ich weiß nur nicht, was.

Es sind nur Vögel, sagte Fat Charlie. Was kann es schon Schlimmes sein?

Schon mal von Prometheus gehört? Äh…

Hat der Menschheit das Feuer gebracht. Wurde von den Göttern bestraft, indem sie ihn an einen Felsen ketteten. Jeden Tag kam ein Adler und hat ihm die Leber herausgerissen.

War denn die Leber nicht irgendwann alle?

Ihm ist jeden Tag eine neue gewachsen. Es war eine Göttergeschichte.

Es folgte eine Pause. Die beiden Brüder starrten sich an.

Ich kümmre mich drum, sagte Fat Charlie. Ich bring das in Ordnung.

Genau wie du dein übriges Leben in Ordnung gebracht hast, vermute ich? Spider grinste freudlos.

Tut mir leid.

Nein. Mir tut es leid. Spider seufzte. Wie sieht’s denn aus, hast du einen Plan?

Einen Plan?

Ich interpretier das als ein Nein. Na gut, tue einfach, was du tun musst. Hol mich hier raus.

Bist du in der Hölle?

Ich weiß nicht, wo ich bin. Wenn, dann ist das hier die Hölle der Vögel. Du musst mich rausholen.

Wie denn?

Du bist Dad’s Sohn, oder? Du bist mein Bruder. Lass dir was einfallen. Nur hol mich hier raus.

Fat Charlie erwachte zitternd. Die Stewardess brachte ihm Kaffee, den er dankbar austrank. Er war jetzt wach und hatte kein Verlangen danach, wieder einzuschlafen, also las er das Caribbeair-Journal und erfuhr viele nützliche Dinge über Saint Andrews.

Er erfuhr zum Beispiel, dass Saint Andrews nicht die kleinste der karibischen Inseln ist, aber tendenziell zu denen gehört, die beim Aufzählen vergessen werden. Sie wurde um 1500 von den Spaniern entdeckt, ein unbewohnter vulkanischer Hügel, auf dem es von tierischem Leben nur so wimmelte, ganz zu schweigen von der reichhaltigen Pflanzenwelt. Es hieß, dass alles, was man auf Saint Andrews anpflanzte, auch gedieh.

Es gehörte erst den Spaniern, dann den Briten, dann den Holländern, dann wieder den Briten, und dann, für kurze Zeil nach Erlangung der Unabhängigkeit im Jahre 1962, gehörte es einem Major F. E. Garrett, der, nachdem er die Regierungsgewalt übernommen hatte, die diplomatischen Beziehungen mit allen Ländern außer Albanien und dem Kongo abbrach und das Land mit eiserner Knute regierte bis zu seinem tragischen Tod ein paar Jahre später. Er verstarb, nachdem er aus dem Bett gefallen war, und zwar so heftig, dass er sich zahlreiche Knochen dabei brach. Zum Zeitpunkt der Geschehnisse befand sich eine ganze Einheit von Soldaten in Major Garretts Schlafzimmer, aber auch sie konnten, wie sie später aussagten, den Sturz aus dem Bett nicht verhindern oder abmildern, und trotz aller Bemühungen, die sie sogleich ins Werk setzten, war der Major, als er in das einzige Krankenhaus der Insel eingeliefert wurde, bereits tot. Seither stand Saint Andrews unter der Herrschaft einer wohltätigen und gewählten Lokalregierung und war jedermanns Freund.

Die Insel besaß kilometerlange Sandstrände und in ihrer Mitte einen extrem kleinen Regenwald. Sie hatte Bananen und Zuckerrohr zu bieten, ein Bankwesen, das ausländische Investitionen und Offshore-Banking für große Unternehmen förderte, und keinerlei Auslieferungsabkommen mit wem auch immer, abgesehen unter Umständen von Albanien und dem Kongo.

Wenn Saint Andrews für irgendetwas bekannt war, dann für seine Küche: Die Einwohner reklamierten für sich, sie hätten schon vor den Jamaikanern marinierte Hühner gegrillt, schon vor den Trinidadern Ziegencurry gemacht und schon vor den Bajanern fliegende Fische gebraten.

Es gab zwei Städte auf Saint Andrews. Williamstown auf der Südostseite und Newcastle im Norden. Es gab Straßenmärkte, auf denen man alles kaufen konnte, was auf der Insel wuchs, und mehrere Supermärkte, in denen die gleichen Lebensmittel für den doppelten Preis angeboten wurden. Eines Tages würde Saint Andrews einen echten internationalen Flughafen bekommen.

Es war eine Sache des Standpunktes, ob man den Tiefhafen von Williamstown für eine gute Sache hielt oder nicht. Unbestreitbar war allerdings, dass der Tiefhafen die Kreuzfahrtschiffe anlockte, schwimmende Inseln voller Menschen, die die Wirtschaft und die Natur von Saint Andrews ebenso veränderten wie die Wirtschaft vieler anderer karibischen Inseln. Zur Hochsaison lagen bis zu einem halben Dutzend Kreuzfahrtschiffe in Williamstown Bay, und tausende von Passagieren warteten darauf, von Bord gehen, sich die Beine vertreten und shoppen zu können. Und die Einwohner von Saint Andrews murrten zwar ein wenig, doch hießen sie die Besucher an Land willkommen, verkauften ihnen, was zu verkaufen war, fütterten sie ab, bis nichts mehr in sie hineinging, und schickten sie anschließend wieder auf ihre Schiffe …

Das Flugzeug der Caribbeair landete mit einem solchen Hopser, dass Fat Charlie die Zeitschrift aus der Hand fiel. Er steckte sie zurück in die Sitztasche vor ihm, stieg die Treppe hinunter und ging über die Landebahn.

Es war später Nachmittag.

Fat Charlie nahm ein Taxi vom Flughafen zu seinem Hotel. Während der Taxifahrt erfuhr er ein paar Dinge, die in dem Caribbeair-Journal nicht erwähnt worden waren. Zum Beispiel, dass Musik, also richtige, echte Musik Country-und-Western-Musik war. Johnny Cash? Er war ein Gott. Willie Nelson? Ein Halbgott.

Er erfuhr, dass es keinen Grund gab, Saint Andrews jemals zu verlassen. Der Taxifahrer selbst sah absolut keinen Grund, Saint Andrews jemals zu verlassen, und er hatte immerhin sehr viel darüber nachgedacht. Die Insel hatte eine Höhle, einen Berg und einen Regenwald. Hotels? Davon gab es zwanzig. Restaurants? Mehrere Dutzend. Auf der Insel gab es eine größere und drei kleinere Städte sowie ein paar verstreute Dörfer. Zu essen? Hier wuchs alles. Orangen. Bananen. Muskatnüsse. Es gab, so der Taxifahrer, sogar Limonen.

Fat Charlie sagte daraufhin »Nein!«, hauptsächlich um das Gefühl zu haben, er würde sein Teil zu der Unterhaltung beisteuern, aber der Fahrer schien diesen Einwurf als Infragestellung seiner Glaubwürdigkeit aufzufassen. Er stieg heftig auf die Bremse, brachte das Auto schleudernd am Straßenrand zum Stehen, sprang heraus, langte über einen Zaun, pflückte etwas von einem Baum ab und kehrte zum Auto zurück.

»Gucken Sie sich das an!«, sagte er. »Soll mich niemand einen Lügner schimpfen. Was ist das?«

»Eine Limone?«, sagte Fat Charlie.

»Genau.«

Der Taxifahrer schleuderte sein Fahrzeug auf die Straße zurück. Er informierte Fat Charlie, dass das Dolphin ein ausgezeichnetes Hotel sei. Hatte Fat Charlie Familie auf der Insel? Kannte er hier jemanden?

»Eigentlich«, sagte Fat Charlie, »suche ich hier jemanden. Eine Frau.«

Der Taxifahrer fand, das sei eine fabelhafte Idee, denn Saint Andrews sei der ideale Ort für jemanden, der eine Frau suchte. Das liege daran, führte er aus, dass die Frauen von Saint Andrews kurviger als die aus Jamaika seien und weniger dazu aufgelegt, einem das Herz zu brechen, als die Trinis. Außerdem seien sie schöner als die Frauen von Dominica und bessere Köchinnen, als man sie sonst wo auf der Welt finde. Wenn Fat Charlie nach einer Frau suche, dann sei er hier genau richtig.

»Es geht nicht um irgendeine Frau. Sondern um eine bestimmte«, sagte Fat Charlie.

Der Taxifahrer teilte Fat Charlie mit, dass er offenbar einen wahren Glückstag erwischt habe, denn er, der Taxifahrer, könne mit Stolz von sich behaupten, dass er auf dieser Insel jeden und jede kenne. Wenn man sein ganzes Leben an einem Ort verbringe, sagte er, dann könne man das. Er war bereit, jede Wette einzugehen, dass Fat Charlie nicht alle Menschen in England vom Sehen kenne, und Fat Charlie gestand ein, dass dies in der Tat so sei.

»Sie ist eine Freundin der Familie«, sagte Fat Charlie.

»Ihr Name ist Higgler. Callyanne Higgler. Haben Sie von ihr gehört?«

Der Taxifahrer war eine Weile still. Er schien nachzudenken. Dann sagte er, nein, von der habe er noch nie gehört. Das Taxi hielt vor dem Hotel Dolphin, und Fat Charlie bezahlte den Mann.

Er betrat das Hotel. Eine junge Frau saß an der Rezeption. Er zeigte ihr seinen Pass und seine Reservierungsnummer. Er legte die Limone auf den Empfangstresen.

»Haben Sie Gepäck?«

»Nein«, sagte Fat Charlie entschuldigend.

»Gar keins?«

»Gar keins. Nur diese Limone.«

Nachdem er diverse Formulare ausgefüllt hatte, gab sie ihm einen Schlüssel und beschrieb ihm, wo sein Zimmer war.

Fat Charlie war im Bad, als es an der Tür klopfte. Er wickelte sich ein Handtuch um die Hüften. Es war der Hotelpage. »Sie haben Ihre Limone am Empfang liegen lassen«, sagte er und überreichte sie ihm.

»Danke«, sagte Fat Charlie. Er kehrte ins Bad zurück. Anschließend ging er zu Bett und hatte ungemütliche Träume.


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IN SEINEM Haus auf der Klippe hatte auch Grahame Coats die seltsamsten Träume, dunkel und eher unerfreulich, wenn nicht geradezu unangenehm. Beim Erwachen konnte er sich nicht mehr recht erinnern, doch schlug er die Augen mit dem vagen Eindruck auf, er habe die Nacht damit verbracht, sich durch langes Gras an kleinere Geschöpfe heranzuschleichen, sie mit einem Hieb seiner Tatze zu erledigen und ihre Leiber mit seinen Zähnen zu zerreißen.

Im Traum waren seine Zähne Werkzeuge der Zerstörung.

Er erwachte mit einem Gefühl der Verunsicherung, der junge Tag schien bereits unter einer gewissen Spannung zu stehen.

Es begann also, wie an jedem Morgen, ein neuer Tag und schon, nur eine Woche von seinem alten Leben entfernt, empfand Grahame Coats die Frustriertheit des Flüchtlings. Er hatte einen Swimmingpool, wohl wahr, und Kakaobäume ebenso wie Grapefruitund Muskatnussbäume; er besaß einen vollen Weinkeller und einen leeren Fleischkeller. Er war mit allen modernen Medien ausgerüstet, hatte Satellitenfernsehen, eine große DVD-Sammlung und jede Menge Kunst an den Wänden, tausende von Dollar wert. Er hatte einen Koch, der jeden Tag kam und ihm seine Mahlzeiten zubereitete, eine Haushälterin und eine Art Hausmeister und Gärtner (ein Ehepaar, das jeden Tag für einige Stunden Dienst tat). Das Essen war ausgezeichnet, das Klima sofern man warmes, sonniges Wetter schätzte – ideal, und nichts von alledem machte Grahame Coats so glücklich, wie es ihm seines Erachtens zustand.

Er hatte sich seit seiner Abreise aus England nicht mehr rasiert, was ihm allerdings noch keinen nennenswerten Bart beschert hatte, sondern lediglich jene Art von dünner Gesichtsbehaarung, die den ganzen Mann etwas fadenscheinig erscheinen lässt. Seine Augen saßen in pandabärartig verschatteten Höhlen, und die Tränensäcke darunter waren so dunkel, dass sie wie blaue Flecken anmuteten.

Einmal am Tag, morgens, schwamm er im Pool, ansonsten mied er die Sonne; schließlich hatte er sein unrechtmäßiges Vermögen nicht angesammelt, um es gleich wieder an den Hautkrebs zu verlieren. Oder an was auch immer.

Er dachte zu viel an London. In London hatte jedes seiner Lieblingsrestaurants einen Oberkellner, der ihn mit seinem Namen anredete und dafür sorgte, dass er zufrieden, ja glücklich nach Hause ging. In London gab es Leute, die ihm noch einen Gefallen schuldeten; er hatte nie Probleme, Premierenkarten zu bekommen, und vor allem gab es in London Theater, in denen Premieren gegeben wurden. Er hatte immer gedacht, dass er einen perfekten Exilanten abgeben würde, doch allmählich schwante ihm, dass er sich getäuscht haben mochte.

Da er einen Sündenbock brauchte, kam er zu dem Schluss, dass Maeve Livingstone die Schuld an dieser ganzen Situation trage. Sie war der Auslöser gewesen. Sie hatte versucht ihn zu berauben. Sie war ein Drache, ein Biest und ein Flittchen. Egal, was mit ihr passiert war, sie hatte es verdient. Sie war ja total ausgerastet. Für den Fall, dass er im Fernsehen interviewt werden würde, konnte er bereits die gekränkte Unschuld in seiner Stimme hören, während er erläuterte, dass er sein Eigentum und seine Ehre gegen eine gefährliche Wahnsinnige verteidigt habe. Es sei offen gestanden ein Wunder, dass er es lebend aus seinem Büro herausgeschafft habe …

Und es hatte ihm sehr gefallen, Grahame Coats zu sein. Gegenwärtig, wie immer, wenn er sich auf der Insel aufhielt, war er Basil Finnegan, und das verdross ihn. Er fühlte sich nicht wie ein Basil. Sein Basiltum war mühsam errungen der Original-Basil war als Kleinkind gestorben und hatte ein Geburtsdatum in der Nähe von Grahames eigenem. Eine Kopie der Geburtsurkunde, flankiert von einem Schreiben eines fiktiven Geistlichen, hatte ausgereicht, Grahame in den Besitz eines Reisepasses und einer zweiten Identität zu bringen. Er hatte diese Identität mit Leben erfüllt – Basil verfügte über eine unangefochtene Kreditwürdigkeit, Basil reiste in exotische Länder, Basil hatte ein luxuriöses Haus auf Saint Andrews gekauft, ohne es vorher gesehen zu haben. Aber in Grahames Vorstellung hatte Basil gewissermaßen die Funktion gehabt, für ihn zu arbeiten, und jetzt war der Diener zum Herrn geworden. Basil Finnegan hatte ihn mit Haut und Haaren aufgefressen.

»Wenn ich hier bleibe«, sagte Grahame Coats, »werde ich verrückt.«

»Was haben Sie gesagt?«, fragte die Haushälterin, die, einen Staubwedel in der Hand, in die Schlafzimmertür trat.

»Nichts«, sagte Grahame Coats.

»Klang ein bisschen, als würden Sie sagen, dass Sie noch verrückt werden, wenn Sie hier drinnen bleiben. Sie sollten einen Spaziergang machen. Spazieren gehen ist gut für Sie.«

Grahame Coats ging nicht spazieren. Für so etwas hatte er seine Leute. Aber, dachte er, vielleicht ging ja Basil Finnegan spazieren. Er setzte einen breitkrempigen Hut auf und tauschte seine Sandalen gegen Wanderschuhe. Er nahm sein Handy an sich, wies den Hausmeister an, ihn mit dem Auto abzuholen, wenn er anrief, und machte sich dann auf, von seinem Haus am Klippenrand in Richtung der nächstgelegenen Ortschaft zu marschieren.

Die Welt ist klein. Man muss gar nicht sehr lange darin leben, um diese Erfahrung zu machen. Es gibt eine Theorie, wonach auf der ganzen Welt nur fünfhundert echte Leute leben (die Stammbesetzung sozusagen; alle anderen Leute auf der Welt, behauptet diese Theorie, seien lediglich Statisten), die sich überdies alle untereinander kennen. Und es stimmt, jedenfalls mehr oder weniger. In Wirklichkeit besteht die Welt aus vielen tausend Gruppen von jeweils etwa fünfhundert Leuten, die sich alle ihr Leben lang in die Arme laufen, sich aus dem Weg zu gehen versuchen und dann todsicher in einem obskuren Teeladen in Vancouver übereinander stolpern. Es liegt eine gewisse Unvermeidlichkeit in diesem Prozess. Man kann nicht einmal von Zufall sprechen. Sondern die Welt funktioniert nun einmal so, ohne Rücksicht auf Einzelschicksale oder allgemeine Grundsätze des Anstands.

So geschah es also, dass Grahame Coats in ein kleines Cafe an der Straße nach Williamstown trat, um sich ein alkoholfreies Getränk zu genehmigen und einen Platz zum Sitzen zu haben, von dem aus er seinen Hausmeister anrufen konnte, um ihm zu sagen, dass er jetzt bereit sei, abgeholt zu werden.

Er bestellte eine Fanta und setzte sich an einen Tisch. Das Cafe war praktisch leer: nur zwei Frauen, eine ältere und eine jüngere, saßen hinten in der Ecke, tranken Kaffee und schrieben Ansichtskarten.

Grahame Coats schaute sich um, blickte über die Straße in Richtung Strand. Es war das reine Paradies, dachte er.

Und es wäre angemessen, sich ein wenig in der Lokalpolitik zu engagieren vielleicht als Förderer der schönen Künste. Einige substanzielle Spenden hatte er bereits der hiesigen Polizei zukommen lassen, und es mochte unter Umständen sogar notwendig werden, dafür zu sorgen, dass …

Eine Stimme von hinten, aufgewühlt und ein bisschen zaghaft, sagte: »Mister Coats?«, und sein Herz tat einen heftigen Sprung. Die jüngere der Frauen setzte sich zu ihm.

Sic hatte ein überaus warmes Lächeln.

»Dass ich ausgerechnet hier auf Sie treffe«, sagte sie.

»Sind Sie auch auf Urlaub?«

»So etwas Ähnliches.« Er hatte nicht die geringste Ahnung, wer diese Frau war.

»Sie erinnern sich doch an mich? Rosie Noah. Ich war früher mit Fat, mit Charlie Nancy zusammen. Ja?«

»Hallo. Rosie. Ja, natürlich.«

»Ich bin auf einer Kreuzfahrt, mit meiner Mutter. Sie schreibt immer noch Karten nach Hause.«

Grahame Coats warf einen Blick über die Schulter in den hinteren Teil des kleinen Cafes, und da saß in einem geblümten Kleid etwas, das einer südamerikanischen Mumie ähnelte, und starrte ihn feindselig an.

»Ganz ehrlich«, fuhr Rosie fort. »Ich bin eigentlich nicht der Typ für Kreuzfahrten. Zehn Tage lang von einer Insel zur nächsten. Da freut man sich, wenn man mal ein vertrautes Gesicht sieht, nicht wahr?«

»Selbstverfreilich«, sagte Grahame Coats. »Darf ich Sie so verstehen, dass die Sache mit Ihnen und unserem Charles, ähm, nicht mehr aktuell ist?«

»Ja«, sagte sie. »Dürfen Sie wohl. Ich meine, wir sind nicht mehr zusammen.«

Äußerlich lächelte Grahame Coats mitfühlend. Er nahm seine Fanta und ging mit Rosie zum Tisch in der Ecke. Rosies Mutter strahlte Feindseligkeit aus, vergleichbar einem alten Eisenheizkörper, der kalte Luft ins Zimmer strahlt, aber Grahame Coats war überaus charmant und hilfsbereit, und er war in allem mit ihr einer Meinung. Jawohl, es sei empörend, was die Kreuzfahrtgesellschaften heutzutage sich erlauben zu dürfen glaubten; es sei in der Tat widerwärtig, wie schlampig die Leitung der Schiffe sei und keiner tue etwas dagegen; es sei schockierend, wie wenig man auf den Inseln unternehmen könne, und es sei in jeder Hinsicht haarsträubend, womit man sich als Passagier abzufinden hätte: zehn Tage ohne eine Badewanne, und nur winzig kleine Duschen. Ungeheuerlich.

Rosies Mutter berichtete ihm von mehreren recht eindrucksvollen Feindschaften, die sie mit gewissen amerikanischen Passagieren pflegte, deren Vergehen, wenn Grahame Coats recht verstand, in der Hauptsache darin zu bestehen schien, dass sie ihre Teller am Büffet der Squeak Attack zu voll packten und sich genau den Platz auf dem Achterdeck zum Sonnenbaden aussuchten, den Rosies Mutter gleich am ersten Tag klipp und klar zu dem ihren erklärt hatte.

Grahame Coats nickte und gab mitfühlende Laute von sich, während die Vitriolsäure auf ihn niedertropfte, er schnalzte, brummte zustimmend und machte Tch, bis Rosies Mutter bereit war, ihre Abneigung sowohl gegen Fremde als auch gegen alle Personen, die in irgendeiner Beziehung zu Fat Charlie standen, hintanzustellen, und so redete sie und redete und hörte gar nicht wieder auf zu reden. Grahame Coats hörte kaum zu. Grahame Coats dachte nach.

Es wäre misslich, überlegte Grahame Coats, wenn jemand gerade zu diesem Zeitpunkt nach London zurückkehrte und die Behörden darüber informierte, dass Grahame Coats auf Saint Andrews angetroffen worden sei. Es war unvermeidlich, dass er eines Tages gesehen und erkannt werden würde, aber gleichwohl, vielleicht ließ sich das Unvermeidliche ja noch ein wenig aufschieben.

»Lassen Sie mich«, sagte Grahame Coats, »eine Lösung für wenigstens eins Ihrer Probleme vorschlagen. Ein kleines Stück die Straße hoch besitze ich ein Ferienhaus. Ein ganz hübsches Haus, glaube ich sagen zu können. Und wenn es etwas gibt, von dem ich dort überreichlich habe, dann sind es Bäder. Hätten Sie Lust, mit mir zu kommen und es sich wohl sein zu lassen?«

»Nein, danke«, sagte Rosie. Hätte sie zugestimmt, muss davon ausgegangen werden, dass ihre Mutter darauf hingewiesen hätte, dass sie später am Nachmittag im Hafen von Williamstown zurückerwartet würden, um die Reise fortzusetzen, und dann hätte sie Rosie dafür gescholten, dass sie eine solche Einladung von einem praktisch Fremden angenommen habe. Aber Rosie sagte nein.

»Das ist außerordentlich freundlich von Ihnen«, sagte Rosies Mutter. »Wir würden uns glücklich schätzen.«

Bald darauf hielt der Gärtner in einem schwarzen Mercedes vor dem Cafe, und Grahame Coats öffnete die hintere Tür für Rosie und ihre Mutter. Er versicherte ihnen, dass er sie selbstverfreilich zum Hafen zurückbringen lassen würde, lange bevor das letzte Boot zu ihrem Schiff ablegte.

»Wohin, Mister Finnegan?«, fragte der Gärtner.

»Nach Hause«, sagte er.

»Mister Finnegan?«, fragte Rosie.

»Das ist ein alter Familienname«, sagte Grahame Coats, vollkommen überzeugt davon, dass dies der Wahrheit entsprach. Von irgendeiner Familie auf jeden Fall. Er schloss die Tür und setzte sich auf den Beifahrersitz.


—————


MAEVE LIVINGSTONE war desorientiert, dabei hatte es so gut angefangen: Sie hatte sich gewünscht, zu Hause zu sein, in Pontefract, und dann hatte es ein Schimmern und einen enormen Wind gegeben, und Wusch! war sie mit einem einzigen ektoplasmatischen Zucken zu Hause gewesen. Sie wandelte ein letztes Mal durchs Haus, dann begab sie sich hinaus in den Herbsttag. Sie wollte ihre Schwester in Rye besuchen, und bevor sie diesen Gedanken auch nur formulieren konnte, war sie schon im Garten in Rye und sah, wie ihre Schwester ihren Spaniel Gassi führte.

Es schien so leicht zu sein.

Doch dann hatte sie beschlossen, Grahame Coats sehen zu wollen, und von da an war alles schiefgegangen. Für einen kurzen Moment war sie wieder in dem Büro im Aldwych und dann in einem leeren Haus in Purley, das sie noch von einer kleinen Dinnerparty her kannte, die Grahame Coats vor zehn Jahren mal ausgerichtet hatte, und dann …

Dann hatte sie die Orientierung verloren. Und mit jedem Mal, dass sie sich irgendwo hinwünschte, wurde die Sache nur noch schlimmer.

Sie hatte keine Ahnung, wo sie jetzt war. Es schien eine Art Garten zu sein.

Ein kurzer Wolkenbruch machte alles nass, ließ sie aber unberührt. Jetzt dampfte der Boden, und sie wusste, dass sie nicht in England war. Es wurde langsam dunkel.

Sie setzte sich auf die Erde und begann zu schniefen.

Also ehrlich, stellte sie sich zur Rede. Maeve Livingstone. Reiß dich zusammen. Aber das Schniefen verschlimmerte sich noch.

»Möchten Sie ein Papiertuch?«, fragte jemand.

Maeve sah auf. Ein älterer Herr mit grünem Hut und einem sehr dünnen Oberlippenbart hielt ihr ein Papiertuch entgegen.

Sie nickte. Dann sagte sie: »Es wird mir aber wahrscheinlich nichts nützen. Ich werde es nicht anfassen können.«

Er lächelte verständnisvoll und reichte ihr das Tuch. Es fiel ihr nicht durch die Finger, also putzte sie sich die Nase und tupfte sich die Augen trocken. »Danke. Und entschuldigen Sie. Es war nur alles ein bisschen viel geworden.«

»Kann passieren«, sagte der Mann. Er musterte sie prüfend. »Was sind Sie? Ein Duppy?«

»Nein«, sagte sie. »Das glaube ich nicht … was ist ein Duppy?«

»Ein Geist«, sagte er. Mit seinem dünnen Oberlippenbart erinnerte er sie an Cab Calloway, oder vielleicht auch Don Ameche, an einen von den Stars jedenfalls, die auch im höheren Alter nie aufhörten, Stars zu sein. Wer er auch sein mochte, der alte Mann war noch immer ein Star.

»Oh. Aha. Ja, so einer bin ich. Ähm. Und Sie?«

»Mehr oder weniger«, sagte er. »Ich bin jedenfalls tot.«

»Oh. Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich Sie frage, wo wir hier sind?«

»Wir sind in Florida«, antwortete er. »Auf dem Friedhof. Gut, dass Sie mich grad erwischt haben«, fügte er hinzu.

»Ich wollte ein bisschen spazieren gehen. Möchten Sie mitkommen?«

»Sollten Sie nicht in einem Grab liegen?«, fragte sie zögerlich.

»Ich hab mich gelangweilt«, sagte er. »Ich dachte, ein Spaziergang würde mir guttun. Und vielleicht auch ein bisschen angeln.«

Sie zögerte noch kurz, dann nickte sie. Es war nett, sich mit jemandem unterhalten zu können.

»Möchten Sie eine Geschichte hören?«, fragte der alte Mann.

»Eigentlich nicht«, gestand sie.

»Na schön. Dann fass ich mich kurz. Und hole nicht zu weit aus. Wissen Sie, ich könnte Geschichten dieser Art so erzählen, dass es mehrere Wochen dauert. Es hängt alles von den Details ab – was man hineintut, und was nicht. Ich mein, wenn man das Wetter weglässt, und was die Leute anhaben, dann kann man die Geschichte schon um die Hälfte kürzen. Einmal hab ich eine Geschichte erzählt …«

»Hören Sie«, sagte sie, »wenn Sie denn unbedingt Ihre Geschichte erzählen wollen, dann legen Sie einfach los, ja?« Es war schon schlimm genug, in der einsetzenden Dämmerung auf der Straße spazieren zu gehen. Zwar rief sie sich in Erinnerung, dass sie nicht würde überfahren werden können, aber zu ihrer Beruhigung trug das wenig bei.

Der alte Mann begann in einem sanften Singsang zu sprechen. »Wenn ich ›Tiger‹ sage«, sagte er, »dann müssen Sie sich klarmachen, dass es nicht nur um die gestreifte Katze geht, die aus Indien. Sondern es ist alles, was die Menschen als die großen Katzen kennen – die Pumas, die Luchse, die Jaguare und all die anderen. Haben Sie das verstanden?«

»Natürlich.«

»Gut. Also … vor langer, langer Zeit«, begann er, »gehörten Tiger alle Geschichten. Alle Geschichten, die es gab, waren Tiger-Geschichten, alle Lieder waren TigerLieder, und ich könnte sagen, dass alle Witze Tiger-Witze waren, nur dass damals, in der Tiger-Zeit, gar keine Witze erzählt wurden. In Tiger-Geschichten kommt es einzig und allein darauf an, wie stark deine Zähne sind, wie du jagst und wie du tötest, ‘s gibt nichts Sanftes in TigerGeschichten, keine Raffinesse und keinen Frieden.«

Maeve versuchte sich vorzustellen, was für Geschichten eine große Katze wohl erzählen mochte. »Dann waren sie also gewalttätig?«

»Manchmal. Aber hauptsächlich waren sie einfach schlimm. Als all die Geschichten und all die Lieder Tiger gehörten, das war eine schlimme Zeit für alle. Menschen nehmen die Gestalt der Geschichten und der Lieder an, die sie umgeben, vor allem dann, wenn sie keine eigenen Lieder haben. Und in Tiger-Zeiten waren alle Lieder düster. Sie begannen in Tränen und endeten in Blut, und es waren die einzigen Geschichten, die die Menschen dieser Welt kannten.

Aber dann kommt Anansi des Wegs. Ich schätze mal, über Anansi wissen Sie Bescheid …«

»Ich glaube nicht«, sagte Maeve.

»Tja, wenn ich jetzt anfangen würde, Ihnen zu erzählen, wie schlau und gut aussehend, wie charmant und wie gerissen Anansi war, dann wäre ich nächsten Donnerstag noch nicht fertig«, setzte der Alte an.

»Dann lassen Sie’s doch lieber«, sagte Maeve. »Wir glauben es auch so. Und was hat dieser Anansi gemacht?«

»Nun, Anansi hat die Geschichten für sich gewonnen, gewonnen? Nein. Er hat sie sich verdient. Er nahm sie Tiger weg und sorgte dafür, dass Tiger die wirkliche Welt nicht mehr betreten konnte. Nicht leibhaftig. Die Geschichten, die die Menschen sich erzählten, wurden AnansiGeschichten. Das geschah vor, na, zehntausend, fünfzehntausend Jahren.

Also, in den Anansi-Geschichten, da steckt Witz, Täuschung, Weisheit. Jetzt denken die Menschen auf der ganzen Welt nicht mehr nur ans Jagen und Gejagtwerden. Jetzt fangen sie an, sich Lösungen für ihre Probleme auszudenken – manchmal geraten sie beim Denken auch in noch größere Probleme. Natürlich müssen sie nach wie vor etwas in den Bauch bekommen, aber jetzt überlegen sie, wie man das vielleicht ohne Arbeit anstellen könnte und das ist nämlich der Punkt, wo die Leute anfangen, ihren Kopf zu gebrauchen. Manche glauben, die ersten Werkzeuge wären Waffen gewesen, aber das ist ganz verkehrt. Als Erstes haben die Menschen sich die nützlichen Werkzeuge ausgedacht. Der Krückstock kommt vor dem Knüppel immer. Denn jetzt erzählen die Leute sich Anansi-Geschichten, und sie machen sich Gedanken darüber, wie man einen Kuss bekommt, und überhaupt, wie man etwas bekommt, ohne was dafür zu geben, indem man einfach schlauer oder witziger ist als andere. Da haben sie erst angefangen, die Welt zu bauen.«

»Das ist doch nur eine Volkssage«, sagte sie. »Die Menschen haben sich von Anfang an Geschichten ausgedacht.«

»Ändert das irgendetwas?«, fragte der alte Mann. »Ja, kann schon sein, dass Anansi nur ein Typ aus einer Geschichte ist, die die Menschen schon in ihrer Frühzeit, in Afrika, erfunden haben, vielleicht war’s ein Junge mit schwarzen Fliegen am Bein, der seine Krücken in den Matsch gebohrt und sich eine verrückte Geschichte über einen Menschen aus Teer ausgedacht hat. Ändert das irgendetwas? Die Menschen sprechen auf die Geschichten an. Sie erzählen sie selber weiter. Die Geschichten verbreiten sich, und während die Menschen sie erzählen, verändern die Geschichten die Erzähler. Denn all diejenigen, die bisher immer nur daran gedacht haben, den Löwen zu entgehen und sich vom Fluss fernzuhalten, damit sie keine leichte Beute für die Krokodile werden, die fangen jetzt an, von einem ganz anderen Leben zu träumen. Die Welt mag noch dieselbe sein, aber die Tapete hat sich verändert. Ja? Die Menschen haben immer noch dieselbe Geschichte, in der sie geboren werden, alles Mögliche tun und irgendwann wieder sterben, aber jetzt hat die Geschichte eine andere Bedeutung als früher.«

»Sie wollen darauf hinaus, dass die Welt vor den AnansiGeschichten ein barbarischer Ort war?«

»Ja, so ungefähr.«

Sie nahm die Mitteilung in sich auf. »Na ja«, sagte sie fröhlich, »es ist sicherlich eine gute Sache, dass die Geschichten jetzt Anansi gehören.«

Der alte Mann nickte.

Und dann sagte sie: »Will Tiger sie denn nicht zurückhaben?«

Er nickte wieder. »Er will sie seit zehntausend Jahren zurückhaben.«

»Aber er bekommt sie nicht, oder?«

Der alte Mann sagte nichts. Er starrte in die Ferne. Dann zuckte er die Achseln. »Wäre schlimm, wenn er sie kriegen würde.«

»Was ist mit Anansi?«

»Anansi ist tot«, sagte der Alte. »Und da kann ein Duppy nicht viel dran ändern.«

»Da ich selber ein Duppy bin«, sagte sie, »möchte ich mir solche Äußerungen verbitten.«

»Na ja«, sagte der alte Mann, »Duppys können nun mal nichts Lebendiges berühren. Schon vergessen?«

Sie dachte kurz darüber nach. »Aber was kann ich dann berühren?«, fragte sie.

Der Ausdruck, der über sein altes Gesicht huschte, war sowohl verschmitzt als auch verschlagen. »Tja«, sagte er.

»Sie könnten mich berühren.«

»Ich muss Sie darauf aufmerksam machen«, sagte sie scharf, »dass ich eine verheiratete Frau bin.«

Sein Lächeln wurde nur noch breiter. Es war ein süßes und sanftes Lächeln, ebenso herzerwärmend wie gefährlich. »Im Allgemeinen endet ein Vertrag dieser Art in einem bis dass der Tod euch scheidet.«

Maeve blieb unbeeindruckt.

»Die Sache ist die«, erklärte er ihr, »Sie sind ein immaterielles Mädchen. Sie können immaterielle Dinge berühren. Wie mich zum Beispiel. Ich meine, wenn Sie wollen, können wir tanzen gehen. Es gibt ein Lokal ganz in der Nähe. Würde niemandem auffallen, wenn auch ein Paar von Duppys über den Tanzboden schwebt.«

Maeve überlegte. Es war so lange her, seit sie zuletzt tanzen gegangen war. »Sind Sie ein guter Tänzer?«, fragte sie.

»Habe noch keine Klagen gehört«, sagte der Alte.

»Ich suche einen Mann, einen lebenden Mann – namens Grahame Coats. Können Sie mir helfen, ihn zu finden?«

»Ich kann Sie auf jeden Fall in die richtige Richtung dirigieren«, sagte er. »Also, wie ist es, tanzen Sie?«

Ein Lächeln schlich sich auf ihre Lippen. »Das fragen Sie mich?«, sagte sie.


—————


DIE KETTEN, die Spider gefesselt hatten, fielen ab, der Schmerz, eben noch unablässig bohrend wie ein böser Zahnschmerz, der den ganzen Körper ergreift, ließ langsam nach.

Spider trat einen Schritt nach vorn.

Vor ihm schien so etwas wie ein Riss im Himmel auf, und er bewegte sich darauf zu.

Er sah eine Insel vor sich. Er konnte einen kleinen Berg in der Mitte dieser Insel sehen. Er konnte einen strahlend blauen Himmel sehen, sanft sich wiegende Palmen, eine weiße Möwe hoch oben im Himmel. Aber während er sie noch sah, schien diese Welt sich bereits zurückzuziehen. Es war, als würde er sie durch das verkehrte Ende eines Fernrohrs betrachten. Sie schrumpfte und entzog sich ihm, und je angestrengter er ihr nachlief, desto mehr schien sie sich zu entfernen.

Die Insel war eine Spiegelung in einer Wasserpfütze, und dann war sie gar nichts mehr.

Er war in einer Höhle. Überall gab es scharfe Kanten schärfer als alles, was Spider je gesehen hatte. Dies war ein Ort ganz eigener Art.

Sie stand in der Höhlenöffnung, zwischen ihm und dem Freien. Er kannte sie. Sie hatte ihm in einem griechischen Restaurant in Südlondon ins Gesicht gestarrt, und aus ihrem Mund waren Vögel gekommen.

»Weißt du«, sagte Spider, »ich muss schon sagen, dass du eine ziemlich seltsame Vorstellung von Gastfreundschaft hast. Wenn du in meine Welt kämst, würde ich dir ein Essen kochen, würde eine Flasche Wein aufmachen und schöne sanfte Musik auflegen; ich würde dir einen Abend bescheren, den du nie vergessen würdest.«

Ihr Gesicht war ausdruckslos, wie aus schwarzem Fels gemeißelt. Der Wind zerrte an den Rändern ihres alten braunen Mantels. Dann sprach sie, mit einer Stimme so hoch und einsam wie der Ruf einer fernen Möwe.

»Ich habe dich geholt«, sagte sie. »Jetzt wirst du ihn rufen.«

»Ihn rufen? Wen rufen?«

»Du wirst winseln«, sagte sie. »Du wirst wimmern. Deine Furcht wird ihn erregen.«

»Spider winselt nicht«, sagte er. Er war sich nicht sicher, ob das zutraf.

Augen so schwarz und glänzend wie Obsidiansplitter starrten ihm entgegen. Wie schwarze Löcher waren diese Augen, sie ließen nichts heraus, nicht einmal Information.

»Wenn du mich tötest«, sagte Spider, »wird mein Fluch über dich kommen.« Er fragte sich, ob er überhaupt einen

Fluch hatte. Wahrscheinlich ja, und falls nicht, könnte er sicherlich so tun, als ob.

»Nicht ich werde es sein, der dich tötet«, sagte sie. Sie hob die Hand, und es war gar keine Hand, sondern die Klaue eines Raubvogels. Sie strich damit über sein Gesicht, über seine Brust, und ihre grausamen Krallen rissen seine Haut auf, gruben sich ins Fleisch.

Es tat nicht weh, aber Spider wusste, dass die Schmerzen nur allzu bald kommen würden.

Blutstropfen färbten seine Brust rot und rannen ihm übers Gesicht. Seine Augen brannten. Das Blut berührte seine Lippen. Er konnte es schmecken, und es roch wie Eisen.

»Jetzt«, sagte sie in den Schreien ferner Vögel. »Jetzt beginnt dein Tod.«

Spider sagte: »Wir sind doch beide vernünftige Wesen.

Erlaube, dass ich dir ein durchaus praktikables Alternativszenario darlege, von dem wir aller Voraussicht nach beide profitieren würden.« Er sagte es mit einem entspannten Lächeln. Er klang sehr überzeugend.

»Du redest zu viel«, sagte sie und schüttelte den Kopf.

»Genug geredet jetzt.«

Mit ihren scharfen Krallen griff sie in seinen Mund, und dann riss sie ihm mit einem Ruck die Zunge heraus.

»So«, sagte sie. Und dann schien sie doch Mitleid mit Spider zu haben, denn sie berührte sein Gesicht auf fast freundliche Weise, und sie sagte: »Schlaf.«

Er schlief.


—————


FRISCH GEBADET, zeigte Rosies Mutter sich zu neuen Lebensgeistern erwacht und voller Begeisterung.

»Bevor ich Sie nach Williamstown bringen lasse, darf ich Ihnen vielleicht eine ganz kurze Führung durchs Haus anbieten?«, fragte Grahame Coats.

»Wir müssen wirklich zum Schiff zurück, aber trotzdem vielen Dank«, sagte Rosie, die sich nicht dazu hatte überreden lassen, ein Bad in Grahame Coats’ Haus nehmen zu wollen.

Ihre Mutter sah auf ihre Armbanduhr. »Wir haben noch neunzig Minuten Zeit«, sagte sie. »Es dauert nicht länger als fünfzehn Minuten, um zum Hafen zu kommen. Sei nicht unhöflich, Rosie. Wir würden uns das Haus liebend gern ansehen.«

Und so zeigte Grahame Coats ihnen das Wohnzimmer, das Arbeitszimmer, die Bibliothek, das Fernsehzimmer, das Esszimmer, die Küche und den Swimmingpool. Von der Küche aus gingen ein paar Stufen hinunter zu einer Tür, hinter der sich ein Besenschrank zu verbergen schien, doch als Grahame Coats sie öffnete, kam eine Holztreppe zum Vorschein, über die er seine Gäste in seinen von Felswänden ummauerten Weinkeller führte. Er zeigte ihnen den Wein, der größtenteils schon beim Kauf des Hauses zum Inventar gehört hatte. Er ging mit ihnen tief in den Weinkeller hinein zu einem ganz leeren Raum, der einst, in der Zeit vor den Kühlschränken, als Kaltraum für Fleisch gedient hatte. Es war stets kühl im Fleischschrank, von dessen Decke schwere Ketten hingen, mit Haken an den Enden, an denen vor langer Zeit ganze Tierrümpfe gehangen hatten. Grahame Coats hielt höflich die schwere Eisentür auf, damit die beiden Damen eintreten konnten.

»Ach, wissen Sie«, sagte er hilfsbereit, »ich merke gerade, dass ich an dem Lichtschalter vorbeigelaufen bin. Einen Moment, ich bin gleich zurück.« Und dann schlug er die Tür hinter den Trauen zu und rammte die Riegel davor.

Er suchte sich eine staubbedeckte Flasche eines 1995er Chablis Premier Cru aus dem Weinregal.

Mit federnden Schritten stieg er die Treppe hinauf und teilte seinen drei Angestellten mit, dass sie ab sofort eine Woche frei hätten.

Als er nach oben in sein Arbeitszimmer ging, hatte er das Gefühl, irgendetwas würde geräuschlos hinter ihm herstapfen, aber als er sich umdrehte, war nichts zu sehen. Seltsamerweise fand er das beruhigend. Er suchte sich einen Korkenzieher, öffnete die Flasche und goss sich ein Glas des blassen Weines ein. Er trank einen Schluck, und obwohl er bisher keine sonderliche Neigung zu Rotweinen gehabt hatte, verspürte er unversehens den Wunsch, etwas Gehaltvolleres und Dunkleres trinken zu können. Es sollte, dachte er, die Farbe von Blut haben.

Als er sein zweites Glas Chablis getrunken hatte, ging ihm auf, dass er die Schuld für seine Notlage bei der falschen Person gesucht hatte. Maeve Livingstone, das wurde ihm jetzt klar, war ja selbst nur ein leichtgläubiges Opfer gewesen. Nein, wer die Verantwortung für alles trug, das war offensichtlich und unbestreitbar Fat Charlie. Wenn er sich nicht eingemischt, sich nicht auf kriminelle Weise Zugang zu Grahame Coats’ Geschäftsdaten verschafft hätte, wäre er, Grahame Coats, jetzt nicht hier, im Exil, wie ein blonder Napoleon auf einer paradiesischen Insel Elba. Er wäre jetzt nicht in der unseligen Lage, zwei Frauen in seinem Fleischkaltraum eingesperrt zu haben. Wenn Fat Charlie hier wäre, dachte er, würde ich ihm mit meinen bloßen Zähnen die Kehle aufreißen, und dieser Gedanke erschien ihm ebenso schockierend wie erregend. Wer einen Grahame Coats bescheißen wollte, der würde schon sehen, was er davon hatte!

Der Abend brach an, und Grahame Coats beobachtete vom Fenster aus, wie die Squeak Attack an seinem Haus auf den Klippen vorbeitrieb, dem Sonnenuntergang entgegen. Er fragte sich, wie lange es wohl dauern würde, bis ihnen auffiel, dass zwei Passagiere fehlten. Er winkte sogar.

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