KAPITEL DREIZEHN

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DAS SICH

FÜR

EINIGE

ALS

UNGLÜCKSKAPITEL

ERWEIST

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DIE VÖGEL WAREN JETZT SEHR AUFGEREGT, sie krächzten, schrien und zwitscherten in den Baumwipfeln. Es kommt, dachte Spider fluchend. Er war vollkommen erledigt. In ihm war nichts mehr, nur Müdigkeit und Erschöpfung.

Er stellte sich vor, auf der Erde zu liegen und gefressen zu werden. Alles in allem, befand er, ein lausiger Abgang.

Während er nicht einmal mit Sicherheit sagen konnte, ob er imstande wäre, sich eine neue Leber wachsen zu lassen, war er andererseits einigermaßen überzeugt davon, dass das ihn belauernde Wesen überhaupt nicht die Absicht hatte, sich mit der Leber zu begnügen.

Er begann an dem Pflock zu zerren. Er zählte bis drei und riss dann, so gut und so weit er es vermochte, beide Arme zu sich heran, sodass das Seil sich spannte und an dem Pflock zog, dann zählte er wieder bis drei und begann von vorn.

Die Wirkung war ungefähr die gleiche, als würde man versuchen, einen Berg über die Straße zu ziehen. Eins, zwei, drei … Hau, eins, zwei, drei … Ruck!

Irgendwo sang jemand, er konnte es deutlich hören. Und das Lied brachte Spider zum Lächeln. Schade, dass er keine Zunge mehr hatte: Er würde sie dem Tiger herausstrecken, wenn er schließlich aufkreuzte. Der Gedanke gab ihm Kraft.

Eins, zwei, drei … Hau ruck!

Und der Pflock gab nach, schwankte unter seinen Händen. Eine weitere Anstrengung, und der Pflock war draußen, flutschte aus der Erde heraus wie bestimmte Schwerter aus bestimmten Felssteinen.

Er zog an den Seilen und nahm den Pflock in die Hände.

Er war knapp einen Meter lang. Das eine Ende war angespitzt, damit er besser in die Erde getrieben werden konnte. Mit tauben Händen löste er ihn aus den Seilschlingen, die Seile blieben funktionslos an seinen Handgelenken hängen. Er wog den Pflock in der rechten Hand. Das würde wohl passen. Und im selben Augenblick wusste er, dass er beobachtet wurde: dass es ihn bereits seit einer ganzen Weile beobachtete, wie eine Katze, die vor einem Mauseloch lauert.

Es kam in fast völliger Stille zu ihm, schlich sich an wie ein Schatten, der sich über den Tag schiebt. Die einzige für das Auge sichtbare Bewegung war die des Schwanzes, der ungeduldig hin und her schlug. Ansonsten hätte man es für eine Statue halten können oder für einen Sandhaufen, der auf Grund einer optischen Täuschung einem wilden Tier ähnelte, denn sein Fell war sandfarben, die starren Augen grün wie das winterliche Meer. Sein Gesicht war das breite, grausame Antlitz eines Panthers. Auf den Inseln wurden alle großen Katzen Tiger genannt, und in dieser einen vereinigten sich alle großen Katzen, die es je gegeben hatte – zu einer noch größeren, noch gemeineren, noch gefährlicheren.

Spiders Fußknöchel waren noch immer zusammengebunden, sodass er kaum gehen konnte. Er spürte Kribbeln in Händen und Füßen. Er hüpfte von einem Fuß auf den anderen und versuchte, so zu tun, als mache er das mit einer bestimmten Absicht, beispielsweise als rituellen Einschüchterungstanz, und nicht, weil das Stehen ihm wehtat.

Er hätte sich gern hingekauert und seine Füße losgebunden, aber er traute sich nicht, die Augen von der Bestie zu wenden.

Der Pflock war schwer und dick, aber zu kurz, um als Speer dienen zu können, zu unhandlich und groß, um anderweitig von Nutzen zu sein. Spider hielt ihn am schmaleren, dem angespitzten Ende und wandte den Blick ab, dem Meer zu, guckte ganz bewusst nicht dorthin, wo das Tier war, sondern verließ sich darauf, dass sein peripheres Gesichtsfeld alle nötigen Informationen liefern würde.

Was hatte sie gesagt? Du wirst winseln. Du wirst wimmern. Deine Furcht wird ihn erregen.

Spider begann zu winseln. Dann wimmerte er, wie eine verletzte Ziege, verlassen, wohlgenährt, hilflos.

Sandfarbene Bewegung, blitzschnell, kaum blieb genug Zeit, Zähne und Pranken zu registrieren, die verschwommen auf ihn zuschössen. Spider schwang den Pflock wie einen Baseballschläger, mit voller Wucht, fühlte, wie er mit einem erfreulichen Krachen voll auf die Nase der Bestie prallte.

Tiger blieb stehen, starrte ihn an, als möge er seinen Augen nicht trauen, dann machte er ein Geräusch tief in der Kehle, ein missmutiges Knurren, drehte sich um und ging steifbeinig zurück in die Richtung, aus der er gekommen war, aufs Buschwerk zu, als habe er dort eine schon vorher getroffene Verabredung, die es nun mal leider einzuhalten gelte. Über die Schulter blickte er verbittert, von Schmerz gezeichnet, zu Spider zurück und vermittelte diesem den Eindruck, dass er zurückkehren werde.

Spider blickte ihm nach.

Dann setzte er sich hin, um seine Füße von den Fesseln zu befreien.

Er ging, noch ein bisschen unsicher auf den Füßen, am Klippenrand entlang, folgte dessen sanftem Abwärtsschwung. Bald kam er an einen Bachlauf, der sich in einem funkelnden Wasserfall von der Klippe stürzte. Spider ließ sich auf die Knie nieder, tauchte beide Hände ins kühle Wasser und trank ausgiebig.

Anschließend begann er Steine zu sammeln. Schöne, faustgroße Steine. Er stapelte sie aufeinander, wie Schneebälle.


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DU HAST JA KAUM ETWAS GEGESSEN«, sagte Rosie.

»Iss du nur. Du musst bei Kräften bleiben«, sagte ihre Mutter. »Ich hatte ein bisschen von dem Käse. Das reicht mir.«

Es war kalt im Fleischkeller, und es war nach wie vor dunkel. Und beileibe nicht die Art von Dunkelheit, an die das Auge sich irgendwann gewöhnt. Es gab nicht das geringste Licht. Rosie hatte den ganzen Baum durchschritten, immer an der Wand entlang, mit den Fingern über die Tünche, den Felsstein und den krümelnden Backstein streichend, auf der Suche nach irgendetwas, das ihnen weiterhelfen könnte, aber ohne Ergebnis.

»Früher hast du doch gegessen«, sagte Rosie. »Damals, als Papa noch lebte.«

»Dein Vater«, sagte ihre Mutter, »hat auch gegessen.

Und was hat es ihm eingebracht? Einen Herzinfarkt, mit einundvierzig. Was ist das bloß für eine Welt?«

»Aber er hat sein Essen geliebt.«

»Er hat alles geliebt«, sagte ihre Mutter verbittert. »Er hat das Essen geliebt, er hat die Menschen geliebt, er hat seine Tochter geliebt. Er hat das Kochen geliebt. Er hat mich geliebt. Und was hat er dafür bekommen? Ein frühes Grab. Man darf einfach nicht hergehen und alles lieben. Ich hab’s dir oft genug gesagt.«

»Ja«, sagte Rosie. »Wohl wahr.«

Sie ging auf die Stimme ihrer Mutter zu, die Hand vors Gesicht gehalten, um nicht gegen eine der Eisenketten zu laufen, die in der Mitte des Raums von der Decke hingen. Sie fand die knochige Schulter ihrer Mutter, legte ihren Arm um sie.

»Ich habe keine Angst«, sagte Rosie im Dunkeln.

»Dann bist du verrückt«, sagte ihre Mutter.

Rosie ließ ihre Mutter los, schob sich zurück in die Mitte des Raums. Plötzlich ertönte ein quietschendes Geräusch.

Staub und zerbröselter Putz rieselten von der Decke.

»Rosie? Was machst du da?«, fragte Rosies Mutter.

»Ich schaukel an der Kette.«

»Sei vorsichtig. Wenn diese Kette nachgibt, dann knallst du ganz schnell auf die Erde und hast ein Loch im Kopf.«

Es kam keine Antwort von ihrer Tochter. Mrs. Noah sagte:

»Wie ich schon sagte. Du bist verrückt.«

»Nein«, sagte Rosie. »Bin ich nicht. Ich habe nur keine Angst mehr.«

Über ihnen, im Haus, schlug die Eingangstür.

»Blaubart ist zurückgekommen«, sagte Rosies Mutter.

»Ich hab’s gehört«, sagte Rosie. »Aber ich habe trotzdem keine Angst.«


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DIE LEUTE WOLLTEN GAR NICHT AUFHÖREN, Fat Charlie auf die Schulter zu klopfen und ihm Drinks mit Papierschirmen drin zu spendieren. Überdies hatte er bereits fünf Visitenkarten von Personen aus dem Musikgeschäft zugesteckt bekommen, die sich wegen des Festivals auf der Insel aufhielten.

Überall im Saal lächelten ihm die Leute zu. Er hatte seinen Arm um Daisy gelegt und fühlte, wie sie zitterte. Sie hielt ihren Mund an sein Ohr: »Du bist vollkommen wahnsinnig, weißt du das?«

»Es hat doch funktioniert, oder?«

Sie sah ihn an. »Du steckst voller Überraschungen.«

»Na, komm«, sagte er. »Wir sind noch nicht fertig.« Er wandte sich an die Oberkellnerin.

»Entschuldigung … Da war vorhin eine Dame. Als ich gesungen habe. Sie kam rein und hat ihren Kaffeebecher aufgefüllt, aus der Kanne dort hinten, bei der Bar. Wo ist sie hin?«

Die Oberkellnerin zuckte blinzelnd die Achseln. »Ich weiß nicht …«

»Oh, ich glaube doch«, sagte Fat Charlie. Er hatte ein Gefühl der Hellsichtigkeit, das ihm Gewissheit gab. Er wusste, dass er nur allzu bald wieder in seinen alten Zustand zurückfallen würde, aber er hatte vor Publikum gesungen, und es hatte ihm Spaß gemacht. Er hatte es getan, um Daisys Leben zu retten und auch sein eigenes, und, ja, tatsächlich, es war ihm gelungen. »Lassen Sie uns draußen weiterreden.« Es war der Song. Während er ihn gesungen hatte, war alles vollkommen klar geworden. Es war noch immer klar. Er ging Richtung Foyer, Daisy und die Oberkellnerin folgten ihm.

»Wie heißen Sie?«, fragte er die Oberkellnerin.

»Ich bin Clarissa.«

»Hallo, Clarissa. Und wie heißen Sie mit Nachnamen?« Daisy sagte: »Charlie, sollten wir nicht die Polizei rufen?«

»Gleich. Clarissa, und wie weiter?«

»Higgler.«

»Und in welcher Beziehung stehen Sie zu Benjamin? Dem Rezeptionisten?«

»Er ist mein Bruder.«

»Und welcher Art ist Ihrer beider Beziehung zu Mrs. Higgler? Callyanne Higgler?«

»Sie sind meine Nichte und mein Neffe, Fat Charlie«, sagte Mrs. Higgler von der Tür her. »Und jetzt, schätze ich, solltest du auf deine Verlobte hören und die Polizei rufen. Meinst du nicht?«


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SPIDER SASS NEBEN DEM BACH AUF DER KLIPPE, hinter sich die Felswand, vor sich einen Haufen Steine zum Werfen. Da kam ein Mann mit großen Schritten durchs lange Gras. Der Mann war fast nackt, trug nur ein sandfarbenes Stück Fell, von dem hinten ein Schwanz herabhing, um die Hüften und ein Halsband aus Zähnen, weißen, scharfen und spitzen Zähnen. Seine langen Haare waren schwarz. Er lief ungezwungen auf Spider zu, ganz als befinde er sich lediglich auf seinem allmorgendlichen Spaziergang, und Spiders Anwesenheit hier sei eine freudige Überraschung.

Spider griff nach einem Stein von der Größe einer Grapefruit, wog ihn in der Hand.

»Hallo, Anansikind«, sagte der Fremde. »Ich komm zufällig vorbei, seh dich und hab mich gefragt, ob ich dir irgendwie behilflich sein könnte.« Seine Nase war ganz schief und geschwollen.

Spider schüttelte den Kopf. Seine Zunge fehlte ihm.

»Na, wie ich dich so sehe, denk ich doch gleich, ach, armes Anansikind, muss ja furchtbar hungrig sein.« Der Fremde lächelte allzu breit. »Hier. Ich hab genug zu essen, dass ich dir was abgeben kann.«

Er hatte einen Sack über der Schulter hängen, den öffnete er jetzt und langte mit der rechten Hand hinein, zog ein frisch erlegtes Lamm mit schwarzem Schwanz hervor. Er hielt es am Nacken gepackt. Der Kopf hing schlaff. »Dein Vater und ich haben viele Male miteinander gegessen. Gibt es irgendeinen Grund, warum du und ich nicht das Gleiche tun können? Du kannst das Feuer machen, ich nehme das Lamm aus und mache einen Spieß, an dem wir es wenden können. Kannst du es nicht schon schmecken?«

Spider war so hungrig, dass ihm schon schwindelig wurde. Wäre er noch im Besitz seiner Zunge gewesen, hätte er vielleicht ja gesagt, im Vertrauen auf seine Fähigkeit, sich aus allen Schwierigkeiten herauszureden. Aber er hatte keine Zunge. Er nahm einen zweiten Stein auf und hielt ihn in der linken Hand.

»Lass uns also schlemmen und Freunde sein, und es soll keine Missverständnisse mehr zwischen uns geben«, sagte der Fremde.

Und der Geier und der Rabe werden meine Knochen abnagen, dachte Spider.

Der Fremde machte einen weiteren Schritt auf Spider zu, was dieser als Signal nahm, um den ersten Stein zu werfen. Er hatte ein gutes Auge und einen ausgezeichneten Armzug, und der Stein traf genau dort, wohin er gezielt war, nämlich auf den rechten Arm des Fremden, der daraufhin das Lamm fallen ließ. Der nächste Stein traf den Fremden an der Schläfe. Spider hatte auf den Punkt zwischen den etwas zu weit auseinander stehenden Augen gezielt, aber der Mann hatte sich bewegt.

Da flüchtete der Fremde mit weiten Sätzen, der Schwanz flatterte in der Luft. Manchmal sah er wie ein Mensch aus, während er lief, manchmal aber auch wie ein Tier.

Als er verschwunden war, ging Spider zu der Stelle, wo er gestanden hatte, um sich das schwarzschwänzige Lamm zu holen. Es bewegte sich, als er herantrat, und er dachte schon, dass es vielleicht noch lebte, aber dann sah er, dass sein Fleisch voller Maden war. Es stank, und der Leichengeruch half Spider, wenigstens vorübergehend zu vergessen, wie hungrig er war.

Er trug das Lamm am ausgestreckten Arm zum Klippenrand und warf es hinunter ins Meer. Dann wusch er sich die Hände im Bach.

Er wusste nicht, wie lange er schon an diesem Ort war. Die Zeit hier wurde gedehnt und gestaucht. Die Sonne sank am Horizont.

Wenn die Sonne untergegangen und bevor der Mond aufgegangen ist, dachte Spider. Das ist der Augenblick, wo das Raubtier zurückkehrt.


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DER UNBEIRRBAR fröhliche Vertreter der Polizei von Saint Andrews saß mit Daisy und Fat Charlie im Empfangsbüro des Hotels und hörte sich mit ruhigem, gänzlich unbeeindrucktem Lächeln alles an, was sie zu sagen hatten. Gelegentlich hob er einen Finger und kratzte sich am Schnauzbart.

Sie berichteten dem Polizeibeamten, dass ein flüchtiger Rechtsbrecher namens Grahame Coats an ihren Tisch gekommen war, während sie zu Abend aßen, und Daisy mit einer Pistole bedroht hatte. Was allerdings, wie sie zugeben mussten, außer Daisy selbst niemand tatsächlich gesehen hatte. Dann erzählte Fat Charlie von dem nachmittäglichen Vorfall mit dem schwarzen Mercedes und dem Fahrrad, und nein, er hatte nicht eigentlich sehen können, wer den Wagen fuhr. Aber er wusste, wo er herkam. Er berichtete dem Beamten von dem Haus auf der Klippe.

Der Mann berührte nachdenklich seinen grau melierten Schnäuzer. »In der Tat gibt es ein Haus an der Stelle, die Sie beschreiben. Allerdings gehört es nicht Ihrem Herrn Coats. Weit gefehlt. Was Sie beschreiben, ist das Haus von Basil Finnegan, einem äußerst ehrbaren Mann. Mr. Finnegan legt seit vielen Jahren ein gesundes Interesse für Recht und Ordnung an den Tag. Er hat Geld für Schulen gespendet, aber wichtiger noch, er hat uns einen erheblichen Beitrag für den Bau einer neuen Polizeiwache zukommen lassen.«

»Er hat mir eine Pistole in den Bauch gedrückt«, sagte Daisy. »Er sagte, wenn wir nicht mit ihm kämen, würde er schießen.«

»Falls das tatsächlich Mr. Finnegan war, kleine Dame«, sagte der Polizeibeamte, »dann gibt es dafür, da bin ich völlig sicher, eine ganz einfache Erklärung.« Er öffnete seine Aktentasche und entnahm ihr einen dicken Stapel Papiere. »Ich mach Ihnen einen Vorschlag. Denken Sie noch einmal in aller Ruhe über die Sache nach. Schlafen Sie drüber. Falls Sie morgen früh immer noch der Meinung sind, dass es mehr war als der Überschwang der Situation, dann müssen Sie halt dieses Formular ausfüllen und es in dreifacher Ausfertigung in der Polizeiwache abgeben. Fragen Sie nach der neuen Polizeiwache auf der Rückseite des großen Platzes. Jeder weiß, wo sie ist.«

Er schüttelte beiden die Hand und ging seiner Wege.

»Du hättest ihm sagen sollen, dass du auch ein Cop bist«, sagte Fat Charlie. »Dann hätte er dich vielleicht ernster genommen.«

»Ich glaube nicht, dass es irgendwas genützt hätte«, erwiderte sie. »Jemand, der dich mit ›kleine Dame« anredet, hat dich von vornherein von der Liste der Personen gestrichen, die es wert sind, dass man ihnen zuhört.«

Sie gingen in den Empfangsbereich des Hotels.

»Wo ist sie hin?«, fragte Fat Charlie.

Benjamin Higgler sagte: »Tante Callyanne? Die wartet im Konferenzzimmer auf Sie.«


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»NA SIEHSTE wohl«, sagte Rosie. »ich wusste doch, dass ich es schaffe, wenn ich nur immer weiterschaukele.«

»Er wird dich umbringen.«

»Das will er sowieso.«

»Es wird nicht funktionieren.«

»Mama. Hast du eine bessere Idee?«

»Er wird dich sehen.«

»Mama. Kannst du mal aufhören, so negativ zu denken? Wenn du irgendwelche konstruktiven Vorschläge hast, dann bitte, lass hören. Wenn nicht, halt dich einfach zurück. Okay?«

Schweigen.

Dann: »Ich könnte ihm meinen Hintern zeigen.«

»Was?«

»Du hast mich schon verstanden.«

»Ah. Statt was?«

»Zusätzlich zu.«

Schweigen. Dann sagte Rosie: »Na ja. Schaden kann es jedenfalls nicht.«


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»HALLO, MRS. HIGGLER. sagte Fat Charlie. »ich möchte die Feder gern zurückhaben.«

»Wie kommste darauf, dass ich deine Feder hab?«, fragte sie, die Arme über dem gewaltigen Busen verschränkt.

»Mrs. Dunwiddy hat es mir gesagt.«

Mrs. Higgler schien überrascht, zum ersten Mal im Laufe ihrer Bekanntschaft. »Louella hat dir erzählt, dass ich die Feder hab?«

»Sie sagte, Sie hätten die Feder.«

»Hab sie sicher aufbewahrt.« Mrs. Higgler deutete mit ihrem Kaffeebecher auf Daisy. »Kannst nicht erwarten, dass ich gleich offen rede, wenn sie dabei ist. Ich kenn sie nicht.«

»Das ist Daisy. Sie können ihr alles sagen, was Sie zu mir sagen würden.«

»Sie ist deine Verlobte«, sagte Mrs. Higgler. »Hab ich mitgekriegt.«

Fat Charlie fühlte, wie seine Wangen heiß wurden. »Sie ist nicht meine wir sind in Wirklichkeit nicht. Ich musste irgendwas sagen, um sie von dem Mann mit der Pistole wegzubekommen. Es schien das Einfachste zu sein.«

Mrs. Higgler sah ihn an. Hinter den dicken Brillengläsern begannen ihre Augen zu funkeln und zu zwinkern.

»Ich weiß«, sagte sie. »Es war, als du gesungen hast. Vor Leuten.« Sie schüttelte den Kopf, so wie es ältere Leute gern tun, wenn sie über die Narrheit der jungen Leute nachdenken. Sie öffnete ihre schwarze Handtasche, entnahm ihr einen Briefumschlag, reichte ihn Fat Charlie.

»Hab Louella versprochen, dass ich darauf aufpasse.«

Fat Charlie zog die Feder aus dem Umschlag, halb zerdrückt noch von jener nächtlichen Seance, als er sie so fest in der Hand gehalten hatte. »Okay«, sagte er. »Feder. Ausgezeichnet. Und jetzt«, sagte er zu Mrs. Higgler. »Was genau mache ich jetzt damit?«

»Das weißt du nicht?«

Als Fat Charlie noch ein Kind war, hatte seine Mutter ihm eingeschärft, erst einmal bis zehn zu zählen, bevor er die Beherrschung verlor. Er zählte also, stumm und ohne Hast, bis zehn und verlor anschließend die Beherrschung.

»Nein, natürlich weiß ich nicht, was ich damit machen soll, Sie dumme alte Frau! In den letzten zwei Wochen bin ich verhaftet worden, habe meine Verlobte und meinen Job verloren, habe zugesehen, wie mein halbimaginärer Bruder auf dem Piccadilly Circus von Vögeln gefressen wurde, bin zwischen den Kontinenten hinund hergeflogen wie ein unzurechnungsfähiger transatlantischer Pingpongball, und heute habe ich mich vor ein Publikum gestellt und, und habe gesungen, weil mein durchgedrehter ehemaliger Chef der Frau, mit der ich zu Abend aß, eine Pistole in den Bauch gedrückt hatte. Ich versuche hier nichts weiter, als das Chaos zu beseitigen, in das mein Leben sich verwandelt hat, seit Sie mir den Vorschlag machten, ich könnte doch mal Kontakt mit meinem Bruder aufnehmen. Die Antwort ist also nein. Nein, ich weiß nicht, was ich mit dieser Scheißfeder machen soll. Verbrennen? Klein hacken und aufessen? Ein Nest daraus bauen? Vor mich hinhalten und aus dem Fenster springen?«

Mrs. Higgler blickte verdrießlich drein. »Du musst Louella Dunwiddy fragen.«

»Ich bin mir nicht sicher, ob das geht. Sie sah nicht sehr gut aus, als ich das letzte Mal bei ihr war. Und wir haben nicht viel Zeit.«

Daisy sagte: »Großartig. Du hast deine Feder wieder. Können wir jetzt bitte über Grahame Coats sprechen?«

»Das ist nicht bloß irgendeine Feder. Das ist die Feder, gegen die ich meinen Bruder getauscht habe.«

»Dann tausch sie doch zurück, damit wir hier endlich weiterkommen. Wir müssen irgendetwas tun.«

»So einfach ist das nicht«, sagte Fat Charlie. Doch dann hielt er inne und rekapitulierte, was er gesagt und was dann sie gesagt hatte. Er sah Daisy bewundernd an. »Gott, bist du schlau«, sagte er.

»Ich geh mir Mühe«, sagte sie. »Was hab ich denn gesagt?«

Sie hatten zwar keine vier alten Damen beisammen, aber dafür waren Mrs. Higgler, Benjamin und Daisy da. Das Abendessen war fast vorbei, sodass Clarissa, die Oberkellnerin, nichts dagegen einzuwenden hatte, sich ihnen anzuschließen. Sie hatten keine Erde in vier verschiedenen Farben, dafür aber weißen Sand vom Strand hinter dem Hotel, schwarze Erde aus dem Blumenbeet davor, roten Matsch von der Seite des Hauses und vielfarbigen Sand in Reagenzgläsern aus dem Geschenkeladen. Die Kerzen, die sie sich aus der Bar am Pool borgten, waren klein und weiß, nicht schwarz und groß. Mrs. Higgler versicherte, dass sie alle Kräuter, die sie wirklich benötigten, auf der Insel aufspüren könnte, aber Fat Charlie veranlasste Clarissa, einen Beutel Bouquet garni aus der Küche auszuleihen.

»Ich glaube, es ist alles eine Sache der Einstellung, des Zutrauens«, erläuterte Fat Charlie. »Es kommt nicht so sehr auf die Details an. Sondern auf die magische Atmosphäre.« Die magische Atmosphäre wurde in diesem Fall weder durch Benjamin Higglers Neigung, sich am Tisch umzublicken und in ersticktes Kichern auszubrechen, noch durch Daisys wiederholte Hinweise, dass dieses ganze Getue doch extrem albern sei, gefördert.

Mrs. Higgler streute das Kräutersträußchen in eine Schüssel mit übrig gebliebenem Weißwein.

Mrs. Higgler begann zu summen. Sie hob ermunternd die Hände, worauf die anderen ihrem Beispiel folgten und wie ein Schwarm betrunkener Bienen summten. Fat Charlie wartete darauf, dass etwas passierte.

Es passierte nichts.

»Fat Charlie«, sagte Mrs. Higgler. »Du musst auch summen.«

Fat Charlie schluckte. Es gab keinen Grund, sich zu fürchten, sagte er sich: Er hatte vor einem ganzen Saal von Leuten gesungen, er hatte vor Publikum einer Frau, die er

kaum kannte, einen Heiratsantrag gemacht. Das bisschen Summen war dagegen ein Klacks.

Er fand den Ton, den Mrs. Higgler summte, und ließ ihn in seiner Kehle vibrieren …

Er hielt seine Feder in der Hand. Er konzentrierte sich aufs Summen.

Benjamin hörte auf zu kichern. Seine Augen weiteten sich. Schrecken zeichnete sich auf seinem Gesicht ab, und Fat Charlie wollte schon sein Summen unterbrechen, um zu erfragen, was ihm denn so zu schaffen mache, aber das Summen war jetzt in ihm drin, hatte sich festgesetzt, und die Kerzen begannen zu flackern …

»Guckt ihn euch an!«, sagte Benjamin. »Er ist…«

Fat Charlie hätte gern überlegt, was genau er wohl war, aber zum Überlegen war es zu spät.

Nebel teilten sich.

Fat Charlie ging über eine Brücke, eine lange weiße Fußgängerbrücke, die sich über graues Wasser spannte. Ein Stück voraus, in der Mitte der Brücke, saß ein Mann auf einem kleinen Holzstuhl. Der Mann angelte. Ein grüner Filzhut bedeckte seine Augen. Er schien zu dösen und rührte sich nicht, als Fat Charlie an ihn herantrat.

Fat Charlie erkannte den Mann. Er legte eine Hand auf die Schulter des Mannes.

»Weißt du«, sagte er, »ich wusste, dass du es nur vorgetäuscht hast. Ich habe nicht geglaubt, dass du wirklich tot bist.«

Der Mann im Stuhl bewegte sich nicht, aber er lächelte.

»Das zeigt nur, dass du keine Ahnung hast«, sagte Anansi.

»Ich bin so tot, wie man nur sein kann.« Er räkelte sich ausgiebig, zog einen kleinen schwarzen Stumpen hinter seinem Ohr hervor und zündete ihn mit einem Streichholz an. »Ja-woll, ich bin tot. Schätze, ich werde auch noch’n bisschen tot bleiben. Wenn man nicht hin und wieder mal stirbt, halten es die Leute für zu selbstverständlich, dass man da ist.«

Fat Charlie sagte: »Aber.«

Anansi legte den Finger an die Lippen und bedeutete ihm, still zu sein. Er nahm seine Angel zur Hand und begann die Leine aufzuwickeln. Er zeigte auf ein kleines Netz. Fat Charlie nahm es und hielt es seinem Vater hin, damit dieser einen zappelnden, langen silbernen Fisch hineinbugsieren konnte. Anansi zog den Haken aus dem Fischmaul, dann warf er den Fisch in einen weißen Eimer.

»Na«, sagte er, »damit wäre das Abendessen für heute gesichert.«

Jetzt erst wurde Fat Charlie bewusst, dass es schon stockdunkel gewesen war, als er sich mit Daisy und den Higglers an den Tisch gesetzt hatte, während hier, wo immer das war, die Sonne zwar schon recht tief stand, aber noch längst nicht untergegangen war.

Sein Vater klappte den Stuhl zusammen und gab ihn Fat Charlie zusammen mit dem Eimer zum Tragen. Sie gingen über die Brücke. »Weißt du«, sagte Mr. Nancy, »ich dachte immer, wenn du mal zu mir kämst, um zu reden, dann würde ich dir alles Mögliche erzählen. Aber du scheinst ja auch allein ganz gut zurechtzukommen. Also, was führt dich her?«

»Ich weiß nicht genau. Ich habe eigentlich versucht, die Vogelfrau zu finden. Ich möchte ihr die Feder zurückgeben.«

»Du hättest dich nicht mit solchen Leuten einlassen sollen«, sagte sein Vater unbekümmert. »Das bringt einfach nichts. Diese Frau steckt voller Ressentiments. Aber sie ist ein Feigling.«

»Es war Spider …«, sagte Fat Charlie.

»Deine eigene Schuld. Lässt einfach eine ganze Hälfte von dir von dieser alten Wichtigtuerin wegschicken.«

»Ich war doch noch ein Kind. Warum hast du nicht eingegriffen?«

Anansi schob sich den Hut aus der Stirn. »Die alte Dunwiddy konnte nichts tun, was du sie nicht hast tun lassen«,

sagte er. »Du bist schließlich mein Sohn.«

Fat Charlie dachte darüber nach. Dann sagte er: »Aber warum hast du mir nichts gesagt?«

»Du kommst auch so zurecht. Bist ja von ganz allein drauf gekommen. Hast das mit den Liedern rausgekriegt, nicht wahr?«

Fat Charlie kam sich noch ungeschickter und fetter vor, eine noch größere Enttäuschung für seinen Vater, aber er sagte nicht einfach »Nein«. Stattdessen fragte er: »Was glaubst du?«

»Ich glaube, dass du nahe dran bist. Das Wichtige an den Liedern ist, dass sie genauso sind wie die Geschichten. Sie haben absolut keine Bedeutung, solange es keine Leute gibt, die sie sich anhören.«

Sie näherten sich dem Ende der Brücke. Fat Charlie wusste instinktiv, dass dies die letzte Gelegenheit für sie war, miteinander zu reden. Da war so viel, was er noch herauszufinden hatte, so viel, was er wissen wollte. Er sagte:

»Dad. Als ich ein Kind war. Warum hast du mich immer gedemütigt?«

Die Stirn des Alten legte sich in Falten. »Gedemütigt? Ich habe dich geliebt.«

»Du hast mich als Präsident Taft verkleidet zur Schule gehen lassen. Nennst du das Liebe?«

Der Alte ließ einen schrillen Laut hören, den man vielleicht als ersticktes Gelächter interpretieren konnte, saugte gleich darauf wieder an seinem Stumpen. Der Rauch schwebte aus seinem Mund wie eine geisterhafte Sprechblase. »Deine Mutter hatte dazu einiges zu sagen«, sagte er. Dann fuhr er fort: »Wir haben nicht mehr lange, Charlie. Willst du die Zeit, die uns bleibt, mit Streiten verbringen?«

Fat Charlie schüttelte den Kopf. »Wohl nicht.«

Sie waren ans Ende der Brücke gelangt. »Okay«, sagte sein Vater. »Wenn du deinen Bruder siehst, dann gib ihm bitte etwas von mir.«

»Was denn?«

Sein Vater legte eine Hand um Fat Charlies Nacken, zog seinen Kopf nach unten. Dann küsste er ihn sanft auf die Stirn. »Das«, sagte er.

Fat Charlie richtete sich auf. Sein Vater sah ihn mit einem Ausdruck an, den er, wäre er ihm in einem beliebigen anderen Gesicht begegnet, als Stolz identifiziert hätte.

»Zeig mir mal die Feder«, sagte sein Vater.

Fat Charlie griff in seine Tasche. Die Feder war da, sah noch ramponierter aus als vorher schon.

Sein Vater machte »Ts ts« und hielt die Feder ins Licht.

»Das ist eine schöne Feder«, sagte sein Vater. »Musst aufpassen, dass sie nicht so abnutzt. Wenn sie nicht mehr gut aussieht, nimmt sie sie nicht zurück.«

Mr. Nancy strich mit der Hand über die Feder, und sie war wieder wie neu. Er runzelte die Stirn. »Hm, jetzt wirst du sie gleich wieder so zurichten.« Er hauchte auf seine Fingernägel, polierte sie an seinem Jackett. Dann schien er einen Entschluss gefasst zu haben. Er nahm seinen Filzhut ab und steckte die Feder ins Hutband. »Hier. Du könntest sowieso einen schicken Hut gebrauchen.« Er setzte den Hut auf Fat Charlies Kopf. »Steht dir gut«, sagte er.

Fat Charlie seufzte. »Dad. Ich trage keine Hüte. Es sieht bescheuert aus. Ich mach mich nur lächerlich. Warum versuchst du immer, mich in Verlegenheit zu bringen?«

Im schwindenden Licht sah der alte Mann seinen Sohn an. »Glaubst du, ich würde dich anlügen? Alles, was man zum Hütetragen braucht, mein Sohn, ist die Einstellung. Und die hast du. Glaubst du, ich würde sagen, dass du gut aussiehst, wenn es gar nicht stimmt? Du siehst echt cool aus. Du glaubst mir nicht?«

Fat Charlie sagte: »Nicht so richtig.«

»Schau«, sagte sein Vater. Er zeigte übers Brückengeländer. Das Wasser unter ihnen war still und glatt wie ein Spiegel, und der Mann, der ihm dort aus dem Wasser entgegenblickte, sah tatsächlich echt cool aus mit seinem neuen grünen Hut.

Fat Charlie blickte auf, um seinem Vater zu sagen, dass er sich vielleicht doch getäuscht habe, aber der Alte war verschwunden.

Er trat von der Brücke hinunter in die Dämmerung.


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»OKAY. ICH MÖCHTE JETZT GENAU WISSEN, wo er ist. Wo ist er hin? Was haben Sie mit ihm gemacht?«

»Ich hab gar nichts gemacht. Herrgott, Kind«, sagte Mrs. Higgler. »Beim letzten Mal war es ganz anders.«

»Es sah aus, als wäre er zum Mutterschiff zurückgebeamt worden«, sagte Benjamin. »Cool. Irre Spezialeffekte, und total echt.«

»Ich möchte, dass Sie ihn zurückholen«, sagte Daisy heftig. »Er soll sofort wieder herkommen.«

»Ich weiß nicht mal, wo er ist«, sagte Mrs. Higgler.

»Und ich hab ihn nicht dahin geschickt. Das war er selber.«

»Außerdem«, sagte Clarissa, »was ist, wenn er nun gerade dabei ist, das zu tun, was er tun will, und wir holen ihn mittendrin zurück? Dann würden wir ihm alles verderben.«

»Genau«, sagte Benjamin. »Das wäre, als würde man den Landetrupp mitten in seiner Mission zurückbeamen.«

Daisy dachte darüber nach und stellte zu ihrer nicht geringen Irritation fest, dass es einen gewissen Sinn ergab – jedenfalls soweit man in dieser ganzen Angelegenheit überhaupt von Sinn sprechen konnte.

»Wenn jetzt fürs Erste nichts mehr passiert«, sagte Clarissa, »sollte ich wohl mal wieder ins Restaurant zurück. Nachgucken, ob alles in Ordnung ist.«

Mrs. Higgler schlürfte ihren Kaffee. »Hier passiert nichts«, stimmte sie zu.

Daisy schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Also, entschuldigen Sie mal. Da draußen läuft ein Killer rum. Und jetzt ist auch noch Fat Charlie zum Masterschiff zurückgebeamt worden.«

»Mutterschiff«, sagte Benjamin.

Mrs. Higgler blinzelte. »Okay«, sagte sie. »Wir sollten etwas tun. Was schlagen Sie vor?«

»Ich weiß nicht«, gestand Daisy und hasste sich dafür.

»Zeit totschlagen, nehme ich an.« Sie nahm den Williamstown Courier zur Hand, den Mrs. Higgler zuvor gelesen hatte, und blätterte darin.

Die Geschichte von den vermissten Touristinnen, die nicht auf ihr Kreuzfahrtschiff zurückgekehrt waren, nahm eine Spalte auf der Seite drei ein. Die zwei im Haus, sagte Grahame Coats in ihrem Kopf. Haben Sie im Ernst gedacht, ich würde glauben, dass sie auf einer Kreuzfahrt wären?

Letzten Endes war Daisy immer noch Polizistin.

»Ich brauche ein Telefon«, sagte sie.

»Wen wollen Sie anrufen?«

»Ich glaube, wir fangen mit dem Tourismusminister und dem Polizeichef an, und dann sehen wir weiter.«


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DIE KARMESINROTE Sonne schrumpfte am Horizont. Wäre Spider nicht Spider gewesen, hätte er den Mut verloren. Auf diesem Teil der Insel gab es eine klare Trennlinie zwischen Tag und Nacht, und Spider sah zu, wie die letzten roten Sonnenkrümel vom Meer verschluckt wurden. Er hatte seine Steine und die beiden Pflöcke.

Er hätte auch gern Feuer gehabt.

Er fragte sich, wann der Mond aufgehen würde. Wenn der Mond am Himmel stand, hatte er vielleicht eine Chance.

Die Sonne ging endgültig unter – der letzte rote Fleck versank im dunklen Meer, und es war Nacht.

»Anansikind«, sagte eine Stimme aus der Dunkelheit.

»Bald schon werde ich meine Mahlzeit zu mir nehmen. Du wirst nicht merken, dass ich da bin, bevor du meinen Atem auf deinem Nacken spürst. Ich habe über dir gestanden, als du gefesselt und mir hilflos ausgeliefert warst, und da hätte ich dir gleich an Ort und Stelle den Nacken durchbeißen können, aber ich habe es dann doch nicht getan. Dich im Schlaf zu töten hätte mir keinen Spaß gemacht. Ich möchte spüren, wie du stirbst. Du sollst wissen, warum ich dir das Leben genommen habe.«

Spider warf einen Stein in die Richtung, aus der die Stimme seiner Ansicht nach kam, und hörte, wie er, ohne Schaden anzurichten, im Gebüsch einschlug.

»Du hast Finger«, sagte die Stimme, »aber ich habe Klauen, die schärfer sind als Messer. Du hast deine zwei Beine, aber ich habe vier davon, Beine, die niemals ermüden, die zehnmal schneller laufen können als du und die immer weiterlaufen. Deine Zähne können Fleisch verspeisen, wenn es vom Feuer weich und geschmacklos geworden ist, denn du hast kleine Affenzähne, die gerade noch dafür taugen, weiche Früchte und Krabbelgetier zu kauen, aber ich habe Zähne, die das rohe Fleisch von den Knochen reißen, und ich kann es runterschlucken, während das Herzblut noch in den Himmel sprudelt.«

Und dann machte Spider ein Geräusch. Es war ein Geräusch, das man ohne Zunge machen konnte, sogar ohne die Lippen zu bewegen. Es war ein »Meh«-Laut, der belustigte Verachtung signalisierte. Kann schon sein, dass du all das bist, Tiger, schien es zu sagen, aber na und? Alle Geschichten, die es je gegeben hat, sind Anansigeschichten. Niemand erzählt Tigergeschichten.

Ein Brüllen ertönte in der Dunkelheit, ein Brüllen, in dem sich Wut und Frustration mischten.

Spider begann die Melodie des »Tiger Bag« zu summen. Das war ein altes Lied, gut geeignet, um Tiger zu ärgern:

»Halte den Tiger«, heißt es da. »Wo ist der Tiger?«

Als die Stimme aus der Dunkelheit wieder ertönte, war sie näher gekommen.

»Ich habe deine Frau, Anansikind. Wenn ich mit dir fertig bin, werde ich ihr das Fleisch in Fetzen reißen. Ihr Fleisch wird mir süßer schmecken als deins.«

Spider machte das »hmph!« - Geräusch, das Leute machen, wenn sie wissen, dass sie angeschwindelt werden.

»Ihr Name ist Rosie.«

Diesmal gab Spider ein unwillkürliches Geräusch von sich.

Im Dunkeln lachte jemand. »Und was die Augen betrifft«, sagte er, »du hast Augen, die das Offensichtliche sehen, und auch nur bei hellem Tageslicht, wenn du Glück hast, wogegen mein Volk Augen hat, die sehen können, wie sich die Härchen auf deinen Armen aufrichten, während ich zu dir spreche, Augen, die den Schrecken in deinem Gesicht sehen, und zwar auch, wenn es dunkel ist. Fürchte mich also, Anansikind, und falls du noch irgendwelche Gebete zu sprechen hast, sprich sie jetzt.«

Spider hatte zwar keine Gebete, aber er hatte Steine, und die konnte man werfen. Vielleicht hatte er Glück, und einer der Steine richtete ein bisschen Schaden an in der Dunkelheit. Spider wusste wohl, dass das einem Wunder gleichkäme, aber er hatte sein ganzes Leben damit verbracht, sich auf Wunder zu verlassen.

Er griff nach einem weiteren Stein. Etwas strich über seinen Handrücken.

Hallo, sagte die kleine Lehmspinne in seinen Gedanken.

Hi, dachte Spider. Hör mal, ich bin hier gerade ziemlich beschäftigt, ich versuche nämlich, nicht aufgefressen zu werden, würde es dir also etwas ausmachen, kurz mal aus dem Weg zu gehen?

Aber ich habe sie mitgebracht, dachte die Spinne. Wie du es wolltest.

Wie ich es wollte?

Du hast mich gebeten, Hilfe zu holen. Ich habe sie alle mitgebracht. Sie sind meinen Netzfäden gefolgt. In dieser Schöpfung gibt es keine Spinnen, also bin ich wieder rübergeschlüpft und habe von dort nach hier gesponnen und wieder zurück. Ich habe die Krieger mitgebracht. Die tapferen Streiter.

»Was denkst du gerade?«, sagte die mächtige Katzenstimme im Dunkeln. Und dann sagte sie, mit einem gewissen verfeinerten Spott: »Was ist los? Hat’s dir die Sprache verschlagen?«

Eine einzelne Spinne ist leise. Spinnen pflegen die Stille. Selbst diejenigen, die Geräusche machen, tun dies nur im Notfall, ansonsten bleiben sie still und warten. So vieles von dem, was Spinnen tun, spielt sich auf dem Gebiet des Wartens ab.

Langsam und allmählich erfüllte ein sanftes Rascheln die Nacht.

In Gedanken brachte Spider gegenüber der kleinen siebenbeinigen Spinne, die er aus seinem Blut, seinem Speichel und ein bisschen Erde geformt hatte, seine Dankbarkeit und seinen Stolz zum Ausdruck. Die Spinne huschte von seinem Handrücken hinauf auf seine Schulter.

Spider konnte sie nicht sehen, aber er wusste, dass sie alle da waren: die großen Spinnen und die kleinen Spinnen, Giftspinnen und beißende Spinnen; riesige, haarige Spinnen und elegante Chitinspinnen. Ihre Augen nahmen alles Licht auf, das sie finden konnten, aber recht eigentlich sehen taten sie durch ihre Beine und Füße, indem sie aus Schwingungen ein virtuelles Bild ihrer Umgebung schufen.

Es war eine ganze Armee.

Tiger sprach wieder aus der Dunkelheit heraus: »Wenn du tot bist, Anansikind – wenn deine ganze Blutlinie tot ist, dann werden die Geschichten wieder mir gehören. Dann werden die Leute wieder Tigergeschichten erzählen. Sie werden sich versammeln und meine Gerissenheit und meine Kraft, meine Grausamkeit und meine Freude preisen. Jede Geschichte wird meine sein. Jedes Lied wird meins sein. Die Welt wird wieder so sein, wie sie früher war: ein dunkler Ort. Ein grausamer Ort.«

Spider lauschte dem Rascheln seiner Armee.

Er saß aus gutem Grund am Klippenrand. Zwar hatte er dort keinerlei Rückzugsmöglichkeiten, aber Tiger hatte auch keinen Platz zum Angreifen, er konnte sich nur langsam anschleichen.

Spider begann zu lachen.

»Worüber lachst du, Anansikind? Hast du den Verstand verloren?«

Darauf lachte Spider nur noch mehr.

Aus der Dunkelheit erhob sich jetzt Gejaule. Tiger war auf Spiders Armee gestoßen.

Es gibt vielerlei Arten von Spinnengift. Oft dauert es sehr lange, bis sich die ganze Wirkung des Gifts zeigt. Naturforscher denken seit Jahren darüber nach: Es gibt Spinnen, deren Biss zur Folge hat, dass die betroffene Stelle verfault und abstirbt, manchmal erst über ein Jahr nach dem Biss. Die Frage, warum Spinnen so etwas tun, ist leicht zu beantworten. Sie tun es, weil sie es lustig finden und weil sie nicht wollen, dass man sie je vergisst.

Schwarze Witwe biss Tigers ramponierte Nase, Tarantula biss seine Ohren: Binnen Kurzem brannten und schmerzten seine empfindlichen Stellen, schwollen an und juckten fürchterlich. Tiger wusste nicht, wie ihm geschah; er spürte nur das Brennen, den Schmerz und die plötzlich einsetzende Furcht.

Spider lachte noch länger und lauter, und er lauschte dem Lärm, der entsteht, wenn ein großes Tier Hals über Kopf ins Buschwerk stürzt und dabei vor Schmerz und Angst laut brüllt.

Dann saß er und wartete. Tiger würde zurückkehren, da hatte er keinen Zweifel. Es war noch nicht vorbei.

Spider nahm die siebenbeinige Spinne von seiner Schulter und streichelte sie, indem er mit den Fingern über ihren breiten Rücken fuhr.

Ein Stück weiter unten am Berghang tauchte jetzt ein kalt leuchtendes, grünes Licht auf, und es flackerte wie die Lichter einer winzigen Stadt, blitzte kurz auf in der Dunkelheit und verschwand wieder. Es kam auf ihn zu.

Das Flackern löste sich in hunderttausend Leuchtkäfer auf. Im Zentrum des Leuchtkäferlichts zeichneten sich die dunklen Umrisse einer menschlichen Gestalt ab. Sie kam stetig den Berg hochmarschiert.

Spider hob einen Stein und machte im Geiste seine Spinnenarmee für einen weiteren Angriff bereit. Doch dann hielt er inne. Die Gestalt im Leuchtkäferlicht hatte etwas Vertrautes; sie trug einen grünen Filzhut.


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GRAHAME COATS war mit der halben Flasche Rum, die er in der Küche gefunden hatte, mehr oder weniger fertig. Er hatte den Rum geöffnet, weil er keinerlei Verlangen danach hatte, in den Weinkeller zu gehen, und weil er sich ausrechnete, dass er vom Rum schneller betrunken würde als vom Wein. Leider war das nicht der Fall. Der Rum schien kaum eine Wirkung zu haben, schon gar nicht verhalf er ihm dazu, emotional mal richtig abzuschalten, wie er es seiner Ansicht nach nötig gehabt hätte. Er lief durchs Haus, die Flasche in der einen, ein halb volles Glas in der anderen Hand, mal nahm er einen Schluck aus diesem, mal aus jener. Plötzlich fiel ihm sein Spiegelbild ins Auge, niedergeschlagen und schwitzend. »Kopf hoch«, sagte er laut.

»Erstens kommt es anders. Kein Unglück ist so groß, trägt doch schon das Glück. In unser aller Leben hin und wieder Regen. Zu viele Köche. Auf jedes Gewitter folgt dings.« Der Rum war so gut wie weg.

Er ging in die Küche zurück. Er öffnete mehrere Schränke, bevor er, ganz hinten in einem der Fächer, eine Flasche Sherry fand. Grahame nahm sie und wiegte sie dankbar im Arm, wie einen sehr kleinen alten Freund, der nach vielen Jahren auf See gerade heimgekehrt war.

Er schraubte den Verschluss der Flasche ab. Es war ein süßer Kochsherry, aber er trank ihn weg wie Limonade.

Es gab noch ein paar andere Dinge, die Grahame Coats bei seiner Suche nach Alkohol in der Küche bemerkt hatte. Da waren zum Beispiel die Messer. Einige davon waren sehr scharf. In einer der Schubladen fand sich sogar eine kleine verchromte Stahlbügelsäge. Grahame Coats war angetan.

Hier bot sich ihm eine sehr einfache Lösung für das Problem im Keller.

»Habeas corpus«-, sagte er. »Oder habeas delicti. Eins von beiden. Wo keine Leiche, da auch kein Verbrechen.

Ergo. Quod erat demonstrandum.«

Er zog seine Pistole aus der Jackentasche, legte sie auf den Küchentisch. Rund um die Pistole ordnete er die Messer an, wie die Speichen eines Rades. »Nun denn«, sagte er im selben Ton, den er einst angeschlagen hatte, um unschuldige Boygroups davon zu überzeugen, dass es Zeit war, den Vertrag mit ihm zu unterschreiben und Hallo zu künftigem Ruhm und Reichtum (nun, Letzteres vielleicht weniger) zu sagen, »was du heute kannst besorgen …«

Er schob sich die drei Küchenmesser mit der Klinge nach unten in den Gürtel, steckte die Bügelsäge in seine Jackentasche und ging dann, die Pistole in der Hand, die Kellertreppe hinunter. Er machte das Licht an, ließ die Weinflaschen, eine jede in ihrem Gestell, eine jede mit einer dünnen Staubschicht bedeckt, links liegen und stand dann neben der Eisentür des Fleischschranks.

»Okay«, rief er. »Es wird euch freuen zu hören, dass ich euch nichts zuleide tun werde. Ich lasse euch jetzt beide frei. War nur ein kleiner Irrtum, gewissermaßen. Nichts für ungut, würde ich sagen. Was passiert ist, ist passiert. Stellt Dummheiten.«

Es war, dachte er bei sich, als er die Riegel zurückzog, fast tröstlich, wie viele Klischees demjenigen zur Verfügung standen, der eine Pistole in der Hand hatte. Es vermittelte Grahame Coats das Gefühl, zu einer Bruderschaft zu gehören: Rogart stand neben ihm, und Cagney, und all die Burschen, die sich in der Serie COPS immer gegenseitig anschreien.

Er machte das Licht an und zog die Tür auf. Rosies Mutter stand an der hinteren Wand, den Rücken ihm zugekehrt.

Als er eintrat, hob sie ihr Kleid hoch und wackelte mit ihrem erstaunlich knochigen Hintern.

Seine Kinnlade klappte herunter. Im selben Moment schlug Rosie mit einer rostigen Kette auf Grahame Coats’ Handgelenk, worauf die Pistole durch den Kellerraum segelte.

Mit der Begeisterung und Präzision einer viel jüngeren Frau trat Rosies Mutter Grahame Coats in die Weichteile, und während er sich noch vornüber krümmte und dabei Geräusche in einer Höhenlage ausstieß, wie sie nur Hunde und Fledermäuse hören können, stolperten Rosie und ihre Mutter aus dem Fleischkeller hinaus.

Sie schlugen die Tür zu, und Rosie schob einen der Riegel vor. Sie umarmten sich.

Sie waren noch im Weinkeller, als alle Lichter ausgingen.

»Das sind nur die Sicherungen«, sagte Rosie, um ihre Mutter zu beruhigen. Sie war selber nicht ganz überzeugt davon, aber eine andere Erklärung hatte sie nicht.

»Du hättest beide Riegel vorschieben sollen«, sagte ihre Mutter. Und gleich darauf: »Aua«, gefolgt von einigen Flüchen, als sie mit dem Zeh irgendwo anstieß.

»Das Gute ist«, sagte Rosie, »dass er im Dunkeln auch nichts sehen kann. Halt einfach meine Hand fest. Ich glaube, die Treppe ist in dieser Richtung.«

Grahame Coats befand sich auf allen vieren auf dem Betonfußboden des Fleischkellers, als die Lichter ausgingen. Etwas Heißes tröpfelte an seinem Bein herunter. Einen peinlichen Augenblick lang dachte er, er habe sich nass gemacht, doch dann begriff er, dass die Klinge eines der Messer in seinem Gürtel sich tief in seinen Oberschenkel gebohrt hatte.

Er stellte jegliche Bewegung ein und lag auf dem Boden. Er stellte fest, dass es sehr vernünftig von ihm gewesen war, so viel zu trinken: Der Alkohol wirkte praktisch wie ein Betäubungsmittel. Er beschloss, einfach ein bisschen zu schlafen.

Er war nicht allein im Fleischschrank. Da war jemand bei ihm. Etwas, das auf vier Beinen ging.

Jemand knurrte: »Steh auf.«

»Kann nicht. Bin verletzt. Will schlafen.«

»Du bist ein jämmerliches kleines Geschöpf, und du zerstörst alles, womit du in Berührung kommst. Und jetzt steh auf.«

»Würde ja gern«, sagte Grahame Coats im verständigen Tonfall des Betrunkenen. »Kann aber nicht. Ich bleib hier einfach ein bisschen liegen. Und außerdem. Sie hat die Tür verriegelt. Hab ich doch gehört.«

Er hörte ein Scharren von der anderen Seite der Tür her, als würde ein Riegel langsam zurückgeschoben.

»Die Tür ist offen. Also: Wenn du hier bleibst, stirbst du.« Ungeduldiges Rascheln, Schlagen eines Schwanzes, halbgedämpftes Brüllen tief aus der Kehle. »Gib mir deine Hand und deine Gefolgschaft. Lade mich in dein Inneres ein.«

»Ich verstehe ni…«

»Gib mir deine Hand oder verblute.«

In der Schwärze des Fleischkellers streckte Grahame Coats seine Hand aus. Jemand etwas ergriff sie und hielt sie auf beruhigende, bestärkende Weise fest. »Also, bist du jetzt bereit, mich in dich aufzunehmen?«

Kalte Nüchternheit ergriff Grahame Coats in diesem Moment. Er war schon zu weit gegangen. Verschlimmern konnte er seine Lage nicht mehr, so viel stand fest.

»Selbstverfreilich«, flüsterte Grahame Coats, und kaum hatte er es ausgesprochen, begann er sich zu verändern. Er konnte durch die Dunkelheit blicken, als wäre es heller Tag. Für einen winzigen Augenblick war ihm, als sähe er etwas neben sich, größer als ein Mensch, mit scharfen, sehr scharfen Zähnen. Gleich darauf war es verschwunden, und Grahame Coats fühlte sich prächtig. Das Blut sprudelte nicht mehr aus seinem Bein heraus.

Er konnte klar sehen in der Dunkelheit. Er zog die Messer aus seinem Gürtel, warf sie weg. Die Schuhe zog er ebenfalls aus. Da lag auch eine Pistole auf der Erde, aber er ließ sie dort. Werkzeuge waren was für Affen und Krähen und Schwächlinge. Er war kein Affe.

Er war ein Jäger.

Er stemmte sich hoch, auf Hände und Knie, und dann trottete er auf allen vieren hinaus in den Weinkeller.

Er konnte die Frauen sehen. Sie hatten die Treppe gefunden, die nach oben ins Haus führte, und gerade waren sie dabei, sich Hand in Hand, blind in der Dunkelheit, von einer Stufe zur nächsten zu tasten.

Eine von beiden war alt und sehnig. Die andere war jung und zart. Die Speichelproduktion wurde angeregt in einem Wesen, das nur teilweise Grahame Coats war.


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FAT CHARLIE VERLIESS DIE BRÜCKE und ging, den grünen Filzhut seines Vaters aus der Stirn geschoben, in die Dämmerung hinein. Er kam über einen felsigen Strand, rutschte auf den Steinen aus, tappte in etliche Pfützen hinein. Dann trat er auf etwas, das sich bewegte. Er stolperte kurz, sprang schnell wieder herunter.

Das Etwas erhob sich in die Luft, immer weiter. Was immer es war, es war riesig: Zunächst dachte er, es müsse die Ausmaße eines Elefanten haben, aber es wurde immer noch größer.

Licht, dachte Fat Charlie. Er sang laut vor sich hin, und alle Leuchtkäfer, alle Glühwürmchen der Umgebung, ballten sich um ihn herum, schalteten ihr kaltgrünes Leuchten ein und aus, und in ihrem Licht konnte er jetzt zwei Augen, größer als Tafelteller, ausmachen, die aus einem hochnäsigen, reptilienartigen Gesicht zu ihm herabstarrten.

Er starrte zurück, »‘n Abend«, sagte er fröhlich.

Eine Stimme kam aus dem Geschöpf, glatt wie Butteröl.

»Ha-llo«, sagte es. »Ding-dong. Du siehst ganz verblüffend nach Abendessen aus.«

»Ich bin Charlie Nancy«, sagte Charlie Nancy. »Wer bist du?«

»Ich bin Drache«, sagte der Drache. »Und ich werde dich ganz langsam in einem Bissen verspeisen, kleiner Mann mit Hut.«

Charlie blinzelte. Was würde mein Vater tun?, überlegte er. Was hätte Spider getan? Ihm fiel absolut nichts ein.

Komm schon. Immerhin ist Spider sozusagen ein Teil von mir. Was er kann, kann ich auch.

»Ah. Es ist dir viel zu langweilig, noch weiter mit mir zu sprechen, und du lässt mich ungehindert weitergehen«, teilte er dem Drachen mit aller Überzeugungskraft mit, die er zur Verfügung hatte.

»Donnerwetter. Kein schlechter Trick. Aber leider falle ich nicht drauf rein«, sagte der Drache begeistert. »Ich werde dich auffressen, ohne Wenn und Aber.«

»Du fürchtest dich nicht zufällig vor Limonen, oder?«, fragte Charlie, bevor ihm einfiel, dass er die Limone ja Daisy gegeben hatte.

Das Wesen lachte verächtlich. »Ich«, sagte es, »fürchte mich vor nichts.«

»Nichts?«

»Nichts«, sagte es.

Charlie sagte: »Fürchtest du dich ganz entsetzlich vor nichts?«

»Hab eine Heidenangst davor«, gestand der Drache.

»Weißt du«, sagte Charlie. »Ich habe nichts in der Tasche. Möchtest du’s mal sehen?«

»Nein«, sagte der Drache verlegen. »Ganz bestimmt nicht.«

Flügel von Segelgröße schlugen, und Charlie war allein auf dem Strand. »Das«, sagte er, »war viel zu leicht.«

Er ging weiter. Er erfand ein Lied für seine Wanderung. Charlie hatte schon immer den Wunsch gehabt, sich Lieder auszudenken, es aber nie getan, vor allem wohl aus der Überzeugung heraus, dass er, sobald er einen Song geschrieben hätte, aufgefordert werden würde, ihn vorzusingen, und das wäre keine gute Sache gewesen, wie ja auch zum Beispiel der Tod durch Erhängen keine gute Sache war. Jetzt aber kümmerte ihn dieses Problem immer weniger, und er sang sein Lied den Leuchtkäfern vor, die ihn den Berg hinauf begleiteten. In dem Lied ging es darum, wie er der Vogelfrau begegnete und seinen Bruder fand. Er hoffte, dass die Leuchtkäfer Freude daran hatten: Ihr Licht schien im Rhythmus des Liedes zu pulsieren und zu flackern.

Die Vogelfrau erwartete ihn auf der Spitze des Berges. Charlie nahm seinen Hut ab. Er zog die Feder aus dem Hutband.

»Hier. Die gehört dir, glaube ich.«

Sie machte keine Anstalten, sie zu nehmen.

»Unser Handel muss rückgängig gemacht werden«, sagte Charlie. »Ich habe dir deine Feder gebracht. Ich möchte meinen Bruder zurück. Du hast ihn genommen. Ich will ihn wiederhaben. Es stand mir nicht zu, Anansis Blutlinie wegzugeben.«

»Und wenn ich deinen Bruder gar nicht mehr habe?«

Es war im Licht der Leuchtkäfer schwer zu erkennen, aber Charlie glaubte nicht, dass ihre Lippen sich bewegt hatten. Ihre Worte umgaben ihn jedoch in den Rufen der Ziegenmelker und den Schreien der Eulen.

»Ich will meinen Bruder zurück«, bekräftigte er. »Ich will ihn in einem Stück und unversehrt. Und ich will ihn sofort. Sonst war das, was zwischen dir und meinem Vater in all den Jahren vorgefallen ist, nur ein Vorspiel. Die Ouvertüre, sozusagen.«

Noch nie in seinem Leben hatte Charlie jemandem gedroht. Er hatte keine Ahnung, wie er seine Drohung wahr machen sollte aber er hatte auch keine Zweifel, dass er sie wahr machen würde.

»Ich hatte ihn«, sagte sie im fernen Krakeelen der Rohrdommel. »Aber ich habe ihn ohne Zunge in Tigers Welt abgeliefert. Ich könnte der Linie deines Vaters nichts antun. Tiger aber kann es, wenn er erst einmal den Mut aufgebracht hat.«

Stille. Die Nachtfrösche und die Nachtvögel schwiegen. Sie starrte ihn ausdruckslos an, ihr Gesicht verschwand nahezu im Schatten. Ihre Hand schob sich in die Tasche ihres Mantels. »Gib mir die Feder«, sagte sie.

Charlie gab sie ihr in die Hand.

Plötzlich fühlte er sich leichter, ganz so, als habe sie ihm mehr abgenommen als nur eine alte Feder …

Dann legte sie etwas in seine Hand, etwas Kaltes und Feuchtes. Es fühlte sich wie ein Stück Fleisch an, und Charlie musste den Impuls unterdrücken, es einfach wegzuwerfen.

»Gib sie ihm zurück«, sagte sie in der Stimme der Nacht. »Es gibt keinen Streit mehr zwischen uns.«

»Wie komme ich in Tigers Welt?«

»Wie bist du hierher gekommen?«, fragte sie, fast belustigt klingend, und dann war die Nacht vollständig hereingebrochen, und Charlie stand allein auf dem Hügel.

Er machte die Hand auf und besah das Stück Fleisch, das dort lag, weich, schlaff und zerfurcht. Es sah wie eine Zunge aus, und er glaubte zu wissen, wessen Zunge es war.

Er setzte den Filzhut wieder auf und dachte dabei: Ich setze meine Denkmütze auf, aber bei näherer Betrachtung war der Witz vielleicht doch ernster als geahnt. Der grüne Filzhut war zwar keine Denkmütze, aber doch die Sorte Hut, die von jemandem getragen wurde, der nicht nur so daherdachte, sondern auch zu großen und wichtigen Schlussfolgerungen gelangte.

Er stellte sich die Welten als ein Netz vor: Es leuchtete in seinem Innern, verband ihn mit allen, die er kannte. Der Faden, der ihn mit Spider verband, war kräftig und hell, erstrahlte in einem kalten Licht, wie ein Leuchtkäfer oder ein Stern.

Spider war einst ein Teil von ihm gewesen. Er hielt dieses Wissen fest und ließ das Netz sich in seinen Gedanken ausbreiten. Und in seiner Hand lag die Zunge seines Bruders: Sie war noch bis vor Kurzem Teil von Spider gewesen und wünschte sich sehnlichst, wieder Teil von ihm zu werden. Lebendige Dinge haben ein Gedächtnis.

Das wilde Licht des Netzes leuchtete vor seinen Augen. Charlie brauchte nichts weiter zu tun, als ihm zu folgen …

Er folgte ihm, und die Leuchtkäfer scharten sich um ihn und reisten mit.

»He«, sagte er. »Ich bin’s.«

Spider machte ein kleines, fürchterliches Geräusch.

Im Schimmern des Leuchtkäferlichts bot Spider einen schrecklichen Anblick: Er wirkte gehetzt und geschunden. Er hatte Narben im Gesicht und auf der Brust.

»Ich schätze mal, das hier gehört dir«, sagte Charlie. Spider nahm die Zunge mit einer übertriebenen Dankesgeste von seinem Bruder entgegen, steckte sie sich in den Mund, drückte und hielt sie fest. Charlie schaute zu und wartete. Bald schon schien Spider zufrieden er bewegte versuchsweise seinen Mund, drückte die Zunge mal in die eine, dann in die andere Wange, als treffe er Vorbereitungen, sich seinen nicht vorhandenen Schnauzbart abzurasieren, riss den Mund weit auf, wackelte und wedelte mit der Zunge. Er machte den Mund wieder zu und erhob sich. Mit einer Stimme, die an den Rändern noch ein bisschen zittrig war, sagte er schließlich: »Hübscher Hut.«


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ROS1E GELANGTE als erste ans Ende der Treppe und drückte die Weinkellertür auf. Sie stolperte ins Haus. Sie wartete, bis ihre Mutter ihr folgte, dann schlug sie die Kellertür zu und verriegelte sie. Offenbar war der Strom hier draußen ausgefallen, aber ein fast voller Mond stand hoch am Himmel, und nach der Dunkelheit des Kellers wirkte der bleiche Mondschein, der durch die Küchenfenster fiel, wie Scheinwerferlicht.

Dunkel war’s, der Mond schien helle, dachte Rosie, schneebedeckt die grüne Flur…

»Ruf die Polizei an«, sagte ihre Mutter.

»Wo ist das Telefon?«

»Woher zum Teufel soll ich wissen, wo das Telefon ist? Er ist noch immer da unten.«

»Okay.« Rosie fragte sich, ob sie das Telefon suchen sollte, um die Polizei zu rufen, oder ob sie nicht lieber sofort aus dem Haus verschwinden sollten, aber bevor sie noch zu einem Entschluss gelangen konnte, hatten sich alle Überlegungen bereits erübrigt.

Es gab ein Krachen, so laut, dass es den Ohren wehtat, und die Tür zum Keller flog auf.

Der Schatten kam aus dem Keller heraus.

Er war real. Sie wusste, dass er wirklich und echt war. Sie versuchte ihn ins Auge zu fassen. Aber es war unmöglich: Es war der Schatten einer großen Katze, struppig und gewaltig groß. Seltsamerweise aber wurde der Schatten, wenn das Mondlicht ihn berührte, noch dunkler. Rosie konnte seine Augen nicht sehen, aber sie wusste, dass er sie ansah und dass er hungrig war.

Er würde sie töten. Das sollte dann also das Ende sein. Ihre Mutter sagte: »Er hat es auf dich abgesehen, Rosie.«

»Ich weiß.«

Rosie griff nach dem nächstbesten größeren Gegenstand, einem Holzblock, in dem einmal Messer gesteckt hatten, warf ihn mit aller Kraft nach dem Schatten und lief dann, ohne abzuwarten, ob sie getroffen hatte, so schnell sie konnte aus der Küche in die Diele. Sie wusste, wo die Haustür war …

Etwas Dunkles, etwas Vierfüßiges, bewegte sich noch schneller: Es machte einen Satz über ihren Kopf hinweg und landete fast geräuschlos vor ihr.

Rosie wich zurück, stieß an die Wand. Ihr Mund war staubtrocken.

Das Untier war jetzt zwischen ihr und der Haustür, und es stapfte langsam auf Rosie zu, als habe es alle Zeit der Welt.

In diesem Moment kam ihre Mutter aus der Küche geschossen, rannte an Rosie vorbei, tobte schwankend, mit wild fuchtelnden Armen, durch den mondhellen Flur auf den großen Schatten zu. Mit ihren dünnen Fäusten schlug sie dem Ding in die Rippen. Es folgte eine Pause, so als würde die Welt kurz den Atem anhalten, und dann stürzte es sich auf sie. Rasche, verwischte Bewegungen, und dann lag Rosies Mutter auf dem Roden, während der Schatten sie schüttelte wie ein Hund, der eine Stoffpuppe zwischen den Zähnen hat.

Die Türklingel läutete.

Rosie wollte für Hilfe sorgen, aber sie konnte nur schreien, laut und unablässig. Rosie konnte, wenn sie unerwartet mit einer Spinne in der Radewanne konfrontiert wurde, ohne Weiteres schreien wie eine Horrorfilm-Schauspielerin bei ihrer ersten Begegnung mit einem Mann im Gummianzug. Jetzt befand sie sich in einem dunklen Haus, in dem sich ein schattenhafter Tiger und ein potenzieller Serienmörder aufhielten, und eine dieser Wesenheiten, wenn nicht beide, hatte gerade ihre Mutter angegriffen. Ihr Kopf ging einige mögliche Vorgehensweisen durch (die Pistole: Die Pistole war unten im Keller. Sie sollte nach unten gehen und die Pistole holen. Oder die Tür – sie könnte versuchen, an ihrer Mutter und dem Schatten vorbeizuschlüpfen und die Haustür zu öffnen), aber ihre Lunge und ihr Mund wollten nur schreien.

Etwas hämmerte gegen die Haustür. Sie versuchen sie aufzubrechen, dachte sie. Da kommen sie nicht durch. Die Tür ist stabil.

Ihre Mutter lag auf dem Boden, von Mondlicht beschienen, und der Schatten kauerte über ihr, warf seinen Kopf zurück und brüllte, ein tiefes, rasselndes Brüllen der Furcht, der Herausforderung und des Besitzanspruchs.

Ich habe Halluzinationen, dachte Rosie mit wilder Gewissheit. Ich war zwei Tage in einem Keller eingesperrt, und jetzt halluziniere ich halt. Da ist kein Tiger.

Aus demselben Grund war sie sich auch sicher, dass da keine blasse Frau im Flur sein konnte, obwohl sie sie eben jetzt durch den Mondschein schreiten sah, eine Frau mit blonden Haaren und den endlos langen Beinen und schmalen Hüften einer Tänzerin. Die Frau blieb stehen, als sie beim Schatten des Tigers angelangt war. Sie sagte: »Hallo, Grahame.«

Das Schattentier hob seinen gewaltigen Kopf und knurrte.

»Glauben Sie bloß nicht, Sie könnten sich in diesem albernen Tierkostüm vor mir verstecken«, sagte die Frau. Sie schien alles andere als begeistert.

Rosie bemerkte, dass sie das Fenster durch den Oberkörper der Frau hindurch sehen konnte, und sie drückte sich noch fester mit dem Bücken an die Wand.

Das Untier knurrte erneut, etwas unsicherer diesmal.

Die Frau sagte: »Ich glaube nicht an Geister, Grahame. Ich habe mein Leben lang, mein ganzes Leben lang, nicht an Geister geglaubt. Und dann habe ich Sie kennengelernt. Sie lassen Morris’ Karriere auf Grund laufen. Sie bestehlen uns. Sie ermorden mich. Und schließlich, um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, zwingen Sie mich, an Geister zu glauben.«

Die schattenhafte Großkatzengestalt winselte jetzt und zog sich Stück für Stück zurück.

»Glauben Sie nicht, dass Sie mir auf diese Tour davonkommen, Sie nichtsnutziger kleiner Mann. Sie können vorgeben, ein Tiger zu sein, so viel Sie wollen. Aber Sie sind kein Tiger. Sie sind eine Ratte. Halt, nein, das ist eine Beleidigung für eine vortreffliche und bevölkerungsreiche Nagetierart. Sie sind weniger als eine Ratte. Sie sind eine Springmaus. Sie sind ein Wiesel.«

Rosie rannte durch den Flur. Sie rannte an dem Schattenbiest vorbei, vorbei auch an ihrer hingestreckten Mutter. Sie rannte durch die blasse Frau hindurch, und es fühlte sich an, als würde man durch Nebel laufen. Sie erreichte die Haustür und tastete nach den Riegeln.

In ihrem Kopf oder draußen in der Welt konnte Rosie ein Streitgespräch verfolgen. Jemand sagte:

Achte nicht auf sie, du Idiot. Sie kann dir nichts tun. Sie ist nur ein Duppy. Sie ist praktisch gar nicht real. Hol dir das Mädchen! Halt das Mädchen auf.

Und jemand anders antwortete:

Das ist sicherlich ein durchaus stichhaltiger Hinweis, aber ich bin trotzdem nicht davon überzeugt, dass Sie alle Umstände in Betracht gezogen haben, gerade in Bezug auf nun ja, Vorsicht, ähm, Mutter der Porzellankiste, wenn Sie mir folgen können

Ich führe. Du folgst. Aber …

»Was mich interessieren würde«, sagte die blasse Frau,

»ist, wie geisterhaft Sie im Moment eigentlich sind? Ich meine, ich kann keine Menschen berühren. Ich kann eigentlich nicht mal Dinge berühren. Aber ich kann Geister berühren.«

Die blonde Frau setzte zu einem schwungvollen Fußtritt ins Gesicht des Untiers an. Die Schattenkatze machte fauchend einen Schritt zurück, sodass der Fuß sie um Haaresbreite verfehlte.

Der nächste Tritt traf ins Ziel, und das Tier jaulte auf. Noch ein Tritt, mit voller Wucht dahin geführt, wo die schattige Nase zu vermuten war, und das Biest machte ein Geräusch wie eine Katze, die shamponiert wird, ein gottverlassenes Heulen, in dem sich Schrecken und Wut, Scham und Niederlage ausdrückten.

Der Flur hallte wider vom Gelächter einer toten Frau, ein Lachen voll Überschwang und Freude. »Wiesel«, sagte die Stimme der blassen Frau wieder. »Grahame, das Wiesel.«

Ein kalter Wind blies durchs Haus.

Rosie zog den letzten Riegel auf und drehte das Schloss. Die Haustür schwang auf. Scheinwerferlicht fiel herein, blendend hell, Menschen. Autos. Eine Frauenstimme sagte:

»Es ist eine der vermissten Touristinnen.« Und dann sagte sie: »Mein Gott.«

Rosie drehte sich um.

Im Licht der Scheinwerfer sah sie ihre Mutter zusammengekrümmt auf dem Fliesenboden liegen und neben ihr, ohne Schuhe und Bewusstsein und in unverkennbar menschlicher Gestalt, Grahame Coats. Um sie herum schwamm eine rote Flüssigkeit, wie karmesinrote Farbe, und Rosie kam wahrhaftig für einen Augenblick nicht darauf, worum es sich handelte.

Eine Frau redete auf sie ein. Sie sagte: »Sie sind Rosie Noah. Mein Name ist Daisy. Lassen Sie uns etwas suchen, wo Sie sich hinsetzen können. Möchten Sie sich hinsetzen?«

Jemand musste den Sicherungskasten aufgespürt haben, denn in diesem Moment gingen überall im Haus die Lichter an.

Ein stattlicher Mann in Polizeiuniform hatte sich über die leblosen Körper gebeugt. Den Kopf hebend, sagte er:

»Das ist eindeutig Mr. Finnegan. Er atmet nicht.«

Rosie sagte: »Ja, bitte. Ich würde mich sehr gern hinsetzen.«


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CHARLIE SASS neben Spider im Mondschein auf der Klippe, die Beine baumelten über den Rand.

»Weißt du«, sagte er, »du warst früher ein Teil von mir. Als wir Kinder waren.«

Spider legte den Kopf schief. »Wirklich?«

»Ich glaube, ja.«

»Tja, das würde so einiges erklären.« Er streckte seine Hand aus: Eine siebenbeinige Lehmspinne saß auf seinem Fingerrücken, schmeckte die Luft. »Und was jetzt? Willst du mich jetzt wieder zurücknehmen oder so was?«

Charlie runzelte die Stirn. »Ich glaube, du hast mehr aus dir gemacht, als du’s getan hättest, wenn du Teil von mir geblieben wärst. Und du hattest sehr viel mehr Spaß dabei.«

Spider sagte: »Rosie. Tiger weiß über Rosie Bescheid. Wir müssen etwas tun.«

»Natürlich müssen wir das«, sagte Charlie. Es war wie bei der Buchhaltung, dachte er: Man macht Einträge in der einen Spalte, zieht sie von denen in einer anderen ab, und wenn man alles richtig gemacht hat, sollte unten auf der Seite das korrekte Ergebnis stehen.

Sie standen auf und machten einen Schritt vorwärts, von der Klippe hinunter.

… und alles war hell …

Ein kalter Wind blies zwischen den Welten.

Charlie sagte: »Du bist nicht das magische Stück von mir, weißt du.«

»Nicht?« Spider machte einen weiteren Schritt. Sterne fielen jetzt zu Dutzenden, zogen helle Streifen über den Himmel. Irgendwo spielte irgendjemand liebliche Musik auf der Flöte.

Noch ein Schritt, und jetzt heulten Sirenen in der Ferne.

»Nein«, sagte Charlie. »Mrs. Dunwiddy dachte wahrscheinlich, dass du es wärst. Sie hat uns getrennt, aber sie hat nie recht begriffen, was sie da getan hat. Wir sind eher wie die zwei Hälften eines Seesterns. Du hast dich zu einer vollständigen Person entwickelt. Und ich«, sagte er, und indem er sie aussprach, erkannte er die Wahrheit seiner Worte, »auch.«

Sie standen in der Morgendämmerung am Klippenrand. Ein Rettungswagen fuhr mit Blaulicht den Berg hinauf, kurz darauf ein zweiter. Sie parkten am Straßenrand, neben einer Ansammlung von Polizeiautos.

Daisy schien allen Leuten zu sagen, was sie tun sollten.

»Hier gibt es für uns nicht viel zu tun. Jedenfalls nicht jetzt«, sagte Charlie. »Komm.« Der letzte Leuchtkäfer verließ ihn jetzt, blinkte noch ein paarmal auf und ging dann schlafen.

Sie fuhren im ersten Minibus des Tages nach Williamstown zurück.


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MAEVE LIVINGSTONE saß oben in der Bibliothek von Grahame Coats’ Haus, umgeben von Grahame Coats’ Kunstsammlung, seinen Büchern und DVDs, und starrte aus dem Fenster. Draußen vor dem Haus luden die Notdienste der Insel Rosie und ihre Mutter in den einen Rettungswagen, Grahame Coats in den anderen.

Es hatte ihr, rekapitulierte sie, wirklich viel Spaß gemacht, dieses Tierding, in das Grahame Coats sich verwandelt hatte, zu treten. Eine tiefe Befriedigung hatte es ihr verschafft, mehr als alles andere, was sie seit ihrer Ermordung getan hatte obwohl sie, wenn sie ganz ehrlich sein wollte, zugeben musste, dass das Tanzen mit Mr. Nancy wirklich nur ganz haarscharf mit dem zweiten Platz vorliebnehmen musste. Dieser alte Herr war bemerkenswert agil und flink auf den Füßen gewesen.

Sie war müde.

»Maeve?«

»Morris?« Sie blickte sich um, aber das Zimmer war leer.

»Ich würde dich nicht stören wollen, falls du immer noch beschäftigt bist, Schatz.«

»Das ist sehr lieb von dir«, sagte sie. »Aber ich glaube, ich bin jetzt hier fertig.«

Die Wände der Bibliothek begannen zu schwinden. Sie verloren Farbe und Form. Nach und nach wurde die Welt hinter den Wänden sichtbar, und in ihrem Licht sah sie eine kleine Gestalt in einem schicken Anzug, die auf sie wartete.

Ihre Hand schob sich in seine. Sie sagte: »Wo gehen wir jetzt hin, Morris?« Er sagte es ihr.

»Oh. Na, das wird eine angenehme Abwechslung sein«,

sagte sie. »Dort wollte ich schon immer mal hin.« Hand in Hand machten sie sich auf den Weg.

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