Sie erwachte und stellte fest, daß sie allein war. Die Sonne, die langsam am Horizont niedersank, wärmte sie mit ihren letzten Strahlen.
Noch regte sich ein sehnsüchtiges Verlangen in ihr. Sie strich sanft über ihre mit seidigem Flaum bedeckten Arme. »Deine Schultern sind zwei Elfenbeinkugeln, deine Brüste sind genau für die Höhlung der Hand eines Mannes geschaffen .«
Was mochte aus jenem wunderlichen schwarzen Vogel, aus dem Mann im Heukahn, geworden sein? Er hatte verliebte, träumerische und im nächsten Augenblick spöttische Worte gesprochen. Er hatte sie lange geküßt. Vielleicht lebte er gar nicht mehr?
Sie raffte sich auf und schüttelte die Halme von ihrem Kleid. Dann begab sie sich in den Mühlengasthof zu dem geduldig wartenden Audiger und bat ihn verdrossen, sie nach Paris zurückzubringen.
In der herbstlichen Morgendämmerung erging sich Angélique auf dem Pont-Neuf. Sie hatte Blumen gekauft und nutzte die Gelegenheit, um langsam vom Krambude zu Krambude zu schlendern. Vor der wie immer umlagerten Bühne des Großen Matthieu blieb sie stehen und zuckte zusammen. Der Große Matthieu war im Begriff, einem vor ihm knienden Mann einen Zahn zu ziehen. Der Patient ließ die Prozedur mit weit aufgesperrtem Mund über sich ergehen, aber Angélique erkannte seine blonden und borstigen Haare, die wie Maisstroh aussahen, und seinen abgetragenen schwarzen Mantel. Es war der Mann vom Heukahn.
Die junge Frau machte von ihren Ellbogen Gebrauch, um sich in die erste Reihe zu drängen, dicht vor den Großen Matthieu, dem trotz der Morgenkühle der Schweiß von der Stirn troff.
»Schockschwerenot«, ächzte er, »der ist aber widerspenstig! Heiliger Himmel, sitzt der fest!«
Er unterbrach seine Verrichtung, um sich den Schweiß abzuwischen, nahm das Instrument aus dem Mund seines Opfers und fragte:
»Tut’s weh?«
Der andere wandte sich dem Publikum zu und schüttelte lächelnd den Kopf. Kein Zweifel, er war es, der Mann vom Heukahn mit seinem bleichen Gesicht, dem breiten Mund und den Grimassen eines verdutzten Harlekins.
»Seht Euch das an, Ihr Damen und Herren!« rief der Große Matthieu. »Ist das nicht ein wahres Wunder? Hier ist ein Mann, der keine Schmerzen empfindet, obwohl sein Zahn widerspenstig wie ein Maulesel ist. Und durch welches Wunder empfindet er keine Schmerzen? Dank dem Balsam, mit dem ich vor der Operation seinen Kiefer einrieb. Der Inhalt dieses Fläschchens garantiert das Vergessen aller Leiden. Bei mir wird dank dem wundertätigen Balsam jeder Schmerz betäubt, und man zieht Euch die Zähne, ohne daß Ihr’s merkt. Kommt, mein Freund, kehren wir wieder zum Geschäft zurück.«
Der andere sperrte bereitwillig den Mund auf. Unter Flüchen und heftigem Geschnaufe machte sich der Quacksalber von neuem ans Werk, bis er endlich mit Triumphgeheul den ominösen Zahn am Ende seiner Zange schwang.
»Da haben wir ihn! Habt Ihr etwas gespürt, mein Freund?«
Der andere stand, noch immer lächelnd, auf und schüttelte den Kopf.
»Brauche ich noch etwas zu sagen? Dieser Mann hat Höllenqualen gelitten, als er zu mir kam, und nun geht er frisch und vergnügt von dannen. Dank dem wundertätigen Balsam, den ich als einziger anwende, wird niemand mehr zögern, sich der stinkenden Gewürznelken zu entledigen, die dem Mund eines anständigen Christenmenschen Schande machen. Man wird lächelnd zum Zahnzieher kommen.
Heraufspaziert, Ihr Damen und Herren! Schmerz existiert nicht mehr! Der Schmerz ist tot.«
Unterdessen hatte der Kunde seinen Spitzhut aufgesetzt und stieg vom Podest herunter. Angélique folgte ihm. Sie hätte ihn gern angesprochen, aber sie war sich nicht sicher, ob er sie wiedererkennen würde.
Langsam trottete er den Quai des Morfondus unterhalb des Justizpalastes entlang. Ein paar Schritte vor ihr sah sie in den von der Seine aufsteigenden Nebeln die wunderliche, schmale Silhouette schwimmen. Abermals kam er ihr unwirklich vor. Er schritt wie zögernd dahin, blieb stehen, ging wieder weiter.
Plötzlich verschwand er. Angélique stieß einen leisen, erschrockenen Schrei aus. Doch dann begriff sie, daß der Mann nur ein paar Stufen zum Wasser hinuntergegangen war. Ohne zu überlegen, folgte sie ihm und wäre beinahe auf den Unbekannten geprallt, der sich stöhnend an die Ufermauer lehnte.
»Was fehlt Euch?« fragte Angélique. »Seid Ihr krank?«
»Oh, ich komme um vor Schmerzen!« erwiderte er mit kraftloser Stimme. »Dieser rohe Bursche hat mir beinah den Kopf abgerissen. Und mein Gebiß ist bestimmt beim Teufel.« Er spie eine Menge Blut aus.
»Aber Ihr habt doch gesagt, es täte Euch nicht weh?«
»Ich habe gar nichts gesagt, denn ich wäre nicht dazu fähig gewesen! Und der Große Matthieu hat mir ein hübsches Sümmchen gegeben, damit ich diese kleine Komödie spiele.« Er stöhnte und spie abermals. Sie fürchtete, er würde ohnmächtig werden.
»Das ist doch töricht! Ihr hättet nicht darauf eingehen sollen.«
»Ich habe seit drei Tagen nichts gegessen.«
Angélique legte ihren Arm um den mageren Oberkörper des Unbekannten. Er war größer als sie, aber so leicht, daß sie sich kräftig genug fühlte, dieses armselige Gerippe zu stützen.
»Kommt, Ihr sollt heute einmal gut essen«, versprach sie. »Und es wird Euch nichts kosten. Keinen Zahn ... und auch keinen Sol.«
In Wirtshaus angelangt, lief sie in die Küche, um etwas zu suchen, das einem Opfer des Hungers und des Zahnziehers behagen konnte. Sie fand Brühe und eine schöne, mit Gürkchen gespickte Ochsenzunge und brachte sie ihm samt einer Kanne Wein und einem großen Topf Senf.
»Fangt nur damit an. Hernach werden wir weitersehen.«
Die lange Nase des armen Schluckers schnupperte, und er richtete sich wie neubelebt auf. »O köstlicher Suppenduft!« murmelte er. »Gesegneter Extrakt der göttlichen Gewächse des Gemüsegartens!«
Sie ließ ihn allein, um ihn sich in aller Ruhe sättigen zu lassen. Nachdem sie ihre Anweisungen gegeben und festgestellt hatte, daß alles für das Erscheinen der Gäste parat war, trat sie in die Anrichte, um eine Soße zu machen. Es war ein kleiner Raum, in den sie sich einzuschließen pflegte, wenn sie ein besonders delikates Gericht zubereiten wollte.
Nach einer kleinen Weile ging die Tür auf, und ihr Gast steckte den Kopf durch den Spalt. »Sag mal, meine Schöne, du bist doch die kleine Gaunerin, die Latein versteht?«
»Ja und nein«, erwiderte Angélique, die nicht recht wußte, ob sie verärgert oder erfreut war, daß er sie erkannt hatte. »Ich bin jetzt die Nichte Meister Bourgeauds, des Wirts dieser Schenke.«
»Mit andern Worten, du stehst nicht mehr unter der Fuchtel des argwöhnischen Sieur Calembredaine?«
»Gott behüte!«
Er schlüpfte in den Raum, nahm sie um die Taille und küßte sie auf die Lippen.
»Nun, Messire, Ihr habt Euch offensichtlich vorzüglich erholt!« sagte sie, nachdem sie wieder zu Atem gekommen war.
»Warum sollte ich’s nicht bei solcher Gelegenheit? Ich bin schon lange auf der Suche nach dir, Marquise der Engel!«
»Pst!« machte sie und sah sich ängstlich um.
»Du hast nichts zu befürchten. Es sind keine Polizeispitzel in der Wirtsstube. Ich habe keine gesehen, und ich kenne sie alle, das kannst du mir glauben. Nun, kleine Gaunerin, du hast dich ganz gut gebettet, wie ich sehe. Hast wohl von den Heukähnen genug gehabt? Man verläßt eine kleine, blasse, blutarme Blume und findet eine rundliche, adrette Bürgersfrau wieder ... Und gleichwohl bist du’s. Deine Lippen sind noch genauso gut, aber sie schmecken nach Kirschen und nicht mehr nach bitteren Tränen. Gib noch mal her .«
»Ich hab’ keine Zeit«, sagte Angélique und stieß die Hände zurück, die nach ihren Wangen greifen wollten.
»Zwei Sekunden des Glücks wiegen zwei Lebensjahre auf. Und außerdem hab’ ich noch Hunger, mußt du wissen!«
»Wollt Ihr Krapfen und Eingemachtes?«
»Nein, dich will ich. Dich zu sehen und zu berühren genügt, mich zu sättigen.«
»Oh, Ihr seid unmöglich!« protestierte sie. Aber mit einer energischen Bewegung, die bewies, daß er seine Kräfte zurückgewonnen hatte, preßte er sie an sich, bog ihren Kopf zurück und begann, sie aufs neue zu küssen. Erst das Geräusch einer auf den Tisch geschlagenen hölzernen Kelle trennte sie jäh.
»Beim heiligen Jakobus«, wetterte Meister Bourgeaud, »dieser verdammte Schmierant, dieser Erzhalunke, dieser Verleumder in meinem Haus, in meiner Anrichte, im Begriff, mein Mädchen zu belästigen! Hinaus, du Lump, oder du kriegst einen Tritt in den Hintern, daß du auf die Straße fliegst!«
»Erbarmen, Messire, Erbarmen mit meinen Hosen! Sie sind dermaßen abgenutzt, daß Euer erhabener Fuß ein für die Damen unschickliches Schauspiel hervorrufen könnte.«
Grimassen schneidend, lachend und mit beiden Händen sein bedrohtes Hinterteil schützend, lief der Kunde des Großen Matthieu zur Straßentür, drehte eine Nase und verschwand.
Angélique sagte obenhin:
»Dieser Kerl ist in die Anrichte gekommen, und ich konnte ihn nicht loswerden.«
»Hm«, brummte der Bratkoch, »eigentlich hast du keinen sonderlich mißvergnügten Eindruck dabei gemacht. Sachte, meine Schöne, widersprich mir nicht! Das ist es nicht, was mich ärgert: ein bißchen Zärtlichkeit von Zeit zu Zeit erhält ein hübsches Mädchen bei guter Laune. Aber offen gesagt, du enttäuschst mich. Kommen nicht genug anständige Leute in unser Haus? Warum suchst du dir ausgerechnet einen Zeitungsschreiber aus?«
Die Favoritin des Königs, Mademoiselle de La Vallière, hatte einen zu großen Mund. Sie hinkte ein wenig. Man sagte, das gäbe ihr einen besonderen Reiz und hindere sie nicht, entzückend zu tanzen, aber Tatsache blieb: sie hinkte.
Sie hatte keinen Busen. Man verglich sie mit Diana, man sprach vom Reiz der Zwitter, aber Tatsache blieb: sie hatte flache Brüste. Ihre Haut war spröde. Infolge der ob der königlichen Untreue vergossenen Tränen, der Demütigungen durch den Hof und der Gewissensbisse hatte sie tiefe Augenhöhlen bekommen. Sie magerte ab. Schließlich litt sie, verursacht durch ihre zweite Schwangerschaft, an einer gewissen Unpäßlichkeit, über die einzig Ludwig XIV. Näheres hätte sagen können. Der Schmutzpoet indessen wußte Bescheid.
Und aus all diesen verborgenen oder bekannten Übeln, aus diesen körperlichen Mängeln machte er ein bemerkenswertes Pamphlet, voller Witz, aber von einer solchen Boshaftigkeit und Schlüpfrigkeit, daß es selbst die gar nicht prüden Bürger vermieden, es ihren Frauen zu zeigen, weshalb diese es sich von ihren Mägden geben ließen.
»Hinken kannst du, Mädchen, sei bloß fünfzehn Jahr’, Busen brauchst du nicht, Verstand nicht nötig. Eltern? Weiß der Himmel! Doch zum Kinderkriegen sei im Vorzimmer ganz unschuldig er-bötig:
Dann bekommst du den höchsten Geliebten als Preis,
La Vallière hat geliefert dafür den Beweis.«
Diesen Pasquillen begegnete man überall in Paris, im Hôtel Biron, wo Louise de La Vallière wohnte, im Louvre und sogar bei der Königin, die angesichts dieses Porträts ihrer Rivalin zum erstenmal nach langer Zeit lachte und sich vergnügt die kleinen Hände rieb.
Verletzt, vor Scham vergehend, bestieg Mademoiselle de La Vallière die nächstbeste Kutsche und ließ sich zum Kloster Chaillot fahren, wo sie den Schleier nehmen wollte.
Der König befahl ihr, schleunigst zurückzukehren und sich bei Hof zu zeigen, und ließ sie endlich durch Monsieur Colbert holen. In dieser Zurückbeorderung lag weniger entrüstete Zärtlichkeit als der zornige Trotz des Monarchen, den sein Volk zu verspotten wagte, der andererseits aber auch zu fürchten begann, seine Mätresse könnte ihm nicht zur Ehre gereichen.
Die gewiegtesten Polizeispione wurden auf den Schmutzpoeten gehetzt, und diesmal zweifelte niemand, daß er erwischt und gehenkt werden würde.
Angélique war im Begriff, sich in ihrem kleinen Zimmer in der Rue des Francs-Bourgeois zu Bett zu begeben. Javotte hatte sich gerade mit einem Knicks zurückgezogen. Die Kinder schliefen.
Draußen hörte sie jemanden laufen - die Schritte wurden durch den Schnee gedämpft, der an diesem Dezemberabend ganz leise zu rieseln begonnen hatte -, und gleich darauf wurde an die Haustür geklopft. Angélique schlüpfte in ihren Schlafrock und lief zum Guckloch.
»Wer ist da?«
»Rasch, mach mir auf. Der Hund!«
Ohne lange zu überlegen, schob Angélique die Riegel zurück. Der Pasquillenschreiber taumelte ihr entgegen. Im selben Augenblick tauchte lautlos ein weißes Etwas aus der Finsternis auf und sprang ihm an die Kehle.
»Sorbonne!« schrie Angélique. Sie stürzte hinzu, und ihre Hand berührte das feuchte Fell der Dogge. »Laß ihn, Sorbonne, laß ihn!«
Sie sagte es auf deutsch, da sie sich undeutlich erinnerte, daß Desgray dem Hund in dieser Sprache Befehle erteilte.
Sorbonne knurrte, während er seine Fangzähne in den Kragen seines Opfers grub. Doch nach einer Weile drang Angéliques Stimme in sein Bewußtsein. Er wedelte mit dem Schwanz und ließ, immer noch knurrend, seine Beute fahren.
Der Mann keuchte.
»Um mich ist’s geschehen!«
»Nicht doch. Kommt rasch herein.«
»Der Hund wird vor der Tür bleiben und mich dem Polizisten verraten.«
»Kommt herein, sag’ ich Euch!«
Sie stieß ihn ins Innere, dann schlug sie die Tür zu und blieb vor der Schwelle stehen. Sorbonne hielt sie an seinem Halsband fest. Vor der Toreinfahrt sah sie im Widerschein einer Laterne den Schnee wirbeln. Endlich hörte sie den gedämpften Schritt sich nähern, den Schritt, der immer dem Hunde folgte, den Schritt des Polizisten François Desgray.
Sie trat ein wenig aus dem Dunkel der Einfahrt hervor. »Sucht Ihr etwa Euren Hund, Maître Desgray?«
Er blieb stehen, dann trat er seinerseits unter den Torbogen. Sie sah sein Gesicht nicht.
»Nein«, sagte er ruhig, »ich suche einen Pamphle-tisten.«
»Sorbonne kam vorbei. Denkt nur, ich kannte ihn früher einmal, Euren Hund. Ich rief ihn an und nahm mir die Freiheit, ihn festzuhalten.«
»Er war zweifellos entzückt darüber, Madame. Habt Ihr vor Eurer Tür bei diesem köstlichen Wetter ein wenig frische Luft geschöpft?«
»Ich wollte eben meine Tür abschließen. Aber wir unterhalten uns in der Finsternis, Maître Desgray, und ich glaube, Ihr ahnt gar nicht, wer ich bin.«
»Ich ahne es nicht, Madame, ich weiß es. Ich habe schon lange ausfindig gemacht, wer in diesem Hause wohnt, und da mir keine Pariser Schenke unbekannt ist, habe ich Euch auch in der >Roten Maske< gesehen. Ihr nennt Euch Madame Morens, und Ihr habt zwei Kinder, von denen das ältere Florimond heißt. Früher hießt Ihr Madame de Peyrac.«
»Man kann nichts vor Euch verheimlichen, Polizist. Aber wenn Ihr mich längst ausfindig gemacht habt, wie Ihr sagt, warum bedarf es da eines Zufalls, daß wir uns sprechen?«
»Ich war nicht ganz sicher, ob mein Besuch Euch erfreuen würde, Madame. Als wir uns das letztemal sahen, sind wir ziemlich uneinig auseinandergegangen.«
Angélique rief sich die nächtliche Jagd im Faubourg Saint-Germain ins Gedächtnis zurück; es kam ihr vor, als habe sie einen völlig trockenen Mund.
Mit ausdrucksloser Stimme fragte sie:
»Was wollt Ihr damit sagen?«
»Es schneite genau wie heute nacht, und unter dem Torbogen war es nicht minder dunkel als hier.«
Angélique stieß heimlich einen Seufzer der Erleichterung aus.
»Wir waren nicht uneinig, wir waren besiegt, das ist nicht dasselbe, Maître Desgray.«
»Nennt mich nicht mehr Maître, Madame, denn ich habe meine Advokatenzulassung verkauft, und man hat mir außerdem meinen akademischen Titel genommen. Indessen habe ich sie zu einem sehr günstigen Preise abgetreten und mir dafür die Stelle eines Polizeioffiziers erstanden, weswegen ich mich jetzt einer einträglicheren und nicht minder nützlichen Aufgabe widme: der Verfolgung der Übeltäter und Übelgesinnten in dieser Stadt. Ich bin also von den Höhen des Worts in die Niederungen des Schweigens hinuntergestiegen.«
»Ihr seid noch genauso wortgewandt wie früher, Maître Desgray.«
»Gelegentlich finde ich wieder Geschmack an gewissen oratorischen Perioden. Das ist wohl auch der Grund, warum ich speziell damit beauftragt wurde, mich mit den Poeten, den Pamphletisten, den Federfuchsern jeglicher Art zu befassen. So verfolge ich heute abend einen heimtückischen Burschen, einen gewissen Claude Le Petit, den man auch Schmutzpoet nennt. Dieses Individuum wird Euch zweifellos für Eure Dazwischenkunft segnen.«
»Weshalb das?«
»Weil Ihr uns kurz vor dem Ziel in die Quere kamt, während er weiterlief«
»Verzeiht, daß ich Euch aufhielt.«
»Mir persönlich ist es ein ausgesprochenes Vergnügen gewesen, obwohl es dem kleinen Salon, in dem Ihr mich empfangt, ein wenig an Bequemlichkeit mangelt.«
»Vergebt mir. Ihr müßt wiederkommen, Desgray.«
»Ich werde wiederkommen, Madame.«
Er beugte sich über den Hund, um ihn an die Leine zu nehmen. Das Schneegestöber war dichter geworden. Der Polizist schlug den Mantelkragen hoch, tat ein paar Schritte und blieb noch einmal stehen.
»Da fällt mir etwas ein«, sagte er. »Dieser Schmutzpoet hat zur Zeit des Prozesses Eures Gatten ein übles Lästergedicht verfaßt. Wartet mal .
Doch Madame de Peyrac - sollt’ man’s glauben? -läßt sich dadurch nicht die Stimmung rauben. Hoffend, daß noch lang’ in der Bastille er möge bleiben .«
»Oh, schweigt, ich flehe Euch an!« rief Angélique und hielt sich die Ohren zu. »Sprecht mir nie von diesen Dingen. Ich erinnere mich an nichts mehr. Ich will mich nicht mehr daran erinnern .«
»Die Vergangenheit ist also für Euch tot, Madame?«
»Ja, die Vergangenheit ist tot!«
»Das ist das Beste, was Ihr tun konntet. Ich werde nicht mehr davon reden. Auf Wiedersehen, Madame ... und gute Nacht!«
Angélique schob zitternd die Riegel vor. Sie war völlig durchgefroren, da sie, nur mit ihrem Schlafrock bekleidet, so lange in der Kälte gestanden hatte. Zu dem Kältegefühl gesellte sich die durch die Wiederbegeg-nung mit Desgray und seine Äußerungen ausgelöste Erregung.
Sie kehrte in ihr Zimmer zurück und schloß die Tür. Der Mann saß, die Arme um die mageren Knie verschränkt, auf dem Kaminrand. Er glich einem Heimchen.
Die junge Frau lehnte sich an die Tür und sagte mit ausdrucksloser Stimme:
»Seid Ihr der Schmutzpoet?«
Er lächelte ihr zu. »Schmutz? Gewiß. Poet? Vielleicht.«
»Seid Ihr es, der diese ... diese Gemeinheiten über Mademoiselle de La Vallière geschrieben hat? Könnt Ihr denn die Leute nicht in Ruhe sich lieben lassen? Der König und jenes Mädchen haben sich alle Mühe gegeben, ihre Beziehungen geheimzuhalten, und Ihr habt nichts Besseres zu tun, als auf widerliche Weise daraus einen Skandal zu machen. Das Verhalten des Königs ist gewiß tadelnswert, aber er ist ein leidenschaftlicher junger Mann, den man gezwungen hat, eine Prinzessin ohne Geist und körperliche Reize zu ehelichen.«
Er lachte spöttisch.
»Wie du ihn verteidigst, mein Täubchen! Hat dir dieser Freibeuter das Herz umgarnt?«
»Nein, aber es empört mich, wenn ich sehe, wie man ein achtbares, edles Gefühl in den Schmutz zieht.«
»Es gibt nichts Achtbares oder Edles auf der Welt.«
Angélique durchquerte den Raum und lehnte sich an die andere Seite des Kamins. Sie fühlte sich schlaff und überreizt. Der Schmutzpoet sah zu ihr auf. »Wußtest du nicht, wer ich bin?« fragte er.
»Niemand hat es mir gesagt, und wie hätte ich es erraten können? Eure Feder ist ruchlos und leichtfertig; und Ihr .«
»Und ich?«
»Ihr, Ihr schient mir gut und fröhlich.«
»Ich bin gut zu den armen, kleinen Mädchen, die in Heukähnen weinen, und böse zu den Fürsten.«
Angélique seufzte. Sie wies mit dem Kinn nach der Tür.
»Ihr müßt jetzt gehen.«
»Gehen?« rief er aus. »Gehen, wo der Hund Sorbonne auf mich wartet, um sich in meine Hosen zu verbeißen, und der Polizist des Teufels seine Handschellen bereithält?«
»Sie sind fort.«
»Fort? O nein! Sie warten im Dunkeln.«
»Ich schwöre Euch, sie ahnen nicht, daß Ihr hier seid.«
»Kann man das wissen? Kennst du denn diese beiden Gesellen nicht, mein Herzchen, du, die Calembredaines Bande angehört hat?«
Sie bedeutete ihm energisch zu schweigen.
»Siehst du? Du spürst selbst, daß sie auf der Lauer liegen, draußen, hinter den Schneeschleiern. Und du willst, daß ich gehe!«
»Ja, geht!«
»Du jagst mich fort?«
»Ich jage Euch fort.«
»Dir habe ich doch nichts Böses getan?«
»Doch.«
Er starrte sie lange an, dann streckte er ihr die Hand entgegen.
»Dann müssen wir uns versöhnen. Komm.«
Und da sie sich nicht rührte: »Wir werden beide vom Hund verfolgt. Was haben wir davon, wenn wir einander grollen?«
Er hielt ihr noch immer die Hand hin.
»Deine Augen sind hart und kalt wie ein Smaragd geworden. Sie haben den Reflex des kleinen Flusses unterm Laubdach verloren, der voller Sonnenschein ist und zu sagen scheint: Liebe mich, küsse mich .«
»Ist es der Fluß, der all das sagt?«
»Deine Augen sind’s, wenn ich nicht dein Feind bin. Komm!«
Plötzlich gab sie ihren Widerstand auf und setzte sich neben ihn, und er legte seinen Arm um ihre Schultern.
»Du zitterst. Du hast deine selbstsichere Haltung verloren. Irgend etwas hat dir Angst eingeflößt. Ist es der Hund? Oder der Polizist?«
»Der Hund ... der Polizist, und auch Ihr, Herr Schmutzpoet.«
»O finstere Dreieinigkeit von Paris!«
»Ihr, der Ihr über alles auf dem laufenden seid
- wißt Ihr, was ich tat, bevor ich mit Calembredaine zusammen war?«
Er schnitt eine verdrießliche Grimasse.
»Nein. Nachdem ich dich wieder ausfindig gemacht hatte, beobachtete ich, wie du deinen Bratkoch am Gängelband führtest. Aber vor Calembredaine, nein, da hab’ ich die Spur verloren.«
»Gottlob.«
»Was mich ärgert, ist, daß ich nahezu sicher bin, daß der Teufelspolizist deine Vergangenheit kennt.«
»Ihr wetteifert im Einziehen von Erkundigungen?«
»Wir tauschen sie häufig untereinander.«
»Im Grunde seid ihr euch sehr ähnlich.«
»Ein wenig. Aber es besteht gleichwohl ein großer Unterschied zwischen ihm und mir.«
»Nämlich?«
»Daß ich ihn nicht umbringen kann, während er mich in den Tod zu schicken vermag. Hättest du mir heute abend nicht die Tür aufgemacht, säße ich jetzt dank seiner >Fürsorge< im Châtelet. Ich wäre mit gütiger Unterstützung von Meister Aubins hölzernem Pferd bereits um drei Daumenlängen gewachsen und würde morgen bei Tagesanbruch am Ende eines Strickes baumeln.«
»Und warum sagt Ihr, daß Ihr Eurerseits ihn nicht töten könnt?«
»Ich kann nicht töten. Wenn ich Blut sehe, wird mir übel.«
Sie mußte über sein angeekeltes Mienenspiel lachen. Die nervöse Hand des Poeten legte sich auf ihre Schulter.
»Wenn du lachst, gleichst du einem Täubchen.«
Er beugte sich über ihr Gesicht. Sie sah zwischen den Lippen seines zärtlich und spöttisch lächelnden Mundes die von der Zange des Großen Matthieu verursachte Lücke und spürte das Bedürfnis, zu weinen und ihn zu lieben.
»Gut so«, flüsterte er, »du hast keine Angst mehr. Alles rückt fern ... Es gibt nichts mehr auf der Welt als den Schnee, der draußen fällt, und uns, die wir hier in der Wärme geborgen sind ... Du bist nackt unter diesem Kleidungsstück? Ja, ich spüre es. Bleib ganz ruhig, Liebste ... Sag nichts mehr .«
Seine Hand schob sacht den Mantel auseinander, folgte der Schulterlinie, glitt tiefer. Er lachte, weil er sie erschauern fühlte.
»Sieh da, die Frühlingsknospen! Dabei sind wir mitten im Winter!«
Er küßte ihre Lippen. Dann streckte er sich vor dem Feuer aus und zog sie sanft an sich.
Er kam wieder. Er erschien des Abends und scharrte vor der Schwelle, wie sie es verabredet hatten. Sie öffnete ihm geräuschlos, und in der Wärme der kleinen Stube, neben dem abwechselnd gesprächigen, spöttischen und verliebten Gefährten, vergaß sie die Mühen des Alltags. Er berichtete ihr alle Skandale des Hofs und der Stadt. Das machte ihr Spaß, denn sie kannte die meisten Persönlichkeiten, von denen er sprach.
»Ich bin reich durch die Angst der Leute, die mich fürchten«, sagte er.
Aber er hing nicht am Geld. Vergeblich redete sie ihm zu, sich anständiger zu kleiden.
Nach einem guten Mittagessen, das er annahm, ohne auch nur auf den Gedanken zu kommen, nach seiner Börse zu greifen, ließ er sich zuweilen eine ganze Woche nicht sehen, und wenn er abgezehrt, hungrig und lächelnd wieder erschien, fragte sie ihn vergeblich aus. Warum ließ er sich nicht bei Gelegenheit von den verschiedenen Gaunerbanden verköstigen, da er doch in so gutem Einvernehmen mit ihnen stand? Nie hatte man ihn in der Tour de Nesle zu sehen bekommen, wo er als eine der hervorragenden Persönlichkeiten des Pont-Neuf stets willkommen gewesen wäre. Und mit all den Geheimnissen, die er kannte, hätte er gar viele Leute erpressen können.
»Es ist amüsanter, sie weinen und mit den Zähnen knirschen zu sehen«, sagte er.
Nur von den Frauen, die er liebte, nahm er Hilfe an. Wenn eine kleine Blumenverkäuferin, ein Freudenmädchen, eine Magd sich seinen Liebkosungen hingegeben hatte, räumte er ihr das Recht ein, ihn ein bißchen zu verwöhnen. Sie sagten zu ihm: »Iß, mein Kleiner«, und schauten gerührt zu, wie er futterte.
Dann flog er davon. Gleich der Blumenverkäuferin, dem Freudenmädchen oder der Magd hatte Angélique zuweilen das Verlangen, ihn festzuhalten. Wenn sie im warmen Bett neben diesem langen, mageren Körper lag, dessen Umarmungen so feurig und beschwingt waren, legte sie ihren Arm um seinen Hals und zog ihn an sich. Aber schon schlug er die Augen auf und bemerkte, daß es hinter den Butzenscheiben zu tagen begann. Hastig sprang er aus dem Bett und kleidete sich an.
Tatsächlich hielt es ihn nirgends. Er war von einem in seiner Epoche recht ungewöhnlichen Drang besessen, den man zu allen Zeiten teuer bezahlt: dem Drang nach Freiheit.
Und er hatte nicht immer unrecht, so unstet zu sein. Gar oft tauchte, wenn Angélique eben mit dem Anziehen fertig war, ein dunkler Schatten vor den Gitterstäben des offenstehenden Fensters auf.
»Ihr stattet Eure Besuche zu früher Stunde ab, Herr Polizist.«
»Ich komme nicht zu Besuch, Madame. Ich suche einen Pamphletisten.«
»Und Ihr glaubt, ihn in dieser Gegend zu finden?« fragte Angélique ungezwungen, während sie ihren Umhang über die Schultern warf, um sich nach der Schenke zur »Roten Maske« zu begeben.
»Wer weiß?« erwiderte er.
Sie trat aus dem Haus, und Desgray begleitete sie durch die verschneiten Straßen. Der Hund Sorbonne sprang vor ihnen her, und Angélique fühlte sich an die Zeit erinnert, da sie auf gleiche Weise durch Paris gewandert waren. Eines Tages hatte Desgray sie in die Saint-Nicolas-Badestuben mitgenommen. Ein andermal war ihnen der Bandit Calembredaine in den Weg getreten.
Jetzt, da sie einander wiedergefunden hatten, behielt jeder das Geheimnis seiner letztvergangenen Jahre für sich. Angélique machte es nichts aus, daß er von ihrer Arbeit in der Schenke wußte. Er hatte aus nächster Nähe das Schwinden ihres Vermögens miterlebt und mußte daher Verständnis dafür haben, daß sie gezwungen war, von ihrer Hände Arbeit zu leben. Sie wußte, daß er sie deshalb nicht verachtete. Sie konnte die Erinnerung an ihr Zusammenleben mit Calembredaine in ihrem Innern vergraben. Die Jahre waren vergangen. Calembredaine war nicht wieder aufgetaucht. Sie hoffte, daß es ihm gelungen war, aufs Land zu fliehen. Vielleicht hatte er sich mit Wegelagerern zusammengetan? Vielleicht war er auch in die Hände eines Soldatenwerbers gefallen?
Ihr Instinkt sagte ihr, daß sie ihn nicht wiedersehen würde. Sie konnte erhobenen Hauptes ihrem Ziel zustreben. Der Mann, der geschmeidigen Schrittes neben ihr einherging und dem das Schweigen zur Gewohnheit geworden war, hegte ihr gegenüber keinen Argwohn. Auch er hatte sich verändert. Er sprach weniger, und seine Fröhlichkeit war einer Ironie gewichen, die man fürchten lernte. Hinter den harmlosesten Worten schien gar oft eine Drohung verborgen.
Doch Angélique hatte das Gefühl, daß Desgray ihr nie etwas Böses zufügen würde.
Im übrigen wirkte er nicht mehr so arm wie früher. Er hatte schöne Stiefel, und häufig trug er eine Perücke.
Vor der Schenke verabschiedete er sich förmlich von Angélique und setzte seinen Weg fort, während sie noch einen bewundernden Blick zu dem schönen Wirtshausschild hinaufwarf, das ihr Bruder Gontran in leuchtenden Farben für sie gemalt hatte. Es stellte eine in einen karierten Umhang gehüllte Frau dar, deren grüne Augen durch eine rote Maske blitzten. Als Hintergrund hatte der Maler eine Ansicht der Rue de la Vallée-de-Misère mit den wunderlichen Umrissen ihrer zum besternten Himmel aufstrebenden alten Häuser und dem roten Feuerschein ihrer Bratstuben entworfen.
Der Weinausrufer trat, sein Krüglein in der Hand, gerade aus der Herberge.
»Kommet allzumal, Ihr guten Frauen, und kauft den gesunden reinen Wein .!«
Unter dem Geläut der Glocken erwachte die Gasse zu neuem Leben. Und am Abend würde Angélique klingende Geldstücke aufschichten, zählen und in Säckchen schütten, die sodann in dem Geldschrank verstaut werden würden, den Meister Bourgeaud auf ihre Veranlassung gekauft hatte.
In gewissen Abständen stellte sich Audiger ein, um ihr einen Heiratsantrag zu machen. Angélique, die ihre Schokoladenpläne nicht vergaß, empfing ihn mit einem Lächeln.
»Und Euer Patent?«
»In ein paar Tagen ist es soweit!«
Angélique sagte schließlich zu ihm: »Ihr werdet es nie bekommen, Euer Patent!«
»Wirklich, Frau Prophetin? Und weshalb?«
»Weil Ihr auf Monsieur de Guiche baut, den Schwiegersohn Monsieur Séguiers. Nun, Ihr wißt nicht, daß die Ehe Monsieur de Guiches die reine Hölle ist und daß Monsieur Séguier seine Tochter unterstützt. Euer Patent verschimmeln zu lassen, bedeutet für den Kanzler eine willkommene Gelegenheit, seinen Schwiegersohn zu ärgern, und daß er sie weidlich nutzen wird, darauf könnt Ihr Gift nehmen.«
Sie hatte diese Einzelheiten vom Schmutzpoeten erfahren. Aber der verblüffte Audiger erhob lauten Widerspruch. Die Eintragung seines Patents stehe unmittelbar bevor, und der Beweis dafür sei, daß er bereits mit dem Bau seines Ausschanks in der Rue Saint-Honoré angefangen habe.
Als Angélique die Arbeiten besichtigte, stellte sie fest, daß der Haushofmeister sich ihre Ideen zu eigen gemacht hatte: der Raum würde Spiegel und vergoldete Täfelungen haben.
»Ich denke, diese Neuheit wird die Leute anziehen, die für das Aparte Sinn haben«, erklärte Audiger, der völlig vergaß, von wem dieser Gedanke stammte. »Wenn man ein neues Produkt einführen will, braucht man einen neuartigen Rahmen.«
»Und habt Ihr Schritte unternommen, um Euch das besagte Produkt zu beschaffen?«
»Wenn ich erst mein Patent habe, wird sich das von allein ergeben.«
Die junge Frau nutzte diesen ein wenig fahrlässigen Optimismus aus, um sich nach den Möglichkeiten des Imports großer Mengen von Kakao zu erkundigen. Entdeckte sie sie, würde Audiger auf sie angewiesen sein, und sie genoß im voraus ihre Rache.
Aber David konnte den Juden nicht ausfindig machen, bei dem sein Vater die ersten Ladungen aus Martinique gekauft hatte, und so verfiel sie auf einen andern Gedanken. In letzter Zeit war unter den Kaufleuten und Finanzmännern, die die Schenke besuchten, häufig von der Ostindischen Gesellschaft die Rede gewesen, die durch Monsieur Colbert und den König persönlich gefördert wurde und in jenem fernen Lande mit den Holländern und Engländern in Konkurrenz zu treten gedachte.
Eines Abends brachte ihr Claude Le Petit den Text einer Veröffentlichung über diese Gesellschaft, die der König von einem Mitglied der Academie Française hatte abfassen lassen.
»Es ist ein Meisterwerk, meine Liebe. Hör dir das an: >Und welch ein Paradies, dieses Madagaskar! Dort herrscht ein gemäßigtes Klima, die Erde ist vortrefflich und verlangt danach, kultiviert zu werden. Alles ist in Überfülle zu finden. Das Wasser ist bekömmlich, die Früchte sind köstlich, die Goldadern längs der Küsten und auf den Bergen erschließen sich von selbst. Und vor allem: was für Bewohner! Gutmütig, überaus empfänglich für das Evangelium, beglückt, wenn sie die Christen arbeiten sehen!<«
Claude Le Petit hielt inne und erläuterte:
»Was man zweifellos folgendermaßen übersetzen muß: Auf dieser großen Insel krepiert man vor Hitze und am schlechten Wasser der Sümpfe, man steckt Gold in den Boden, der es verschlingt, und die Bewohner sind so faul, daß sie lieber die Weißen arbeiten sehen und zur Messe gehen, als selbst Hand anzulegen .«
Angélique zog ihn an den Haaren.
»Rebell! Warum bei allem immer nur das Schlechte sehen? Sicher läßt sich da etwas herausholen: Zucker, Tabak, Baumwolle und vor allem Kakao. Im Austausch wird man Weine dorthin schicken, Branntwein, Pökelfleisch, Käse ...«
»Vergiß den so einträglichen Sklavenhandel nicht.«
»Der König hat bereits fünf Millionen Livres in die Sache gesteckt.«
»Der König ist nicht dumm, und er hofft, daß seine Untertanen unter einem andern Himmel mehr Geschäftstüchtigkeit entwickeln als im eigenen Lande.«
Angélique schwieg eine Weile, dann stieß sie einen Seufzer aus.
»Ich glaube, ich hätte mich am Ende mit dem König verständigen können«, sagte sie. »Aber es ist zu spät. Jetzt gibt es für mich nur noch den Kampf!«
Angélique legte ihre Feder auf das Tintenglas und überlas befriedigt die Abrechnung, die sie eben abgeschlossen hatte.
Vor kurzer Zeit war sie aus der »Roten Maske« zurückgekehrt, wo sie noch die turbulente Ankunft eines Schwarms junger Edelleute hatte verzeichnen können, deren mit erlesenen Genueser Spitzen besetzte Kleidung wohlgefüllte Börsen vermuten ließ. Sie waren zudem maskiert gewesen, was als weiterer Beweis für ihren hohen Rang gelten mochte. Gewisse Persönlichkeiten des Hofs zogen es vor, ihr Inkognito zu wahren, um sich in den Schenken ungezwungener vom Joch der Etikette erholen zu können.
Wie häufig in letzter Zeit, hatte die junge Frau es Meister Bourgeaud, David und ihren Gehilfen überlassen, sie zu empfangen. Jetzt, da der Ruf des Hauses gefestigt war, trat sie seltener in Erscheinung und widmete ihre Zeit hauptsächlich den Einkäufen und der Geschäftsführung des Unternehmens.
Man befand sich gegen Ende des Jahres 1664. Ganz allmählich hatte sich eine Entwicklung vollzogen, die vor drei Jahren kein Mensch in der Rue de la Vallée-de-Misère für möglich gehalten hätte. Wenn sie Maître Bourgeaud auch noch nicht das Haus abgekauft hatte, wie sie es insgeheim beabsichtigte, war Angélique sozusagen doch die eigentliche Inhaberin des Unternehmens geworden. Der Bratkoch blieb Besitzer, aber sie übernahm alle Unkosten und hatte entsprechend ihren Gewinnanteil erhöht. Genau besehen, war es jetzt Meister Bourgeaud, der einen Prozentsatz des Überschusses bekam und sich nun glücklich schätzte, jeglicher Sorge ledig zu sein, in seiner eigenen Gastwirtschaft ein fettes Leben führen und sich außerdem für seine alten Tage noch einen guten Batzen zurücklegen zu können. Angélique durfte so viel Geld anhäufen, wie sie wollte. Meister Bourgeaud kam es einzig darauf an, unter ihren Fittichen zu bleiben, von ihrer wachen, tatkräftigen Zuneigung umhegt zu sein. Zuweilen, wenn er von ihr sprach, sagte er »mein Kind«, und das mit so viel Überzeugung, daß viele Gäste der »Roten Maske« an ihre Verwandtschaft glaubten.
Zur Melancholie neigend und stets von seinem nahe bevorstehenden Ende überzeugt, erzählte er jedem, der es hören wollte, er habe, ohne seinen eigenen Neffen zu vergessen, in seinem Testament Angélique reichlich bedacht. Und es schien höchst unwahrscheinlich, daß David gegen die von seinem Onkel getroffenen Verfügungen zugunsten einer Frau, der er sich noch immer völlig unterordnete, Einwände erheben würde. Er wurde im übrigen allmählich ein recht hübscher Bursche, war sich dessen durchaus bewußt und gab im Vertrauen auf die bei der Polackin gewonnenen Erfahrungen die Hoffnung nicht auf, diejenige zu seiner Geliebten zu machen, die er anbetete.
Angélique entgingen Davids Fortschritte auf dem Gebiet der Liebeskunde nicht. Sie ermaß sie an ihren eigenen Reaktionen, denn wenn die Unbeholfenheit des Jünglings sie früher zum Spott gereizt hatte, verursachten ihr jetzt gewisse Blicke ein leicht beunruhigendes Vergnügen. Sie faßte ihn weiterhin hart an wie einen jüngeren Bruder, aber in ihre spitzen Bemerkungen mischte sich, wie sie zuweilen feststellte, eine leise Spur von Koketterie. Immerhin brauchte sie David ja auch. David war einer der Pfeiler, auf denen der Erfolg ihrer zukünftigen Unternehmungen ruhte. Der andere war Audiger, und auch den mußte man sich warmhalten, diesen sehr viel ernsthafter entflammten Liebhaber, dessen betonte Zurückhaltung auf ein immer mehr sich vertiefendes Gefühl schließen ließ. Bei ihm fürchtete sie ein wenig die Hartnäckigkeit des gereiften Mannes, der über das Alter der Liebeleien hinaus ist, ohne dasjenige der Leidenschaften gekannt zu haben. Dieser gesetzte Bürger, Bedienter ohne jeden niedrigen Zug, ehrlich, beherzt und vernünftig wie andere blond oder braun sind, würde sich nicht foppen lassen.
Angélique schüttelte den Sand von dem Blatt, auf dem sie ihre Abrechnung gemacht hatte. Sie lächelte nachsichtig.
»Da lebe ich nun zwischen meinen drei Köchen, die zärtliche Gefühle für mich hegen, jeder auf seine Art. Ob das der Beruf mit sich bringt? Die Hitze des Herdfeuers läßt ihr Herz schmelzen wie das Fett der Truthähne.«
Javotte kam herein, um ihr beim Auskleiden be-hilflich zu sein.
»Was ist denn das für ein Geräusch an der Haustür?« forschte Angélique.
»Ich weiß nicht. Es klingt, als nage eine Ratte am Holz.«
Die junge Frau trat in den Vorplatz hinaus und stellte fest, daß das Geräusch nicht vom unteren Teil der Tür, sondern von dem kleinen Guckloch auf halber Höhe kam. Sie schob das Brettchen zurück und stieß einen leisen Schrei aus, denn sofort hatte sich eine kleine, schwarze Hand durch das Gitter der Öffnung gezwängt und sich verzweifelt nach ihr ausgestreckt.
»Es ist Piccolo!« riefJavotte aus.
Angélique öffnete die Tür, und der Affe stürzte sich in ihre Arme.
»Was hat denn das zu bedeuten? Er ist noch nie allein hierhergekommen. Man könnte meinen . ja, tatsächlich, man könnte meinen, er habe sich von seiner Kette losgerissen.« Beunruhigt trug sie das Tierchen in ihr Zimmer und setzte es behutsam auf den Tisch.
»O lala!« rief die Magd lachend aus. »Der ist ja in einem netten Zustand! Sein Fell ist ganz verklebt und rot. Er muß in Wein gefallen sein.«
Angélique, die Piccolo streichelte, roch an ihren geröteten Fingern und fühlte sich alsbald schreckensbleich werden.
»Das ist kein Wein«, sagte sie, »es ist Blut!«
»Ist er verletzt?«
»Ich will mal sehen.«
Sie streifte ihm Jäckchen und Höschen ab, die beide blutdurchtränkt waren. Indessen zeigte das Tier keinerlei Spuren einer Verletzung, obwohl es von krampfartigen Zuckungen geschüttelt wurde.
»Was hast du, Piccolo?« fragte Angélique leise. »Was ist denn geschehen, mein kleines Kerlchen? Erklär mir’s doch!«
Der Affe sah sie mit seinen traurigen, weitaufge-rissenen Augen an. Plötzlich machte er einen Satz, erwischte ein Kästchen mit Siegellack und begann, höchst würdevoll auf und ab zu schreiten, indem er das Kästchen vor sich hertrug.
»O dieser Schelm!« riefJavotte aus und lachte schallend. »Erst jagt er uns einen ordentlichen Schrecken ein, und nun ahmt er Linot mit seinem Oblatenkorb nach. Ist das nicht zum Verwundern, Madame? Genau wie Linot, wenn er auf seine anmutige Art seinen Korb anbietet.«
Aber nachdem das Tierchen eine Runde um den Tisch gemacht hatte, schien es abermals von Unruhe erfaßt zu werden. Es schaute sich um und wich zurück. Sein Mund zog sich zu einem zugleich kläglichen und ängstlichen Ausdruck zusammen. Es hob das Gesicht nach rechts, dann nach links. Es war, als wende es sich flehend an irgendeine unsichtbare Person. Schließlich schien es sich zu wehren, zu kämpfen. Es ließ das Kästchen los, preßte beide Hände gegen seinen Bauch und fiel mit einem schrillen Schrei auf den Rücken.
»Was hat er denn nur? Was hat er nur?« stammelte Javotte bestürzt. »Ist er krank? Ist er verrückt geworden?«
Doch Angélique, die das Treiben des Affen aufmerksam beobachtet hatte, ging raschen Schrittes zum Kleiderrechen, nahm ihren Umhang ab und ergriff ihre Maske.
»Ich glaube, Linot ist etwas zugestoßen«, sagte sie mit tonloser Stimme. »Ich muß hinübergehen.«
»Ich begleite Euch, Madame.«
»Wenn du willst. Du kannst die Laterne tragen. Bring erst den Affen zu Barbe hinauf, damit sie ihn säubert, wärmt und ihm Milch zu trinken gibt.«
Trotz der beruhigenden Worte, die Javotte ihr unterwegs zuflüsterte, zweifelte Angélique keinen Augenblick, daß Piccolo einer fürchterlichen Szene beigewohnt hatte. Aber die Wirklichkeit übertraf ihre schlimmsten Ahnungen. Als sie auf den Quai des Tanneurs einbog, wäre sie fast von einem verstört dreinblickenden jungen Burschen umgerannt worden. Es war Flipot.
Sie packte ihn bei den Schultern und schüttelte ihn, um ihn zu klarer Besinnung zu bringen.
»Ich wollte dich holen, Marquise der Engel«, stammelte der Junge. »Sie haben ... sie haben Linot umgebracht!«
»Wer sie?«
»Sie ... Jene Männer, die Gäste.«
»Weshalb? Was ist geschehen?«
Der arme Küchenjunge schluckte und berichtete dann überstürzt, als ob er eine auswendig gelernte Lektion aufsage:
»Linot war auf der Straße mit seinem Korb. Er sang: >Oblaten! Oblaten! Wer kauft Oblaten .. .?< Er sang wie jeden Abend. Einer der Gäste, die bei uns waren, einer von den maskierten Edelleuten in Spitzenkragen, sagte: Welch hübsche Stimme! Ich verspüre Lust auf Oblaten. Man bringe den Verkäufer her.< Linot kam, und der Edelmann sagte: >Beim heiligen Dionysius, dieser Junge ist ja noch verführerischer als seine Stimme!< Er nahm Linot auf die Knie und küßte ihn ab. Andere kamen dazu und wollten ihn auch küssen ... Sie waren alle blau wie die Märzveilchen ... Schließlich packten sie Linot und wollten ihm die Hose ausziehen . Er ließ seinen Korb fallen und fing an zu schreien und ihnen Fußtritte zu versetzen. Der Edelmann, der ihn zuerst hatte haben wollen, zog seinen Degen und bohrte ihn ihm in den Leib. Linot sank zusammen .«
»Ist Meister Bourgeaud denn nicht eingeschritten?«
»Doch, aber sie haben ihn entmannt.«
»Wie? Was sagst du? Wen haben sie .?«
»Meister Bourgeaud. Als er Linot schreien hörte, ist er aus der Küche gekommen. Er sagte: >Messeigneurs! Nicht doch! Messeigneurs!< Aber sie sind über ihn hergefallen. Sie lachten und verprügelten ihn und riefen: >Alter Säufer! Dickes Faß!< Wider meinen Willen hab’ ich schließlich lachen müssen. Und dann hat einer gesagt: >Ich erkenne ihn, er ist der ehemalige Wirt des »Kecken Hahns« ...< Ein anderer sagte: >Für einen Hahn bist du nicht sonderlich keck, ich werde einen Kapaun aus dir machen.< Er nahm ein großes Fleischmesser, sie alle fielen von neuem über ihn her und haben ihm . was abgeschnitten.«
Der Junge machte eine Bewegung, die keinen Zweifel über die Art der Verstümmelung zuließ, deren Opfer der arme Bratkoch geworden war.
»David haben sie eins mit dem Degen über den Kopf gegeben, als er sie aufhalten wollte, und wir andern haben uns schleunigst aus dem Staube gemacht.«
Die Rue de la Vallée-de-Misère bot beinahe den üblichen Anblick. Sie war, wie immer in dieser Karnevalszeit, sehr belebt, und aus den von zahlreichen Gästen besetzten Bratstuben erscholl fröhlicher Gesang und Gläserklirren. An ihrem Ende jedoch hatte sich vor der »Roten Maske« eine ungewöhnliche Anhäufung von weißen Gestalten mit hohen Mützen zusammengefunden. Die benachbarten Bratköche und ihre Küchenjungen standen, mit Spicknadeln und Bratenwendern bewaffnet, aufgeregt gestikulierend vor der Schenke.
»Wir wissen nicht, was wir tun sollen!« rief einer von ihnen Angélique zu. »Diese Teufel haben die Tür mit Bänken verrammelt. Und sie haben eine Pistole .«
»Man muß die Polizei holen.«
»David ist schon hingelaufen, aber .«
Der Wirt vom »Gerupften Kapaun«, dem Nachbarlokal der »Roten Maske«, fuhr mit gedämpfter Stimme fort:
». er wurde in der Rue de la Triperie von Lakaien aufgehalten. Sie erzählten ihm, die Gäste, die sich im Augenblick in der >Roten Maske< befänden, seien sehr hochmögende Edelleute, Persönlichkeiten aus der nächsten Umgebung des Königs. Die Polizei werde ein komisches Gesicht machen, wenn sie sich in diese Geschichte hineingezogen sähe. David ist trotzdem zum Châtelet gelaufen, aber die Lakaien hatten bereits die Wachen verständigt, und er bekam zur Antwort, daß er gefälligst selbst sehen solle, wie er mit seinen Gästen fertig werde.«
Aus der Schenke zur »Roten Maske« drang fürchterlicher Lärm: viehisches Gelächter, johlender Gesang und ein so wildes Geschrei, daß sich den biederen Bratköchen die Haare unter ihren Mützen sträubten.
Da auch vor den Fenstern Tische und Bänke aufgetürmt worden waren, konnte man nicht erkennen, was im Innern vorging, aber das Klirren zerschmetterten Geschirrs war zu hören und von Zeit zu Zeit der trockene Knall einer Pistole. Offenbar nahmen sich die Herren die schönen Karaffen aus kostbarem Glas zum Ziel, mit denen Angélique ihre Tische und den Kaminsims geschmückt hatte.
Angélique entdeckte David. Er war ebenso bleich wie seine Schürze und trug eine Binde um die Stirn, durch die Blut sickerte.
Stammelnd vervollständigte er den Bericht Flipots über die grausigen Saturnalien: Die Edelleute hatten sich von Anfang an sehr herausfordernd benommen.
Sie waren sichtlich schon bei ihrer Ankunft betrunken gewesen.
Zuerst hatten sie eine Schüssel mit fast kochend heißer Suppe über den Kopf eines der Küchenjungen gestülpt. Dann hatte man die größte Mühe gehabt, sie aus der Küche zu vertreiben, wo sie sich Suzannes hatten bemächtigen wollen, die wahrhaftig eine wenig verlockende Beute darstellte. Schließlich war die Geschichte mit Linot passiert, dessen reizendes Gesicht üble Gelüste in ihnen geweckt hatte .
»Komm«, sagte Angélique und packte den Jüngling beim Arm. »Wir müssen nachschauen. Ich gehe durch den Hof.«
Zwanzig Hände suchten sie zurückzuhalten.
»Bist du denn verrückt? Sie werden dich aufspießen! Das sind doch Wölfe ...!«
»Vielleicht kommen wir noch zurecht, um Linot und Meister Bourgeaud zu retten.«
»Warte. Wir gehen hinein, wenn sie zu schnarchen anfangen.«
»Bis dahin werden sie alles zerschlagen und in Brand gesteckt haben!«
Sie riß sich los, trat mit David in den Hof und von dort in die Küche. David hatte, bevor er mit den übrigen Dienstboten geflüchtet war, die in die Gaststube führende Tür sorgsam verriegelt. Angélique stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. So waren wenigstens die hier untergebrachten beträchtlichen Vorräte nicht der Zerstörungswut der Elenden zum Opfer gefallen.
Mit Hilfe des jungen Mannes schob sie einen Tisch an die Wand, kletterte hinauf und spähte durch das in halber Höhe angebrachte Fenster in die verwüstete Gaststube, deren Fußboden zerbrochenes Geschirr und beschmutzte Tischtücher bedeckten. Die Schinken und Hasen waren von den Haken gerissen und mit kräftigen Fußstößen durch den Raum getrieben worden. Die obszönen Worte ihrer Lieder, ihre Flüche, ihre Lästereien waren jetzt deutlich zu verstehen.
Die meisten von ihnen hockten um einen Tisch am Kamin. Ihre Haltung und die immer schläfriger klingenden Stimmen verrieten, daß sie bald einnicken würden. Der Anblick der lallend klaffenden Münder unter den schwarzen Masken hatte etwas Unheimliches. Ihre prächtigen Gewänder waren von Wein und Soße und vielleicht auch von Blut befleckt.
Angélique bemühte sich, die Körper Linots und des Bratkochs zu entdecken, aber der hintere Teil der Stube lag im Halbdunkel, da die Leuchter umgeworfen worden waren.
»Wer hat sich zuerst an Linot vergriffen?« fragte sie leise.
»Der kleine Mann dort an der Ecke des Tischs, der mit den vielen rosafarbenen Bändern am grünen Rock. Der hat den Anstoß gegeben und die andern ermuntert.«
Im selben Augenblick richtete sich der Bezeich-nete mühsam auf, hob sein Glas und rief mit Fistelstimme:
»Ihr Herren, ich trinke auf das Wohl Asträas und Asmodis, der Hüter der Freundschaft!«
»Oh, diese Stimme!« rief Angélique und zuckte unwillkürlich zurück. Sie hätte sie unter Tausenden erkannt. Es war die Stimme, die sie zuweilen noch immer in ihren schlimmsten Alpträumen hörte: »Madame, Ihr werdet sterben .!«
So war er es also - immer er. Hatte ihn denn die Hölle auserkoren, in Angéliques Leben den Dämon des Bösen zu verkörpern?
»Der ist es auch, nicht wahr, der Linot den ersten Degenstich versetzt hat?«
»Ja, und danach der Große dort hinten in der roten Kniehose.«
Auch der brauchte seine Maske nicht abzunehmen, damit sie ihn wiedererkannte. Der Bruder des Königs! Der Chevalier de Lorraine! Und nun wußte sie, daß sie jede dieser maskierten Gestalten mit ihrem Namen benennen konnte!
Plötzlich begann einer der Trunkenbolde, die Stühle und Schemel ins Feuer zu werfen. Ein anderer ergriff eine Flasche und warf sie durch den Raum. Sie zerbarst im Feuer. Es war Branntwein. Eine mächtige Flamme schoß in die Höhe und erfaßte alsbald die Möbel. Ein Höllenfeuer prasselte im Kamin, und glühende Holzteile fielen auf den Boden.
Angélique sprang vom Tisch herunter. »Sie werden das Haus in Brand setzen. Man muß ihnen Einhalt gebieten!«
Aber der Gehilfe hielt sie fest. »Ihr dürft nicht hineingehen. Sie werden Euch umbringen!«
Sie rangen eine Weile verbissen und stumm, und da der Zorn und die Angst vor dem Feuer ihre Kraft verzehnfachten, gelang es ihr, sich loszureißen und David zurückzustoßen. Überdies schien der gute Junge in der Berührung mit diesem so ersehnten Körper seine ganze Energie zu verlieren.
Um nicht erkannt zu werden, setzte Angélique ihre Maske auf, dann schob sie entschlossen die Riegel zurück und öffnete geräuschvoll die Küchentür. Das plötzliche Auftauchen dieser in einen schwarzen Umhang gehüllten und so seltsam maskierten Frau rief unter den Zechern einige Verblüffung hervor.
»Oh, die rote Maske!«
»Ihr Herren«, rief Angélique mit bebender Stimme, »habt Ihr den Verstand verloren? Fürchtet Ihr den Zorn des Königs nicht, wenn die Kunde von Euren Verbrechen zu ihm dringt .?«
An dem betretenen Schweigen erkannte sie, daß sie das einzige Wort ausgesprochen hatte, das in die umnebelten Köpfe der Trunkenbolde zu dringen und dort einen Funken Klarsicht zu erzeugen vermochte: der König!
Sie nutzte ihren Vorteil und wagte sich beherzt weiter vor. Ihr Ziel war, bis zur Feuerstätte zu gelangen und die brennenden Möbel herauszuholen, um die Glut zu mindern und damit der Gefahr eines Kaminbrandes zu begegnen.
Doch da erblickte sie unter dem Tisch den verstümmelten Körper Meister Bourgeauds. Neben ihm lag mit aufgerissenem Leib und schneeweißem Engelsgesicht der Knabe Linot. Ihrer beider Blut vermischte sich mit den Weinlachen, die sich überall gebildet hatten.
Das Grausige dieses Anblicks lähmte sie für eine Sekunde, und wie ein Dompteur, der, von panischer Angst ergriffen, einen Moment seine Raubtiere aus den Augen läßt, verlor sie die Gewalt über die Meute. Das genügte, sie aufs neue zu entfesseln.
»Eine Frau! Eine Frau!«
»Das ist’s, was wir brauchen!«
Eine brutale Hand fuhr auf ihren Nacken nieder. Sie erhielt einen heftigen Schlag gegen die Schläfe. Es wurde ihr schwarz vor Augen. Sie wußte nicht mehr, wo sie war .
Irgendwo stieß eine weibliche Stimme einen langen, gellenden Schrei aus.
Sie merkte, daß sie es war, die da schrie. Ausgestreckt lag sie auf dem Tisch, und die schwarzen Masken beugten sich in glucksendem Gelächter über sie. Eiserne Fäuste hielten ihre Hand- und Fußgelenke fest. Ihre Röcke wurden ungestüm hochgestreift.
»Wer ist der erste? Wer macht sich an das Frauenzimmer?«
Sie schrie, wie man in Alpträumen schreit, in einem Paroxysmus von Entsetzen und Verzweiflung.
Ein Körper fiel schwer auf sie nieder. Ein vor Lachen zuckender Mund preßte sich auf ihre Lippen.
Dann trat jäh eine so tiefe Stille ein, daß Angélique glaubte, sie habe abermals das Bewußtsein verloren. Doch dem war nicht so. Die entfesselten Männer waren wie durch ein Wunder verstummt und stierten auf etwas am Boden, das Angélique nicht sah.
Der, der einen Augenblick zuvor auf den Tisch geklettert war und sie hatte vergewaltigen wollen, war hastig zur Seite gewichen. Angéliques Arme und Beine waren wieder frei. Sie richtete sich auf und schob ihre langen Röcke hinunter. Sie begriff nicht, welcher Zauberstab die Rasenden versteinert hatte.
Langsam ließ sie sich auf den Boden gleiten, und da erblickte sie den Hund Sorbonne, der den kleinen Mann in der grünen Kniehose zu Fall gebracht hatte und mit seinen Fangzähnen an der Gurgel hielt. Die Dogge war durch die Küchentür hereingekommen und hatte rasch wie der Blitz zugepackt.
Einer der Wüstlinge stammelte: »Ruft Euren Hund zurück . Wo . Wo ist die Pistole?«
»Rührt Euch nicht von der Stelle!« fuhr sie ihn an. »Wenn sich ein einziger von Euch rührt, befehle ich diesem Tier, den Bruder des Königs zu erwürgen!«
Ihre Beine zitterten wie die eines überrittenen Pferdes, aber ihre Stimme war klar.
»Ihr Herren, rührt Euch nicht«, wiederholte sie, »sonst werdet Ihr alle dem König gegenüber die Verantwortung für diesen Tod tragen.«
Sodann beugte sie sich ruhig über Sorbonne. Die Dogge hielt ihr Opfer fest, wie Desgray es ihr beigebracht hatte. Ein einziges Wort, und die stählernen Kiefer würden dieses schwammige Fleisch, diese Knochen zermalmen. Der Kehle des Monsieur d’Orléans entwich ein ersticktes Röcheln. Sein Gesicht hatte sich violett verfärbt.
»Warte«, sagte Angélique leise auf deutsch.
Sorbonne wedelte leicht mit dem Schwanz, um zu zeigen, daß er verstand. Rings um sie her verharrten die Urheber der Orgie regungslos in der Haltung, in der sie das Erscheinen des Hundes überrascht hatte. Sie waren alle viel zu betrunken, um zu begreifen, was vorging. Sie sahen nur, daß Monsieur, der Bruder des Königs, in Gefahr war, und das genügte, sie in tödlichen Schrecken zu versetzen.
Ohne sie aus den Augen zu lassen, öffnete Angélique eine der Tischschubladen, nahm ein Messer und näherte sich dem Mann im roten Rock, der zurückweichen wollte.
»Rührt Euch nicht!« sagte sie in drohendem Ton. »Ich will Euch nicht töten. Ich will nur wissen, wie ein Mörder in Spitzen aussieht.«
Und mit einer raschen Bewegung durchschnitt sie das Band, das die Maske des Chevaliers de Lorraine festhielt. Nachdem sie in das bestialische Gesicht geblickt hatte, das sie seit jener unvergeßlichen Nacht im Louvre nur zu gut kannte, tat sie bei den andern das gleiche.
Sie befanden sich im letzten Stadium der Trunkenheit und waren zu keinem Widerstand fähig. Und sie erkannte sie alle, alle: Brienne, den Marquis d’Olone, den schönen de Guiche, dessen Bruder Louvigny, und als sie einen entdeckte, der eine spöttische Grimasse schnitt und murmelte: »Schwarze Maske gegen rote Maske«, war es Péguillin de Lauzun.
Sie gewahrte auch Saint-Thierry und Frontenac, und ein bitteres Haßgefühl überkam sie, als sie in einem auf dem Boden schnarchenden Edelmann den Marquis de Vardes erkannte.
Ach, die hübschen jungen Leute des Königs! Einstmals hatte sie ihr schillerndes Gefieder bewundert, aber die Wirtin der »Roten Maske« sah nur das Bild ihrer verworfenen Seelen.
Nur drei unter ihnen waren ihr unbekannt. Der letzte indessen weckte eine undeutliche Erinnerung in ihr, die sie nicht präzisieren konnte.
Es war ein hochgewachsener, breitschultriger Bursche mit einer prächtigen, goldblonden Perücke. Nicht ganz so betrunken wie die andern, lehnte er an einem Pfeiler der Gaststube und tat, als poliere er sich die Nägel. Als Angélique auf ihn zutrat, wartete er nicht ab, bis sie das Band seiner Maske durchschnitt, sondern löste es mit einer anmutigen und lässigen Geste selbst. Seine hellblauen Augen hatten einen eisigen, geringschätzigen Ausdruck. Er machte sie unsicher. Die nervöse Gespanntheit, die sie aufrecht hielt, verlor sich. Bleierne Müdigkeit überkam sie, und der Schweiß rann ihr von den Schläfen, denn die Hitze im Raum war unerträglich geworden.
Sie kehrte zu Sorbonne zurück und faßte die Dogge beim Halsband, um sie zu veranlassen, ihr Opfer freizugeben. Sie hatte gehofft, Desgray werde auftauchen, aber sie blieb allein und verlassen zwischen diesen gefährlichen Phantomen. Das einzige Wesen, das ihr wirklich erschien, war Sorbonne.
»Steht auf, Monseigneur«, sagte sie mit müder Stimme. »Und nun geht. Ihr habt genug Unheil angerichtet.«
Schwankend machten sich die Höflinge davon und schleppten ihre beiden bewegungsunfähigen Genossen, den Marquis de Vardes und den Bruder des Königs, mit sich. Ihre Masken preßten sie, so gut es gehen wollte, mit den Händen vor die Gesichter, denn auf der Straße mußten sie auch noch mit den Degen die Bratspieße der Köche abwehren, die sie mit zornigen und empörten Rufen verfolgten.
Sorbonne beschnupperte das Blut und knurrte mit hochgezogenen Lefzen. Angélique drückte den Körper des kleinen Oblatenverkäufers an sich und streichelte seine reine und kalte Stirn. »Linot! Linot! Mein süßer, kleiner Junge ... mein armes, kleines Unglückswürmchen .«
Von draußen kommendes Geschrei riß sie aus ihrer Verzweiflung.
»Feuer! Feuer!«
Der Kaminbrand war ausgebrochen und hatte den Dachstuhl erfaßt. Trümmer prasselten auf die Feuerstätte, und dicker Rauch quoll erstickend in die Gaststube.
Mit Linot auf dem Arm rannte sie aus dem Raum. Die Straße war taghell erleuchtet. Gäste und Köche machten einander entsetzt auf den Flammenkranz aufmerksam, der das Dach des alten Hauses krön-te. Funkengarben regneten auf die benachbarten Dächer.
Man lief zur nahen Seine, um in aller Eile eine Eimerkette zu organisieren. Aber man mußte das Wasser in den beiden Nachbarhäusern hochtragen, denn die Treppe der »Roten Maske« stürzte ein.
Zusammen mit David hatte Angélique noch einmal in die Gaststube vordringen wollen, um den Leichnam Meister Bourgeauds zu holen, aber durch den Rauch waren sie zum Rückzug gezwungen worden. Doch konnten sie über den Hof die Küche erreichen und alles in Sicherheit bringen, was sie vorfanden.
Unterdessen erschienen die Kapuziner, von der Menge mit Beifall begrüßt. Das Volk hatte eine Vorliebe für diese Mönche, die ihre Ordensregel verpflichtete, bei Feuersbrünsten Hilfe zu leisten. Sie brachten Leitern und eiserne Haken mit, dazu große Spritzen aus Blei, die den Zweck hatten, in weite Entfernung kräftige Wasserstrahlen zu werfen.
Rührig krempelten sie die weiten Ärmel ihrer Kutten auf und drangen, unbekümmert um die brennenden Holzstücke, die auf ihre Schädel fielen, in die Nachbarhäuser ein. Gleich darauf sah man sie in schwindelnder Höhe obenauf den Dächern erscheinen und ihre Feuerhaken schwingen. Dank ihrem wirkungsvollen Eingreifen wurde das brennende Haus in kurzer Frist isoliert, und da kein Wind ging, griff der Brand nicht auf die umliegenden Häuser über. Man hatte schon eine jener großen Feuersbrünste befürchtet, von denen die Stadt mit
ihren dicht zusammengedrängten alten Holzhäusern in jedem Jahrhundert zwei- bis dreimal heimgesucht zu werden pflegte.
Eine große, mit Schutt und Asche angefüllte Lücke gähnte an der Stelle, an der vor wenigen Stunden noch die fröhliche Schenke zur »Roten Maske« gestanden hatte, aber das Feuer war erloschen.
Mit geschwärzten Wangen starrte Angélique auf die Stätte ihrer Hoffnungen. Neben ihr hielt sich regungslos der Hund Sorbonne.
»Wo ist Desgray? Ach, ich möchte mit ihm sprechen«, dachte Angélique. »Er wird mir sagen, was ich tun soll.«
Sie nahm den Hund am Halsband.
»Führ mich zu deinem Herrn.«
Sie brauchte nicht weit zu gehen. Nach ein paar Schritten erkannte sie im Dunkel eines Torbogens den Hut und den weiten Mantel des Polizisten, der friedlich seinen Tabak rieb.
»Guten Abend«, sagte er mit seiner ruhigen Stimme. »Üble Nacht, nicht wahr?«
»Ihr wart da!« rief Angélique fassungslos aus. »Zwei Schritte entfernt? Und Ihr seid nicht gekommen?«
»Weshalb hätte ich kommen sollen?«
»Habt Ihr mich nicht schreien hören?«
»Ich wußte nicht, daß Ihr es wart, Madame.«
»Das ist doch gleichgültig! Es war eine Frau, die schrie.«
»Ich kann nicht allen schreienden Frauen zu Hilfe eilen«, sagte Desgray in scherzhaftem Ton. »Freilich, wenn ich gewußt hätte, daß es sich um Euch handelt, Madame, wäre ich gekommen, das könnt Ihr mir glauben.«
»Ich bezweifle es!«
Desgray seufzte. »Habe ich nicht schon einmal Euretwegen mein Leben und meine Karriere aufs Spiel gesetzt? Warum sollte ich’s da nicht auch ein zweites Mal tun. Ihr seid leider in meinem Leben eine bedauerliche Gewohnheit geworden, und ich fürchte sehr, daß mich das eines Tages trotz meiner angeborenen Besonnenheit um Kopf und Kragen bringen wird.«
»Sie haben mich auf dem Tisch festgehalten ... Sie wollten mich vergewaltigen.«
»Nun und? Sie hätten Schlimmeres tun können.«
Angélique fuhr sich verwirrt über die Stirn.
»Das stimmt! Sie hätten Schlimmeres tun können. Und dann ist Sorbonne gekommen ... zur rechten Zeit.«
»Ich habe immer großes Vertrauen in die Initiative dieses Hundes gesetzt.«
»Habt Ihr ihn geschickt?«
»Freilich.«
Angélique stieß einen tiefen Seufzer aus und lehnte in einer unwillkürlichen, aus dem Gefühl der Schwäche und des Bedauerns geborenen Bewegung ihre Wange an die rauhe Schulter des jungen Mannes.
»Danke.«
»Wißt Ihr«, fuhr Desgray in jenem gleichmütigironischen Tone fort, der Angélique zugleich aufbrachte und beruhigte, »ich gehöre nur zum Schein der Staatspolizei an. Ich bin in erster Linie Polizist des Königs, und es ist nicht meine Sache, die reizvollen Vergnügungen unserer Edelleute zu stören. Und habt Ihr denn noch nicht genug Erfahrungen gesammelt, meine Liebe, um zu wissen, in was für einer Welt Ihr lebt? Jedermann geht mit der Mode. Die Völlerei ist ein Scherz, die zur Ausschweifung gesteigerte Sinnenlust eine harmlose Wunderlichkeit, die bis zum Verbrechen getriebene Orgie ein angenehmer Zeitvertreib. Tagsüber sind’s Bücklinge bei Hofe, in der Nacht Liebe, Spielhäuser, Schenken. Ist das nicht auch eine hübsche Art zu leben? Ihr irrt Euch, wenn Ihr glaubt, daß diese Leute gefährlich seien. Ihre kleinen Amüsements sind doch so harmlos. Der wirkliche Feind, der schlimmste Feind des Königreichs, ist derjenige, der durch ein Wort ihre Macht brechen kann: der Pamphletist. Und ich, ich spüre den Pamphletisten nach.«
»Nun, Ihr könnt Euch auf die Jagd machen«, sagte Angélique mit zusammengepreßten Zähnen, »denn ich kann Euch Arbeit versprechen.«
Plötzlich war ihr ein Gedanke gekommen. Sie wandte sich ab, entfernte sich einige Schritte, kam jedoch wieder zurück.
»Es waren dreizehn. Von dreien kenne ich die Namen nicht. Ihr müßt sie mir verschaffen.«
Der Polizist nahm seinen Hut ab und verbeugte sich.
»Zu Euren Diensten, Madame«, sagte er im Tonfall und mit dem Lächeln des ehemaligen Advokaten Desgray.
Angélique stöberte Claude Le Petit in einem Heukahn in der Gegend des Arsenals auf. Sie weckte ihn und berichtete ihm die Ereignisse der vergangenen Nacht. Die Mörder in Spitzen hatten abermals ihr Leben verheert, so gründlich, wie eine Armee von Marodeuren das Land verheert, das sie durchquert.
»Du mußt mich rächen«, sagte sie mit fiebrig glänzenden Augen. »Du allein kannst mich rächen. Du allein, denn du bist ihr schlimmster Feind. Desgray hat es gesagt.«
Der Poet gähnte und rieb sich schlaftrunken die Augen.
»Was bist du für eine wunderliche Frau!« sagte er schließlich. »Warum duzt du mich mit einemmal?«
Er schlang seinen Arm um ihre Taille und wollte sie an sich ziehen, aber sie riß sich ungeduldig los.
»Hör mir zu!«
»In fünf Minuten wirst du mich Strolch titulieren. Du bist nicht mehr das kleine Gaunermädel, sondern eine große Dame, die Befehle erteilt. Schön: Ich stehe zu Euren Diensten, Marquise. Im übrigen habe ich alles genau verstanden. Wer soll zuerst drankommen? Brienne? Ich erinnere mich, daß er Mademoiselle de La Vallière den Hof gemacht und davon geträumt hat, sie als büßende Magdalena malen zu lassen. Seitdem ist er dem König ein Dorn im Auge. Da werden wir also Seiner Majestät mit Brienne das Mittagessen würzen.«
Er wandte sein hübsches, bleiches Gesicht der aufgehenden Sonne zu.
»Ja, zum Mittagessen, das wird zu machen sein. Meister Gilberts Druckpresse sputet sich immer, wenn es gilt, meine gegen die Machthaber gerichteten Giftpfeile zu vervielfältigen. Hab’ ich dir erzählt, daß Meister Gilberts Sohn vor Zeiten eines geringfügigen Vergehens wegen zur Galeere verurteilt wurde? Das ist heute von Vorteil für uns.«
Der Schmutzpoet zog aus seiner Rocktasche einen alten, abgenutzten Gänsekiel hervor und begann zu schreiben.
Der Morgen dämmerte. Die Glocken der Kirchen und Klöster läuteten munter das Angelus.
Gegen Mittag durchschritt der König, nachdem er in der Kapelle die Messe gehört hatte, das Vorzimmer, wo ihn die Bittsteller mit ihren Gesuchen erwarteten. Er bemerkte, daß der Fußboden mit weißen Blättern besät war, die ein Lakai hastig aufsammelte, als habe er sie eben erst entdeckt. Doch als er die Treppe hinabstieg, die zu seinen Gemächern führte, begeg-nete er der gleichen Unordnung, weshalb er seinem Mißfallen Ausdruck verlieh.
»Was soll das? Es regnet hier Flugblätter wie im Herbst Laub auf dem Cours-la-Reine. Bringt mir das einmal her.«
»Majestät«, warf der Herzog von Crequi verlegen ein, »diese Elaborate sind völlig uninteressant .«
»Ich kann mir schon denken, was es ist!« sagte der König, der ungeduldig die Hand ausstreckte. »Wieder eine der Schmierereien dieses verdammten Schmutzpoeten vom Pont-Neuf, der wie ein Aal den Händen der Büttel entgleitet und seinen Unflat sogar bis in meinen Palast trägt. Gebt her, ich bitte Euch ... Ja, es ist sein Werk! Wenn Ihr den Herrn Polizeipräfekten und den Herrn Profos von Paris trefft, könnt Ihr ihnen mein Kompliment übermitteln, Messieurs .«
Als Ludwig XIV sich zu Tische setzte, legte er das Blatt neben sich, dessen noch feuchte Druckerschwärze seine Finger beschmutzte. Der König war ein starker Esser und hatte längst gelernt, seine Reizbarkeit zu beherrschen. So wurde sein Appetit durch das, was er las, nicht beeinträchtigt. Doch nach beendigter Lektüre war das Schweigen, das in dem sonst von heiteren Gesprächen erfüllten Räume herrschte, ebenso bedrückend wie das einer Totengruft.
Das Pamphlet war in jener rohen und plumpen Sprache verfaßt, deren Worte gleichwohl wie Dolche stachen und die seit mehr als zehn Jahren in den Augen von ganz Paris den rebellischen Geist der Stadt charakterisierte.
Es berichtete von den Heldentaten des Monsieur de Brienne, des ersten Hofkavaliers, der, nicht genug damit, daß er den Versuch gemacht hatte, einem Gebieter, dem er alles verdankte, die »Nymphe mit den Mondhaaren« auszuspannen, nicht genug damit, daß er durch seine ehelichen Zwistigkeiten einen Skandal nach dem andern heraufbeschwor, in der vergangenen Nacht eine Bratstube der Rue de la Vallée-de-Misère aufgesucht hatte. Dort hatten der junge Galan und seine Gefährten einem kleinen Oblatenverkäufer Gewalt angetan, ihn sodann durch Degenstiche getötet, den Wirt entmannt, der später daran gestorben war, seinem Neffen den Kopf aufgespalten, die Magd vergewaltigt und ihre Vergnügungen damit beschlossen, daß sie das Gasthaus in Brand steckten, von dem nur noch ein Haufen Asche übrig war.
»Daß nicht Unbekannte begingen die traurigen Heldentaten,
das läßt fürwahr ohne Müh’ sich erraten.
Aus dreizehn Köpfen bestand sie, die lüsterne Meute,
es waren lauter hochadlige Leute.
Ihre Namen, glaubt ihr, wissen wir nicht?
Jeder Tag wird einen neuen bringen ans Licht. Und der letzte gehört dem, der euch allen bekannt:
Wer ist’s, der den Oblatenverkäufer gen Himmel gesandt?«
»Beim heiligen Dionysius«, sagte der König, »wenn die Sache auf Wahrheit beruht, verdient Brienne den Galgen. Hat jemand von Euch über diese Verbrechen reden hören, Messieurs?«
Die Höflinge gaben stammelnd vor, über die Ereignisse der Nacht nicht informiert zu sein. Péguillin und de Vardes, die noch immer ziemlich mitgenommen aussahen, wechselten einen Blick; schließlich faßte sich der Herzog von Lauzun ein Herz und erklärte, er habe tatsächlich von einer Feuersbrunst reden hören, die sich in der Gegend des Pont-au-Change ereignet habe.
Darauf wandte sich der König an einen jungen Pagen, der den Mundschenken behilflich war.
»Und Ihr, mein Kind, der Ihr gewiß ein großer Auskundschafter und Neuigkeitskrämer seid, wie man das in Eurem Alter nun einmal ist, berichtet mir doch ein wenig, was man sich heute morgen auf dem Pont-Neuf erzählte.«
Der Jüngling errötete, aber er stammte aus gutem Hause und antwortete, ohne allzusehr in Verlegenheit zu geraten:
»Sire, man sagt, daß alles den Tatsachen entspricht, was der Schmutzpoet erzählt, und daß die Sache sich heute nacht in der Schenke zur >Roten Maske< zugetragen hat. Ich selbst kam eben von einem Tanzvergnügen zurück, als wir die Flammen sahen, woraufhin wir sofort zur Brandstätte eilten. Aber die Kapuziner waren bereits erschienen. Das ganze Viertel war auf den Beinen.«
»Behauptet man, die Feuersbrunst sei durch Edelleute verursacht worden?«
»Ja, aber man wußte ihre Namen nicht. Sie waren maskiert.«
»Was wißt Ihr noch?« forschte der König mit stren-ger Miene.
Der Page scheute sich als schon gewitzter Höfling, ein Wort auszusprechen, das seiner Gunst abträglich sein würde. Doch er gehorchte dem gebieterischen Blick und murmelte mit gesenktem Kopf:
»Sire, ich habe den Leichnam des kleinen Oblatenverkäufers gesehen. Sein Leib war aufgerissen, eine Frau hatte ihn aus dem Feuer geholt und drückte ihn an ihre Brust. Ich habe auch den Neffen des Wirts gesehen, er trug einen Verband um die Stirn.«
»Und der Wirt?«
»Man konnte ihn nicht aus den Flammen retten. Die Leute sagten .«
Der Page mühte sich zu lächeln, in der löblichen Absicht, die Atmosphäre zu entspannen. »Die Leute sagten, es sei ein schöner Tod für einen Bratkoch.«
Aber die Miene des Königs blieb eisig, und die Höflinge hoben rasch ihre Hände vor die Lippen, um ihre unangebrachte Heiterkeit zu verbergen.
»Man hole mir Monsieur de Brienne«, sagte der König. »Und Ihr, Herr Herzog«, setzte er hinzu, indem er sich an den Herzog von Crequi wandte, »werdet Monsieur d’Aubrays die folgenden Anweisungen übermitteln: Ich wünsche, daß man mir alsbald einen detaillierten Bericht über den Vorfall zukommen läßt. Jeder Besitzer oder Verkäufer dieser Blätter ist sofort zu verhaften und ins Châtelet zu bringen. Jeder Passant, der beim Aufheben oder Lesen eines dieser Blätter betroffen wird, ist mit einer empfindlichen Geldstrafe zu belegen. Schließlich möge man unverzüglich alle erdenklichen Maßnahmenergreifen, um des Druckers und des Sieur Claude Le Petit habhaft zu werden.«
Man fand den Grafen Brienne in seinem Haus im Bett vor, wo er noch seinen Rausch ausschlief.
»Mein treuer Freund«, sagte der Marquis de Gesvres, der Schloßhauptmann, zu ihm, »ich komme mit einem peinlichen Auftrag zu Euch. Wenn ich recht verstanden habe, soll ich Euch verhaften.«
Und er hielt ihm das Gedicht unter die Nase, an dem er sich unterwegs ergötzt hatte, ohne sich darum zu sorgen, daß man ihn mit der besagten Geldstrafe belegen könnte.
»Ich bin erledigt«, stellte Brienne in trübem Tone fest. »Teufel noch eins! Die Leute haben’s eilig in diesem Staat. Ich habe noch nicht mal allen Wein abgelassen, den ich in dieser verdammten Schenke getrunken habe, und schon muß ich dafür zahlen.«
»Herr Minister«, sagte Ludwig XIV. zu ihm, »aus vielerlei Gründen ist mir eine Unterhaltung mit Euch peinlich. Machen wir es kurz. Gebt Ihr zu, heute nacht an den in dieser Schrift angeprangerten Verbrechen beteiligt gewesen zu sein, ja oder nein?«
»Sire, ich war dort, aber ich habe nicht alle diese Schändlichkeiten begangen. Der Schmutzpoet erklärt ja selbst, daß nicht ich es war, der den kleinen Oblatenverkäufer ermordete.«
»Und wer war es dann?«
Graf Brienne schwieg.
»Ich muß Euch loben, daß Ihr nicht auf andere eine Verantwortung abschiebt, die Ihr in weitem Maße teilt, wie sich von Eurem Gesicht ablesen läßt. Ich kann Euch jedoch nicht helfen, Graf: Ihr habt das Pech gehabt, erkannt zu werden. Ihr werdet für die andern büßen. Das niedere Volk murrt ... und zu Recht. Daher muß Eure Freveltat geahndet werden, und zwar sofort. Ich wünsche, daß man heute abend auf dem Pont-Neuf sagen kann: Monsieur de Brienne ist in der Bastille ... und sieht einer harten Bestrafung entgegen. Was mich persönlich betrifft, so kommt mir diese Geschichte höchst gelegen, denn sie befreit mich von einem Gesicht, das ich nur mit Widerwillen ertragen habe. Ihr wißt, weshalb.«
Der arme Brienne seufzte beim Gedanken an die schüchternen Küsse, die er der sanften La Vallière zu rauben versucht hatte, als er sich noch im unklaren über die Vorliebe seines Gebieters für diese hübsche Person gewesen war.
Auf dem Wege zur Bastille wurde die Kutsche, die ihn fuhr, von einer Schar Markthallenhändler angehalten, die Blättchen des Pamphlets sowie Tranchiermesser schwangen und stürmisch verlangten, man solle ihnen den Gefangenen ausliefern, damit sie ihm zufügen könnten ... was er dem armen Koch Bourgeaud zugefügt habe.
Der entsetzte Brienne atmete erst wieder auf, als sich die schweren Tore des Gefängnisses hinter ihm geschlossen hatten und er sich hinter den dicken Mauern sicher fühlte.
Doch am nächsten Morgen flatterte wiederum ein Schwarm weißer Blättchen auf Paris herab.
Als Gipfel der Unverfrorenheit war anzusehen, daß der König das Epigramm unter seinem Teller fand, als er sich eben ein kleines Frühstück einzunehmen anschickte, bevor er sich zur Hirschjagd in den Bois de Boulogne begab.
Die Jagd wurde abgeblasen, und Monsieur d’Olo-ne, Jägermeister von Frankreich, schlug eine Richtung ein, die der beabsichtigten genau entgegengesetzt war. Was besagen soll, daß er, statt den Cours-la-Reine hinunterzufahren, den Cours Saint-Antoine hinauffuhr, der ihn zur Bastille führte.
Denn in der neuen Schmähschrift war ausdrücklich erwähnt, daß er Meister Bourgeaud festgehalten habe, während der Bratkoch verstümmelt worden war.
Sodann kam Lauzun an die Reihe. Man schrie seinen Namen auf den Straßen, als er sich eben in seiner Kutsche zum Petit Lever des Königs begab.
Sofort befahl Péguillin dem Kutscher, zur Bastille zu fahren.
»Richtet mein Gemach«, sagte er zum Gouverneur.
»Aber, Herr Herzog, ich habe keine Anweisung, was Eure Person betrifft.«
»Ihr werdet sie bekommen, seid unbesorgt.«
»Und wo ist Euer Verhaftbefehl?«
»Hier«, sagte Péguillin und hielt Monsieur de Vannois das bedruckte Blatt unter die Nase, das er eben einem Straßenjungen für zehn Sols abgekauft hatte.
Frontenac zog es vor zu fliehen, ohne sein Schicksal abzuwarten.
De Vardes riet ihm von seinem Vorhaben energisch ab. »Eure Flucht ist ein Geständnis. Sie wird Euch verraten, während Ihr dem Hagel von Denunziationen vielleicht entgeht, wenn Ihr das Gesicht wahrt und weiterhin den Harmlosen spielt. Schaut doch mich an! Sehe ich verängstigt aus? Ich scherze, ich lache. Niemand hat mich in Verdacht, und der König vertraut mir sogar an, wie sehr ihn diese Geschichte beschäftigt.«
»Euch wird das Lachen vergehen, wenn Ihr an der Reihe seid.«
»Ich habe das Gefühl, daß ich nicht an die Reihe kommen werde. >Aus dreizehn Köpfen bestand sie, die lüsterne Meute<, heißt es in dem Vers. Bis jetzt sind erst drei benannt, und schon hört man, daß verhaftete Verkäufer unter der Folter den Namen des Druckers gestanden haben. In ein paar Tagen hört der Blätterregen auf, und die ganze Sache gerät in Vergessenheit.«
»Ich teile Euren Optimismus nicht«, sagte der Marquis de Frontenac, während er fröstelnd den Kragen seines Reisemantels hochschlug. »Ich für mein Teil ziehe das Exil dem Gefängnis vor. Adieu.«
Er hatte die deutsche Grenze gerade überschritten, als sein Name erschien, ohne daß man sonderlich Notiz davon nahm. Am Tage zuvor war nämlich de Vardes bloßgestellt worden, und zwar unter Umständen, die den König in beträchtliche Erregung versetzt hatten. Denn der Schmutzpoet beschuldigte diesen »mondänen Bösewicht« rundheraus, der Verfasser jenes spanischen Briefs zu sein, der zwei Jahre zuvor in die Gemächer der Königin eingeschmuggelt worden war, in der eindeutigen Absicht, sie schonend über die intimen Beziehungen ihres Gatten zu Mademoiselle de La Vallière aufzuklären. Die Anschuldigung riß von neuem eine schmerzende Wunde im Herzen des Monarchen auf, denn er hatte die Schuldigen nie fassen können und sich in dieser Angelegenheit des öfteren ratsuchend an de Vardes gewandt.
Während er den Hauptmann der Schweizergarde verhörte, Madame de Soissons, dessen Mätresse und Komplicin, vor sich kommen ließ, während seine Schwägerin Henriette von England, die gleichfalls in die Geschichte mit dem spanischen Brief verwickelt war, sich ihm zu Füßen warf, während de Guiche und der kleine Monsieur sich insgeheim erbittert mit dem Chevalier de Lorraine stritten, bot die Verbrecherliste der Schenke zur »Roten Maske« Tag für Tag der Menge ein neues Opfer. Louvigny und Saint-Thierry, die im voraus resignierten und bereits ihre Vorkehrungen getroffen hatten, erfuhren eines schönen Morgens, daß Paris die genaue Zahl ihrer Mätressen und deren amouröse Absonderlichkeiten genauestens kannte. Diese Einzelheiten würzten den üblichen Refrain:
»Und der letzte gehört dem, der euch allen bekannt:
Wer ist’s, der den Oblatenverkäufer gen Himmel gesandt?«
Die Bestürzung, in die der König durch die Enthüllungen über de Vardes versetzt worden war, gereichte jenen Herrn zum Vorteil: sie wurden lediglich gebeten, ihre Ämter abzulegen und sich auf ihre Besitzungen zu begeben. Ein Sturm der Erregung fegte durch Paris.
»Wer ist heute dran? Wer ist heute dran?« brüllten allmorgendlich die Pasquillenverkäufer, sobald sie keinen Polizeispitzel in der Nähe wußten. Man riß sich gegenseitig die Blätter aus den Händen. Von der Straße zu den Fenstern hinauf rief man einander »den Namen« des Tages zu.
Leute aus besseren Kreisen nahmen die Gewohnheit an, einander mit den geheimnisvoll getuschelten Worten zu begrüßen:
»Aber wer hat denn nun den kleinen Oblatenverkäufer ermordet .?« Und man prustete vor Lachen.
Dann verbreitete sich ein Gerücht, und das Gelächter erstarrte. Im Louvre löste eine Atmosphäre der Panik und der tiefen Bestürzung die muntere Stimmung derjenigen ab, die im Vertrauen auf ihr gutes Gewissen vergnügt das Gemetzel verfolgten. Mehrmals sah man die Königin-Mutter sich persönlich ins Palais Royal begeben, um mit ihrem zweiten Sohn Zwiesprache zu halten. In der Umgebung des Palastes, den der kleine Monsieur bewohnte, lungerten ganze Scharen feindseliger, stummer Tagediebe herum. Noch wußte niemand etwas Bestimmtes, aber man flüsterte sich zu, der Bruder des Königs habe an der Orgie in der »Roten Maske« teilgenommen und er sei es gewesen, der den kleinen Oblatenverkäufer ermordet habe.
Durch Desgray erfuhr Angélique die ersten Reaktionen des Hofs. Gleich an dem der Mordnacht folgenden Tage, als der auf dem Wege zur Bastille befindliche Brienne alle Mühe hatte, an seinen Bestimmungsort zu gelangen, klopfte der Polizist an das kleine Haus in der Rue des Francs-Bourgeois, in das Angélique sich zurückgezogen hatte.
Mit verschlossener Miene hörte sie den Bericht an, den er über die Äußerungen und Verfügungen des Königs erstattete.
»Er bildet sich ein, mit Briennes Bestrafung sei alles wieder ins Lot gebracht«, sagte sie erbittert, »aber das ist erst der Anfang. Zuerst sind die minder Schuldigen an der Reihe. Allmählich wird es immer höher steigen, bis zum Tage des großen Skandals, an dem Linots Blut die Stufen des Throns besudeln wird.«
Sie rang erregt ihre blassen, eisigen Hände. »Ich habe ihn eben zum Friedhof der Unschuldigen Kindlein geleitet. Alle Marktweiber ließen ihre Stände im Stich und folgten diesem armen, kleinen Wesen, das auf dieser Erde nichts anderes besaß als sein Leben. Und dieses einzige Gut mußten ihm nun lasterhafte Edelleute nehmen. Bei seiner Bestattung hat er dafür das schönste Geleit gehabt.«
»Jene Damen von der Markthalle geleiteten in diesem Augenblick Monsieur de Brienne.«
»Sie sollen ihn hängen, sie sollen seine Kutsche in Brand stecken, sie sollen das Palais Royal in Brand stecken. Sie sollen alle Schlösser in der Umgebung in Brand stecken: Saint-Germain, Versailles ...«
»Brandstifterin! Wohin wollt Ihr dann tanzen gehen, wenn Ihr wieder eine große Dame geworden seid?«
Sie sah ihn eindringlich an und schüttelte den Kopf. »Nie, nie wieder werde ich eine große Dame sein. Ich habe alles versucht und danach alles aufs neue verloren. Sie sind die Stärkeren. Habt Ihr die Namen, um die ich Euch gebeten habe?«
»Hier«, sagte Desgray und zog eine Pergamentrolle aus seinem Mantel. »Das Resultat völlig privater Nachforschungen, das nur ich ganz allein kenne: Es haben an besagtem Oktoberabend des Jahres 1664 die Schenke zur >Roten Maske< betreten: Monsieur d’Orléans, der Chevalier de Lorraine, der Herr Herzog von .«
»Oh, keine Titel, bitte!« murmelte Angélique.
»Ich kann nun mal nicht anders«, sagte Desgray lachend. »Ihr wißt ja, ich bin ein respektvoller Beamter des Regimes. Sagen wir also: die Herren de Brienne, de Vardes, du Plessis-Bellière, de Louvigny, de Saint-Thierry, de Frontenac, de Cavois, de Guiche, de La Vallière, d’Olone, de Tormes.«
»De La Vallière? Etwa der Bruder der Favoritin?«
»Eben der.«
»Das ist zu schön«, flüsterte sie mit rachelüstern leuchtenden Augen. »Aber ... wartet, das sind doch vierzehn. Ich hatte deren dreizehn gezählt.«
»Zu Beginn waren es vierzehn, denn da hat sich noch der Marquis de Tormes bei ihnen befunden. Diesem bejahrten Herrn macht es Vergnügen, gelegentlich an den Ausschweifungen der Jugend teilzunehmen. Doch als er merkte, was Monsieur mit dem kleinen Jungen plante, zog er sich mit den Worten zurück: >Gute Nacht, Ihr Herren, ich möchte Euch nicht auf so abwegigen Pfaden begleiten. Ich gehe lieber meinen gewohnten Weg und werde ganz brav bei der Marquise de Castelnau schlafen.< Alle Welt weiß, daß diese üppige Dame seine Mätresse ist.«
»Eine hübsche Geschichte, die dazu dienen wird, ihm seine Feigheit heimzuzahlen!«
Desgray betrachtete eine Weile Angéliques Gesicht und mußte lächeln.
»Die Boshaftigkeit steht Euch gut. Als ich Euch kennenlernte, hattet Ihr etwas Rührendes - das, was die Meute anzieht.«
»Und als ich Euch kennenlernte, hattet Ihr etwas Umgängliches, Fröhliches, Aufrichtiges. Jetzt könnte ich Euch manchmal hassen.«
Sie funkelte ihn mit ihren grünen Augen an und stieß zwischen den Zähnen hervor: »Polizist des Teufels!«
Er lachte belustigt.
»Madame, wenn man Euch so reden hört, könnte man meinen, Ihr hättet Umgang mit der Klasse der Rotwelschen gepflogen.«
Angélique zuckte die Schultern und trat zum Kamin, wo sie mit der Zange ein Holzscheit ergriff, um ihre Erregung zu verbergen.
»Ihr seid in Sorge um Euren kleinen Schmutzpoeten, nicht wahr?« fuhr Desgray im nasalen, gedehnten Tonfall des Vorstadtparisers fort. »Ich möchte Euch schonend darauf vorbereiten: diesmal entgeht er dem Galgen nicht.«
Die junge Frau versagte es sich zu antworten, sich umzuwenden und zu schreien: »Niemals kommt er an den Galgen! Den Poeten des Pont-Neuf hängt man nicht. Er wird gleich einem mageren Vogel davonfliegen und sich auf den Türmen von Notre-Dame niederlassen.«
Ihre Nerven waren bis zum Äußersten gespannt. Sie stocherte im Feuer und beugte sich über die Flamme. Warum ging Desgray nicht: Im Grunde war es ihr freilich lieb, daß er da war. Aus alter Gewohnheit vermutlich.
»Welchen Namen habt Ihr da genannt?« rief sie plötzlich. »Du Plessis-Bellière? Der Marquis?«
»Seid Ihr jetzt für Titel zu haben? Nun, es handelt sich tatsächlich um den Marquis du Plessis-Bellière, Feldmarschall des Königs ... Ihr wißt doch, der Sieger von Norwegen.«
»Philippe!« murmelte Angélique.
Wie war es nur möglich, daß sie ihn nicht erkannt hatte, als er seine Maske abgenommen und genau den gleichen kalten, verächtlichen Blick auf sie gerichtet hatte wie einst auf die halbwüchsige Kusine im grauen Kleid? Philippe du Plessis-Bellière! Das Schloß Plessis tauchte vor ihr auf wie eine weiße Seerose auf ihrem Teich.
»Wie seltsam das ist, Desgray! Dieser junge Mann ist ein Verwandter, ein Vetter von mir, der ein paar Meilen von unserm Schloß entfernt wohnte. Wir haben zusammen gespielt.«
»Und jetzt, da der kleine Vetter in der Schenke mit Euch spielte, wollt Ihr ihn schonen?«
»Vielleicht. Schließlich waren es ihrer dreizehn. Mit dem Marquis de Tormes ist die Rechnung beglichen.«
»Ist es nicht unvorsichtig von Euch, meine Liebe, dem Polizisten des Teufels alle Eure Geheimnisse zu erzählen?«
»Deswegen bekommt Ihr noch lange nicht heraus, wer die Pamphlete des Schmutzpoeten druckt, wer sie in Paris verbreitet und wie sie in den Louvre gelangen. Und im übrigen werdet Ihr mich nicht verraten!«
»Nein, Madame, Euch werde ich nicht verraten, aber ich werde Euch auch nicht täuschen. Diesmal entgeht der Schmutzpoet dem Galgen nicht!«
»Das werden wir sehen!«
»Ja, das werden wir leider sehen«, wiederholte er. »Lebt wohl, Madame.«
Nachdem er gegangen war, hatte sie alle Mühe, die Schauer zu bekämpfen, die sie überkamen. Der Herbstwind pfiff durch die Rue des Francs-Bourgeois, und der Sturm riß Angéliques Herz mit sich fort. Noch nie hatte sie einen solchen inneren Aufruhr erlebt. Beklemmung, Angst, Schmerz waren ihr vertraut, aber diesmal hatte sie eine stechende, tränenlose Verzweiflung übermannt, für die es keine Beruhigung, keinen Trost gab.
Audiger war verstörten Gesichts herbeigeeilt. Er hatte sie in die Arme genommen, und wie erloschen hatte sie den Kopf an seine kräftige Schulter gelehnt.
»Mein armer Liebling, das ist eine wahre Tragödie, aber Ihr dürft nicht mutlos werden. Fort mit dieser verzweifelten Miene! Ihr macht mir Angst!«
»Es ist eine Katastrophe, eine furchtbare Katastrophe! Wie soll ich jetzt, da die >Rote Maske< nicht mehr ist, zu Geld kommen? Die Zünfte gewähren mir keinen Schutz, im Gegenteil. Mein Vertrag mit Meister Bourgeaud ist nichtig geworden. Meine Ersparnisse werden bald erschöpft sein. Ich hatte erst kürzlich beträchtliche Summen für die Ausbesserung der Gaststube und für Wein-, Branntwein- und Likörvorräte ausgegeben. Sicher wird David von der Feuerversicherung etwas ersetzt bekommen, aber man weiß ja, wie knauserig diese Leute sind. Und in jedem Fall kann ich den armen Jungen, der sein ganzes Erbe verlor, nicht bitten, mir das wenige Geld zu geben, das er eventuell aus ihnen herauspreßt. Alles, was ich so mühsam aufgebaut habe, ist zusammengestürzt ... Was soll aus mir werden?«
Audiger schmiegte seine Wange an die weichen Haare der jungen Frau.
»Habt keine Angst, Liebste. Solange ich da bin, wird es Euch und Euren Kindern an nichts fehlen. Ich bin nicht reich, aber ich besitze genügend Geld, um Euch zu helfen. Und sobald mein Geschäft läuft, werden wir gemeinsam arbeiten, wie wir es verabredet haben.«
Sie riß sich aus seiner Umarmung los.
»Aber so habe ich es doch nicht gemeint«, rief sie aus. »Es ist nicht meine Absicht, als Magd bei Euch zu arbeiten ...«
»Nicht als Magd, Angélique.«
»Magd oder Ehefrau, das kommt auf dasselbe heraus. Ich wollte meinen Anteil zu diesem Geschäft beisteuern, gleichberechtigt sein .«
»Da also drückt Euch der Schuh, Angélique. Ich möchte fast meinen, Gott hat Euch für Euren Hochmut strafen wollen. Warum redet Ihr immer von der Gleichberechtigung der Frau? Das ist Ketzerei, mein Kleines. Wenn Ihr Euch mit dem Platz begnügtet, den Gott den Menschen Eures Geschlechts zugewiesen hat, würdet Ihr ohne Frage glücklicher sein. Die Frau ist dazu geschaffen, in ihrem Heim zu leben, unter dem Schutz ihres Gatten, den sie umsorgt, und mit den Kindern, die ihrer Verbindung entsprossen sind.«
»Welch liebliches Gemälde!« spöttelte Angélique. »Stellt Euch vor, ein so behütetes Dasein hat mich nie gelockt. Ich habe mich aus ganz persönlicher Neigung in dieses Getümmel gestürzt, mit meinen beiden Knirpsen auf dem Arm. So, und nun geht, Audiger! Ihr kommt mir mit einem Male so albern vor, daß mir richtig übel wird.«
»Angélique!«
»Geht, ich bitte Euch!«
Sie konnte ihn nicht mehr ertragen. Wie sie auch den Anblick der flennenden Barbe, des stumpfsinnigen David, der verstörten Javotte, ja selbst die Gegenwart der Kinder nicht mehr ertragen konnte, die instinktiv erfaßt hatten, daß ihr Universum bedroht war, und sich deshalb lärmender und launischer denn je aufführten. Sie gingen ihr alle auf die Nerven. Warum mußten sie sich so an sie klammern? Sie hatte das Steuer verloren, und der Sturm riß sie in seinen Wirbel, in dem die weißen Blätter der giftigen Pamphlete des Schmutzpoeten wie große Vögel flatterten.
In der trüben Voraussicht, daß auch er bald an die Reihe kommen würde, beschloß der Marquis de La Vallière, sich bei seiner Schwester im Hôtel de Biron, in dem Ludwig XIV. seine Favoritin untergebracht hatte, das Herz zu erleichtern. Die erschrockene Louise de La Vallière riet ihm indessen, sich dem König anzuvertrauen.
Was er auch tat.
»Ich kann es nicht verantworten«, bemerkte der Monarch kühl, »daß schöne Augen, die mir teuer sind, Tränen vergießen, wenn ich Euch allzu hart bestrafe. Verlaßt also Paris, Monsieur, und kehrt zu Eurem Regiment im Roussillon zurück. Wir werden den Skandal unterdrücken.«
Indessen war die Sache nicht so einfach. Der Skandal wollte sich nicht unterdrücken lassen. Man verhaftete, man folterte, und dennoch kam täglich ein neuer Name ans Licht. Weder der des Marquis de La Vallière noch der des Chevalier de Lorraine noch der des Bruders des Königs würde lange auf sich warten lassen. Alle Druckereien wurden durchsucht und überwacht. Die meisten Verkäufer des Pont-Neuf saßen im Châtelet. Aber selbst im Schlafzimmer der Königin fand man Pamphlete.
Das Kommen und Gehen im Louvre wurde kontrolliert, die Eingänge wurden wie die einer Festung bewacht. Alle Individuen, die in den frühen Morgenstunden den Palast betraten - Wasserträger, Milchmädchen, Lakaien -, wurden bis auf die Haut durchsucht. An den Fenstern und in den Gängen standen Wachen. Kein Mensch konnte den Louvre unbemerkt betreten oder verlassen.
»Nein, kein Mensch, aber vielleicht ein halber Mensch«, sagte sich der Polizist Desgray, der den Zwerg der Königin stark in Verdacht hatte, Angéliques Komplice zu sein.
Wie auch die Bettler an den Straßenecken ihre Komplicen waren, die unter ihren Lumpen ganze Stöße von Pamphleten verbargen, um sie auf den Stufen der Kirchen und Klöster zu verstreuen; wie die Banditen der Nacht ihre Komplicen waren, die einem zu später Stunde heimkehrenden Bürger, nachdem sie ihn weidlich ausgeplündert hatten, als »Gegengeschenk« und »zum Trost« ein paar von den Blättern zu lesen gaben; oder die Blumen- und Orangenverkäuferinnen vom Pont-Neuf samt dem Großen Matthieu, der seiner verehrlichen Kundschaft als Dreingabe Rezepte überreichte, die sich später als die neuesten Geistesprodukte des Schmutzpoeten erwiesen.
Wie schließlich der Große Coesre selbst, Cul-de-Bois, ihr Komplice war, in dessen Behausung Angélique in einer mondlosen Nacht drei Kisten voller Schmähschriften transportieren ließ, die die letzten fünf Opfer der Liste benannten. Daß die Polizei in die stinkenden Schlupfwinkel des Faubourg Saint-Denis vordringen würde, war kaum anzunehmen.
Trotz ihrer Wachsamkeit konnten die Büttel, Gerichtsbeamten und Häscher nicht überall sein. Die Nacht blieb allmächtig, und der Marquise der Engel gelang es mit Unterstützung ihrer »Leute«, die Kisten ohne Zwischenfall vom Universitätsviertel zum Palast Cul-de-Bois’ zu schaffen.
Zwei Stunden später wurde der Drucker samt seinen Gehilfen verhaftet. Ein im Châtelet eingesperrter Verkäufer, den der Henker gezwungen hatte, fünf Kessel kalten Wassers zu schlucken, hatte den Namen des Meisters verraten. Man fand bei dem Drucker die Beweise seiner Schuld, jedoch keinerlei Spuren weiterer Pamphlete. Nicht wenige gaben sich der Hoffnung hin, diese hätten gewiß noch nicht das Licht des Tages erblickt. Doch wurden die Optimisten kleinlaut, als am nächsten Morgen Paris von der Erbärmlichkeit des Marquis de Tormes erfuhr, der, statt den kleinen Oblatenverkäufer zu schützen, seine Genossen mit den Worten verlassen hatte: »Gute Nacht, Ihr Herren. Ich werde brav bei der Marquise de Castelnau schlafen.«
Der Marquis de Castelnau war über sein eheliches Mißgeschick durchaus im Bilde. Doch da es nun stadtbekannt geworden war, sah er sich genötigt, seinen Nebenbuhler zu fordern. Sie duellierten sich, und der Gatte wurde getötet. Während Monsieur de Tormes sich nach dem Waffengang wieder anzog, tauchte der Marquis de Gesvres auf und präsentierte ihm seinen Verhaftbefehl.
»Noch vier! Noch vier!« sangen die Straßenjungen und tanzten dazu die Farandole.
»Noch vier! Noch vier!« schrie man unter den Fenstern des Palais Royal.
Die Wachen zerstreuten die Menge mit Peitschenhieben. Zum erstenmal seit langem rief man ihnen Schimpfworte zu.
Erschöpft, von Versteck zu Versteck gehetzt, ließ sich Claude Le Petit bei Angélique nieder. Er war bleicher denn je, unrasiert, und sein Lächeln hatte sein Leuchten verloren.
»Diesmal ist es brenzlig. Ich spür’s, daß ich in den Maschen des Netzes hängenbleiben werde.«
»Sei still! Du hast mir selbst hundertmal gesagt, daß du nicht zu fassen bist.«
»Das sagt man so, solange man seine Kraft nicht eingebüßt hat. Aber dann entsteht plötzlich ein Riß, durch den die Kraft entweicht, und man sieht klar.«
Er hatte sich verletzt, als er durch ein Fenster geflüchtet war, dessen Scheiben er hatte einschlagen müssen.
Sie hieß ihn, sich aufs Bett zu legen, verband ihn und gab ihm zu essen. Er verfolgte ihre Bewegungen mit geschärfter Aufmerksamkeit, und es beunruhigte sie, daß sie in seinen Augen nicht den gewohnten spöttischen Schimmer entdeckte.
»Der Riß bist du«, sagte er unvermittelt. »Ich hätte dir nicht begegnen ... dich nicht lieben dürfen. Als du anfingst, mich zu duzen, begriff ich, daß du aus mir deinen Lakaien gemacht hast.«
»Claude«, sagte sie verletzt, »warum suchst du eine solche Erklärung? Ich . Ich spürte, daß du mir sehr nah warst, daß du alles für mich tun würdest. Aber wenn du willst, werde ich dich nicht mehr duzen.«
Sie setzte sich auf den Bettrand, nahm seine Hand und legte mit einer zärtlichen Geste ihre Wange an diese Hand.
»Mein Poet .«
Dieser da fiel ihr nicht lästig. Er machte sich los und schloß die Augen.
»Ach«, seufzte er, »gerade das ist es, was nicht gut für mich ist. Neben dir fängt man an, von einem Leben zu träumen, in dem du immer da bist. Man beginnt zu räsonieren wie ein Bürger. Man sagt sich: Ich möchte jeden Abend in ein warmes, helles Haus heimkehren, wo sie mich erwartet! Ich möchte sie jede Nacht in meinem Bett vorfinden, ganz warm und weich. Ich möchte einen Bürgerwanst haben, am Abend auf meiner Hausschwelle stehen und >meine Frau< sagen, wenn ich mit den Nachbarn von ihr spreche. Das ist’s, was man sich sagt, wenn man dich kennt. Und man findet allmählich, daß die Tische der Wirtshäuser zu hart sind, um drauf zu schlafen, daß es kalt ist zwischen den Hufen des Bronzepferds und daß man allein ist auf der Welt wie ein Hund ohne Herrn.«
»Du redest wie Calembredaine«, sagte Angélique nachdenklich.
»Auch ihm hast du geschadet, denn im Grunde bist du nichts als eine Illusion, eine kleine Dirne, flüchtig wie ein Schmetterling, ehrgeizig, unerreichbar ...«
Die junge Frau erwiderte nichts. Sie war jenseits aller Dispute und Ungerechtigkeiten. Das Gesicht Joffrey de Peyracs am Tag vor seiner Verhaftung war ihr erschienen und auch das Calembredaines kurz vor der Schlacht von Saint-Germain. Manche Männer finden in der Stunde der Gefahr den Instinkt der Tiere wieder, kraft dessen sie ihren Untergang wittern.
Diesmal durfte man sich nicht überraschen lassen: man mußte gegen das Schicksal kämpfen.
»Du wirst Paris verlassen«, entschied sie. »Deine Aufgabe ist beendet, da die letzten Pamphlete geschrieben, gedruckt und an sicherem Ort aufbewahrt sind.«
»Paris verlassen? Ich? Wohin soll ich denn gehen?«
»Zu deiner alten Amme, jener Frau im Juragebirge, die dich aufgezogen hat und von der du mir erzähltest. Bald kommt der Winter, dann sind die Wege verschneit, und niemand wird dich dort suchen. Du wirst mein Haus verlassen, weil es zu unsicher ist, und dich bei Cul-de-Bois verbergen. Heute um Mitternacht begibst du dich zur Porte Montmartre, die nie sonderlich streng bewacht wird. Dort findest du ein Pferd vor und im Sattelhalfter Geld und eine Pistole.«
»Einverstanden, Marquise«, sagte er gähnend und erhob sich, um aufzubrechen.
Sein fatalistischer Gehorsam beunruhigte Angélique mehr, als leichtsinniger Wagemut es getan hätte. War es die Erschöpfung, die Angst oder die Wirkung seiner Verletzung? Er verhielt sich wie ein Schlafwandler. Bevor er sie verließ, sah er sie lange an, ohne zu lächeln.
»Jetzt«, sagte er, »bist du sehr stark. Du kannst uns am Wege zurücklassen.«
Sie verstand nicht, was er meinte. Die Worte drangen nicht mehr in sie ein, und ihr Körper schmerzte, als habe man sie geschlagen.
Nur eine Sekunde sah sie der mageren dunklen Silhouette des Schmutzpoeten nach, der sich im fein niederrieselnden Regen entfernte, und wandte sich anderen Dingen zu.
Am Nachmittag ging sie zum Viehmarkt von Saint-Germain und kaufte ein Pferd, das sie einen guten Teil ihrer Ersparnisse kostete. Danach begab sie sich in die Rue du Val d’Amour, »borgte« sich von Beau-Garçon eine seiner Pistolen aus und verabredete, daß Beau-Garçon selbst, La Pivoine und einige andere sich gegen Mitternacht mit dem Pferd an der Porte Montmartre einfinden sollten. Claude Le Petit würde dort mit ein paar Vertrauensleuten Cul-de-Bois’ zu ihnen stoßen. Die »Früheren« sollten ihn dann auf dem Weg durch die Vorstädte eskortieren.
Nachdem alle Vorbereitungen getroffen waren, wurde Angélique ein wenig ruhiger. Abends stieg sie ins Zimmer der Kleinen und danach in die Dachkammer hinauf, wo sie David untergebracht hatte. Der Junge hatte hohes Fieber, da seine mangelhaft versorgte Wunde eiterte.
Wieder in ihr Zimmer zurückgekehrt, begann sie die Stunden zu zählen. Die Kinder und die Dienstboten schliefen; der Affe Piccolo hatte an die Tür gekratzt und es sich dann auf dem Kaminrand bequem gemacht. Angélique starrte, die Arme auf die Knie gestützt, ins Feuer. In zwei Stunden, in einer Stunde würde Claude Le Petit außer Gefahr sein. Dann würde sie aufatmen können, sich zu Bett legen und zu schlafen versuchen. Es schien ihr, als wisse sie seit dem Brand nicht mehr, was Schlaf sei. - Von draußen drang das Geräusch von Pferdehufen herein, dann klopfte jemand an die Tür. Mit pochendem Herzen zog sie den Schieber des Gucklochs zur Seite.
»Ich bin’s, Desgray.«
»Kommt Ihr im Namen der Freundschaft oder der Polizei?«
»Öffnet mir. Dann werde ich’s Euch sagen.«
Sie schob die Riegel zurück und ließ ihn ein.
»Wo ist Sorbonne?« fragte sie.
»Ich habe ihn heute abend nicht bei mir.«
Sie bemerkte, daß er unter seinem durchnäßten Umhang einen roten, mit schwarzen Bändern besetzten und einem Spitzenkragen geschmückten Rock trug. Mit seinem Degen und seinen Sporenstiefeln wirkte er wie ein Edelmann aus der Provinz, der stolz darauf ist, sich in der Hauptstadt zu befinden.
»Ich komme aus dem Theater«, sagte er vergnügt. »Ich mußte mich dort bei einer Schönen eines reichlich delikaten Auftrags entledigen.«
»Ihr stellt nicht mehr den Pamphletisten nach?«
»Möglich, daß man erkannt hat, daß ich auf diesem Gebiet nicht mein Bestes gebe .«
»Ihr habt Euch geweigert, Euch mit der Angelegenheit zu befassen?«
»Nicht direkt. Man läßt mir ziemlich viel Freiheit, müßt Ihr wissen. Man weiß, daß ich meine eigenen Methoden habe.«
Er stand vor dem Feuer und rieb sich die Hände, um sie aufzuwärmen. Die schwarzen Stulpenhandschuhe und den Hut hatte er auf einen Schemel gelegt.
»Warum seid Ihr nicht Soldat in der Armee des Königs geworden?« fragte ihn Angélique, die das stattliche Aussehen des schäbigen Advokaten von ehedem bewunderte. »Ihr würdet eine gute Figur machen und niemand verdrießen . Wartet, ich hole Euch einen Krug Weißwein und Waffeln.«
»Nein, danke! Leider kann ich von Eurer liebenswürdigen Gastfreundschaft keinen Gebrauch machen, denn ich habe noch einen Weg in die Gegend der Porte Montmartre vor.«
Angélique zuckte zusammen und warf einen Blick auf ihre Uhr: halb zwölf. Wenn Desgray sich jetzt nach der Porte Montmartre begab, würde er aller Wahrscheinlichkeit nach auf den Schmutzpoeten und seine Komplicen stoßen. War es Zufall, daß er sich dorthin begeben wollte, oder hatte dieser Teufelsbursche etwas gewittert? Nein, das war unmöglich! Sie hatte ihren Entschluß gefaßt und mit äußerster Schnelligkeit gehandelt.
Desgray griff wieder nach seinem Mantel.
»Schon?« protestierte Angélique. »Ich begreife Euer Verhalten nicht. Ihr erscheint zu unpassender Stunde, holt mich aus dem Bett und macht Euch alsbald wieder davon.«
»Ich habe Euch nicht aus dem Bett geholt. Ihr wart noch nicht entkleidet. Ihr träumtet vor Eurem Kamin.«
»Richtig . Ich habe mich gelangweilt. Kommt, setzt Euch.«
»Nein«, sagte er, während er die Schnur seines Kragens knüpfte. »Je länger ich mir’s überlege, desto mehr wird mir klar, daß ich gut daran tue, mich zu beeilen.«
»O diese Männer!« protestierte sie schmollend. Verzweifelt suchte sie nach einem Vorwand, ihn zu-rückzuhalten.
Es war weniger der Poet als vielmehr Desgray selbst, um den sie sich bei dem Gedanken an die Begegnung sorgte, die unfehlbar stattfinden würde, wenn sie ihn nach der Porte Montmartre gehen ließ. Der Polizist trug Pistole und Degen, aber die andern waren gleichfalls bewaffnet, und sie würden zahlreich sein. Überdies hatte er Sorbonne heute abend nicht bei sich. Auch aus anderen Gründen mußte unbedingt vermieden werden, daß sich mit der Flucht Claude Le Petits eine Schlägerei verband, in deren Verlauf ein Polizeihauptmann gar leicht den Tod finden konnte.
Doch schon verließ Desgray das Zimmer.
»Wie lächerlich!« dachte Angélique. »Warum hat Gott mich als Frau auf die Welt kommen lassen, wenn ich nicht einmal imstande bin, einen Mann eine halbe Stunde lang festzuhalten.«
Sie folgte ihm in den Hausflur, und als er die Türklinke ergriff, legte sie ihre Hand auf die seine. Die Zärtlichkeit der Geste schien ihn zu überraschen, und er zögerte einen Augenblick, als suche er nach dem Grund.
»Gute Nacht, Madame«, sagte er lächelnd.
»Es wird keine gute Nacht für mich werden, wenn Ihr geht«, flüsterte sie. »Die Nacht ist allzu lang . wenn man allein ist.«
Und während sie ihre Wange an seine Schulter lehnte, dachte sie: »Ich benehme mich wie eine Kurtisane, aber wennschon! Ein paar Küsse lassen mich Zeit gewinnen. Schließlich kennen wir uns schon so lange.«
»Wir kennen uns schon so lange, Desgray«, fuhr sie laut fort. »Habt Ihr nie daran gedacht, daß zwischen uns . daß .«
»Es ist nicht Eure Art, sich einem Mann an den Hals zu werfen«, sagte Desgray verblüfft. »Was ist mit Euch heute abend, meine Liebe?«
Doch seine Hand hatte die Türklinke losgelassen. Langsam, wie widerstrebend, umschloß er die Taille der jungen Frau, drückte sie aber nicht an sich. Er hielt sie eher wie einen leichten, zerbrechlichen Gegenstand, mit dem man nichts anzufangen weiß. Trotzdem schien es ihr, als ob das Herz des Polizisten Desgray ein wenig rascher schlüge. Wäre es nicht ganz amüsant, diesen gelassenen, immer beherrschten Mann ein wenig in Bewegung zu bringen?
»Nein«, sagte er schließlich als Antwort auf ihre un-beendete Frage, »nein, ich habe nie daran gedacht, daß wir zusammen schlafen könnten. Seht, mein Kleines, die Liebe ist für mich etwas sehr Gewöhnliches. Darin wie auch in vielem andern kenne ich keinen Luxus, und er reizt mich auch nicht. Die Kälte, der Hunger, die Armut und die Zuchtruten meiner Lehrer haben mich keine raffinierten Bedürfnisse gelehrt. Ich bin ein Mann der Schenken und Bordelle. Ich verlange von einem Mädchen, daß es ein gefügiges, handfestes, animalisches Wesen ist, ein bequemer Gegenstand, mit dem man nach Belieben umgehen kann. Kurz gesagt, meine Liebe, Ihr seid nicht die richtige Frau für mich.«
Sie hörte ihm belustigt zu, ohne ihre Stirn aus der Höhlung seiner Schulter zu nehmen. Auf ihrem Rücken spürte sie die warme Ausstrahlung seiner Hände. Nein, er war kein solcher Kostverächter, wie er es sich und ihr vormachen wollte. Eine Frau wie Angélique täuschte sich nicht. Allzu viele Dinge verbanden sie mit Desgray.
Lachend sagte sie: »Ihr redet, als sei ich ein unbequemer Luxusgegenstand. Laßt Euch nicht durch mein Kleid und meine Wohnung täuschen.«
»Oh, auf das Kleid kommt es nicht an. Aber Ihr werdet immer jenes Überlegenheitsgefühl behalten, das aus Euren Augen sprach, als man Euch eines Morgens einem gewissen ärmlichen und bürgerlichen Advokaten vorstellte.«
»Seitdem hat sich manches ereignet, Desgray.«
»Viele Dinge sind ewig. Beispielsweise die Arroganz einer Frau, deren Vorfahren mit Johann dem Guten an der Schlacht von Poitiers im Jahre 1356 teilgenommen haben.«
»Ihr wißt doch wirklich immer alles, was auf der Welt vorgeht, Polizist.«
»Ja ... Genau wie Euer Freund, der Schmutzpoet.«
Er nahm sie bei den Schultern und schob sie sanft, aber bestimmt von sich, um ihr in die Augen schauen zu können.
»Nun? Es stimmt doch, daß er um Mitternacht an der Porte Montmartre sein sollte?«
Sie erzitterte, doch dann überlegte sie sich, daß die Gefahr jetzt vorüber sein mußte. In der Ferne verhallten eben die letzten Zwölfuhrschläge einer Kirchenuhr. Desgray beobachtete das triumphierende Aufleuchten ihrer Augen.
»Ja ... ja, es ist zu spät«, murmelte er und schüttelte versonnen den Kopf. »Es haben sich heute nacht gar zu viele Leute an der Porte Montmartre eingefunden. Unter anderen der Herr Polizeipräfekt persönlich, nebst zwanzig Polizisten vom Châtelet. Wenn ich ein bißchen früher gekommen wäre, hätte ich ihnen vielleicht raten können, ihr Opfer anderwärts zu suchen . Oder vielleicht hätte ich dem unvorsichtigen Opfer bedeuten können, auf einem anderen Wege das Weite zu suchen? Aber jetzt glaube ich doch ... ja, ich glaube wirklich, es ist zu spät .«
Flipot ging am frühen Morgen aus dem Hause, um auf dem Milchmarkt die frische Milch für die Kinder zu holen. Angélique war noch einmal in einen kurzen, unruhigen Schlaf versunken, als sie ihn eilends zurückkommen hörte. Ohne anzuklopfen, steckte er seinen struppigen Kopf durch die Türspalte. Die Augen traten ihm aus den Höhlen.
»Marquise der Engel«, keuchte er, »ich hab’ auf der Place de Grève ... den ... den Schmutzpoeten gesehen.«
»Auf der Place de Grève .?« wiederholte sie. »Ist er verrückt geworden? Was macht er dort?«
»Er streckt die Zunge heraus«, erwiderte Flipot. »Man hat ihn ... gehenkt!«
»Ich habe mich gegenüber Monsieur d’Aubrays, dem Polizeipräfekten von Paris, verbürgt - und dieser hat sich seinerseits dem König gegenüber verbürgt -, daß die drei letzten Namen der Liste nicht an die Öffentlichkeit gelangen werden. Obwohl man den Verfasser dieser Pamphlete gehenkt hat, ist heute morgen der Name des Grafen de Guiche den Parisern zum Fraß vorgeworfen worden. Seine Majestät ist sich vollkommen klar darüber, daß die Hinrichtung des Hauptschuldigen die immanente Gerechtigkeit nicht davon abhalten wird, auf Monsieur, seinen Bruder, niederzufahren. Ich meinerseits habe dem König zu verstehen gegeben, daß ich den oder die Komplicen kenne, die das Werk des Pamphletisten fortführen werden. Und ich habe mich dafür verbürgt, daß die drei letzten Namen nicht erscheinen.«
»Sie werden erscheinen!«
»Nein!«
Angélique und Desgray standen einander abermals gegenüber, an genau derselben Stelle, an der am Abend zuvor Angélique ihren Kopf an die Schulter des Polizisten gelehnt hatte. Ewig würde sie diese Geste verwünschen. Jetzt kreuzten sich ihre Blicke wie Degenklingen.
Das Haus war wie ausgestorben, abgesehen von der Gegenwart Davids, der verletzt und fiebernd da droben in der Dachkammer lag. Kein Straßenlärm war zu hören. Das Echo der Volkserregung drang nicht bis in dieses aristokratische Viertel. An der Schwelle des Marais verhallten die Rufe der Menge, die seit dem Morgen auf der Place de Grève vor dem Galgen vorbeidefilierte, an dem der Leichnam Claude Le Petits, des Schmutzpoeten vom Pont-Neuf, baumelte. Nachdem er fünfzehn Jahre lang Paris mit seinen Epigrammen und Gedichten überschwemmt hatte, konnte niemand glauben, daß er nun tatsächlich tot und gehenkt sei. Man machte einander auf seine blonden Haare aufmerksam, die im Winde wehten, und auf seine alten Schuhe mit den abgetretenen Nägeln. Und nicht wenige der Vorüberziehenden weinten. - In dem kleinen Haus der Rue des Francs-Bourgeois nahm der Kampf indessen seinen Fortgang, scharf, unerbittlich, doch in gedämpftem Ton, als argwöhnten Angélique und Desgray, daß die ganze Stadt ihren Worten lauschte.
»Ich weiß, wo die Blätter aufgestapelt sind, die Ihr noch verteilen lassen wollt«, sagte Desgray. »Ich kann die Mitwirkung der Armee erbitten, das Faubourg Saint-Denis überfallen und alle Übelgesinnten in Stücke reißen lassen, die sich der polizeilichen Durchsuchung des Hauses Messire Cul-de-Bois’ widersetzen sollten. Indessen gibt es ein einfacheres Mittel, um die Sache in Ordnung zu bringen. Hört mich an, kleine Törin, statt mich wie eine zornige Katze anzustarren . Claude der Poet ist tot. Es mußte so kommen. Zu lange hat er sein Gift verspritzt, und der König will sich nicht mehr vom Pöbel kriti-sieren lassen.«
»Der König! Der König! Immer kommt Ihr mir mit ihm. Früher wart Ihr stolzer!«
»Der Stolz ist eine Jugendsünde, Madame. Bevor man stolz ist, muß man wissen, mit wem man es zu tun hat. Zwangsläufig stieß ich mich am Willen des Königs. Beinahe wäre ich gescheitert. Der Beweis war erbracht: der König ist der Stärkere. So habe ich mich auf die Seite des Königs geschlagen. Meiner Ansicht nach solltet Ihr, Madame, die Ihr die Verantwortung für zwei kleine Kinder habt, meinem Beispiel folgen.«
»Schweigt, Ihr macht mich schaudern!«
»Habe ich nicht von einem Patent reden hören, das Ihr für die Herstellung eines exotischen Getränks oder etwas Ähnlichem zu erlangen wünscht? Und meint Ihr nicht, eine größere Summe, beispielsweise fünfzigtausend Livres, wäre willkommen, um Euch den Aufbau eines Geschäfts zu erleichtern? Oder eine Vergünstigung, Steuerbefreiung, was weiß ich? Eine Frau wie Ihr kann um Ideen nicht verlegen sein. Der König ist bereit, Euch zu gewähren, was Ihr als Gegenleistung für Euer endgültiges und sofortiges Schweigen fordert. Das wäre eine gute Art, den Schlußstrich unter die Tragödie zu setzen, aller Welt zum Nutzen. Den Polizeipräfekten wird man beglückwünschen, mich wird man befördern, Seine Majestät wird einen Seufzer der Erleichterung ausstoßen, und Ihr, meine Liebe, Ihr werdet, nachdem Ihr Euren kleinen Kahn wieder flottgemacht habt, einer glänzenden Zukunft entgegentreiben. Kommt, zittert nicht wie ein junges Füllen unter der Reitpeitsche des Dresseurs. Überlegt es Euch. In zwei Stunden hole ich mir Eure Antwort .«
In einem Karren hatte man den Drucker Gilbert und zwei seiner Gehilfen auf die Place de Grève gebracht. Drei Galgen waren für sie neben dem des Schmutzpoeten errichtet worden. Als Meister Aubin die Schlinge über den Kopf des Druckers warf, entstand am Rande des Platzes ein Lärm.
»Gnade! Der König gewährt Gnade!«
Meister Aubin zögerte. Es geschah zuweilen, daß noch am Fuße des Galgens die Gnade des Königs einen Verurteilten seinen geschickten Händen entwand. In Voraussicht solcher Sinneswandlungen seines Herrn hatte der Henker pünktlich seines Amtes zu walten, ohne sich jedoch zu überhasten. Er wartete also geduldig, daß man ihm den von Seiner Majestät unterzeichneten Gnadenerlaß vorwies. Aber niemand erschien, es war ein Mißverständnis gewesen.
Sobald kein Zweifel mehr bestand, machte sich Meister Aubin in aller Ruhe wieder ans Werk. Doch der Drucker, der noch wenige Augenblicke zuvor in sein Schicksal ergeben gewesen war, wollte nun nicht mehr sterben.
Er sträubte sich und schrie mit gellender Stimme:
»Gerechtigkeit! Gerechtigkeit! Ich appelliere an den König! Man will mich umbringen, während die Mörder des kleinen Oblatenverkäufers und des Bratkochs Bourgeaud in Freiheit sind. Man will mich aufknüpfen, weil ich mich zum Werkzeug der Wahrheit machte! Ich appelliere an den König! Ich appelliere an Gott!«
Das Gerüst, auf dem die drei Galgen aufgerichtet waren, ächzte unter dem Ansturm der aufgebrachten Menge. Vor den Steinwürfen und geschwungenen Knütteln mußte sich der Henker schleunigst unter die Estrade flüchten. Während man nach Brandfackeln lief, um Feuer an sie zu legen, preschten berittene Gerichtsbüttel auf den Platz. Mit Peitschenhieben gelang es ihnen, die Umgebung der Galgen zu räumen. Doch die Verurteilten waren inzwischen entkommen .
Stolz, drei seiner Söhne dem Strick entrissen zu haben, fühlte Paris den Geist der Fronde in sich auferstehen. Es erinnerte sich, daß es Anno 1650 der Schmutzpoet gewesen war, der als erster die giftigen Pfeile der »Mazarinaden« abgeschossen hatte. Solange er lebte und man sicher sein konnte, daß seine spitzige Feder sich jeden neuen Grolls annehmen würde, konnte man den alten Groll ruhig schlafen lassen. Aber nun, da er tot war, wurde das Volk von einer panischen Angst gepackt: des Sprechers beraubt, plötzlich geknebelt zu sein. Alles kam an die Oberfläche zurück: die Hungersnöte von 1656, von 1658, von 1662, die neuen Steuern ... Wie schade, daß der Italiener gestorben war. Man hätte seinen Palast anstecken können ...
Auf den Kais längs der Seine wurden Farandolen getanzt und dazu gesungen: »Wer ist’s, der den Oblatenverkäufer gen Himmel gesandt?«, während andere skandierten: »Morgen ... wissen wir’s! Morgen ... wissen wir’s!«
Aber weder am nächsten Morgen noch in den folgenden Tagen erlebte die Stadt das tägliche Aufblühen der weißen Blätter. Das Schweigen sank herab. Der Alpdruck entwich. Man würde niemals erfahren, wer den kleinen Oblatenverkäufer ermordet hatte. Paris begriff, daß der Schmutzpoet wirklich tot war.
Im übrigen hatte er’s selbst Angélique gesagt:
»Jetzt bist du sehr stark. Du kannst uns am Wege zurücklassen.«
Sie hörte ihn ohne Unterlaß diese Worte wiederholen. Und während langer Nächte, in denen sie keinen Augenblick Ruhe fand, sah sie ihn vor sich, wie er sie mit seinen hellen Augen betrachtete, die wie das Wasser der Seine funkelten, wenn sich die Sonne in ihrer Oberfläche spiegelte.
Drei Tage später erhob sie sich wieder nach einer schlaflosen Nacht von ihrem Bett und sagte sich: »Ich kann dieses Dasein nicht mehr ertragen.«
Gegen Abend sollte sie Desgray in seiner Wohnung aufsuchen, und von dort aus wollte er sie zu hochgestellten Persönlichkeiten bringen, die ein geheimes Abkommen mit ihr treffen würden. Es sollte den Abschluß der seltsamen Angelegenheit bilden, die man fürderhin die »Affäre des kleinen Oblatenverkäufers« nennen würde.
Angéliques Bedingungen waren angenommen worden. Als Gegenleistung würde sie die in drei Kisten verstauten Pamphlete ausliefern, mit denen die Herren von der Polizei vermutlich alsbald ein großes Freudenfeuer veranstalten würden.
Und das Leben würde von neuem beginnen. Angélique würde wieder viel Geld besitzen. Sie würde allein das Schokolade genannte Getränk herstellen und im ganzen Königreich verkaufen dürfen.
»Ich kann dieses Dasein nicht mehr ertragen«, sagte sie sich. Sie zündete ihre Kerze an, denn es tagte noch nicht. In dem Spiegel über ihrem Frisiertisch betrachtete sie ihr bleiches, abgespanntes Gesicht. »Grüne Augen: eine Farbe, die Unglück bringt. Es ist also wahr, ich bringe allem, was ich liebe . und denen, die mich lieben, Unglück.«
Claude der Poet? Gehenkt. Nicolas? Vermutlich ebenfalls gehenkt. Joffrey? Bei lebendigem Leibe verbrannt. - Mit beiden Händen strich sie sich über die Schläfen. Sie zitterte innerlich so sehr, daß es ihr den Atem benahm. Und gleichwohl waren ihre Hände ruhig und eiskalt.
»Warum kämpfe ich eigentlich? Es kommt mir nicht zu. Der Platz einer Frau ist an ihrem Herd, neben ihrem Gatten, den sie liebt, in der Wärme des Feuers, in der Stille des Hauses und des Kindes, das in seiner hölzernen Wiege schläft. Erinnerst du dich, Joffrey, an das kleine Schloß, in dem Florimond zur Welt kam ...? Der Sturm peitschte die Fensterscheiben, und ich, ich setzte mich auf deine Knie, ich lehnte meine Wange an deine Wange. Und ich betrachtete ein wenig ängstlich und mit köstlichem Vertrauen dein wunderliches Gesicht, über das die Reflexe des Kaminfeuers spielten . Wie du lachen konntest! Und zeigtest dabei deine weißen Zähne. Oder ich streckte mich auf unserm breiten Bett aus, und du sangst für mich, mit einer vollen, sammetweichen Stimme, die wie ein Echo aus den Bergen zu kommen schien. Dann schlief ich ein, und du legtest dich neben mich zwischen das kühle, bestickte, nach Iris duftende Linnen. Ich habe dir viel gegeben, das wußte ich. Und du, du hast mir alles gegeben ... Und ich glaubte, wir würden ewig glücklich sein .«
Sie wankte durch den Raum, sank neben dem Bett in die Knie und barg ihr Gesicht in den zerwühlten Laken.
»Joffrey, mein Geliebter .!«
Der Schrei, den sie allzu lange zurückgehalten hatte, brach aus ihr hervor.
»Joffrey, Liebster, komm zurück, laß mich nicht allein ... Komm zurück!«
Aber er würde nie mehr zurückkommen, sie wußte es. Er war in allzu weite Ferne gegangen. Wo würde sie sich künftig mit ihm vereinen können? Sie hatte ja nicht einmal ein Grab, an dem sie beten konnte ... Seine Asche hatte der Seinewind verstreut.
Angélique erhob sich, ihr Gesicht war tränenlos.
Sie setzte sich an den Tisch, nahm ein weißes Blatt und spitzte ihre Feder.
»Wenn Ihr diesen Brief lest, Messieurs, bin ich nicht mehr am Leben. Ich weiß, daß es eine große Sünde ist, selbst Hand an sich zu legen, aber Gott, der die tiefsten Gründe der Seele kennt, wird mir diese Sünde vergeben. Ich überlasse mich seiner Barmherzigkeit.
Ich vertraue das Schicksal meiner beiden Söhne der Gerechtigkeit und Güte des Königs an.
Als Gegendienst für ein Schweigen, von dem die Ehre der königlichen Familie abhing und das ich gewahrt habe, bitte ich Seine Majestät, sich gleich einem Vater über diese beiden Wesen zu neigen, deren erste Lebensjahre unter dem Zeichen des Unheils gestanden haben, und ihnen den Namen und das Erbe ihres Vaters, des Grafen Peyrac, zurückzugeben. Zum mindesten möge Seine Majestät sie während ihrer Kindheit ernähren und ihnen späterhin die für ihr Fortkommen erforderliche Ausbildung angedeihen lassen .«
Sie schrieb weiter und fügte einige auf das Leben ihrer Kinder bezügliche Einzelheiten hinzu, bat außerdem um Protektion für den jungen, verwaisten Chaillou.
Dann faßte sie einen Brief für Barbe ab, in dem sie diese beschwor, Florimond und Cantor nie zu verlassen. Sie vermachte ihr die wenigen Dinge, die sie besaß, Kleider und Schmuck.
Sie schob den zweiten Brief in den Umschlag und versiegelte ihn.
Danach fühlte sie sich wohler. Sie wusch sich und kleidete sich an, dann verbrachte sie den Vormittag im Zimmer ihrer Kinder. Sie war wie erstarrt. Der Anblick der Kleinen tat ihr wohl, aber der Gedanke, daß sie im Begriff war, sie für immer zu verlassen, beunruhigte sie nicht. Sie brauchten sie nicht mehr. Sie hatten Barbe, die sie kannten, Barbe, die sie nach Monteloup bringen würde. Sie würden in Sonne und frischer Landluft aufwachsen, fern dem schmutzigen, übelriechenden Paris.
Nach dem Mittagessen nutzte sie den Schlaf der Kinder, um ihren Mantel umzulegen und das Haus zu verlassen. Den versiegelten Brief steckte sie ein. Sie wollte Desgray bitten, ihn zu der bewußten heimlichen Zusammenkunft mitzunehmen. Dann würde sie ihn verlassen und am Ufer entlanggehen. Sie würde mehrere Stunden vor sich haben. Sie hatte die Absicht, lange zu wandern. Sie wollte das freie Land erreichen, als letzte Vision das Bild der herbstlich vergilbten Wiesen, der vergoldeten Bäume mitnehmen, ein letztes Mal den Moosgeruch einatmen, der sie an Monteloup und ihre Kindheit erinnern würde.
Angélique wartete auf Desgray in dessen Haus auf dem Pont Notre-Dame. Der Polizist wohnte mit Vorliebe auf den Brücken, während diejenigen, denen er nachstellte, unter den Brücken hausten.
Aber das Dekor hatte sich seit jenem ersten Besuch verändert, den Angélique ihm einige Jahre zuvor in einem der baufälligen Gebäude des Petit-Pont abgestattet hatte. Er besaß jetzt ein eigenes, offenbar erst vor kurzem in bürgerlich-protzigem Stil erbautes Haus, dessen Fassade mit Frucht- und Blumenkörbe tragenden Karyatiden und Königsmedaillons geschmückt war - alles »nach der Natur« in grellen Farben bemalt.
Das Zimmer, in das Angélique vom Pförtner geführt worden war, wies den gleichen bürgerlichen Komfort auf, aber die junge Frau warf weder einen Blick auf das breite Bett, dessen Baldachin gewundene Säulen stützten, noch auf den mit Gegenständen aus vergoldeter Bronze gezierten Arbeitstisch.
Sie machte sich keine Gedanken über die Umstände, die dem ehemaligen Advokaten zu solchem Wohlstand verhelfen haben mochten. Desgray war zugleich eine Gegenwart und eine Erinnerung. Sie hatte das beruhigende Gefühl, daß er alles über sie wußte. Er war schroff und kühl, aber unbedingt zuverlässig. Sie konnte, wenn sie Desgray ihre letzten Verfügungen übergeben hatte, ruhigen Herzens von hinnen gehen: ihre Kinder würden nicht gänzlich verlassen sein.
Das offenstehende Fenster ging nach der Seine. Von fern waren die Rudergeräusche einer Galeere zu hören. Die Herbstsonne ließ die sorgfältig mit Öl eingeriebenen schwarzweißen Fliesen aufleuchten.
Endlich hörte Angélique Desgrays festen, sporenklirrenden Schritt. Er trat ein und zeigte sich nicht überrascht, sie vorzufinden.
»Madame, ich begrüße Euch. Sorbonne, mein Freund, bleib mit deinen schmutzigen Pfoten draußen.«
Aber diesmal war er, wenn nicht ausgesucht, so doch jedenfalls gepflegt gekleidet. Schwarzer Samtbesatz verzierte den Kragen seines weiten Mantels, den er auf einen Stuhl warf. Aber sie erkannte den Desgray von einst an der lässigen Art wieder, in der er sich des Huts und der Perücke entledigte. Dann schnallte er seinen Degen ab. Er schien sehr aufgeräumt.
»Ich komme von Monsieur d’Aubrays. Es steht alles zum Besten. Meine Liebe, Ihr werdet den bedeutendsten Persönlichkeiten des Handels und der Finanzen begegnen. Es ist sogar die Rede davon, daß Monsieur Colbert persönlich der Besprechung beiwohnt.«
Angélique zwang sich ein höfliches Lächeln ab. Seine Worte erschienen ihr unnütz; es gelang ihnen nicht, ihre innere Erstarrung zu lösen. Sie würde nicht die Ehre haben, Monsieur Colbert kennenzulernen. Zu der Stunde, da diese hochmögenden Herren sich in irgendeinem entlegenen Stadtteil versammelten, würde der Leichnam Angéliques de Sancé, Gräfin Peyrac, Marquise der Engel, von den Fluten der Seine davongetragen werden. Dann würde sie frei sein; niemand würde ihr mehr etwas zufügen können. Und vielleicht würde sich Joffrey wieder mit ihr vereinen .
Sie schrak zusammen, weil Desgray gesprochen und sie nichts gehört hatte.
»Was sagt Ihr?«
»Ich sage, daß Ihr verfrüht zu dieser Verabredung gekommen seid.«
»Ich bin ja auch nicht deswegen hier. Ich komme nur auf einen Sprung zu Euch, denn es erwartet mich ein charmanter Kavalier, der mich zur Galerie des Palais fahren will, um mich die letzten Neuheiten bewundern zu lassen. Vielleicht geleitet er mich danach in die Tuileriengärten. Jedenfalls werden mir diese Ablenkungen die Zeit bis zu jener gewichtigen Besprechung verkürzen helfen. Aber ich habe da einen Umschlag, den ich nicht dorthin mitnehmen möchte und der mich behindert. Kann ich ihn hierlassen? Ich hole ihn dann im Vorbeigehen ab.«
»Zu Euren Diensten, Madame.«
Er nahm den versiegelten Brief entgegen, ging zu einer Schatulle, die auf einer Konsole stand, und tat ihn hinein.
Angélique wandte sich ab, um ihren Fächer und ihre Handschuhe aufzunehmen. Alles verlief so einfach - und auf die gleiche einfache Weise wollte sie ihren Weg gehen, ohne Eile, ohne innezuhalten. Sie brauchte nur im gegebenen Augenblick die Richtung zu ändern und dem Fluß zuzugehen ... Die Sonne würde sich auf dem Wasser der Seine spiegeln wie auf diesen schwarzweißen Fliesen.
Das Knarren eines Schlosses veranlaßte sie, den Kopf zu heben. Sie sah, wie Desgray den Schlüssel der Tür drehte, ihn abzog und gleichmütig in seine Tasche schob. Dann trat er lächelnd auf sie zu und sagte:
»Setzt Euch noch auf ein paar Minuten. Ich möchte Euch schon lange zwei oder drei Fragen stellen, und der Augenblick scheint mir dazu günstig zu sein.«
»Aber man wartet auf mich.«
>»Man< wird gern auf Euch warten«, sagte Desgray, noch immer lächelnd. »Im übrigen wird es, denke ich, rasch erledigt sein. Bitte, nehmt Platz.«
Er wies ihr einen Stuhl vor dem Tisch an und ließ sich ihr gegenüber auf der anderen Seite nieder.
Angélique war zu abgestumpft, um weitere Einwendungen zu machen. Seit ein paar Tagen waren ihre Handlungen nicht realer als die einer Schlafwandlerin: aufstehen, sich setzen, warten, wieder aufbrechen ...
Aber irgend etwas stimmte da nicht. Was eigentlich? Ach ja! Warum hatte Desgray die Tür abgeschlossen?
»Die Auskünfte, um die ich Euch bitten möchte, betreffen eine recht ernste Angelegenheit, mit der ich mich gegenwärtig befasse. Das Leben mehrerer Personen steht dabei auf dem Spiel. Es würde zu weit führen und wäre im übrigen nutzlos, wollte ich Euch die ganze Vorgeschichte auseinandersetzen.
Es genügt, wenn Ihr auf meine Fragen antwortet. Also .«
Er sprach sehr langsam und ohne sie anzusehen. Er beschirmte seine halbgeschlossenen Augen mit der Hand, und seine Gedanken schienen in eine ferne Vergangenheit zurückzuwandern.
»Vor annähernd vier Jahren wurden eines Nachts gelegentlich eines Einbruchs bei einem Apotheker im Faubourg Saint-Germain, dem Sieur Glazer, zwei berüchtigte Missetäter verhaftet. Wenn ich mich recht erinnere, trugen sie in Gaunerkreisen die Spitznamen Tord-Serrure und Prudent. Sie wurden gehenkt. Indessen äußerte der besagte Prudent im Verlaufe der Folterung gewisse Dinge, die ich kürzlich in einem Protokoll des Châtelet aufgezeichnet fand und die für meine gegenwärtigen Nachforschungen überaus bedeutsam sind. Sie betreffen das, was der Sieur Prudent bei dem Sieur Glazer im Verlaufe des Besuchs entdeckte, den er ihm in jener Nacht abstattete. Leider sind die Ausdrücke unbestimmt. Es ist ein Gefasel, das viele Dinge ahnen läßt und nichts beweist. Daher möchte ich Euch bitten, mich über diese Sache aufzuklären. Was gab es bei dem alten Glazer?«
Die Welt wurde immer unwirklicher. Das Zimmer um sie her schien plötzlich wie in einen Nebel gehüllt. Ein einziges Licht blieb, das der plötzlich weit geöffneten, rötlich schimmernden Augen Desgrays.
»Stellt Ihr mir diese Frage?« sagte Angélique.
»Ja. Was habt Ihr in jener Nacht bei dem alten Glazer gesehen?«
»Wie soll ich das wissen? Ich glaube, Ihr verliert den Verstand.«
Desgray stieß einen Seufzer aus, und das Licht seiner Augen erlosch hinter den gesenkten Lidern. Er nahm einen Gänsekiel vom Tisch und begann, ihn mechanisch zwischen seinen Fingern zu drehen.
»In jener Nacht war eine Frau bei dem alten Glazer, die die Einbrecher begleitete. Sie war nicht irgendeine, diese Dirne, sondern eine von den Gefährlichen, das habe ich feststellen können: die Marquise der Engel. Habt Ihr nie von ihr reden hören? Nein? Diese Frau war die Genossin eines berühmten Banditen der Hauptstadt: Calembredaines. Calembredaine .? Man hat ihn 1661 auf dem Jahrmarkt von Saint-Germain geschnappt und gehenkt .«
»Gehenkt .?« rief sie aus.
»Nein, nein«, sagte Desgray sanft, »Ihr braucht Euch nicht so zu erregen, Madame ... Nein, man hat ihn nicht gehenkt. Tatsächlich ist er entronnen, indem er in die Seine sprang, und . er ist ertrunken. Man hat seine Leiche mit zwei Pfund Sand im Mund gefunden, aufgequollen wie ein Schlauch. Schade, ein so schöner Mann! Ich begreife, daß Ihr blaß geworden seid! Ich komme also auf die Marquise der Engel zurück, die würdige Genossin jenes bedauernswürdigen Sire, der, wie Euch sicherlich bekannt ist, ein berühmter Einbrecher und mehrfacher Mörder war, zur Galeere verurteilt, entwichen und so weiter ... Was sie betrifft, so war ihre Herrschaft kurz, aber beachtlich. Sie nahm an zahlreichen Einbrüchen und bewaffneten Überfällen auf Kutschen teil, wie etwa an dem auf die leibliche Tochter des Polizeipräfekten, sie hat mehrere Morde auf dem Gewissen, unter anderen den an einem Polizisten des Châtelet, dessen Bauch sie fein säuberlich aufgeschlitzt hat, das könnt Ihr mir glauben .«
Angéliques Lebensgeister erwachten aus ihrer Erstarrung. Sie wurde von einer panischen Angst erfaßt. Sie spürte, wie die Falle über ihr zusammenschlug. Ihr Blick heftete sich an das offene Fenster, durch das das Geräusch des Wassers hereindrang. Dort war die Seine! Der letzte Ausweg! Sie würde bis auf den Grund sinken. Endlich würde sie mit der Welt der Menschen abgeschlossen haben, dieser verhaßten Welt!
»Die Marquise der Engel ist mit Prudent in Glazers Haus gewesen. Sie hat gesehen, was er gesehen hat, und .«
Mit einem Satz war sie am Fenster. Doch Desgray kam ihr zuvor. Er packte sie bei den Handgelenken und stieß sie brutal auf den Stuhl zurück. Sein Gesichtsausdruck hatte sich gewandelt.
»O nein«, sagte er ärgerlich, »mit mir macht man nicht solche Scherze!«
Hämisch lächelnd beugte er sich über sie.
»Komm, hab dich nicht, raus mit der Sprache, wenn du nicht willst, daß ich handgreiflich werde. Was hast du bei dem alten Glazer gesehen?«
Angélique starrte ihn an. In ihrem verwirrten
Herzen kämpfte die Angst mit dem Zorn.
»Ich verbiete Euch, mich zu duzen.«
»Ich duze jedes Frauenzimmer, das ich vernehme.«
»Ihr habt wohl völlig den Verstand verloren?«
»Antworte! Was hast du bei Glazer gesehen?«
»Ich rufe um Hilfe.«
»Du kannst schreien, soviel du willst. Das Haus ist von Polizisten bewohnt. Sie haben Weisung, meine Wohnung nicht zu betreten, selbst wenn sie Mordio schreien hören.«
Der Schweiß begann an Angéliques Schläfen zu perlen.
»Ich darf nicht«, sagte sie sich, »ich darf nicht schwitzen. Nicolas hat immer gesagt, es sei ein schlimmes Zeichen. Es bedeutet, daß man bereit sei, >den Bissen zu schlucken< .«
Ein Backenstreich klatschte in ihr Gesicht.
»Willst du reden? Was hast du bei Glazer gesehen?«
»Ich habe Euch nichts zu sagen. Schuft! Laßt mich gehen.«
Desgray faßte sie unter den Ellbogen und zog sie behutsam in die Höhe, als sei sie eine Schwerkranke.
»Du willst nicht reden, mein Herzchen?« fragte er in unerwartet sanftem Ton. »Das ist aber gar nicht nett. Willst du denn unbedingt, daß ich böse werde?«
Er drückte sie fest an sich. Seine Hände glitten ganz langsam an den Armen der jungen Frau hinab und preßten ihre Ellbogen nach hinten. Plötzlich durchfuhr sie ein rasender Schmerz, und sie stieß einen schrillen Schrei aus. Es war, als habe ihr eine eiserne Zange beide Arme ausgerissen. So fest saß sie im Griff des Polizisten, daß sie bei der leisesten Bewegung zusammenzuckte.
»Komm, rede! Was war bei Glazer?«
Angélique war in Schweiß gebadet. Ein unerträglicher, stechender Schmerz folterte ihren Nacken, die Schulterblätter und strahlte bis in die Lenden aus.
»Es ist doch nicht so schlimm, was ich da von dir verlange. Eine harmlose kleine Auskunft in einer Angelegenheit, die dich nicht einmal betrifft, weder dich noch deine Gaunergenossen ... Rede, mein Kind, ich höre dir zu. Du willst immer noch nicht?«
Er machte eine unmerkliche Bewegung, und die zarten Finger seines Opfers knackten. Sie schrie auf. Ungerührt fuhr er fort:
»Nun, Freund Prudent sprach im Châtelet von einem Mehl, einem weißen Pulver . Hast du das auch gesehen?«
»Ja.«
»Was war es?«
»Gift ... Arsenik.«
»Ach, du wußtest sogar, daß es Arsenik war?« sagte er lachend.
Und er gab sie frei. Er war nachdenklich geworden und schien in Gedanken mit etwas anderem beschäftigt. Allmählich kam Angélique wieder zu Atem. Dann schob Desgray einen Schemel heran und setzte sich vor sie.
»So, da du vernünftig geworden bist, wird man dir kein Wehwehchen mehr tun.«
Ganz dicht saß er vor ihr und preßte ihre zitternden Knie zwischen den seinen. Sie betrachtete ihre Handflächen, die blutleer und wie abgestorben waren.
»Nun erzähl mir deine kleine Geschichte.«
Er neigte den Kopf ein wenig zur Seite und sah sie nicht mehr an. Er wurde wieder zum unerbittlichen Beichtvater unheilvoller Geheimnisse. Sie begann mit eintöniger Stimme zu sprechen.
»Bei Glazer gab es ein Zimmer mit Retorten . ein Laboratorium.«
»Natürlich . Jedermann weiß, daß er Apotheker ist.«
»Jenes weiße Pulver war auf einem Gestell in einer Bronzeschüssel. Ich erkannte es an seinem Knoblauchgeruch. Prudent wollte es kosten. Ich hinderte ihn daran, indem ich sagte, es sei Gift.«
»Was hast du noch bemerkt?«
»Neben der Arsenikschüssel lag ein in grobes Papier gewickeltes Päckchen, das mit roten Siegeln versehen war.«
»Stand etwas drauf?«
»Ja: >Für Monsieur de Sainte-Croix<.«
»Gut. Und weiter?«
»Prudent warf eine Retorte um, die zerbrach. Von dem Geräusch muß der Besitzer des Hauses aufgewacht sein. Wir liefen davon, aber als wir in den Hausflur kamen, hörten wir ihn die Treppe herabsteigen. Er rief: >Nanette - oder einen ähnlichen Vornamen -, Ihr habt vergessen, die Katzen einzuschließen, und dann hat er gesagt: >Seid Ihr es, Sainte-Croix? Wollt Ihr die Arznei abholen?<«
»Ausgezeichnet! Ausgezeichnet!«
»Danach .«
»Das danach interessiert mich nicht. Ich habe, was ich brauche .«
Sie sah die dunkle Straße vor sich, in der die Silhouette des Hundes Sorbonne aufgetaucht war. Sie überblickte ihren tragischen Lebensweg. Die Vergangenheit wollte nicht sterben. Sie erstand aufs neue, düster und schmutzig, und löschte mit einem Schlage diese vier Jahre geduldigen und ehrlichen Mühens aus. Angéliques Kehle war wie zugeschnürt. Schließlich brachte sie mühsam hervor:
»Desgray ... seit wann wißt Ihr .?«
Er warf ihr einen spöttischen Blick zu.
»Daß du die Marquise der Engel bist? Nun, seit jener Nacht. Glaubst du, es ist meine Art, ein Mädchen laufenzulassen, das ich geschnappt habe, und ihr noch dazu ihr Messer zurückzugeben?«
Er hatte sie also erkannt! Er wußte über alle Etappen ihres Abstiegs Bescheid. Sie verging vor Schamgefühl. Überstürzt sagte sie: »Ich muß Euch das erklären. Calembredaine war ein Bauernsohn aus meiner Heimat ... ein Kindheitsgefährte. Wir haben denselben Dialekt gesprochen.«
»Ich verlange nicht, daß du mir deinen Lebenslauf erzählst«, knurrte er streng.
Aber sie klammerte sich an ihn und fuhr fast schreien fort: »Doch ... ich muß Euch das sagen ... Ihr müßt verstehen. Er war mein Kindheitsgefährte. Er war Knecht im Schloß. Dann ist er verschwunden. Er stöberte mich auf, als ich nach Paris kam . Er wollte mich von jeher haben, versteht Ihr . Und alle hatten mich im Stich gelassen ... Auch Ihr hattet mich im Stich gelassen ... damals im Schnee. Da nahm er mich zu sich, unterwarf mich seinem Willen . Es stimmt, daß ich mit ihm gegangen bin, aber ich habe die Verbrechen, die Ihr mir zur Last legt, nicht verübt. Desgray, ich war es nicht, der den Büttel Martin getötet hat, ich schwöre es Euch ... Ich habe nur ein einziges Mal getötet. Ja, es ist wahr, ich habe den Großen Coesre getötet. Aber nur, um mein Leben zu retten, um mein Kind vor einem schrecklichen Schicksal zu bewahren .«
Desgray sah sie amüsiert und verwundert an. »Du hast den Großen Coesre umgebracht? Rolin-le Trapu, vor dem jedermann sich fürchtete?«
»Ja.«
Er lachte vor sich hin. »O lala! Eine tolle Nummer, diese Marquise der Engel! Du ganz allein mit deinem großen Messer?«
Sie wurde bleich. Das Ungeheuer war da, zwei Schritte von ihr entfernt, zusammengesunken, aus seiner durchschnittenen Kehle sprudelte Blut. Es wurde ihr übel. Desgray tätschelte lachend ihre Wange.
»Na, nun mach kein solches Gesicht! Du siehst ja wie erstarrt aus. Komm, laß dich ein bißchen aufwärmen.«
Er zog sie auf seine Knie, drückte sie fest an sich und biß ihr heftig in die Lippen. Sie stieß einen Schmerzensschrei aus und riß sich los. Plötzlich hatte sie ihre Kaltblütigkeit wiedergewonnen.
»Monsieur Desgray«, sagte sie, während sie einen letzten Rest von Würde aufbot, »ich wäre Euch zu Dank verpflichtet, wenn Ihr eine Entscheidung über meine Person treffen würdet. Verhaftet Ihr mich, oder laßt Ihr mich gehen?«
»Im Augenblick weder das eine noch das andere«, sagte er lässig. »Nach einer anregenden kleinen Unterhaltung wie der unsrigen kann man nicht einfach so auseinandergehen. Du würdest mich ja für einen Unmenschen halten. Obwohl ich zuzeiten doch recht sanft sein kann!«
Er erhob sich lächelnd, doch in seinen Augen funkelte wieder jener rötliche Glanz. Ohne daß ihr eine abwehrende Geste gelang, nahm er sie in seine Arme, neigte sich über sie und flüsterte:
»Komm, mein hübsches, kleines Tier.«
»Ich dulde nicht, daß Ihr auf solche Weise zu mir sprecht«, rief sie und schluchzte auf.
Ganz plötzlich war es über sie gekommen: eine Sintflut von Tränen, die ihr das Herz aus dem Leibe rissen, die sie fast zum Ersticken brachten.
Desgray trug sie zum Bett, wo er sie niedersetzte und lange Zeit aufmerksam betrachtete. Als ihre Verzweiflung sich schließlich ein wenig legte, begann er, sie zu entkleiden. Sie spürte auf ihrem Nacken seine Finger, die die Haken ihres Mieders mit der Geschicklichkeit von Zofenhänden lösten. Tränenüberströmt, hatte sie keinen Funken Kraft mehr, um Widerstand zu leisten.
»Desgray, Ihr seid schlecht!« stammelte sie.
»Nicht doch, mein Herzchen, ich bin nicht schlecht.«
»Ich glaubte, Ihr wäret mein Freund ... Ich glaubte ... ach, mein Gott, wie unglücklich ich bin.«
»Na, na, was sind das für dumme Ideen!« sagte er in nachsichtig-brummendem Ton.
Mit geschickter Hand streifte er ihre weiten Röcke ab, löste die Strumpfbänder und zog ihr die Schuhe aus. Als sie nur noch ihr Hemd anhatte, wandte er sich ab und entkleidete sich seinerseits. Dann schwang er sich zu ihr aufs Bett und zog die Vorhänge zu.
»So, nun hör endlich mit dem Geflenne auf, jetzt wird’s lustig! Komm ein bißchen zu mir.«
Er riß ihr das Hemd herunter und versetzte ihr im gleichen Augenblick einen schallenden Klaps, daß sie ob dieser Demütigung zornig auffuhr und ihre spitzen kleinen Zähne in seine Schulter bohrte.
»Warte, mein Hündchen, das sollst du büßen!«
Aber sie wehrte sich. Sie kämpften miteinander. Sie bedachte ihn mit den übelsten Schimpfworten. Das ganze Vokabular der Polackin rollte ab, und Desgray bog sich vor Lachen. Das Blitzen dieser weißen Zähne, der scharfe Tabaksgeruch, der sich mit dem Schweißgeruch dieses Mannes vermischte, verwirrten Angélique zutiefst. Sie war überzeugt, daß sie Desgray haßte, daß sie seinen Tod wünschte. Sie drohte ihm, ihn mit ihrem Messer umzubringen. Er lachte schallend. Endlich gelang es ihm, sie zu überwältigen, und er suchte ihre Lippen.
»Küß mich«, sagte er. »Küß den Polizisten ... Gehorche, oder ich prügle dich blau und grün ... Küß mich . Fester. Ich weiß ganz genau, daß du zu küssen verstehst .«
Sie konnte der gebieterischen Verleitung dieses Mundes nicht mehr widerstehen, und ihre Antwort auf Desgrays Lippen bezeichnete das Ende des Kampfes. Sie sagte sich, daß er sie respektlos behandelte, daß niemand sie so behandelt hatte, nicht einmal Nicolas, nicht einmal der Hauptmann. Aber ihr Körper wurde von Schauern geschüttelt.
Der Mann preßte sie mit gebieterischem Arm an sich. Einen Augenblick lang sah sie eine völlig veränderte Maske: geschlossene Lider, leidenschaftlichen Ernst, ein Gesicht, in dem jeglicher Zynismus erstarb, jegliche Ironie unter dem Drang eines einzigen Gefühls erstarb. Im nächsten Moment spürte sie, daß sie ihm gehörte. Er lachte von neuem, auf genießerische und verwegene Weise. So mißfiel er ihr. In diesem Augenblick brauchte sie Zärtlichkeit. Ein neuer Liebhaber erzeugte bei der ersten Umarmung jedesmal einen Reflex der Verwunderung und des Erschreckens, vielleicht auch des Abscheus in ihr.
Ihre Erregung legte sich, bleischwere Müdigkeit überfiel sie. Willenlos ließ sie sich nehmen, doch er schien sich nicht daran zu stoßen. Sie hatte den Eindruck, daß er mit ihr wie mit einem beliebigen Mädchen verfuhr.
Da beklagte sie sich, indem sie ihren Kopf hin und her bewegte:
»Laß mich ... Laß mich!«
Aber er kümmerte sich nicht darum. Alles wurde dunkel. Die nervöse Spannung, die sie in den letzten Tagen aufrecht gehalten hatte, wich einer zermürbenden Müdigkeit. Sie war am Ende ihrer Kräfte, ihrer Tränen, ihrer Sinnenlust ...
Als sie erwachte, fand sie sich ausgestreckt auf dem Bett liegend, mit gespreizten Armen und Beinen, in der Stellung, in der der Schlaf über sie gekommen war. Die Vorhänge waren zurückgezogen. Ein runder Sonnenfleck tanzte auf den Fliesen. Sie hörte das Wasser der Seine zwischen den Bogen des Pont Notre-Dame singen. Ein anderes, näheres Geräusch mischte sich ein, ein lebhaftes und gedämpftes Kratzen.
Sie wandte den Kopf und erblickte Desgray, der an seinem Arbeitstisch schrieb. Er trug seine Perücke und einen weißen, gestärkten Kragen. Er wirkte sehr ruhig und völlig von seiner Arbeit absorbiert. Sie betrachtete ihn, ohne zu begreifen. Ihr Erinnerungsvermögen war wie ausgeschaltet. Schließlich wurde sie sich ihrer schamlosen Stellung bewußt und nahm die Beine zusammen.
In diesem Augenblick hob Desgray den Kopf, und als er bemerkte, daß sie wach war, legte er die Feder nieder und trat ans Bett.
»Wie geht’s? Habt Ihr gut geschlafen?« Seine Stimme klang überaus höflich und ungezwungen.
Verständnislos sah sie zu ihm auf. Sie wußte nicht recht, was sie von ihm halten sollte. Wo war er ihr doch beängstigend, brutal, schamlos vorgekommen? Im Traum zweifellos.
»Geschlafen?« stammelte sie. »Meint Ihr, ich habe geschlafen? Wie lange denn?«
»Meiner Treu, seit bald drei Stunden genieße ich diesen reizvollen Anblick.«
»Drei Stunden!« wiederholte Angélique, indem sie auffuhr und das Laken heranzog, um ihre Blöße zu bedecken. »Das ist ja schrecklich! Und die Verabredung mit Monsieur Colbert?«
»Ihr habt noch eine Stunde, um Euch darauf vorzubereiten.«
Er betrat den anstoßenden Raum, wandte sich noch einmal zurück. »Ich habe hier einen bequemen Waschraum mit allem, was die Toilette der Damen erfordert: Schminke, Schönheitspflästerchen, Parfüm und so weiter ...«
Mit einem seidenen Morgenrock über dem Arm kam er zurück. Er warf ihn ihr zu.
»Zieht das an und beeilt Euch, meine Schöne.«
Ein wenig benommen machte sich Angélique daran, zu baden und sich anzukleiden. Ihre Sachen lagen sorgfältig gefaltet auf einer Truhe. Aus dem Nebenraum hörte sie das Kratzgeräusch der Feder. Plötzlich schob Desgray seinen Stuhl zurück und fragte:
»Kommt Ihr zurecht? Darf ich Eure Zofe spielen?«
Ohne ihre Antwort abzuwarten, trat er ein und begann, flink die Verschnürungen ihres Rocks zu knüpfen.
Angélique wußte nicht mehr, was sie denken sollte. Bei der Erinnerung an die Liebkosungen, die er sich herausgenommen hatte, geriet sie in lähmende Verlegenheit. Doch Desgray schien das alles vergessen zu haben. Es wäre ihr wie ein Traum vorgekommen, hätte sie nicht im Spiegel ihr Gesicht gesehen, ein sinnliches, gesättigtes Frauengesicht, dessen Lippen von den Bissen der Küsse geschwollen waren. Welche Schande! Auch für die Augen Uneingeweihter trug ihr Gesicht die Male der leidenschaftlichen Liebesspiele, in die Desgray sie mitgerissen hatte.
Unwillkürlich legte sie zwei Finger auf ihre Lippen, die noch immer schmerzhaft brannten. Dabei begeg-nete sie im Spiegel Desgrays lächelndem Blick.
»O ja, man sieht es«, sagte er, »aber das macht nichts. Die würdevollen Herrschaften, denen Ihr begegnet, werden sich dadurch nur um so leichter bezwingen lassen ... und vielleicht auch ein wenig neidisch sein.«
Der Polizist hatte sein Degengehänge umgeschnallt und griff nach seinem Hut. Er wirkte ausgesprochen elegant, wenn sein Äußeres auch etwas Düsteres und Strenges behielt.
»Ihr klettert die Stufenleiter hinauf, Monsieur Desgray«, sagte Angélique, indem sie sich bemühte, seine Ungezwungenheit nachzuahmen. »Ihr tragt den Degen, und Eure Wohnung ist fürwahr gutbürgerlich.«
»Ich empfange viel Besuch. Die Gesellschaft macht eine seltsame Entwicklung durch. Ist es meine Schuld, wenn die Spuren, die ich verfolge, mich immer ein wenig höher führen? Sorbonne wird langsam alt. Wenn er stirbt, werde ich ihn nicht ersetzen, denn heutzutage findet man die übelsten Mörder nicht in den Spelunken, sondern anderwärts.«
Er schien nachzudenken und fügte kopfschüttelnd hinzu: »In den Salons, beispielsweise ... Seid Ihr bereit, Madame?«
Angélique nahm ihren Fächer und nickte.
»Soll ich Euch Euren Umschlag zurückgeben?«
»Welchen Umschlag?«
»Den, den Ihr mir anvertrautet, als Ihr kamt.«
Sie wußte nicht sofort, was er meinte, doch dann erinnerte sie sich plötzlich, und eine leichte Röte stieg in ihr Gesicht. Es war der Umschlag, der ihr Testament enthielt und den sie Desgray in der Absicht übergeben hatte, sich danach das Leben zu nehmen.
Sich das Leben nehmen? Was für ein komischer Gedanke! Warum hatte sie sich nur das Leben nehmen wollen? Das war wirklich nicht der richtige Augenblick. Da sie sich doch zum erstenmal seit Jahren vor dem Ziel all ihrer Bemühungen sah! Da sie den König von Frankreich sozusagen in der Hand hatte .!
»Ja, ja«, sagte sie hastig, »gebt ihn mir zurück.«
Er öffnete die Schatulle und reichte ihr den versiegelten Umschlag. Aber er zog ihn zurück, als sie ihn eben ergreifen wollte, und Angélique sah ihn fragend an.
Abermals hatte er jenen rötlich schimmernden Blick, der wie ein Strahl bis ins Innerste der Seele zu dringen schien.
»Ihr wolltet sterben, nicht wahr?«
Angélique starrte ihn schuldbewußt wie ein ertapptes Schulmädchen an, dann senkte sie nickend den Kopf.
»Und jetzt?«
»Jetzt? Ich weiß es nicht. Jedenfalls habe ich vor, aus dieser Situation meinen Vorteil zu ziehen. Es ist eine einzigartige Gelegenheit, und ich bin überzeugt, daß ich wieder vorankommen werde, wenn es mir gelingt, das Schokoladegeschäft in Zug zu bringen.«
»Gut so.«
Er ging mit dem Umschlag zum Kamin und warf ihn ins Feuer. Nachdem das letzte Blatt in Flammen aufgegangen war, kehrte er lächelnd zu ihr zurück.
»Desgray«, murmelte sie, »wie habt Ihr erraten .?«
»Oh, meine Liebe«, rief er lachend aus, »glaubt Ihr, daß ich so wenig abgefeimt bin, eine Frau nicht verdächtig zu finden, die sich mit verstörter Miene, ungepudert und ungeschminkt bei mir einstellt und mir obendrein noch erzählt, sie sei mit einem Stutzer verabredet, um in der Galerie des Palais zu paradieren? Im übrigen .«
Er sah nachdenklich vor sich hin.
»Ich kenne Euch zu gut. Ich habe sofort gemerkt, daß etwas nicht stimmte, daß Ihr gefährdet wart, und daß es galt, rasch und wirksam zu handeln. In Anbetracht meiner freundschaftlichen Gesinnung werdet Ihr mir verzeihen, daß ich so unzart mit Euch umgegangen bin, nicht wahr, Madame?«
»Ich weiß noch nicht«, sagte sie in sanft grollendem Ton. »Ich werde es mir überlegen.«
Doch Desgray lachte und warf ihr einen warmen, besitzergreifenden Blick zu.
Die junge Frau fühlte sich gedemütigt, aber sie sagte sich zu gleicher Zeit, daß sie auf der Welt keinen besseren Freund besaß als ihn.
»Wegen der Auskunft«, fuhr er fort, »die Ihr mir ... so bereitwillig gabt, braucht Ihr Euch keine Gedanken zu machen. Sie ist mir wertvoll, aber das war nur ein Vorwand. Ich werde sie mir merken, aber ich habe bereits vergessen, wer sie mir erteilt hat. Einen Rat noch, Madame, wenn Ihr ihn einem bescheidenen Polizisten verstattet: Schaut immer geradeaus, wendet Euch nie nach der Vergangenheit um. Vermeidet es, in ihrer Asche zu stochern . jener Asche, die man in alle Winde verstreut hat. Denn jedesmal, wenn Ihr daran denkt, werdet Ihr Euch nach dem Tode sehnen. Und ich werde nicht immer da sein, um Euch rechtzeitig aufzurütteln .«
Maskiert und eines Übermaßes von Vorsicht wegen mit verbundenen Augen wurde Angélique von einer Kutsche, deren Rouleaus heruntergelassen waren, zu einem kleinen Haus im Vorort Vaugirard gefahren. Man nahm ihr die Binde erst in einem von ein paar Leuchtern erhellten Salon ab, in dem sich vier oder fünf gemessene, mit Perücken versehene Herren befanden, die über Angéliques Erscheinen einigermaßen ungehalten zu sein schienen. Ohne Desgrays Gegenwart hätte sie das Gefühl gehabt, in eine Falle geraten zu sein.
Doch die Absichten Monsieur Colberts, eines Bürgerlichen mit kühlen, strengen Zügen, waren ohne Falsch. Kein anderer als dieser Ehrenmann, der den ausschweifenden Lebenswandel und die Ausgaben der Leute vom Hofe verurteilte, konnte besser die Billigkeit der Forderungen ermessen, die Angélique an den König stellte. Auch Seine Majestät hatte es eingesehen, gezwungenermaßen freilich und unter dem Druck des durch die Pamphlete des Schmutzpoeten ausgelösten Skandals.
Angélique erfaßte rasch, daß es, wenn überhaupt, nur um der Form willen zu einer Diskussion kommen würde. Ihre moralische Position war ausgezeichnet.
Als sie zwei Stunden danach die erlauchte Gesellschaft verließ, nahm sie die Zusage mit, daß ihr für den Wiederaufbau der Schenke zur »Roten Maske« aus der königlichen Privatschatulle der Betrag von fünfzigtausend Livres übergeben werden würde. Das dem Vater des jungen Chaillou gewährte Patent für die Schokoladeherstellung sollte bestätigt werden. Diesmal lautete es auf Angéliques Namen, und es wurde ausdrücklich festgelegt, daß keine Zunft Forderungen an sie stellen dürfe. Schließlich forderte sie, gleichsam als Wiedergutmachung, daß man ihr eine Aktie der kürzlich gegründeten Ostindischen Gesellschaft übereigne.
Diese letzte Bedingung löste große Verwunderung aus. Aber die Herren der hohen Finanz erkannten, daß ihre Gesprächspartnerin sich vorzüglich auf ihre Sache verstand. Monsieur Colbert stellte murrend fest, die Forderungen dieser Person gingen zwar recht weit, sie seien jedoch vernünftig und wohlbegründet.
Am Ende wurde ihr alles zugestanden.
Dafür sollten sich die Sbirren Monsieur d’Aubrays, des Polizeigewaltigen, in ein Haus auf dem flachen Lande begeben, wo sie zwei heimlich dorthin geschaffte Kisten voller Pamphlete vorfinden würden, auf denen die Namen des Marquis de La Vallière, des Chevalier de Lorraine und des Bruders des Königs, Monsieur d’Orléans, verzeichnet waren.
Die nämliche Kutsche mit den herabgelassenen Rouleaus brachte sie nach Paris zurück. Während der Fahrt bemühte sich Angélique, ihren Optimismus und ihre Freude im Zaum zu halten. Es kam ihr unziemlich vor, so zuversichtlich und zufrieden zu sein, wenn sie sich vergegenwärtigte, aus welchen Schrecken dieser Triumph hervorgegangen war. Aber schließlich mußte es ja, wie die Dinge jetzt lagen, mit dem Teufel zugehen, wenn sie nicht eines Tages eine der reichsten Persönlichkeiten der Hauptstadt sein würde.
Und was konnte sie mit Geld nicht alles erreichen! Sie würde nach Versailles gehen, dem König vorgestellt werden, wieder den ihr zukommenden Platz einnehmen, und ihre Söhne würden wie junge Edelleute erzogen werden. Für den Rückweg hatte man ihr nicht die Augen verbunden, denn es war finstere Nacht. Sie fuhr allein, aber da sie sich völlig ihren Spekulationen und Träumen hingab, verging ihr die Zeit sehr rasch. Zu beiden Seiten der Kutsche hörte sie das Hufeklappern der Pferde einer kleinen Eskorte.
Plötzlich blieb der Wagen stehen, und eines der Rouleaus wurde von außen hochgezogen.
Im Schein einer Laterne erkannte sie Desgrays Gesicht, das sich zur Tür herabbeugte. Er saß zu Pferde.
»Ich verlasse Euch jetzt, Madame. Die Kutsche wird Euch nach Hause bringen. In zwei Tagen gedenke ich Euch zu überbringen, was Euch zukommt. Alles in Ordnung?«
»Ich denke schon. Oh, Desgray, ist das nicht herrlich? Wenn es mir gelingt, die Schokoladefabrikation in Gang zu bringen, ist mein Glück gemacht.«
»Es wird Euch gelingen. Es lebe die Schokolade!« sagte Desgray.
Er nahm seinen Hut ab, beugte sich herab und küßte ihr die Hand - vielleicht ein wenig länger, als die Höflichkeit es vorschrieb.
»Adieu, Marquise der Engel!«
Sie mußte lächeln.
»Adieu, Polizist!«
Zwei erfolgreiche Jahre waren vergangen, als Angélique eines Abends zu später Stunde gemeldet wurde, daß ein Geistlicher sie dringend zu sprechen wünsche. Im Flur fand die junge Frau einen Priester vor, der ihr sagte, ihr Bruder, der R. P. de Sancé, erwarte sie.
»Jetzt gleich?« - »Auf der Stelle, Madame.«
Angélique ging wieder hinauf, um einen Mantel und eine Maske zu holen. Seltsame Stunde für die Wiederbegegnung eines Jesuiten mit seiner verwitweten Schwester, der Witwe eines auf der Place de Grève verbrannten Hexenmeisters!
Der Priester erklärte, man habe nicht weit zu gehen. Nach ein paar Schritten standen sie vor einem Hause bürgerlichen Aussehens, einem ehemaligen kleinen Palais aus früheren Zeiten, das an das neue Kollegiengebäude der Jesuiten grenzte. Im Vestibül verschwand Angéliques Führer wie ein Gespenst. Sie stieg die Treppe hinauf, den Blick auf das obere Stockwerk gerichtet, von dem sich eine lange Gestalt herabbeugte, die einen Leuchter in der Hand hielt.
»Seid Ihr es, Schwester?«
»Ich bin’s, Raymond.«
»Kommt, ich bitte Euch.«
Sie folgte ihm, ohne Fragen zu stellen. Die heimlichen Bande der Sancé de Monteloup umschlossen sie alsbald von neuem. Er führte sie in eine durch ein Nachtlicht kümmerlich erleuchtete Zelle. Im Alkoven erkannte Angélique ein bleiches, zartes Gesicht, dessen Augen geschlossen waren.
»Sie ist krank. Sie wird vielleicht sterben.«
»Wer ist es?«
»Marie-Agnès, unsere Schwester.«
Nach kurzem Schweigen setzte er hinzu:
»Sie hat bei mir Zuflucht gesucht. Ich habe sie ruhen lassen, aber angesichts der Natur ihres Leidens bedurfte ich der Hilfe und der Ratschläge einer Frau. Ich habe an dich gedacht.«
»Daran hast du gut getan. Was fehlt ihr?«
»Sie verliert viel Blut. Ich glaube, sie hat eine Abtreibung an sich vornehmen lassen.«
Angélique untersuchte ihre junge Schwester. Sie hatte mütterliche, bestimmte Hände, die sich auf das Pflegen verstanden. Die Blutung schien nicht heftig zu sein, aber ihre Stetigkeit war nicht weniger besorgniserregend.
»Wir müssen die Blutung so rasch wie möglich zum Stillstand bringen, andernfalls stirbt sie.«
»Ich habe daran gedacht, einen Arzt kommen zu lassen, aber ...«
»Einen Arzt? Er wüßte nichts anderes zu tun, als sie zur Ader zu lassen, und das würde sie vollends zugrunde richten.«
»Leider kann ich hier keine neugierige und geschwätzige Hebamme einlassen. Unsere Ordensregel ist zugleich sehr frei und sehr streng. Man wird mir keinen Vorwurf daraus machen, daß ich heimlich meiner Schwester geholfen habe, aber ich muß jeden Klatsch vermeiden. Es ist mir kaum möglich, sie in diesem Haus zu behalten, das zum großen Seminar nebenan gehört. Du verstehst mich schon .«
»Sobald sie fürs erste versorgt ist, lasse ich sie in meine Wohnung bringen. Inzwischen muß nach dem Großen Matthieu geschickt werden.«
Eine Viertelstunde später galoppierte Flipot zum Pont-Neuf. Gelegentlich eines Unfalls des kleinen Florimond, der von einer Kutsche angefahren worden war, hatte sich Angélique schon einmal an den Großen Matthieu gewandt. Sie wußte, daß der Quacksalber ein blutstillendes Wundermittel besaß. Wenn es darauf ankam, war er auch bereit, Diskretion zu wahren.
Er erschien alsbald und versorgte seine junge Patientin mit aus langer Praxis resultierender Energie und Geschicklichkeit, wobei er nach seiner Gewohnheit vor sich hin sprach:
»Ach, kleine Dame, warum hast du nicht rechtzeitig von jenem Keuschheitselektuar Gebrauch gemacht, das der Große Matthieu auf dem Pont-Neuf feilbietet? Es ist aus Kampfer, Lakritze, Traubenkernen und Seerosenblüten hergestellt. Es genügt, morgens und abends zwei oder drei Pillen einzunehmen und danach ein Glas Buttermilch zu trinken, in dem man ein Stückchen glühendes Eisen gelöscht hat ... Kleine Dame, glaub mir, es gibt nichts Besseres, um die allzu stürmischen Begierden der Liebe zu dämpfen, die man so teuer bezahlt .«
Aber die arme Marie-Agnès war nicht fähig, diese nachträglichen Ratschläge anzuhören. Mit ihren durchsichtigen Wangen, ihren bläulichen Lidern, ihrem schmalen, zwischen dem üppigen schwarzen Haar fast verschwindenden Gesicht glich sie einer zarten, leblosen Wachsfigur.
Endlich konnte Angélique feststellen, daß die Blutung aufhörte und daß sich auf den Wangen ihrer jungen Schwester ein leichter rosiger Hauch verbreitete.
Der Große Matthieu empfahl sich, nachdem er Angélique einen Kräutertee übergeben hatte, den die Kranke stündlich trinken sollte, »um das Blut zu ersetzen, das sie verloren habe«. Er empfahl, mit dem Transport noch ein paar Stunden zu warten.
Als er gegangen war, setzte sich Angélique an den kleinen Tisch, auf dem ein Kruzifix stand, das einen riesigen Schatten an die Wand warf. Wenige Augenblicke später trat Raymond hinzu und ließ sich bedächtig ihr gegenüber nieder.
»Ich denke, wir könnten sie am frühen Morgen zu mir bringen lassen«, sagte Angélique. »Aber es ist wohl besser, noch ein wenig zu warten, bis sie wieder zu Kräften gekommen ist.«
»Warten wir«, stimmte Raymond zu.
Er neigte nachdenklich sein bleiches Gesicht, das nicht mehr ganz so hager war wie früher. Sein schwarzes glattes Haar fiel über den weißen Kragen seiner Sutane. Seine Tonsur hatte sich infolge beginnender Kahlköpfigkeit ein wenig erweitert, aber sonst war er kaum verändert.
»Raymond, woher hast du erfahren, daß ich im Hôtel du Beautreillis unter dem Namen Madame Morens lebe?«
»Es ist mir nicht schwergefallen, dich ausfindig zu machen. Ich bewundere dich, Angélique. Die furchtbare Geschichte, deren Opfer du gewesen bist, liegt nun weit zurück.«
»Doch nicht so sehr weit«, seufzte sie in bitterem Ton, »da ich mich noch nicht wieder in der Gesellschaft zeigen kann. Viele Adlige von niedrigerer Herkunft als ich betrachten mich als emporgekommene Schokoladenhändlerin. Ich werde weder an den Hof zurückkehren noch nach Versailles gehen können.«
Er schaute sie durchdringend an. Er kannte alle Mittel, mit den weltlichen Schwierigkeiten fertig zu werden.
»Weshalb heiratest du nicht einen großen Namen? Es fehlt dir nicht an Bewerbern, wie ich weiß, und dein Vermögen, wenn nicht deine Schönheit könnten mehr als einen Edelmann in Versuchung führen. So würdest du wieder zu Rang und Namen kommen.«
Angélique dachte plötzlich an Philippe, und sie fühlte sich bei diesem neuen Gedanken erröten. Ihn heiraten? Marquise du Plessis-Bellière? Das wäre wunderbar .
»Warum habe ich nicht schon früher daran gedacht, Raymond?«
»Weil du vielleicht noch nicht richtig erfaßt hast, daß du Witwe und frei bist«, erwiderte er. »Es ist eine Situation, die viele Vorteile mit sich bringt, und ich kann dir dank meiner Beziehungen vielleicht dabei helfen, auf ehrbare Weise zu hohem Rang aufzusteigen.«
»Danke, Raymond. Es wäre wunderbar«, wiederholte sie versonnen. »Ich habe viel hinter mir, du würdest es dir nicht vorstellen können. Von der ganzen Familie bin ich am tiefsten gesunken, und dabei kann man nicht behaupten, daß die Schicksale der unsrigen sonderlich glänzend waren. Warum haben wir es zu nichts Rechtem gebracht?«
»Ich bedanke mich für dieses >wir<«, sagte er mit einem flüchtigen Lächeln.
»Oh, Jesuit werden ist auch eine Art, es zu nichts Rechtem zu bringen. Erinnere dich, unser Vater war keineswegs sehr glücklich darüber. Es wäre ihm lieber gewesen, wenn du ein gutes und gesichertes kirchliches Amt bekommen hättest. Josselin ist in Amerika verschollen. Denis, der einzige Soldat in der Familie, steht im Ruf eines Hitzkopfs und vom Spielteufel Besessenen, was noch schlimmer ist. Gontran? Reden wir nicht von ihm. Er hat sich um des Vergnügens willen, wie ein Handwerker Leinwände vollzuklecksen, aus der Gesellschaft ausgeschlossen. Albert ist Page beim Marschall de Rochant. Er ist dem Chevalier zu Willen, wofern er sich nicht von den fragwürdigen Reizen der korpulenten Marschallin umgarnen läßt. Und Marie-Agnès .«
Sie hielt inne und horchte auf die kaum vernehmbaren Atemzüge, die aus dem Alkoven kamen.
Dann fuhr sie in gedämpftem Tone fort:
»Freilich hat sie sich schon in früher Jugend mit den Bauernjungen im Stroh gewälzt. Doch am Hof ist sie erst richtig auf den Geschmack gekommen. Hast du eine Vermutung, wer der Vater jenes Kindes sein könnte?«
»Ich glaube, daß sie es selbst nicht weiß«, sagte der Jesuit unverhohlen. »Aber was du vor allem in Erfahrung bringen solltest, ist, ob es sich um eine Abtreibung oder eine heimliche Entbindung handelt. Ich zittere bei dem Gedanken, sie könnte ein lebendiges kleines Wesen in den Händen dieser Catherine Monvoisin gelassen haben.«
»Ist sie zur Voisin gegangen?«
»Ich glaube. Sie hat diesen Namen gestammelt.«
»Wer geht nicht alles zu ihr?« sagte Angélique achselzuckend. »Kürzlich ist der Herzog von Vendôme als Savoyarde verkleidet bei ihr gewesen, um von ihr etwas über einen Schatz zu erfahren, den Monsieur de Turenne versteckt haben soll. Und Monsieur, der Bruder des Königs, hat sie nach Saint-Cloud kommen lassen, damit sie ihm den Teufel zeige. Ich weiß nicht, ob es ihr gelungen ist, jedenfalls hat er sie bezahlt, als ob er ihn gesehen hätte. Wahrsagerin, Abtreiberin, Gifthändlerin - sie hat viele Talente .«
Ohne zu lächeln, hörte sich Raymond diese Geschichten an. Er schloß die Augen und seufzte tief.
»Angélique, meine Schwester, ich bin entsetzt«, sagte er müde. »Das Jahrhundert, in dem wir leben, ist Zeuge so infamer Sittenlosigkeit, so grausiger Verbrechen, daß künftige Zeiten darob erschauern werden. Allein in diesem Jahr haben sich in meinem Beichtstuhl Hunderte von Frauen bezichtigt, sich ihrer Leibesfrucht auf gewaltsame Weise entledigt zu haben. Was nicht weiter verwunderlich ist, da es sich aus der allgemeinen Sittenverwilderung ergibt. Aber nahezu die Hälfte meiner Beichtkinder vertraut mir an, einen der Ihren oder sonst jemand Lästigen aus dem Wege geräumt zu haben, sei es durch Gift, sei es durch Verdächtigung des Besessenseins. Sind wir denn noch immer Barbaren? Haben die Ketzereien, indem sie die Schranken des Glaubens verrückten, unsere wahre Natur enthüllt? Es besteht ein furchtbarer Zwiespalt zwischen den Gesetzen und den Neigungen. Und der Kirche obliegt es, die Menschheit aus diesem Wirrwarr wieder auf den richtigen Weg zu führen .«
Angélique lauschte verwundert den Bekenntnissen des großen Jesuiten.
»Warum erzählst du das gerade mir, Raymond? Vielleicht bin ich eine jener Frauen, die .«
Der durchdringende Blick des Geistlichen kehrte zu ihr zurück. Er schien sie zu prüfen, dann schüttelte er den Kopf.
»Du, du bist wie der Diamant«, sagte er, »ein edler, harter, unnachgiebiger Stein ... aber schlicht und durchscheinend. Ich weiß nicht, was für Fehler du im Lauf jener Jahre begangen hast, in denen du verschollen warst, aber ich bin überzeugt, daß du, wenn du sie begangen hast, sehr oft nicht anders handeln konntest. Du bist wie die wahrhaft armen Menschen, meine Schwester Angélique, du kennst die willkürliche Sünde nicht, jene Verderbtheit der Reichen und Großen .«
Naive Dankbarkeit erfüllte Angéliques Herz bei diesen verwunderlichen Worten, aus denen göttliches Verzeihen zu sprechen schien.
Die Nacht war still. Weihrauchduft schwebte in der Zelle, und der Schatten dieses Kreuzes, das zwischen ihnen beiden am Lager ihrer bedrohten Schwester wachte, wirkte zum erstenmal seit langen Jahren wohltuend und beruhigend auf sie.
In einer spontanen Bewegung sank sie auf den Fliesen in die Knie.
»Raymond, willst du mir die Beichte abnehmen?«
Im Hôtel du Beautreillis machte Marie-Agnès’ Genesung befriedigende Fortschritte. Indessen blieb das junge Mädchen wehleidig und für jegliches Scherzwort unzugänglich. Sie schien ihr kristallklares Lachen verlernt zu haben, das einstens den Hof bezaubert hatte, und sie zeigte sich ausschließlich von ihrer anspruchsvollen und launischen Seite. Anfangs bewies sie keinerlei Dankbarkeit für Angéliques Fürsorglichkeit. Aber nachdem sie wieder zu Kräften gekommen war und Angélique diesen Umstand nutzte, um ihr bei erstbester Gelegenheit eine gehörige Ohrfeige zu versetzen, fand Marie-Agnès, Angélique sei die einzige Frau, mit der sie auskommen könne. Sie hatte eine anmutige Art, sich schmeichelnd an ihre Schwester zu schmiegen, während man sich an den langen Winterabenden vor dem Kamin mit Mandolinenspiel und Stickarbeiten die Zeit vertrieb. Sie tauschten ihre Eindrücke von den Leuten aus, die sie kannten und sie besuchten, und da sie eine scharfe Zunge und einen regen Geist hatten, lachten sie zuweilen aus vollem Halse über ihre Feststellungen.
Eines Abend nahmen sie Philippe unter die Lupe. Der wunderliche junge Mann, der in seinen makellos hellen Atlasgewändern und mit seinem blonden Haar wie aus Eis geformt wirkte, war ein regelmäßiger Gast des Hôtel du Beautreillis. Er erschien in lässiger Haltung und sprach wenig. Beim Anblick seiner höhnisch-stolzen Schönheit fühlte sich Angélique immer wieder in das kleine Mädchen zurückverwandelt, das den eleganten Vetter zugleich gehaßt und bewundert hatte. Und immer, wenn sich seine hellen Augen auf sie richteten, wurde ihr deprimierend klar, daß dem jungen Mann ihre Schönheit noch nie bewußt geworden war. Er machte ihr auch nicht das banalste Kompliment, war wenig umgänglich, und die Kinder fürchteten ihn, statt sich von seinem Aussehen fesseln zu lassen.
»Du hast eine Art, den schönen Plessis anzuschauen, die mich beunruhigt«, erklärte Marie-Agnès. »Du, die du die vernünftigste Frau bist, die ich kenne, wirst ihm doch nicht verfallen, diesem ...?«
Sie schien nach einem lapidaren Ausdruck zu suchen, fand keinen und ersetzte ihn durch eine Grimasse des Abscheus.
»Was wirfst du ihm vor?« verwunderte sich Angélique.
»Was ich ihm vorwerfe? Nun, daß er so schön und verführerisch ist und dabei nicht einmal weiß, wie man eine Frau in die Arme nimmt. Zugegeben, nicht viele Männer verstehen sich darauf, aber jeder tut zumindest sein Bestes. Während Philippe es nicht einmal versucht. Er kennt nur eine Art, mit den Frauen umzugehen: Er vergewaltigt sie. Er muß die Liebe auf den Schlachtfeldern gelernt haben. Selbst Ninon hat da nichts auszurichten vermocht. Alle Frauen verabscheuen ihn in dem Maße, wie er sie enttäuscht.«
Angélique, die sich über das Kaminfeuer beugte, in dem sie Kastanien röstete, beunruhigte sich über die Unruhe, die die Worte der Schwester in ihr auslösten. Sie hatte beschlossen, Philippe du Plessis zu heiraten. Das war die beste Lösung, die, die alles ins Lot brachte und die Krönung ihres Aufstiegs und ihrer Rehabilitierung darstellen würde. Aber sie hätte sich gern Illusionen über denjenigen gemacht, den sie sich zum zweiten Gatten erwählt hatte, und über die Gefühle, die sie für ihn hegte. Sie hätte ihn gern »liebenswert« gefunden, um das Recht zu haben, ihn zu lieben.
Ein plötzlich in ihr aufkeimendes Bedürfnis nach Ehrlichkeit sich selbst gegenüber veranlaßt sie, am nächsten Tag zu ihrer Freundin Ninon de Lenclos zu eilen und ohne Umschweife das sie bewegende Thema anzuschneiden.
»Was denkt Ihr über Philippe du Plessis?«
Die Kurtisane legte nachdenklich einen Finger an die Wange.
»Wenn man ihn gut kennt«, erklärte sie, »merkt man, daß er viel weniger nett ist, als er aussieht. Wenn man ihn jedoch besser kennt, merkt man, daß er viel netter ist, als er aussieht.«
»Ich kann Euch nicht folgen, Ninon.«
»Ich will damit sagen, daß er keine der Eigenschaften besitzt, die seine Schönheit erwarten läßt, nicht einmal das Bedürfnis, geliebt zu werden. Andererseits, so man den Dingen auf den Grund geht, flößt er Achtung ein, weil er das Musterexemplar einer so gut wie ausgestorbenen Kaste darstellt: Er ist der Adlige par excellence. Er nimmt es in Fragen der Etikette peinlich genau. Er fürchtet einen Schmutzfleck auf seinem Seidenstrumpf Aber er fürchtet den Tod nicht. Und wenn er dereinst stirbt, wird er einsam sein wie ein Wolf und niemanden um Beistand bitten. Er gehört nur dem König und sich selbst.«
»Ich wußte nicht, daß er soviel Größe besitzt.«
»Aber Ihr seht auch seine Niedrigkeit nicht, meine Liebe. Die Erbärmlichkeit eines wahren Adligen ist erblich. Sein Wappen hat seit Jahrhunderten die übrige Menschheit vor ihm verborgen. Warum bildet man sich immer ein, eine Tugend und ihr Gegenteil könnten sich in ein und demselben Wesen nicht vereinigt finden? Ein Aristokrat ist zugleich groß und erbärmlich.«
»Und was hält er von den Frauen?«
»Philippe? Liebste, wenn Ihr es in Erfahrung gebracht habt, kommt und sagt es mir.«
»Es scheint, daß er furchtbar brutal mit ihnen verfährt?«
»Man sagt so .«
»Ninon, Ihr werdet mir doch nicht einreden wollen, daß er nicht mit Euch geschlafen habe!«
»Leider doch, meine Liebe, ich rede es Euch ein. Ich muß wohl oder übel zugeben, daß alle meine Talente bei ihm versagten.«
»Ninon, Ihr erschreckt mich!«
»Offen gestanden, er reizte mich, dieser Adonis mit den harten Augen. Man hat behauptet, er sei auf dem Gebiet der Liebe ungezügelt, aber ich scheue eine gewisse ungeschickte Leidenschaftlichkeit nicht, und es macht mir Vergnügen, sie zu disziplinieren. Ich nahm mir deshalb vor, ihn in meinen Alkoven zu locken .«
»Und?«
»Gar nichts. Vermutlich hätte ich mit einem vom Hof hereingeholten Schneemann mehr Glück gehabt. Er gestand mir schließlich, daß ich ihn absolut nicht reizte, weil er mir gegenüber freundschaftliche Gefühle hege. Ich glaube, er braucht Haß und Jähzorn, um sich in Form zu fühlen.«
»Er ist ein Narr!«
»Möglich . Oder vielmehr: nein. Er hinkt nur seiner Zeit nach. Er hätte fünfzig Jahre früher auf die Welt kommen sollen. Philippe! Wenn ich ihn sehe, werde ich ordentlich rührselig, denn er erinnert mich an meine Jugend.«
»Ninon, redet nicht wie eine Großmutter! Das steht Euch nicht.«
»Ich muß schon einen Großmutterton annehmen, um Euch ein wenig zu schelten, Angélique. Denn ich habe Angst, daß Ihr Euch verirrt . Angélique, Liebste, Ihr, die Ihr wißt, was eine große Liebe ist, werdet mir nicht sagen wollen, daß Ihr in Philippe verliebt seid! Er ist Euch viel zu fern. Er würde Euch mehr als jeder andere enttäuschen.«
Angélique errötete, und ihre Mundwinkel zuckten kindlich.
»Woher wißt Ihr, daß ich eine große Liebe erlebte?«
»Weil das in Euren Augen geschrieben steht. Sie sind so selten, jene Frauen, die dieses melancholische und wunderbare Zeichen tragen. Ja, ich weiß wohl ... für Euch ist es vorbei. Auf welche Weise? Einerlei! Vielleicht habt Ihr erfahren, daß er verheiratet war, vielleicht hat er Euch betrogen, vielleicht ist er tot .«
»Er ist tot, Ninon!«
»Besser so. Eure große Wunde ist nicht vergiftet, aber .«
Angélique richtete sich entschlossen auf.
»Ninon, hört auf, ich bitte Euch. Ich will Philippe heiraten. Ich muß Philippe heiraten. Ihr könnt nicht verstehen, warum. Ich liebe ihn nicht, das stimmt, aber er zieht mich an. Er hat mich immer angezogen. Und ich habe immer gewußt, daß er eines Tages mir gehören würde ... Sagt nichts mehr .«
Die spärlichen, gefühlsbetonten Auskünfte, die Angélique bekommen hatte, änderten nichts an der Situation. Immer wieder stand sie in ihren Zimmern dem gleichen rätselhaften Philippe gegenüber, und ihre Beziehungen entwickelten sich nicht weiter.
Schließlich fragte sie sich, ob er nur Marie-Agnès’ wegen käme; doch auch nachdem ihre Schwester sie verlassen hatte, stellte er sich häufig ein. Sie erfuhr eines Tages, daß er sich rühmte, bei ihr den besten Rossoli von Paris zu trinken. Vielleicht kam er nur, um diesen feinen Likör zu kosten, den sie selbst unter reichlichem Zusatz von Fenchel, Anis, Koriander, Kamille und Zucker bereitete?
Angélique war stolz auf ihre hausfraulichen Talente, und keine Lockspeise durfte außer acht gelassen werden, aber sie ärgerte sich bei diesem Gedanken. Weder ihre Schönheit noch ihre Unterhaltung vermochte offenbar Philippe zu reizen.
Als die ersten Frühlingstage kamen, fühlte sie sich verzweifelt. Sie hatte sich insgeheim zu sehr an dem Gedanken berauscht, Philippe zu heiraten, um nun den Mut aufbringen zu können, darauf zu verzichten. Denn als Marquise du Plessis würde sie bei Hof vorgestellt werden, in ihre Heimat, zu ihrer Familie zurückkehren können und über das schöne, weiße Schloß regieren, das sie in ihrer Kindheit entzückt hatte.
Sie erfuhr die Neuigkeit von Mademoiselle de Para-jonc. Sie war nicht darauf gefaßt gewesen und brauch-te einige Zeit, um den verläßlichen Tatbestand aus dem hin und her streifenden Geschwätz der alten Preziösen zu erraten. Diese war nach ihrer Gewohnheit gegen Abend mit starrem, spähendem Blick wie eine dunkle, zerzauste Eule vor ihrer Tür aufgetaucht, um sie zu besuchen. Gastfreundlich bot ihr Angélique vor dem Kamin Gebäck an. Philonide schwatzte lange über ihrer beider Nachbarin, Madame de Gauffray, die soeben »die Folge der erlaubten Liebe verspürt« hatte, indem sie nämlich nach zehnmonatiger Ehe eines prächtigen Knaben genesen war. Danach verbreitete sie sich weidlich über die Beschwerden ihrer »lieben Leidenden«. Angélique glaubte, es sei von ihren alten Eltern die Rede, aber es handelte sich nur um die Füße Mademoiselles de Parajonc. Die »lieben Leidenden« waren von Hühneraugen geplagt. Nachdem sie sodann beim Anblick des an die Fensterscheiben peitschenden Regens geseufzt hatte: »Das dritte Element fällt«, entschloß sie sich, vom Vergnügen an der zu verkündenden Neuigkeit übermannt, ihre geschraubte Redeweise aufzugeben.
»Wißt Ihr, daß Madame de Lamoignon ihre Tochter verheiraten wird?«
»Möge es ihr zum Segen gereichen! Die Kleine ist nicht hübsch, aber sie hat genügend Geld, um eine glänzende Partie zu machen.«
»Ihr habt, wie immer, den Nagel auf den Kopf getroffen, Liebste. Das Geld ist tatsächlich der einzige Vorzug dieses kleinen Schwarzkopfs, der einen schönen Edelmann wie Philippe du Plessis zu locken vermag.«
»Philippe?«
»Habt Ihr denn nicht davon munkeln hören?« fragte Philonide, deren aufmerksame Augen blinzelten.
Angélique hatte sich wieder gefaßt. Sie sagte achselzuckend:
»Schon möglich ... Aber ich habe dem keine Bedeutung beigemessen. Philippe du Plessis kann sich nicht so weit erniedrigen, die Tochter eines Präsidenten zu heiraten, der gewiß eine hochgestellte Persönlichkeit ist, aber doch von bürgerlicher Herkunft.«
Die alte Jungfer lachte spöttisch: »Ein Bauer auf meinen Gütern pflegte mir zu sagen: >Das Geld kann man nur auf der Erde auflesen, und um es aufzulesen, muß man sich bücken.< Jedermann weiß, daß der kleine du Plessis ständig in Schwierigkeiten ist. Er verspielt sein Geld in Versailles, und für die Ausrüstung seines letzten Feldzugs hat er ein Vermögen ausgegeben. Zehn Maulesel zogen hinter ihm drein, die sein goldenes Service und ich weiß nicht was sonst noch trugen. Die Seide seines Zelts war so reich bestickt, daß die Spanier es sogleich erkannten und aufs Korn nahmen ... Ich gebe im übrigen zu, daß dieser charmante Gefühllose verteufelt schön ist .«
Angélique ließ sie schwatzen. Nachdem ihr die Nachricht im ersten Augenblick höchst unglaubwürdig erschienen war, fühlte sie nun, wie die Entmutigung sie überwältigte. Diese letzte Schwelle, die es zu überschreiten galt, um wieder im Licht des Sonnenkönigs zu erscheinen - die Verheiratung mit Philippe -, erwies sich als zu hoch. Übrigens, sagte sie sich jetzt, hatte sie immer gewußt, daß es zu schwierig sein, daß sie nicht genug Kraft haben würde. Sie war verbraucht, am Ende ... Sie war nur eine Schokoladeverkäuferin und würde niemals vom Adel anerkannt werden. Man empfing sie, aber man nahm sie nicht auf . Versailles! Versailles! Der Glanz des Hofs, der strahlende Sonnenkönig! Philippe! Der schöne, unnahbare Gott Mars ...! Sie würde auf das Niveau eines Audiger zurückgleiten, und ihre Kinder würden nie Edelleute werden ...
Sie war so in ihre Gedanken versponnen, daß sie nicht merkte, wie die Zeit verrann. Das Feuer erlosch im Kamin, die Kerze blakte.
Angélique hörte, wie Philonide Flipot, der an der Tür Wache hielt, scharf anfuhr:
»Unnütz, beseitigt den Überfluß dieser Leuchte.« Da Flipot verständnislos dreinblickte, übersetzte Angélique mit müder Stimme:
»Putz die Kerze, Lakai.«
Philonide de Parajonc erhob sich befriedigt. »Meine Liebe, Ihr scheint nachdenklich. Ich überlasse Euch Euren Musen .«
In der Nacht tat Angélique kein Auge zu, und des Morgens wohnte sie der Messe bei. In ausgeglichener Stimmung kehrte sie nach Hause zurück. Gleichwohl hatte sie noch keinen Entschluß gefaßt, und als am Nachmittag die Stunde des Korsos kam und sie in ihre Kutsche stieg, wußte sie noch nicht, was sie tun würde. Aber sie hatte sich mit ganz besonderer Sorgfalt angekleidet.
Während sie über die Seide ihrer Röcke strich, machte sie sich in der Einsamkeit des Wagens Vorwürfe. Warum hatte sie gerade heute dieses neue Kleid mit den drei verschiedenfarbigen Röcken zum erstenmal angezogen? Eine mit Perlen besetzte goldene Filigranstickerei bedeckte gleich einem funkelnden Netz den Oberrock, das Mantelkleid und das Mieder. Die Spitzen des Kragens und der Ärmel hatten das gleiche Muster wie die Stickereien. Angélique wußte, daß das Kleid wunderbar zu ihrem Teint und ihren Augen paßte, wenn es sie auch ein wenig älter machte.
Ja, warum hatte sie es angezogen, als sie sich für den Korso hergerichtet hatte? Hoffte sie, den unerschütterlichen Philippe mit ihm zu blenden? Oder ihm durch die Strenge ihrer äußeren Erscheinung Vertrauen einzuflößen ...? Sie betätigte nervös ihren Fächer, um die Glut zu mildern, die ihr in die Wangen stieg.
Chrysanteme rümpfte seine kleine, feuchte Nase und warf ihr einen verblüfften Blick zu.
»Ich glaube, ich bin im Begriff, eine Dummheit zu begehen, Chrysanteme«, sagte die junge Frau melancholisch zu dem Hündchen, »aber ich kann nicht anders, nein, ich kann wirklich nicht anders.«
Dann schloß sie zu Chrysantemes großer Verwunderung die Augen und sank in den Fond des Wagens zurück, als habe sie all ihre Kraft verloren. Als sie indessen vor den Tuilerien anlangte, wurde sie plötzlich wieder munter. Mit glänzenden Augen griff sie nach dem kleinen Zierspiegel, der an ihrem Gürtel hing, und betrachtete sich prüfend. Schwarze Wimpern, rote Lippen: Das war die einzige Nachhilfe, die sie sich zugestand. Ihre sorgfältig mit Ginsterblütenpulver eingeriebenen und mit Branntwein gespülten Zähne hatten einen feuchten Glanz.
Sie lächelte sich zu, nahm Chrysanteme unter den Arm und betrat die Tuilerien. Während eines kurzen Augenblicks sagte sie sich, daß sie den Kampf aufgeben würde, falls Philippe nicht dasein sollte. Aber er war da. Sie entdeckte ihn vor dem großen Springbrunnen in Gesellschaft des Fürsten Condé, der mit Vorliebe an diesen Ort kam, um sich den Müßiggängern zu zeigen.
Angélique näherte sich beherzt der Gruppe. Nun wußte sie, daß sich erfüllen würde, was sie beschlossen hatte, denn das Schicksal hatte Philippe in die Tuilerien geführt.
Der späte Nachmittag war mild und frisch. Ein leichter Regenschauer hatte den Sand dunkel gefärbt und den ersten Blättern an den Bäumen Glanz verliehen.
Angélique grüßte lächelnd. Mißmutig stellte sie fest, daß ihr Kleid auf krasse Weise von dem Gewand abstach, das Philippe trug. Er, der stets blasse Farben bevorzugte, präsentierte sich an diesem Abend in einem ungewöhnlichen pfauenblauen Kostüm mit reichem Goldbesatz. Stets der Mode voraus, hatte er seinem Anzug bereits die neue Form eines weiten Rocks gegeben, der hinten vom Degen hochgehoben wurde.
Seine Handkrausen waren schön, aber er trug keine Stulpen, und die Hosen lagen an den Knien eng an. Unter dem Arm hielt Philippe einen feinen, kleinen Kastorhut, daß man hätte meinen können, er bestünde aus altem, poliertem Silber. Der Federnkranz war himmelblau, und da der junge Mann eben erst angekommen war, hatte der Frühlingsregen diesem Meisterwerk keinen Schaden zugefügt.
Mit der über die Schultern fallenden seidig-blonden Perücke wirkte Philippe du Plessis-Bellière wie ein stolzierender, schillernder Vogel.
Angélique hielt nach der kleinen Lamoignon Umschau, aber ihre armselige Rivalin war nicht anwesend. Mit einem Seufzer der Erleichterung trat sie rasch auf den Fürsten Condé zu, der jedesmal, wenn er ihr begegnete, den enttäuschten und resignierten Liebhaber spielte.
»Nun, meine Hübsche«, seufzte er und rieb seine lange Nase an Angéliques Stirn, »werdet Ihr uns die Ehre erweisen, mit uns in unserer Kutsche über den Korso zu fahren?«
Angélique gab ein bedauerndes »Oh!« von sich, dann glitt ihr Blick in geheuchelter Verlegenheit zu Philippe, und sie murmelte:
»Eure Hoheit mögen verzeihen, aber Monsieur du Plessis hat mich bereits zur Promenade aufgefordert.«
»Hol der Teufel diese jungen gefiederten Hähne!« grollte der Fürst. »Heda, Marquis, habt Ihr die Absicht, für lange Zeit eine der schönsten Damen der Hauptstadt mit Beschlag zu belegen?«
»Gott soll mich bewahren, Monseigneur«, erwiderte der junge Mann, der offensichtlich die Unterhaltung nicht mitangehört hatte und nicht wußte, um welche Dame es sich handelte.
»Na schön! Ihr könnt sie entführen. Ich gönne sie Euch. Aber vielleicht geruht Ihr in Zukunft rechtzeitig aus den Wolken herabzusteigen, um Euch darüber klarzuwerden, daß Ihr nicht allein auf der Welt seid und daß auch andere ein Anrecht auf das strahlendste Lächeln von Paris haben.«
»Ich will es mir merken, Monseigneur«, versicherte der Höfling, während er mit seinen blauen Federn den Sand fegte.
Schon hatte Angélique - nach einer tiefen Verneigung vor der Gesellschaft - Philippes Hand ergriffen und zog ihn mit sich. Armer Philippe! Warum fürchtete man ihn eigentlich? Er war doch so hilflos in seiner hochmütigen Zerstreutheit, die sich so leicht ausnützen ließ.
Als das Paar an einer Bank vorbeikam, auf der die Herren La Fontaine, Racine und Boileau saßen, wisperte der erstere vernehmlich: »Der Goldfasan und seine Henne!«
Angélique begriff, daß die Bemerkung eine Anspielung auf den Kontrast ihrer Kleidung sein sollte: sie braun und diskret bei aller Pracht, er in grellen Farben schillernd. Hinter ihrem Fächer schnitt sie dem Dichter eine kleine Grimasse, die dieser mit einem schelmischen Augenzwinkern beantwortete. Und sie dachte: »Der Goldfasan und seine Henne .? Gott geb’s!«
Sie senkte die Augen und beobachtete klopfenden Herzens Philippes sicheren und edlen Schritt. Kein Edelmann verstand wie er den Fuß zu setzen, keiner hatte so schöngeformte, volle Beine. Selbst der König nicht, was man auch sagen mochte. Übrigens würde sie, um das beurteilen zu können, den König wieder einmal aus nächster Nähe betrachten und zu diesem Zweck nach Versailles gehen müssen. Sie würde nach Versailles gehen! Genauso, Arm in Arm mit Philippe, würde sie die königliche Galerie durchschreiten. Ein paar Schritte vor dem König würde sie stehenbleiben ... »Madame la Marquise du Plessis-Bellière« ...
Ihre Finger verkrampften sich ein wenig. Philippes Stimme sagte in mürrischer Verwunderung:
»Ich habe noch immer nicht begriffen, weshalb der Fürst mir Eure Gesellschaft aufgezwungen hat?«
»Weil er Euch ein Vergnügen bereiten wollte. Ihr wißt, daß er Euch noch mehr liebt als der Herzog. Ihr seid der Sohn seines kriegerischen Geistes.«
Während sie ihm einen schmeichlerischen Blick zuwarf, fuhr sie fort: »Langweilt Euch meine Gesellschaft denn so sehr? Wart Ihr mit jemand anderem verabredet?«
»Nein! Aber ich hatte heute abend nicht die Absicht, am Korso teilzunehmen.«
Sie hatte nicht den Mut, zu fragen, weshalb. Der Korso war noch kaum belebt. Ein Geruch nach frischem Holz und Pilzen würzte die Luft unter dem schattigen Gewölbe der großen Bäume.
Als Angélique Philippes Kutsche bestiegen hatte, war ihr die mit silbernen Borten eingefaßte Decke des Kutscherbocks aufgefallen, deren Fransen bis zur Erde herabhingen. Woher waren ihm die Mittel für diese neuerliche Eleganz zugeflossen? Jetzt, nach der Karnevalszeit, steckte er doch sicher tief in Schulden. War das etwa schon eine Auswirkung der Großzügigkeit des Präsidenten de Lamoignon seinem zukünftigen Schwiegersohn gegenüber?
Noch nie hatte Angélique Philippes Schweigsamkeit so schwer ertragen. In ihrer Ungeduld tat sie, als interessiere sie sich für Chrysantemes Possen oder für die Kutschen, denen sie begegneten. Zu wiederholten Malen setzte sie zu einer Äußerung an, aber das unbewegliche Profil des jungen Mannes nahm ihr den Mut.
Jetzt war es dunkler, denn die Bäume wurden dich-ter. Der Kutscher ließ durch einen Lakaien fragen, ob man wenden oder durch den Bois de Boulogne weiterfahren solle.
»Weiterfahren«, befahl Angélique, ohne Philippes Zustimmung abzuwarten. Und da das Schweigen endlich gebrochen war, fügte sie rasch hinzu:
»Wißt Ihr, was für eine Albernheit man sich erzählt, Philippe? Ihr wollt angeblich die Tochter Lamoignon heiraten.«
Er wandte seinen schönen, blonden Kopf zu ihr.
»Diese Albernheit trifft zu, meine Liebe.«
»Aber ...«
Angélique holte tief Atem und wagte sich vor: »Aber das ist doch nicht möglich. Ihr, der Arbiter ele-gantiarum, werdet mir doch nicht erzählen wollen, daß Ihr dieser armseligen Heuschrecke Reize abgewinnt?«
»Ich habe keine Meinung über ihre Reize.«
»Ja, was fesselt Euch dann an ihr?«
»Ihre Mitgift.«
Mademoiselle de Parajonc hatte also die Wahrheit gesagt. Angélique unterdrückte einen Seufzer der Erleichterung. Wenn es eine Geldfrage war, konnte noch alles in die Reihe kommen. Aber sie bemühte sich, ihrem Gesicht einen bekümmerten Ausdruck zu geben.
»O Philippe, ich habe Euch nicht für so materialistisch gehalten!«
»Materialistisch?« wiederholte er mit einer Miene, die deutlich verriet, daß das Wort ihm fremd war.
»Ich meine, daß Ihr so an den irdischen Dingen hängt.«
»An was sollte ich sonst hängen? Mein Vater hat mich nicht für die geistlichen Orden bestimmt.«
»Auch wenn man nicht der Kirche angehört, braucht man das Heiraten nicht unbedingt als eine Angelegenheit des Geldes anzusehen.«
»Als was denn?«
»Nun ja, schließlich ... auch als eine Angelegenheit der Liebe.«
»Oh, wenn es das ist, was Euch beunruhigt, meine Teuerste, so kann ich Euch versichern, daß ich durchaus die Absicht habe, dieser kleinen Heuschrecke einen ganzen Stall voller Kinder zu machen.«
»Nein!« schrie Angélique zornig.
»Sie soll etwas haben für ihr Geld.«
»Nein!« wiederholte Angélique und stampfte mit dem Fuß.
Philippe sah sie höchst verwundert an.
»Ihr wollt nicht, daß ich meiner Frau Kinder mache?«
»Darum geht es nicht, Philippe. Ich will nicht, daß sie Eure Frau wird, das ist es.«
»Und warum sollte sie es nicht werden?«
Angélique seufzte matt.
»O Philippe, Ihr seid doch ein häufiger Gast in Ninons Salon gewesen. Habt Ihr dort nicht gelernt, wie man eine Unterhaltung führt? Mit Eurem ewigen >warum< und Eurem Verwunderttun bringt Ihr Eure Gesprächspartner schließlich dahin, daß sie sich